Silvia Schneider, Jürgen Margraf (Hrsg.) Lehrbuch der

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Silvia Schneider, Jürgen Margraf (Hrsg.)
Lehrbuch der Verhaltenstherapie
Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter
Silvia Schneider
Jürgen Margraf (Hrsg.)
Lehrbuch der
Verhaltenstherapie
Band 3:
Störungen im Kindes- und Jugendalter
Mit 134 Abbildungen und 95 Tabellen
123
Prof. Dr. Silvia Schneider
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstraße 60–62
4055 Basel, Schweiz
Prof. Dr. Jürgen Margraf
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstraße 60–62
4055 Basel, Schweiz
ISBN 978-3-540-79544-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg
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Planung: Renate Scheddin
Projektmanagement: Renate Schulz
Lektorat: Annette Allée, Dinslaken, Dr. Astrid Horlacher, Dielheim
Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin
Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg
SPIN: 10998915
Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort
Warum Lehrbuch, warum Neuauflage?
Die Verhaltenstherapie befindet sich in ständiger Weiterentwicklung. Während sich Anfang der
1960er Jahre noch mancher fragte, ob denn überhaupt genügend Substanz für eigene Zeitschriften
oder Handbücher vorhanden sei, ist heute die Informationsflut kaum noch zu übersehen. Mittlerweile ist die Verhaltenstherapie die am besten abgesicherte Form von Psychotherapie, bei vielen
Störungen ist sie die Methode der Wahl. Dennoch sind Patienten, Fachleute und Administrationen
unzureichend informiert und wird kompetente Verhaltenstherapie nach wie vor zu selten angeboten. Mit seinen ersten beiden Auflagen 1996 und 2000 hatte sich das Lehrbuch der Verhaltenstherapie die Aufgabe gestellt, die wachsende Bedeutung der Verhaltenstherapie in Versorgung,
Ausbildung und Forschung adäquat abzubilden. Zusammen mit den Autoren freuen sich die
Herausgeber sehr, dass Umfragen bei Universitäten, Ausbildungsinstituten und klinischen Einrichtungen zeigen, dass das Lehrbuch nicht nur nahezu flächendeckend in Lehre und PsychotherapieAusbildung eingesetzt wird, sondern auch in der klinischen Praxis weit verbreitet ist.
Die anhaltende Weiterentwicklung macht nun eine neue Auflage des Lehrbuches notwendig.
Diese soll sicherstellen, dass die Verhaltenstherapie umfassend und auf dem neuesten Wissensstand
dargestellt wird. Dabei werden erneut Grundlagen, Forschung, Praxis und Rahmenbedingungen
behandelt. Besondere Aufmerksamkeit gilt der praxisrelevanten Darstellung des konkreten therapeutischen Vorgehens sowie der Verankerung der Therapieverfahren in der klinischen Grundlagenforschung. Daneben soll erstmals explizit auch die Verhaltenstherapie bei Störungen des
Kindes- und Jugendalters in einem eigenen Band behandelt werden. Aus diesem Grund fungiert
auch Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität
Basel, als Herausgeberin. Darüber hinaus werden in einem künftigen vierten Band zu den Themen
der ersten drei Bände die notwendigen konkreten Werkzeuge (z. B. Anschauungsmaterial, Fragebogen, Patientenmerkblätter) für den alltäglichen therapeutischen Gebrauch kompakt zur Verfügung gestellt. Insgesamt geht die Neuauflage deutlich über eine bloße Aktualisierung hinaus. Sie
stellt eine wesentliche Erweiterung dar, die notwendig ist, um dem faszinierenden Gebiet der Verhaltenstherapie und ihren Grundlagen gerecht zu werden.
Warum der Begriff »Verhaltenstherapie«?
Die meisten Psychotherapeuten betrachten sich als Eklektiker, und der Wunsch nach einer Überwindung des Schulenstreites und dem Aufbau einer »allgemeinen Psychotherapie« ist weit verbreitet. Warum also nicht ein Lehrbuch der allgemeinen Psychotherapie? Aussagen zu einer allgemeinen Psychotherapie können leicht auf einem so hohen Abstraktionsniveau liegen, dass sie kaum
noch konkrete Inhalte aufweisen. Zudem erscheint es uns nicht sinnvoll, eine nur oberflächliche
Gemeinsamkeit vorzugeben. Ob die breite psychotherapeutische Grundorientierung, die die Verhaltenstherapie heute ist, einmal mit anderen Ansätzen zu einer »allgemeinen Psychotherapie«
zusammenwachsen wird, ist nicht absehbar. Fraglich ist auch, ob der Psychotherapie anders als
anderen Wissenschaften jemals der große Wurf einer »allgemeinen« Theorie gelingen kann (man
denke nur an die Physik). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die psychotherapeutischen Grundorientierungen jedenfalls zu unterschiedlich, als dass sie problemlos zusammengeführt werden
könnten. Darüber hinaus sind Konkurrenz und gegenseitige Kritik ein wichtiger Entwicklungsantrieb, wie nicht zuletzt die Geschichte der Verhaltenstherapie zeigt.
Als genuin psychologischer Heilkundeansatz könnte die Verhaltenstherapie mit besonderem
Recht als psychologische Behandlung oder (in der Sprache des deutschen Psychotherapeutengesetzes) als psychologische Psychotherapie bezeichnet werden. Andererseits hat sich Verhaltenstherapie als Begriff eingebürgert, ist quasi ein »Markenbegriff« geworden, unter dem sich immer
mehr Menschen etwas vorstellen können. Der Begriff und die ihm innewohnende Tradition sollten
daher nicht leichtfertig aufgegeben werden. Auch eine genauere Festlegung einer bestimmten
Ausrichtung (z. B. »kognitive Verhaltenstherapie«) erscheint uns für ein umfassendes Lehrbuch
wenig sinnvoll. Verhaltenstherapeutische und kognitive Verfahren sind Teile einer gemeinsamen
Grundströmung, deren wichtigste gemeinsame Klammer die Fundierung in der empirischen Psy-
VI
Vorwort
chologie ist. Folgerichtig wird in Studium und postgradualen Ausbildungsgängen zwischen kognitiven und verhaltensorientierten Methoden nicht stärker unterschieden als innerhalb der Gruppe
der kognitiven und oder der verhaltensorientierten Verfahren. Deshalb wird im vorliegenden
Lehrbuch darauf verzichtet, eine neuere oder »modernere« Form begrifflich abzugrenzen. Allerdings muss die Auffassung von Verhaltenstherapie, die dem Lehrbuch zugrunde liegt, explizit
kenntlich gemacht werden. Dies geschieht ausführlich in dem einleitenden Kapitel von Band 1
»Hintergründe und Entwicklung«.
Warum in dieser Form?
Die Differenziertheit der Verhaltenstherapie stellt hohe theoretische und praktische Ansprüche an
diejenigen, die sie ausüben. Ihre kompetente Anwendung setzt daher eine fundierte Ausbildung
voraus. Diese muss nicht nur Grundlagenwissen aus der Psychologie und ihren Nachbardisziplinen,
sondern auch klinisch-psychologisches Störungs- und Veränderungswissen sowie hinreichend
konkrete Anwendungsfertigkeiten vermitteln. Wenngleich kein Lehrbuch alle diese Punkte umfassend abdecken kann, so wird doch die Aufbereitung des Wissensstandes in einem praxisorientierten Rahmen einen Beitrag zur besseren Verfügbarkeit leisten, so dass mehr Menschen von den
in der verhaltenstherapeutischen Forschung erzielten Fortschritten profitieren können.
Da die Verhaltenstherapie heute von keinem Einzelnen mehr im Detail überblickt werden kann,
wurde eine Gruppe von Experten aus dem deutschsprachigen und internationalen Raum als Autoren gewonnen. Die der großen Autorenzahl innewohnende Vielfalt kann eine Stärke, aber auch ein
Problem darstellen. Durch Vorgabe gemeinsamer Richtlinien und intensive Bearbeitung haben
Herausgeber und Verlag versucht zu erreichen, dass sich vor allem die positiven Seiten der Vielfalt
auswirken. Der beachtliche Umfang des demnächst vierbändigen Lehrbuches geht dabei sowohl auf
die große Differenziertheit der Verhaltenstherapie als auch auf den Wunsch zurück, die Beiträge
hinreichend konkret für die praktische Umsetzung zu gestalten. Auch wenn dies manchmal schwerer
als erwartet war, hoffen wir doch, dass wir uns unserem Anspruch angenähert haben.
Der neue Band zu Kindern und Jugendlichen trägt der Bedeutung dieses vernachlässigten
Gebietes für das Gesundheitswesen Rechnung. Dies wird nicht zuletzt durch neue Forschungsbefunde aus Epidemiologie und Risikoforschung unterstrichen: Demnach sind psychische Störungen
des Kindes- und Jugendalters ähnlich häufig wie die des Erwachsenenalters und zudem wichtige
Risikofaktoren für das Auftreten psychischer Störungen des Erwachsenenalters. Gleichzeitig hat es
in den letzten Jahren eine erfolgreiche Weiterentwicklung in der Verhaltenstherapie mit Kindern
und Jugendlichen gegeben. Ziel des neuen Bandes ist es daher, das Wissen um die moderne verhaltenstherapeutische Behandlung im Kindes- und Jugendalter einer breiten Leserschaft zugänglich
zu machen.
Die im künftigen Band 4 geplante kompakte Zusammenstellung der konkreten Arbeitswerkzeuge für den alltäglichen psychotherapeutischen Gebrauch ist im deutschsprachigen Raum vollkommen neu. Bisher bieten Fachbücher höchstens Materialien zu einigen wenigen Störungsbildern, so dass für den Praktiker umfassende Buchsammlungen notwendig sind, um die wichtigsten
Themen abzudecken. Außerdem sind Materialien zu einer Störung oft nicht umfassend, sondern
beinhalten nur einzelne der benötigten Kategorien: Fragebogen, Anschauungsmaterial oder Patientenmerkblätter etc. Daneben müssen sich die Praktiker oftmals benötigte störungsübergreifende
Materialien aus unterschiedlichen Quellen zusammensuchen. Im vierten Band des Lehrbuchs für
Verhaltenstherapie, der im Moment in Vorbereitung ist, sollen deshalb überwiegend von den Autoren der ersten drei Bände störungsspezifische und störungsübergreifende Materialien für die psychotherapeutische Praxis vorgestellt werden (z. B. Anschauungsmaterial, Arbeitsanweisungen,
Patientenmerkblätter, Fragebogen, allgemeine Informationen).
An wen wendet sich das Lehrbuch?
Das Lehrbuch wendet sich vor allem an Studenten, Ausbildungskandidaten, Praktiker und Forscher aus den Bereichen klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie deren Nachbardisziplinen. Darüber hinaus sollen auch Interessenten aus Gesundheits- und Erziehungswesen,
Kostenträgern, Verwaltung und Politik angesprochen werden.
Die einzelnen Kapitel sollen möglichst auch ohne Bezug auf den Rest des Buches verständlich
sein, was natürlich manchmal auf Grenzen stößt. Weiterführende Literaturempfehlungen, ein aus-
VII
Vorwort
führliches Glossar und ein praktischer Anhang (mit Informationen z. B. zu Fachgesellschaften,
Fachzeitschriften etc.) sowie der künftige Band 4 mit seinen Therapiematerialien sollen die Nutzbarkeit erhöhen. Das Lehrbuch wurde nicht in erster Linie für Patienten und ihre Angehörigen
geschrieben. Bücher reichen als Therapie meist nicht aus, sie können aber sehr wohl über Therapie
informieren. Solche Informationen können nützliche Entscheidungsgrundlagen sein. Für den
knappen Überblick stehen im deutschsprachigen Raum mehrere populärwissenschaftliche Bücher
zur Verfügung. Wenn jedoch Umfang, Preis oder Fachsprache nicht abschrecken, spricht auch
nichts gegen die Lektüre eines Lehrbuches. Sollte eine Behandlung angebracht sein, wird es in der
Regel aber sinnvoll sein, die schriftlichen Informationen noch einmal persönlich mit Therapeut
oder Therapeutin zu besprechen.
Aufbau und Gestaltung des Lehrbuches
Das Lehrbuch besteht aus vier einander ergänzenden Bänden, die folgendermaßen aufgebaut sind:
Band 1: Verhaltenstherapie – Grundlagen und Verfahren
Grundlagen – Diagnostik – Verfahren – Rahmenbedingungen
Band 2: Verhaltenstherapie – Störungen im Erwachsenenalter
Störungen – Spezielle Indikationen – Glossar
Band 3: Verhaltenstherapie – Störungen im Kindes- und Jugendalter
Spezifische Grundlagen für die VT mit Kindern und Jugendlichen – Verfahren – Spezifische Störungen – Spezielle Indikationen – Rahmenbedingungen
Band 4: Therapiematerialien (in Vorbereitung)
Störungsspezifische und störungsübergreifende Therapiematerialien zu allen relevanten
Themenbereichen der ersten drei Bände
Die praktische Arbeit mit dem Lehrbuch wird durch ausführliche Sachwort- und Autorenregister
sowie ein umfassendes Glossar erleichtert. Die Methoden-, Störungs-, Diagnostik- und Grundlagenkapitel folgen einheitlichen Gliederungen, deren zentrale Elemente im folgenden Kasten
dargestellt sind. Da jede Regel schädlich werden kann, wenn sie zu dogmatisch ausgelegt wird,
konnten die Autoren aber im Einzelfall von diesen Vorgaben abweichen.
Aufbau der Verfahrenskapitel
1.
2.
3.
4.
5.
Theoretische Grundlagen
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
Darstellung des Verfahrens
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen (Indikationen und Kontraindikationen)
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
Aufbau der Diagnostikkapitel
1. Hintergrundwissen
2. Praktische Hinweise für den Einsatz
3. Grenzen und typische Probleme
Aufbau der Störungskapitel
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Darstellung der Störung
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Diagnostik
Therapeutisches Vorgehen
Fallbeispiel
Empirische Belege
VIII
Vorwort
Zwei Bemerkungen zur Terminologie:
4 Es gibt verschiedene Wege, das Problem unangemessener geschlechtsspezifischer Begrifflichkeiten anzugehen. Am wenigsten geeignet erscheinen uns Doppelnennungen, Schrägstrichlösungen oder das große »I«. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit keine spezielle Rolle spielt,
werden im vorliegenden Lehrbuch Begriffe wie »Patient« oder »Therapeut« grundsätzlich geschlechtsneutral verwandt, betreffen also stets beide Geschlechter. Abweichungen von dieser
Regel werden explizit vermerkt.
4 Dem in der Medizin etablierten Patientenbegriff wurde im Zuge der Kritik am »medizinischen
Modell« vorgeworfen, er drücke ein Abhängigkeitsverhältnis aus und entspreche nicht dem
Ideal des aufgeklärten, mündigen Partners in der therapeutischen Beziehung. Als Alternative
wurde mancherorts der Klientenbegriff vorgeschlagen, der frei von den genannten Bedeutungen sein sollte. Aufschlussreich ist hier die Wortgeschichte [vgl. Kluge: Etymologisches
Wörterbuch der deutschen Sprache (22. Aufl.). Berlin: De Gruyter, 1989]. »Patient« bedeutet
wortwörtlich »Leidender«. Im 16. Jahrhundert wurde der Begriff aus dem lateinischen »patiens« (duldend, leidend) gebildet, um kranke oder pflegebedürftige Personen zu bezeichnen.
Ungefähr zur gleichen Zeit wurde »Klient« ebenfalls aus dem Latein entlehnt (von »cliens«,
älter »cluens«). Die wörtliche Bedeutung dieses Begriffes lautet »Höriger« (abgeleitet vom altlateinischen Verb »cluere«: hören). Klienten waren ursprünglich landlose und unselbstständige
Personen, die von einem Patron abhängig waren. Dieses Abhängigkeitsverhältnis bedingte zwar
gewisse Rechte (z. B. Rechtsschutz durch den Patron), vor allem aber eine Vielzahl von Pflichten. Drei Gründe sprachen demnach für die Verwendung von »Patient« anstelle von »Klient«:
5 Die tatsächliche Bedeutung des Begriffes »Klient« widerspricht der erklärten Absicht seiner
Einführung.
5 Eine bloße terminologische Verschleierung des teilweise realen »Machtgefälles« zwischen
Behandelnden und Behandelten ist wenig sinnvoll.
5 Der Begriff »Patient« beschreibt adäquat das Leiden hilfesuchender Menschen.
Danksagungen
Ein Projekt wie das vorliegende Lehrbuch erfordert umfangreiche Unterstützung, die wir anerkennen und für die wir uns bedanken möchten. Die Neuauflage des Lehrbuches hat in ganz besonderer
Weise von der Kompetenz, Geduld und positiven Ausstrahlung von Eva Wilhelm profitiert. Ihre
Mitarbeit war ein enormer Gewinn. Daneben haben auch Frank Wilhelm, Claudia Arnold, Helen
Kessler, Sonja Hilbrand und Martina Tremp an der Universität Basel tatkräftig geholfen. Sehr herzlich möchten wir uns bei den Autoren der Kapitel bedanken, die manchmal viel Geduld aufbrachten
(wegen Anpassungen an das Gesamtkonzept, langwierigen Überarbeitungen oder Zeitverzögerungen durch die unvermeidbaren Nachzügler). Unsere Entschuldigung gilt denjenigen, die die
Terminvorgaben einhielten, unser zusätzlicher Dank denen, die wegen Krankheiten oder anderer
Unwägbarkeiten kurzfristig »einsprangen«. Ihre Ausdauer ganz besonders unter Beweis gestellt
haben Renate Scheddin, die das Projekt beim Springer-Verlag kompetent betreute, sowie Renate
Schulz, Annette Allée und Christine Bier, die das sachkundige Lektorat besorgten. Alle zusammen
haben wir den Patienten zu danken, deren aktive Mitarbeit in der Verhaltenstherapie besonders
wichtig ist.
Für die langjährige Unterstützung unserer Forschung zur Verhaltenstherapie durch Sachbeihilfen und Personalmittel danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem deutschen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) und
dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Während unserer Marburger Zeit profitierten wir sehr
von der aktiven, uneigennützigen Förderung durch unsere damalige Chefin Irmela Florin und vom
Austausch mit den dortigen Kollegen. Später bot uns die TU Dresden ein anregendes Umfeld,
wobei der Aufbau der klinischen Psychologie und Psychotherapie der tatkräftigen und entscheidungsstarken Unterstützung durch die Universität viel verdankte. Der Aufbau eigener verhaltenstherapeutischer Ambulanzen in Marburg, Dresden und Basel, die Zusammenarbeit mit psychosomatischen, verhaltensmedizinischen und psychiatrischen Kliniken, insbesondere der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel unter der Leitung von Franz Müller-Spahn, der ständige Kontakt
mit niedergelassenen Kollegen und die jahrelange Tätigkeit in der psychotherapeutischen Fortund Weiterbildung gaben ebenfalls wesentliche Impulse, die ihren direkten Niederschlag in Kon-
IX
Vorwort
zeption und Autorenschaft des Lehrbuches fanden. Um den fruchtbaren Austausch fortzusetzen,
möchten wir ausdrücklich darum bitten, Rückmeldungen oder Vorschläge an unsere im Innenumschlag angegebene Anschrift zu schicken.
In den ersten beiden Auflagen galt der Dank zudem den Mitarbeitern der Klinischen Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden, allen voran Kerstin Raum für die organisatorische
Koordination sowie Frank Jacobi, Klaus Dilcher, Juliane Junge und Heiko Mühler. Im SpringerVerlag leistete Heike Berger zusammen mit Stefanie Zöller, Bernd Stoll, Renate Schulz, Simone
Ernst, Miriam Geissler und Regine Körkel-Hinkfoth tatkräftige Hilfe.
Das vorliegende Buch ist ein Projekt, das uns besonders am Herzen liegt, widmen möchten wir
es unseren Eltern.
Silvia Schneider und Jürgen Margraf
Riehen, im Frühjahr 2009
Lehrbuch der Verhaltenstherapie:
Das Lehrbuch besteht aus vier einander ergänzenden Bänden, die jedoch auch unabhängig voneinander genutzt werden
können. Die Bände haben folgende Inhalte:
Band 1: Verhaltenstherapie – Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen
4
4
4
4
4
4
Grundlagen
Diagnostik
Verfahren
Rahmenbedingungen
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Band 2: Verhaltenstherapie – Störungen im Erwachsenenalter – Spezielle Indikationen – Glossar
4
4
4
4
4
4
Störungen im Erwachsenenalter
Spezielle Indikationen
Glossar
Anhang
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Band 3: Verhaltenstherapie – Störungen im Kindes- und Jugendalter
4
4
4
4
4
4
4
Spezifische Grundlagen für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen
Verfahren
Spezifische Störungen
Spezielle Indikationen
Rahmenbedingungen
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Band 4 (in Vorbereitung): Therapiematerialien zu den relevanten Themen der ersten drei Bände
4
4
4
4
Störungsspezifische Therapiematerialien
Störungsübergreifende Therapiematerialien
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
XI
Inhaltsverzeichnis Band 3
I Spezifische Grundlagen
für die Verhaltenstherapie
mit Kindern und Jugendlichen
III Spezifische Störungen
19 Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
Dieter Wolke
1 Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . .
3
20 Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sabina Pauen, Eva Vonderlin
2 Entwicklungspsychopathologie. . . . . . . . . . . .
Franz Petermann, Franziska Damm
3 Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . .
Kerstin Konrad
4 Klinische Bindungsforschung . . . . . . . . . . . .
Margarete Bolten
5 Klinisch-psychologische Familienforschung . .
Meinrad Perrez, Guy Bodenmann
6 Medien und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Claude Messner
7 Klassifikation psychischer Störungen . . . . . .
Andrea Suppiger, Silvia Schneider
8 Diagnostisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . .
Carmen Adornetto, Silvia Schneider
9 Entwicklungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . .
Alexander Grob, Priska Hagmann-von Arx,
Nancy M. Bodmer
10 Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . .
Manfred Döpfner
23
21 Autistische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
Fritz Poustka
.
43
22 Intellektuelle Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . .
.
55
23
.
77
24
.
95
.
111
.
123
.
145
Germain Weber, Johannes Rojahn
Stottern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Peter Fiedler
Enuresis und Enkopresis . . . . . . . . . . . . .
Susanne Schreiner-Zink, Pia Fuhrmann,
Alexander von Gontard
Lese-/Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . .
Karin Landerl
Aufmerksamkeitsstörung . . . . . . . . . . . .
Peter F. Schlottke, Ute Strehl, Gerhard W. Lauth
351
....
367
....
381
....
395
....
411
27 Hyperkinetische Störung und oppositionelles
Trotzverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
25
26
Manfred Döpfner
28 Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . . . .
.
159
29
..............
503
..............
531
..............
555
..............
573
34 Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . . . . .
593
31
32
183
33
Michael Borg-Laufs
12 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Franz Petermann, Judith Bahmer
13 Operante Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
221
233
243
647
38 Depression/Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . .
663
Patrick Pössel
39 Adipositas und Binge Eating Disorder . . . . . . .
255
Nina Heinrichs, Kurt Hahlweg
18 Familienintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 Ticstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Manfred Döpfner
Ulrike Petermann, Johanna Pätel
17 Elterntrainings zur Steigerung
der Erziehungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . .
629
Michael Simons
Veronika Brezinka
16 Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
Markus A. Landolt
36 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerhard W. Lauth, Katja Mackowiak
15 Computerspiele in der Verhaltenstherapie
mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tina In-Albon
35 Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . .
Friedrich Linderkamp
14 Kognitive Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
453
481
II Verfahren
11 Erstkontakt und Beziehungsgestaltung
mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . .
Friedrich Lösel, Daniela Runkel
Trennungsangst . . . . . . . . .
Silvia Schneider, Judith Blatter
Spezifische Phobien . . . . . .
Barbara Schlup, Silvia Schneider
Soziale Phobie . . . . . . . . . .
Siebke Melfsen, Andreas Warnke
Selektiver Mutismus . . . . . .
Siebke Melfsen, Andreas Warnke
Prüfungsängste . . . . . . . . .
Lydia Suhr-Dachs
..............
30
Fritz Mattejat
313
Ute Ziegenhain
277
689
Simone Munsch
40 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
719
Beate Herpertz-Dahlmann, Reinhild Schwarte
41 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Leonie Fricke-Oerkermann
739
XII
Inhaltsverzeichnis
42 Substanzmissbrauch und -abhängigkeit . . . . .
Eva Hoch, Roselind Lieb
43 Neurodermitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Viktoria Ritter, Ulrich Stangier
44 Chronischer Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Birgit Kröner-Herwig
45 Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Petra Warschburger
763
V Rahmenbedingungen
785
803
52 Verhaltenstherapie in der Pädiatrie . . . . . . . . .
819
53 Verhaltenstherapie in der Pädagogik . . . . . . . .
843
Silvia Schneider
865
56 Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
Fritz Mattejat, Kurt Quaschner
57 Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern
und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
Franz Moggi
49 Verhaltenstherapie und
psychopharmakologische Behandlung . . . . . .
55 Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und
Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland,
der Schweiz und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . 987
Josef Könning, Tina In-Albon, Bibiana Schuch
855
Beate Schwarz
48 Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Jürg Forster
IV Spezielle Indikationen
47 Kinder nach Trennung und Scheidung . . . . . . .
959
Ulrike Petermann, Mara Zoe Krummrich
54 Berufsethische und rechtliche Aspekte
in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen . . .
46 Kinder psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . . .
937
Meinolf Noeker
887
Gunther Meinlschmidt, Marion Tegethoff
Hans-Christoph Steinhausen
50 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . .
901
Juliane Junge-Hoffmeister
51 Sport und psychische Gesundheit . . . . . . . . . .
Anhang
923
Tim Hartmann, Uwe Pühse
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049
XIII
Autorenverzeichnis
Adornetto, Carmen, Dr.
Borg-Laufs, Michael, Prof. Dr.
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Schaffhauserrheinweg 55
4058 Basel
Schweiz
[email protected]
Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Niederrhein
Richard-Wagner-Straße 101
41065 Mönchengladbach
[email protected]
Brezinka, Veronika, Dr. Dr.
Bahmer, Judith, Dr.
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen
Psychopathologie des Kindes und Jugendalters
Universität Zürich
Neptunstrasse 60
8032 Zürich
Schweiz
[email protected]
Blatter, Judith, Dr.
Zentrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Damm, Franziska, Dipl.-Psych.
Bodenmann, Guy, Prof. Dr.
Döpfner, Manfred, Prof. Dr.
Psychologisches Institut
der Universität Zürich
Klinische Psychologie
Binzmühlestrasse 14/23
8050 Zürich
Schweiz
[email protected]
Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln
Robert-Koch-Straße 10
50931 Köln
[email protected]
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen
[email protected]
Fiedler, Peter, Prof. Dr.
Bodmer, Nancy, Dr.
Entwicklungs-und Persönlichkeitspsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Bolten, Margarete, Dr.
Klinische Kinder-und Jugendpsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Birmanssgasse 8
4009 Basel
Schweiz
[email protected]
Psychologisches Institut der Universität Heidelberg
Hauptstraße 47–51
69117 Heidelberg
[email protected]
Forster, Jürg, Dr.
Schulpsychologischer Dienst Zürich
Seestrasse 346
8038 Zürich
Schweiz
[email protected]
Fricke-Oerkermann, Leonie, Dr.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes und Jugendalters
der Universität zu Köln
Robert-Koch-Straße 10
50931 Köln
[email protected]
XIV
Autorenverzeichnis
Fuhrmann, Pia, Dipl.-Psych.
Herpertz-Dahlmann, Beate, Prof. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg/Saar
[email protected]
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinikum Aachen
Neuenhofer Weg 21
52074 Aachen
[email protected]
Gontard, Alexander, von, Prof. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg/Saar
[email protected]
Grob, Alexander, Prof. Dr.
Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Hagmann-von Arx, Priska, Lic. phil.
Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Hahlweg, Kurt, Prof. Dr.
Institut für Psychologie
Technische Universität Braunschweig
Konstantin-Uhde-Straße 4
38106 Braunschweig
[email protected]
Hoch, Eva, Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Technische Universität Dresden
Chemnitzer Straße 46
01187 Dresden
[email protected]
In-Albon, Tina, Dr.
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Junge-Hoffmeister, Juliane, Dr. Dipl.-Psych.
Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik
Universitätsklinikum »Carl Gustav Carus« an der Technischen
Universität Dresden
Fletcherstraße 74
01307 Dresden
[email protected]
Könning, Josef, Dr.
AKJP GmbH
Bohmter Straße 1
49074 Osnabrück
[email protected]
Hartmann, Tim, M. Sc.
Institut für Sport und Sportwissenschaften
Universität Basel
Brüglingen 33
4052 Basel
Schweiz
[email protected]
Heinrichs, Nina, Prof. Dr.
Abt. für Psychologie
Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft
Universität Bielefeld
Postfach 100131
33501 Bielefeld
[email protected]
Konrad, Kerstin, Prof. Dr.
LFG Klinische Neuropsychologie
des Kindes- und Jugendalters
Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinikum Aachen
Neuenhofer Weg 21
52074 Aachen
[email protected]
Kröner-Herwig, Birgit, Prof. Dr.
Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Abteilung 7: Klinische Psychologie und Psychotherapie
Universität Göttingen
Goßlerstraße 14
37073 Göttingen
[email protected]
XV
Autorenverzeichnis
Krummrich, Mara Zoe, Dipl.-Psych.
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 6
23359 Bremen
[email protected]
Institute of Criminology
University of Cambridge
Sidgwick Avenue
Cambridge CB3 9DT
United Kingdom
[email protected]
Landerl, Karin, Prof. Dr.
Mackowiak, Katja, Prof. Dr.
Psychologisches Institut
Abteilung Klinische und Entwicklungspsychologie
Universität Tübingen
Gartenstraße 29
72074 Tübingen
[email protected]
Pädagogische Psychologie
Pädagogische Hochschule Weingarten
Kirchplatz 2
88250 Weingarten
[email protected]
Mattejat, Fritz, Prof. Dr.
Landolt, Markus, Priv.-Doz. Dr.
Kinderspital Zürich
Steinwiesstrasse 75
8032 Zürich
Schweiz
[email protected]
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinikum Gießen und Marburg
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg/Lahn
[email protected]
Meinlschmidt, Gunther, Dr.
Lauth, Gerhard, Prof Dr.
Psychologie und Psychotherapie
Heilpädagogische Fakultät
Universität zu Köln
Klosterstraße 79b
50931 Köln
[email protected]
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60-62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Melfsen, Siebke, Dr.
Lieb, Roselind, Prof. Dr.
NFS sesam
Universität Basel
Birmannsgasse 8
4009 Basel
Schweiz
[email protected]
Linderkamp, Friedrich, Priv.-Doz. Dr.
Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik
Rehabilitationspsychologie
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fk I
Ammerländer Heerstraße 114–118
26129 Oldenburg
[email protected]
Lösel, Friedrich, Prof. Dr. Dr.
Institut für Psychologie I
Universität Erlangen-Nürnberg
Bismarckstraße 1
91054 Erlangen
[email protected]
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Messner, Claude, Dr.
Sozial- und Wirtschaftspsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60-62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Moggi, Franz, Priv.-Doz. Dr.
Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern
Bolligenstrasse 111
3000 Bern
Schweiz
[email protected]
XVI
Autorenverzeichnis
Munsch, Simone, Priv.-Doz. Dr.
Poustka, Fritz, Prof. Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60-62
4055 Basel, Schweiz
[email protected]
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt
Deutschordenstraße 50
60590 Frankfurt am Main
[email protected]
Noeker, Meinolf, Dr.
Psychologischer Dienst
Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn
Adenauerallee 119
53113 Bonn
[email protected]
Pätel, Johanna, Dipl.-Psych.
IVB Institut für Verhaltenstherapie Berlin
Hohenzollerndamm 125/126
14199 Berlin
Pauen, Sabina, Prof. Dr.
Psychologisches Institut
der Universität Heidelberg
Hauptstraße 47–51
69117 Heidelberg
[email protected]
Perrez, Meinrad, Prof. Dr.
Institut für Psychologie
Universität Fribourg
Rue de Faucigny 2
1700 Fribourg
Schweiz
[email protected]
Petermann, Franz, Prof. Dr.
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen
[email protected]
Petermann, Ulrike, Prof. Dr.
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 6
28359 Bremen
[email protected]
Pössel, Patrick, Prof. Dr.
Department of Educational and Counseling Psychology
University of Louisville
2301 S. Third Street
Louisville, KY 40292
USA
[email protected]
Pühse, Uwe, Prof. Dr.
Institut für Sport und Sportwissenschaften
Universität Basel
Brüglingen 33
4052 Basel
Schweiz
[email protected]
Quaschner, K., Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
der Philipps-Universität Marburg
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg/Lahn
[email protected]
Ritter, Viktoria, Dipl.-Psych.
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Institut für Psychologie
der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt
Varrentrappstraße 40–42
60486 Frankfurt am Main
[email protected]
Rojahn, Johannes, Ph. D.
George Mason University
Department of Psychology
10340 Democracy Lane, Suite 202
Fairfax, VA 22030-4444
USA
[email protected]
Runkel, Daniela, Dipl.-Psych.
Institut für Psychologie I
Universität Erlangen-Nürnberg
Bismarckstraße 1
91054 Erlangen
[email protected]
Schlottke, Peter F., Prof. Dr.
Institut für Medizinische Psychologie
und Verhaltensneurobiologie
Psychotherapeutische Hochschulambulanz
Medizinische Fakultät
Universität Tübingen
Gartenstraße 29
72074 Tübingen
[email protected]
XVII
Autorenverzeichnis
Schlup, Barbara, Dr.
Stangier, Ulrich, Prof. Dr.
Psychiatrische Poliklinik
Inselspital
Murtenstrasse 21
3010 Bern
Schweiz
[email protected]
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Institut für Psychologie
der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt
Varrentrappstraße 40–42
60486 Frankfurt am Main
[email protected]
Schneider, Silvia, Prof. Dr.
Steinhausen, Hans-Christoph, Prof. Dr. Dr.
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie
des Kindes- und Jugendalters
Medizinische Universität Wien
Währingerguertel 18–20
1090 Wien
Österreich
[email protected]
Chair of Child and Adolescent Psychiatry
Psykiatrien – Region Nordjylland
Alborg Psychiatric Hospital
Aarhus University Hospital
Mølleparkvej.10
9000 Aalborg
Denmark
und
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60-62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
und
Zentrum für Kinder- und Jugendpsychologie
der Universität Zürich
Neumünsterallee 3
8008 Zürich
Schweiz
[email protected]
Schwarte, Reinhild, Dipl.-Psych.
Strehl, Ute, Priv.-Doz. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinikum Aachen
Neuenhofer Weg 21
52074 Aachen
[email protected]
Institut für Medizinische Psychologie
und Verhaltensneurobiologie
Universität Tübingen
Gartenstraße 29
72074 Tübingen
[email protected]
Schreiner-Zink, Susanne, Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg/Saar
[email protected]
Schuch, Bibiana, Dr.
Schwarz, Beate, Dr.
Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60-62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Suhr-Dachs, Lydia, Dr.
Ausbildungsinstitut für Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie
an der Universtität zu Köln (AKIP)
Robert-Koch-Straße 10
50931 Köln
[email protected]
Simons, Michael, Dr. Dipl.-Psych.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinikum Aachen
Neuenhofer Weg 21
52074 Aachen
[email protected]
Suppiger, Andrea Doris, Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
XVIII
Autorenverzeichnis
Tegethoff, Marion, Dipl.-Psych.
Weber, Germain, ao. Prof. Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fakultät für Psychologie der Universität Basel
Missionsstrasse 60–62
4055 Basel
Schweiz
[email protected]
Institut für Klinische, Biologische und
Differentielle Psychologie
Universität Wien
Liebiggasse 5
1010 Wien
Österreich
[email protected]
Vonderlin, Eva, Dr.
Psychologisches Institut
Universität Heidelberg
Hauptstraße 47–51
69117 Heidelberg
[email protected]
Warnke, Andreas, Prof. Dr.
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
[email protected]
Warschburger, Petra, Prof. Dr.
Institut für Psychologie der Universität Potsdam
Beratungspsychologie
Postfach 601553
14415 Potsdam
[email protected]
Wolke, Dieter, Prof. Dr.
Department of Psychology and HSRI
Warwick Medical School
The University of Warwick
Coventry CV4 7AL
United Kingdom
[email protected]
Ziegenhain, Ute, Priv.-Doz. Dr.
Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
Universitätsklinikum Ulm
Steinhövelstraße 5
89070 Ulm
[email protected]
I
I Spezifische Grundlagen für
die Verhaltenstherapie mit
Kindern und Jugendlichen
1
Entwicklungspsychologische
Grundlagen – 3
Sabina Pauen, Eva Vonderlin
2
Entwicklungs-psychopathologie
– 23
Franz Petermann, Franziska Damm
3
Biologische Grundlagen
– 43
Kerstin Konrad
4
Klinische Bindungsforschung
– 55
Margarete Bolten
5
Klinisch-psychologische
Familienforschun – 77
Meinrad Perrez, Guy Bodenmann
6
Medien und Gewalt
– 95
Claude Messner
7
Klassifikation psychischer Störungen – 111
Andrea Suppiger, Silvia Schneider
8
Diagnostisches Vorgehen
– 123
Carmen Adornetto, Silvia Schneider
9
Entwicklungsdiagnostik
– 145
Alexander Grob, Priska Hagmann-von Arx, Nancy M. Bodmer
10
Psychotherapieforschung
Manfred Döpfner
– 159
1
1
Entwicklungspsychologische
Grundlagen
Sabina Pauen, Eva Vonderlin
1.1
Einleitung – 4
1.2
Was ist an Kindern so besonders?
1.3
Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinderund Jugendtherapeuten? – 5
1.4
Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung – 7
1.4.1
1.4.2
1.4.3
1.4.4
Klassische Konditionierung – 7
Operante Konditionierung – 8
Beobachtungslernen – 9
Lernen durch Einsicht – 10
1.5
Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung
für die Verhaltenstherapie – 12
1.5.1
1.5.2
1.5.3
Entwicklung kognitiver Grundfunktionen – 12
Entwicklung emotionaler Grundfunktionen – 14
Entwicklung sozialer Grundfunktionen – 18
1.6
Ausblick
– 20
Zusammenfassung
Literatur
– 21
– 21
Weiterführende Literatur
– 22
–4
4
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
1.1
Einleitung
Wer sich mit den Grundlagen der Verhaltenstherapie beschäftigt, mag sich fragen, warum es eigentlich notwendig
sein soll, Kinder als etwas Besonderes zu betrachten. Gelten die allgemeinen Lerngesetze nicht genauso für Neugeborene wie für Erwachsene? Der vorliegende Beitrag wird
diese These bestätigen und gleichzeitig deutlich machen,
warum eine differenzierte Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Kenntnissen zu einem besseren
Verständnis der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen führt.
Ein kurzer Rückblick auf das psychologische Bild vom
Kind im historischen Wandel soll dies zunächst an Beispielen illustrieren. Anschließend wird systematisch begründet, inwiefern entwicklungspsychologische Kenntnisse für
die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen
wichtig sind. Die nachfolgenden Abschnitte beziehen sich
auf verschiedene Lernformen und bieten dem Leser Einblick in empirische Erkenntnisse zur Entwicklung dieser
Lernformen über das Lebensalter. Am Ende des Beitrags
folgt eine Beschreibung der wichtigsten entwicklungspsychologischen Veränderungen für ausgewählte Verhaltensbereiche, die in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen
eine zentrale Rolle spielen.
1.2
ihrer Wirklichkeit« seien – Wesen also, die nicht blind auf
Belohnung und Bestrafung reagieren, sondern Erfahrungen
stets interpretieren und einordnen, um ihnen dadurch Bedeutung zu verleihen. In den 1970er Jahren vollzog sich
auch innerhalb der Verhaltenstherapie ein Perspektivwandel: Die sog. »kognitive Wende« führte dazu, dass man zunehmend nach den Gedanken von Menschen fragte, um ihr
Verhalten zu verstehen. Ferner machte Piaget deutlich, dass
die Formen der Auseinandersetzung mit der Umwelt (in
der Terminologie seiner Theorie ist von »Schemata« oder
»Denkstrukturen« die Rede) sich in systematischer Weise
mit dem Alter verändern. Damit war klar: wer das Verhalten von Kindern richtig deuten oder ihre Lerngeschichte
nachhaltig beeinflussen will, muss über Kenntnisse ihrer
altersspezifischen Denkstrukturen verfügen.
Diese Überzeugung wurde im Informationsverarbeitungsansatz, der sich kritisch mit Piagets Theorie auseinandersetzte, weitergeführt. Hier stellte man die genaue Analyse der Anforderungen einer Aufgabe an das handelnde
Kind in Beziehung zu dem, was man über seine geistigen
Ressourcen wusste. Neu an diesem Ansatz war, dass nun
auch die Frage, wie sich basale mentale Prozesse mit dem
Alter verändern, Eingang in die Forschung fand. Es begann
eine Phase der verstärkten Untersuchung solcher Prozesse,
wie etwa der Veränderung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, die schließlich die Grundlage von höheren Denkprozessen bilden.
Was ist an Kindern so besonders?
Einbeziehung der emotionalen Entwicklung
Das Bild vom Kind im historischen Wandel
Noch bis ins 19. Jahrhundert betrachtete man Kinder als
kleine Erwachsene. Man zog sie so an, man verlangte ihnen
Ähnliches ab, und man dachte, dass sie im Prinzip genauso
funktionieren würden wie die Großen – nur eben ein bisschen langsamer und auf niedrigerem Leistungsniveau.
Auch die ersten Behavioristen und Lerntheoretiker machten zunächst keinen grundlegenden Unterschied zwischen
Kindern und Erwachsenen. Alle Menschen lernen demnach in allen Altersstufen nach den gleichen Prinzipien und
in vergleichbarer Weise. Allerdings konstatierte Watson,
einer der berühmtesten Vertreter der klassischen Lerntheorie, dass Kinder noch keine lange Lerngeschichte hinter
sich haben und man sie daher durch gezielten Einsatz von
Belohnung und Bestrafung zu beliebigen Persönlichkeiten
machen könne. Auch wenn diese Aussage heute wohl niemand mehr unterschreiben würde, weil wir inzwischen
auch viel darüber gelernt haben, dass Kinder nicht als unbeschriebene Blätter geboren werden, bleibt es wahr, dass
Kinder offen sind für unterschiedlichste Arten von Erfahrungen und dass das frühe Lernen für das spätere Leben
eine zentrale Rolle spielt.
Was hat sich seit den Anfängen des Behaviorismus noch
geändert an unserem Bild vom Kind? Zunächst erfuhr die
Welt von Jean Piaget, dem Begründer der kognitiven Entwicklungspsychologie, dass schon Kinder »Konstrukteure
Auch wenn dieser veränderte Blick auf Kinder zweifellos
einen großen Gewinn bringt, besteht ein Nachteil aller bislang genannten Ansätze immer noch darin, dass sie die
emotionale Seite der Kindesentwicklung weitgehend unbeachtet lassen. Kinder haben aber nicht nur Gedanken,
sondern auch Gefühle, und der Umgang mit Gefühlen verändert sich mit dem Alter. Meistens sind es gerade Probleme
mit der Gefühlswelt, die Eltern dazu veranlassen, professionelle psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Ausführungen
zur Dynamik, die hinter dieser emotionalen Entwicklung
steht, finden sich bis heute vor allem in psychoanalytisch
geprägten Entwicklungstheorien. Neuerdings gibt es jedoch
eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die versuchen, die Gefühls- und Kognitionsentwicklung direkt aufeinander zu
beziehen. Einige Beispiele mögen den engen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen verdeutlichen:
Sprachentwicklung. Die Sprachentwicklung macht bekanntlich im Altern zwischen 2 und 6 Jahren entscheidende Fortschritte. Diese Fortschritte tragen ganz wesentlich mit dazu bei, dass Kinder ihre Gefühle auf sozial akzeptierte Weise zum Ausdruck bringen können. Sie können
schimpfen anstatt zu schlagen, wenn sie wütend sind; sie
können sich beschweren anstatt zu heulen, wenn ihnen
Unrecht angetan wird, und sie können ihre Bedürfnisse
5
1.3 · Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinder- und Jugendtherapeuten?
differenziert mit Worten mitteilen. Die Entwicklung dieser
Fähigkeiten hat Konsequenzen für das Verhalten. So weiß
man etwa, dass insbesondere Kinder, die eine Sprache
nicht beherrschen, eher zu aggressivem Verhalten neigen
und soziale Schwierigkeiten haben. Die Sprache ist also
eine kognitive Leistung mit wichtigen Implikationen für
den Gefühlsausdruck und die Möglichkeit, in einen befriedigenden Austausch mit anderen Menschen zu kommen.
Wir werden uns wesentliche Meilensteine der Sprachentwicklung aus diesem Grund später noch genauer vor Augen führen.
Theory of Mind. Ein zweites Beispiel ist die Entwicklung
einer »Theory of Mind«: gemeint ist die Fähigkeit, mentale
Zustände anderer Personen zu repräsentieren. Dazu gehört
etwa, dass man nachvollziehen kann, was eine andere Person weiß und was nicht oder welche Motive sie dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Auch diese Errungenschaft,
die an ganz spezifische geistige Leistungen geknüpft ist, hat
große Bedeutung für den Umgang mit eigenen Gefühlen:
In Auseinandersetzungen sind die Chancen, befriedigende
Lösungen für beide Seiten zu finden, wesentlich größer,
wenn man sich in die Lage des Gegenübers versetzen kann.
Außerdem hilft einem diese Form der »sozialen Intelligenz«
ganz allgemein, befriedigende Beziehungen mit anderen
Menschen zu haben. Sie macht Mitgefühl und gegenseitiges
Verständnis überhaupt erst möglich. Auch hier zeigt sich
folglich der enge Zusammenhang zwischen Denken und
Fühlen, der für therapeutische Prozesse von Relevanz ist.
Obwohl die Entwicklung einer Theory of Mind ihrerseits
systematische Bezüge zur Sprachentwicklung aufweist,
stellt sie dennoch einen eigenen Forschungsbereich dar, der
in der modernen Entwicklungspsychologie zunehmend an
Bedeutung gewinnt. Auf entsprechende Befunde werden
wir daher später noch eingehen.
gang mit Gefühlen und die Verhaltensplanung. Indem wir
heute nach hirnphysiologischen Korrelaten für beobachtbares Verhalten fragen, wird uns deutlich, wie eng verschränkt die kognitive und emotionale Entwicklung sind.
Gleichzeitig wird damit klar, wie wichtig es ist, die biologische Perspektive mit im Blick zu behalten, wenn wir entwicklungspsychologische Voraussetzungen der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen diskutieren. In
diesem Zusammenhang mag es interessant sein zu erfahren, dass auch die Sprachproduktion und die Entwicklung
einer Theory of Mind mit Frontalhirnfunktionen in Verbindung gebracht werden.
> Fazit
Unsere Sicht auf Kinder hat sich seit Beginn der psychologischen Forschung entscheidend verändert. Heute ist uns
bewusst, dass das Verhalten von Kindern und Jugendlichen nicht in jeder Hinsicht auf gleichen Voraussetzungen basiert wie das von Erwachsenen. Ein Grund
dafür ist die biologische Reifung des Gehirns. Ein weiterer
Grund sind noch fehlende Kompetenzen in einzelnen
Bereichen des Denkens und Fühlens, die als Grundlage
für höhere mentale Leistungen dienen und die erst
ganz allmählich aufgebaut werden. Wer das Verhalten
von Kindern in seiner Veränderung mit dem Lebensalter
richtig verstehen will, muss behaviorale, mentalistische
und biologische Aspekte von Entwicklung gleichermaßen
beachten.
Ausgehend von diesen Grundannahmen soll im nächsten
Abschnitt ausgeführt werden, in welcher Hinsicht eine differenzierte Auseinandersetzung mit altersbedingten Veränderungen für Verhaltenstherapeuten nützlich sein kann.
1.3
Neurobiologie. Ein drittes Beispiel weist auf einen ganz
neuen Trend innerhalb der entwicklungspsychologischen
Forschung hin: Heute interessieren wir uns verstärkt für
die neurobiologischen Grundlagen, die Verhalten erklären: So ist die Fähigkeit zur exekutiven Kontrolle (zur Kontrolle darüber, welches Verhalten wann wie gezeigt wird)
für planvolles Handeln genauso unabdingbar wie für die
Kontrolle von Gefühlsäußerungen. Die Entwicklung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten hängt also auch hier
eng miteinander zusammen. Das ist kein Zufall, sondern
lässt sich damit erklären, dass im Gehirn in beiden Fällen
ein evolutionär besonders junger Bereich, das Frontalhirn,
zur Steuerung dieser Funktion wichtig ist. Wie wir inzwischen wissen, reift das Frontalhirn vergleichsweise spät.
Das gilt sowohl für die Verschaltung der Nervenzellen untereinander als auch für die Myelinisierung (die Isolierung
einzelner Neurone). Außerdem verändert sich die Hormonproduktion noch einmal ganz wesentlich während der
Pubertät, und das hat ebenfalls Konsequenzen für den Um-
Wie nützen entwicklungspsychologische
Kenntnisse Kinderund Jugendtherapeuten?
Die Relevanz entwicklungspsychologischer Forschung als
Grundlage der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen lässt sich an drei Kernthemen verdeutlichen:
4 Entwicklungsnormen,
4 Entwicklungsaufgaben und
4 altersabhängige Kompetenzen.
Entwicklungsnormen
Kinder und Jugendliche verhalten sich in vielen Situationen anders als Erwachsene und können daher nur bedingt an den Normen für Erwachsene gemessen werden.
So ist es zwar nicht unbedingt wünschenswert, aber durchaus im Bereich des Normalen, wenn ein Grundschüler sich
im Streit mit anderen rauft – im Erwachsenenalter wäre
ein vergleichbares Verhalten dagegen von der Norm abweichend.
1
6
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
> Die Entwicklungspsychologie bietet Definitionen
des Normalen und Abweichenden, die altersspezifisch sind. Eine detaillierte Kenntnis solcher Normen
ist wichtig für Störungskonzeptionen und die Beurteilung der Therapiebedürftigkeit im Einzelfall.
Entwicklungsaufgaben
Im Laufe seines Lebens muss der Mensch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Entwicklungsaufgaben
meistern. Beispielsweise muss ein Kleinkind lernen, seine
Körperfunktionen allmählich selbst zu kontrollieren, ein
Kindergartenkind muss lernen, sich in größeren sozialen
Gruppen auch ohne Anwesenheit primärer Bezugspersonen zurechtzufinden, von einem Grundschüler wird erwartet, dass er sich an die Regeln des Schulalltags hält und
Leistungsbereitschaft zeigt, und ein Jugendlicher steht vor
der Herausforderung, seinen Umgang mit dem anderen
Geschlecht neu zu bestimmen. Die Gesellschaft beurteilt
Kinder danach, wie gut sie diese Entwicklungsaufgaben zur
rechten Zeit erfüllen. Gelingt ihnen dies nicht, so kann das
ein wichtiges Motiv für eine Verhaltenstherapie sein.
! Entwicklungspsychologische Theorien geben Aufschluss darüber, welche Entwicklungsaufgaben in
welchem Alter relevant sind. Daraus ergeben sich
insbesondere die Therapieziele (z. B. Autonomie,
Selbststeuerung, Identitätsentwicklung).
Altersabhängige Kompetenzen
Auch wenn es für alle Altersstufen allgemeine Prinzipien
des Lernens und der Verhaltensmodifikation gibt, ist es
doch nicht das Gleiche, wenn man einem Zweijährigen
helfen möchte, sein Verhalten zu ändern, als wenn man das
mit einem Jugendlichen versucht. Je jünger ein Kind ist,
desto wichtiger sind Eltern für den Therapieerfolg. Je älter
die Kinder werden, desto bedeutsamer sind Gespräche und
eigene Einsichten. Zudem durchläuft das Gehirn in bestimmten Phasen der Entwicklung wesentliche Reifungsschritte, die für die Verhaltenssteuerung, das Denken und
Fühlen des Kindes und damit für die Auswahl geeigneter
Interventionsmöglichkeiten durch den Therapeuten von
Bedeutung sind.
! Die Entwicklungspsychologie bietet Anhaltspunkte
dafür zu beurteilen, welche Interventionsformen für
welche Altersstufen besonders Erfolg versprechend
sind. Sie klärt, ob wichtige soziale, emotionale und
kognitive Voraussetzungen für die Durchführung
von Interventionsprogrammen in einem gegebenen
Alter erfüllt sind.
Bereits vorliegende Beiträge zu entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für die Therapie von Kindern
und Jugendlichen beziehen sich vorzugsweise auf Entwicklungsnormen oder Entwicklungsaufgaben (Borg-Laufs u.
Trautner 1999). In Ergänzung und Erweiterung solcher
Beiträge wollen wir das Hauptaugenmerk auf altersabhängige kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen richten, da diese als Voraussetzung für die Umsetzung von
verhaltenstherapeutischen Konzepten von herausragender
Bedeutung sind. Diese Orientierung scheint vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen besonders nützlich, da
sich gerade in den letzten Jahren verhaltenstherapeutische
Konzepte etabliert haben, die auf komplexen Lernprinzipien basieren und höhere kognitive Leistungen und
Selbststeuerungsprozesse vom Klienten erwarten. Während Interventionsansätze früher sehr stark lerntheoretisch orientiert waren (klassisches und operantes Konditionieren) führte die kognitive Wende in der Verhaltentherapie dazu, dass heute neben der Veränderung der
funktionellen Bedingungszusammenhänge die Veränderung von vermittelnden Gedanken, Situationswahrnehmungen, Überzeugungen und Einstellungen im Mittelpunkt der Therapie stehen (Lauth et al. 2001). Das therapeutische Arbeiten an und mit den Kognitionen erfordert
aber sprachliche Interventionsstrategien, wie beispielsweise Selbstexploration oder Selbstinstruktion. In der Folge
entstand eine Reihe von Therapiemanualen mit vielfältigen Übungen insbesondere zur sozialen Wahrnehmung
sowie zum Aufbau geeigneter Selbstanweisungen, die vom
Patienten in der Therapie geübt und in den Alltag übertragen werden sollen (Reduzierung aggressiven Verhaltens,
Abbau von Impulsivität). Diese Erweiterung des Methodenspektrums stellt höhere Anforderungen an den Patienten. Das gilt etwa für seine Ausdrucksmöglichkeiten, die
Fähigkeit zur Selbstreflexion und Wahrnehmung eigener
Gefühle oder die Einsicht in das Verständnis in die Situation anderer sowie das planvolle Handeln.
Neben der Betonung der altersspezifischen Voraussetzungen für den Therapieprozess verfolgt der vorliegende
Beitrag noch ein weiteres Ziel: Er will den Bereich der frühen Kindheit, der von der Verhaltenstherapie bislang nicht
explizit aufgegriffen wurde, stärker beleuchten. Dieser
neue Fokus scheint gleich aus mehreren Gründen sinnvoll:
Zunächst wird eine Analyse der Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern dokumentieren, dass verhaltenstherapeutische Interventionen auch schon für diese Altersgruppe interessant sind. So werden wir zeigen, dass die
Basislernformen, auf denen Verhaltensprogramme für ältere Kinder aufbauen, bereits Neugeborenen zur Verfügung stehen. Bedenkt man zudem, dass eine Vielzahl von
Verhaltensstörungen ihre Wurzeln in Erfahrungen der frühen Kindheit haben, dann scheint es naheliegend, rechtzeitig einzuschreiten, bevor sich Teufelskreisläufe und schlecht
angepasste Verhaltensmuster fest etablieren. Während es
für die frühe Säuglingszeit überwiegend therapeutische
Konzepte auf systemischer und tiefenpsychologischer
Grundlage gibt (Reck et al. 2001), sind verhaltenstherapeutische Interventionen für diese Altersgruppe noch im
Entstehen und müssen weiter etabliert werden (Papousek
et al. 2001).
7
1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
Ausgehend von dieser Überlegung wollen wir im nächsten Schritt zunächst verschiedene Lernformen besprechen,
die für die Verhaltenstherapie relevant sind. Dabei werden
wir jeweils aufzeigen, welche Anforderungen ein solches
Lernen an das Kind stellt, welche Voraussetzungen zur Umsetzung das Kind von Beginn an mitbringt und welche Fähigkeiten es erst im Verlauf seiner Entwicklung erwirbt.
Anschließend werden für eine Auswahl von kognitiven,
emotionalen und sozialen Kompetenzen, die im Rahmen
von Therapieprozessen eine entscheidende Rolle spielen,
wichtige Meilensteine der Entwicklung näher erläutert. Wir
analysieren entwicklungspsychologische Voraussetzungen
für verhaltenstherapeutische Interventionen damit aus zwei
unterschiedlichen Perspektiven: zunächst aus der Perspektive der Lerntheorie und dann aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie.
! Da die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten bei Kindern erst in Entwicklung befindlich
sind, bedarf es differenzierter Kenntnisse seitens des
Therapeuten bezüglich des Leistungsniveaus von
Kindern eines gegebenen Alters, um geeignete Interventionen auswählen zu können.
1.4
Verschiedene Lernformen
und ihre Entwicklung
In der Verhaltenstherapie spielen neben der klassischen
und operanten Konditionierung auch das Beobachtungslernen sowie das Lernen durch Problemeinsicht eine wichtige Rolle. Auf jede dieser Lernformen und ihre Entwicklung wird nachfolgend ausführlicher eingegangen (vgl.
hierzu auch 7 Kap. I/5 und I/8).
1.4.1 Klassische Konditionierung
Die klassische Konditionierung ist eine der elementarsten
Lernformen. Sie setzt voraus, dass es eine unbedingte, natürliche Reaktion auf eine gegebene Reizart gibt. Beim
Pavlow’schen Hund erzeugt der Anblick von Futter (unkonditionierter Stimulus, UCS) eine Speichelreaktion (unkonditionierte Reaktion, UCR). Auch beim Neugeborenen
gibt es unbedingte Reaktionen auf bestimmte Reize. So
fängt ein hungriges Babys sofort an, nach der Mutterbrust
zu suchen (UCR), sobald es Kontakt mit menschlicher
Haut hat (UCS). Tritt nun kurz vorher immer ein konditionierter Reiz auf – ein Reiz also, der allein keine Reaktion
auslöst (z. B. ein Glockenton), so lernt der Pavlow’sche
Hund, ihn als Hinweis zu interpretieren und zeigt die Speichelsekretion auch dann, wenn der Glockenton nicht vom
Futter gefolgt wird (konditionierte Reaktion, CR). In ähnlicher Weise kann man beobachten, dass hungrige Neuge-
borene bevorzugt immer dann nach der Brust suchen
(CR), wenn sie auf dem Arm ihrer Mutter sind. Sie haben
offensichtlich innerhalb kürzester Zeit gelernt, den spezifischen Körpergeruch und die Stimme der eigenen Mutter
als Hinweis auf eine baldige Nahrungszufuhr zu interpretieren (CS). Auch wenn solche klassischen Lernleistungen
beeindruckend erscheinen mögen, wurden sie doch lange
in ihrer Bedeutung überschätzt. Wie Tierversuche eindrucksvoll belegen, wird Mutterliebe nicht nur durch die
Suche nach Nahrung geprägt: Erhielten junge Äffchen, die
man von ihrer Mutter getrennt aufzog, immer nur bei einer
Drahtgestell-Mutter Milch, nicht aber bei einer Fellmutter,
dann hielten sie sich trotzdem nur zur Nahrungsaufnahme
bei der Drahtgestell-Mutter auf und suchten ansonsten die
Nähe zur Fellmutter. Wenn Babys sich allein bewegen
könnten, würden sie sich sicher ähnlich verhalten (Harlow
u. Zimmerman 1959).
Beispiel
An einem anderen Beispiel für frühe Lernleistungen
konnte man zeigen, dass Neugeborene beim Erklingen
einer Melodie, zu der sich ihre Mutter in der Schwangerschaft regelmäßig entspannt hat, postnatal ebenfalls mit Entspannung reagieren. Offensichtlich hörte
der Fötus den unkonditionierten Reiz (hier: die Melodie), und weil das Hören der Melodie physiologisch mit
Entspannung gekoppelt war – zunächst, indem es den
Körper der Mutter entspannte und auf diese Weise
auch beim Kind Wohlbehagen auslöste –, wurde die
Melodie zu einem Hinweisreiz auf Entspannung, der
postnatal zu entsprechenden Reaktionen beim Kind
führte (DeCaspar u. Spence 1986).
Allerdings besteht ein großer Teil früher Lernerfahrungen
auch aus der Koppelung von Reizen und negativen Erlebenszuständen, wie Schmerz. Das Pieksen in den Fuß
zwecks Blutentnahme ist ein typisches Beispiel für einen
schmerzhaften unkonditionierten Stimulus. Diese Erfahrung löst beim Neugeborenen mit einiger zeitlicher Verzögerung den Rückzug des Fußes aus (UCR). Geht dem Pieksen (UCS) regelmäßig ein neutraler Reiz voraus (z. B. die
Desinfektion der Einstichfläche, CS durch einen Arzt),
dann löst diese an sich harmlose Pflegemaßnahme schon
nach wenigen Wiederholungen beim Kind Rückzugsverhalten aus (CR). Konditionierungsprozesse können die
Desinfektion zu einem Hinweisreiz (CS) auf eine nahende
Bedrohung machen und schließlich zu Abwehrverhalten
beim Anblick des Artztes führen. Dieses Problem lässt sich
häufig bei Frühgeborenen beobachten, die im Rahmen
medizinischer Maßnahmen vergleichsweise oft Schmerz
auslösenden Situationen ausgesetzt sind.
1
8
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
Beispiel
Auch im sozialen Bereich gibt es Belege für frühe Konditionierungsprozesse auf negative Reize: So hat man
etwa festgestellt, dass Kinder von depressiven Müttern,
denen es oft schwerfällt, in direkten Interaktionen mit
ihrem Kind einen gelungenen Austausch von positiven
Gefühlen zu etablieren, schon mit 3–4 Monaten aktives
Blickvermeidungsverhalten zeigen, wenn sie mit ihren
Müttern (aber nicht unbedingt mit anderen Personen)
kommunizieren (Reck et al. 2001). Sie assoziieren einen
bestimmten emotionalen Gesichtsausdruck der Mutter
(CS) mit Stress oder Aversion (UCS) und reagieren mit
Abwendung und Unbehagen (CR).
Die genannten Beispiele sollen Folgendes verdeutlichen:
! Die Voraussetzungen für klassische Konditionierungsprozesse sind bereits ab dem Säuglingsalter
gegeben. Sie führen dazu, dass an sich neutrale
Reize eine positive oder negative Bedeutung erlangen und als Hinweisreize für bestimmte Reaktionen
des Kindes dienen. Ganz allgemein sind konditionierte Reaktionen wichtig, damit das Kind von Anfang an ein Bewertungssystem aufbauen kann und
Hinweise zur Vorhersage für später folgende Ereignisse nutzen lernt.
Prinzipiell ist es von Geburt an möglich, klassische Konditionierungsprozesse einzusetzen, um das Verhalten von
Kindern zu steuern. Dies geschieht im Alltag ganz automatisch und ungeplant. Es kann aber auch bewusst eingesetzt
werden, um das Verhalten des Kindes zu beeinflussen. Petermann (2003) benennt verschiedene Methoden der Kinderverhaltenstherapie, die auf klassischer Konditionierung
beruhen:
4 die Aversionsbehandlung,
4 das Entspannungstraining und
4 die systematische Desensibilisierung.
Für ältere Kinder spielen andere Lernformen, wie etwa die
operante Konditionierung oder das Beobachtungslernen
insgesamt eine größere Rolle.
1.4.2 Operante Konditionierung
Im Unterschied zur klassischen Konditionierung gilt für die
operante Konditionierung, dass ein spontan auftretendes
Verhalten durch Belohnung oder Bestrafung, die der Reaktion nachfolgt (Konsequenz), in seiner Auftretenshäufigkeit beeinflusst wird. Auch diese Lernform ist sehr früh
nachweisbar, wie Säuglingsstudien belegen. Ganz allgemein
scheint es bemerkenswert, dass gerade zu Beginn des Lebens die Auswahl an materiellen Verstärkern vergleichs-
weise gering ist (z. B. Milch), während eine ganze Palette
unterschiedlicher sozialer Verstärker, die einen positiven
zwischenmenschlichen Kontakt ermöglichen (z. B. Lächeln, Ammensprache, Streicheln) zur Verfügung stehen.
Wie das Beispiel zur Saugpräferenz (s. unten) anschaulich
dokumentiert, können auch in der frühkindlichen Entwicklung Handlungsverstärker (hier: vertraute Geschichte
hören) zum Einsatz kommen.
Beispiel
Das Saugpräferenzparadigma
(DeCaspar u. Fifer 1980)
Um nachzuweisen, dass sich Föten an während der
Schwangerschaft vorgelesene Geschichten erinnern
können, setzte man wenige Tage alten Babys einen
Kopfhörer auf und erfasste zunächst, wie häufig sie
spontan saugten. Dann spielte man ihnen entweder
eine Geschichte ein, die sie noch nicht kannten, oder
die bereits vertraute Geschichte (beide von einer fremden Person vorgelesen). Welche Geschichte zu hören
war, hing von ihrer Saugrate ab: Die Hälfte der Kinder
musste schneller saugen, um die vertraute Geschichte
zu hören, und die andere Hälfte der Kinder musste
langsamer saugen. Die Kinder lernten sehr schnell, ihr
Nuckelverhalten so anzupassen, dass sie die vertraute
Geschichte zu hören bekamen. Hieran sieht man, dass
neben primären Verstärkern, wie etwa Nahrung, auch
sekundäre Verstärker, wie etwa ein vertrautes Lautmuster, zur Verhaltenssteuerung (hier: der Steuerung des
Nuckelverhaltens) eingesetzt werden können.
Neues Wissen über die Gehirnentwicklung passt zur Beobachtung früher Lern- und Gedächtnisprozesse: Demnach
scheint der Hippocampus, eine Struktur im Temporallappen, die beim Lernen und Erinnern sowie bei der Zuordnung von unterschiedlichen Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle spielt, bereits zum Zeitpunkt der Geburt weit
entwickelt zu sein. Der Hippocampus ist eng verschaltet mit
dem limbischen System, das als Gefühls- und Bewertungszentrum des Menschen diskutiert wird. Man kann also zunächst einmal davon ausgehen, dass Babys prinzipiell als
lern- und erinnerungsfähige Wesen im umfassenden Sinne
zur Welt kommen. Ferner ist es möglich, ihr Verhalten sowohl über klassische als auch operante Konditionierung zu
steuern. Dabei sind neben primären auch sekundäre Verstärker unterschiedlicher Art wirksam.
Bis heute ist noch sehr wenig darüber bekannt, ob unterschiedliche Verstärkerpläne bei Säuglingen und Kleinkindern eine vergleichbare Wirkung haben wie bei älteren
Kindern und Erwachsenen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Prinzipien der Kontingenz (enge zeitlich
Koppelung von auftretendem Verhalten und folgender Verstärkung), der Reihenfolge (erst Zielverhalten, dann Ver-
9
1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
stärkung) sowie Wiederholung (kontinuierliche oder zumindest intermittierende Verstärkung) für alle Altersgruppen gleichermaßen wichtig sind. Beobachtungen aus
Interaktionsstudien legen den Schluss nahe, dass bei jüngeren Kindern ein hohes Maß an Kontingenz für den Aufbau
neuer Reaktionsweisen sehr wichtig sein dürfte. Das zeigt
sich besonders anschaulich am Lernen von kommunikativem Verhalten: Mütter/Väter, die mit ihren Säuglingen so
umgehen, dass sie in aller Regel prompt und angemessen
auf die Kommunikationssignale ihres Kindes reagieren,
schaffen damit die Basis für ein sicheres Bindungsverhalten
und fördern die Tendenz ihrer Kinder, sich mitzuteilen (Papousek et al. 2001). Dabei sollten die Reaktionen der Eltern
in der Regel zeitlich eng an die Äußerungen des Kindes
gekoppelt sein. Außerdem muss es sich um ein stabiles Antwortmuster handeln. Mütter/Väter, die sich wenig kontingent verhalten und widersprüchliche Signale aussenden,
erzeugen unsicheres Bindungsverhalten. Bereits wenige
Monate alte Säuglinge quittieren dies durch Blickabwendung und geringe Kommunikationsbereitschaft gegenüber
den betreffenden Personen.
Konditionierungsprozesse sind von Geburt an möglich. Ob die Anzahl von Wiederholungen zum Aufbau einer konditionierten Reaktion in jüngeren Jahren kleiner
oder größer ist als bei älteren Kindern, wissen wir noch
nicht sicher. Die Beantwortung dieser Frage dürfte stark
mit der Art des zu lernenden Inhalts variieren. Die Eltern
werden umso eher Einfluss auf das Verhalten des Kindes
haben, je eindeutiger sie bestimmte Hinweisreize setzen, je
besser sie darauf achten, dass das Kind in einem lernbereiten Zustand (aufmerksam) ist, wenn der Hinweisreiz gegeben wird und je zuverlässiger auf den unbedingten Reiz
bzw. auf die spontane Verhaltensweise bedeutsame Konsequenzen folgen. Zu beachten gilt es ferner, dass sozialen
Verstärkern, wie Zuwendung und Ansprache, von Geburt
an ein großer Stellenwert beizumessen ist. Was sich mit
dem Alter verändert, ist vor allem, wie unmittelbar die Belohnung auf das erwünschte Verhalten folgen muss. Während eine prompte Reaktion, die in Mimik und Sprachmelodie eindeutig erkennbar sein sollte, für Säuglinge extrem
wichtig ist, können Dritt- oder Viertklässler durchaus auch
sehr indirekte Formen der Anerkennung, wie etwa eine
gute Schulnote, die erst eine Woche nach der gezeigten
Leistung als Belohnung zum Tragen kommt, mit dem gewünschten Verhalten (hier: für die Schule üben) in Verbindung bringen. Kindergartenkinder und jüngere Grundschüler befinden sich in einem Zwischenstadium. Sie profitieren stärker von direkt spürbaren Konsequenzen ihres
Verhaltens, sind z. T. aber auch schon in begrenztem Umfang zu Belohnungsaufschub in der Lage. Wichtig ist es in
diesen Fällen, den Zusammenhang zwischen Verhalten
und Konsequenz verbal zu verdeutlichen, da diese Verdeutlichung gleichzeitig als Gedächtnisstütze dient und die
Reflexion über das eigene Handeln und seine Folgen fördert. Wachsende Gedächtnis- und Sprachkompetenzen
sind also ganz wesentlich für die Fähigkeit von Kindern,
Belohnungsaufschub akzeptieren zu können.
Die Verwendung von Tokensystemen, die bei der operanten Konditionierung im Rahmen der Kindertherapie
eine herausragende Rolle spielt (Lauth et. al. 2001,
7 Kap. III/13), setzt Symbolverständnis voraus, denn das
Kind muss verstehen, dass die erworbenen Tokens (Punkte,
Sternchen, Smileys etc.) für konkrete Belohnungen stehen,
die zu einem späteren Zeitpunkt in materielle oder soziale
Verstärker umgetauscht werden können. Grundschulkinder lernen, sich auf etwas zu freuen. Zusätzlich finden in
der Schule Lernprozesse statt (wie etwa das Grundrechnen
auch mit Geld), die ihnen die Bedeutung von Tokens nahebringen. Der Umgang mit solchen Systemen macht ihnen
auch aus diesem Grund häufig Spaß. Folglich gibt es verschiedene entwicklungspsychologische Gründe, warum
Tokensysteme im Rahmen der operanten Konditionierung
ab dem Grundschulalter besonders gut anwendbar sind.
! Eine Verhaltensformung im Sinne von klassischer
und operanter Konditionierung findet von Geburt
an statt, die primären Bezugspersonen spielen dabei
eine zentrale Rolle.
1.4.3 Beobachtungslernen
Wie die beiden vorangegangen Lernformen, so kann auch
das Beobachtungslernen von früh an nachgewiesen werden. Sieht man einmal von der Neugeborenenimitation ab,
die sich auf einfache mimische Gesten beschränkt, kann
man ab dem 3.–4. Lebensmonat auch die gezielte Nachahmung von einfachen Handlungen beim Kind beobachten,
die vor allem in direkter Interaktion von Angesicht zu Angesicht zum Tragen kommt. Babys werden in der Folge zu
aufmerksamen Betrachtern ihrer Umgebung. Sie lieben es,
Erwachsenen bei Haushaltstätigkeiten zuzusehen, und sobald es ihre motorischen Kompetenzen erlauben, ahmen sie
dieses Verhalten nach. Das zeigt sich z. B. am Werkzeuggebrauch: Spielzeugmodelle realer Objekte werden bereits
gegen Ende des 1. Lebensjahres in ihrer funktionsspezifischen Weise gehandhabt: Die Bürste wandert zum Kopf,
das Handy ans Ohr, das Puppentässchen zum Mund, und
das Auto wird über den Tisch geschoben. Die Mimik und
der Tonfall der Eltern oder von Geschwisterkindern werden
ebenfalls imitiert. Auffällig ist dabei, dass Kinder zu Beginn
des 2. Lebensjahres vor allem an den Zielen einer Handlung
interessiert sind. Das bedeutet, dass sie unter Umständen
nicht das exakte Verhalten eines Erwachsenen nachahmen,
aber das Verhaltensziel übernehmen. Es interessiert sie also
weniger das Wie als das Was. Erst etwas später, ab Mitte des
2. Lebensjahres, bemühen sie sich, eine beobachtete Verhaltensweise in möglichst ähnlicher Weise auszuführen wie
das Vorbild (Hurley u. Chater 2006). Wichtig erscheint an
dieser Stelle der Hinweis, dass auch der Umgang mit Aus-
1
10
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
einandersetzungen, die für Kinder emotional bedeutsam
sind, aufmerksam verfolgt wird. Die Bedeutung von Lernen
durch Beobachtung verstärkt sich im Verlauf der Kleinkind- und Kindergartenzeit noch weiter. Imitiert werden
bevorzugt Modelle, die für das Kind wichtig sind. Das können Erwachsene, aber auch Altersgenossen sein. Die Imitation erfolgt nicht immer unmittelbar, sondern kann unter
Umständen auch erst Tage später zum Tragen kommen. Im
Alltag lässt sich diese Vorliebe zum Imitieren u. a. am Spielverhalten der Kinder beobachten: Das Rollenspiel, in dem
Kinder in unterschiedliche Persönlichkeiten schlüpfen, ist
im Kindergartenalter besonders verbreitet – nicht zuletzt
deshalb, weil Kinder in dieser Spielform üben können, in
die Haut anderer zu schlüpfen und deren Verhaltensrepertoire aktiv zu spiegeln.
Während in früher Kindheit vor allem Eltern und Geschwister für Imitationshandlungen als Vorbild dienen,
nimmt ab dem Kindergartenalter die Bedeutung von Peers
immer weiter zu. Kinder imitieren mit höherer Wahrscheinlichkeit Modelle, die ihnen ähnlich sind, und bevorzugen
solche Verhaltensweisen, für die das Modell vor ihren Augen belohnt wird. Dabei kann die Interpretation dessen, was
als Belohnung wahrgenommen wird, durchaus variieren:
Ein jüngeres Kind, das Zuwendung und Aufmerksamkeit
vermisst, und beobachtet, wie sich die Erzieherin länger mit
einem anderen Kind unterhält, welches zuvor jemanden geschlagen hat, wird diese Form der Zuwendung möglicherweise als Belohnung für das aggressive Verhalten deuten
und mag demnächst versuchen, auf ähnliche Weise Zuwendung zu erhalten. Ein anderes Kind, das Aufmerksamkeit
und Zuwendung nicht in gleicher Weise vermisst, muss
nicht den gleichen Effekt zeigen. In ähnlicher Weise mag ein
Jugendlicher, der beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher
für riskantes Verhalten Achtung und Respekt durch seine
Peers erfährt, sich geneigt fühlen, selber auch riskantes Verhalten zu zeigen, um Anerkennung zu erlangen – und zwar
mit umso größerer Wahrscheinlichkeit, je abhängiger er von
der Wertschätzung seiner Peers ist.
! Was sich hier mit dem Alter verändert, ist vor allem
der Bezugsrahmen für die Interpretation von Belohnung: Bei jüngeren Kinder spielt das Verhalten und
die Bewertung durch Erwachsene eine zentrale Rolle, aber mit zunehmendem Alter steigt die Relevanz
der Bewertung durch Gleichaltrige immer weiter an.
Soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit durch andere
bleiben konstante Motive, die Beobachtungslernen wahrscheinlich machen. Es können immer nur solche Handlungen imitiert werden, die im Verhaltensrepertoire des
betreffenden Kindes oder Jugendlichen liegen. Naturgemäß
erweitert sich damit das Spektrum der potenziell nachahmbaren Handlungen mit dem Alter – schon allein, weil die
motorischen Kompetenzen zunehmen.
In den meisten verhaltenstherapeutischen Therapiekonzepten wird das Lernen am Modell als wichtiger Wirk-
faktor angesehen. Zum einen vermittelt der Therapeut selbst
als Modell, wie eine bestimmte Anforderung bewältigt werden könnte (»teilnehmendes Modelllernen«). So beinhaltet
z. B. das »Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern«
nach Lauth und Schlottke (2002) wiederholte Demonstrationen des Therapeuten zum Problemlösen:
[er] löst eine Aufgabe und demonstriert, wie er vorgeht. Er
verdeutlicht sein Vorgehen, um die Regeln und Strategien zu
veranschaulichen, denen er folgt (Lauth u. Schlottke 2002, S. 127).
Zum anderen stehen Therapiematerialien zur Verfügung,
die zeigen, wie sich andere Personen/Kinder in einer bestimmten Situation verhalten bzw. mit welchen Strategien
sie bestimmte Konflikte lösen (symbolisches/medienvermitteltes Modelllernen; z. B. »Wackelpeter & Trotzkopf«
aus Döpfner et al. 2002). Damit Kinder von solchen therapeutischen Maßnahmen profitieren können, müssen sie
aber bereits in der Lage sein, Gemeinsamkeiten zwischen
sich und dem Modell herzustellen und das Verhalten der
anderen Person auf ihre eigene Situation übertragen können. Wie bereits dargelegt, entwickeln sich die entsprechenden Kompetenzen im Verlauf der Grundschulzeit.
! Im Rahmen der Behandlung von Verhaltensstörungen ist es wichtig zu explorieren, welche Personen
für das Kind besonders wichtig sind und wem es
nacheifern möchte. Dabei gilt zu beachten, dass
unerwünschte Verhaltensweisen unter Umständen
durch Lernen am Modell zustande gekommen sein
können.
1.4.4 Lernen durch Einsicht
Einsicht setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus. Mit Reflexion ist nichts anderes gemeint, als dass man über ein gegebenes Problem, über eine Situation oder ein Verhalten bewusst nachdenkt. Doch nicht nur ein Nachdenken über
externe Situationen spielt für die psychische Gesundheit
und Therapie eine große Rolle, sondern ebenso die Fähigkeit zur Reflexion über die eigene Person und das eigene
kognitive und emotionale Erleben. Dieses bewusste Nachdenken ist nicht notwendigerweise an Sprache gebunden.
So konnten wir in eigenen Studien dokumentieren, dass
selbst 7 Monate alte Babys über Ursache und Wirkung
nachdenken und komplex unterschiedliche Arten von Erfahrungen integrieren, um eine gegebene Situation zu interpretieren. Doch trotz solcher eindrucksvoller Denkleistungen im vorsprachlichen Alter darf nicht außer Acht gelassen
werden, dass Sprache sehr wichtig für die Vermittlung von
Einsichten durch Dritte ist, wie dies vor allem im Rahmen
von therapeutischen Prozessen der Fall ist. Im vorliegenden
Fall interessieren dabei insbesondere Einsichten in Verhaltensnormen, die nachfolgend näher beleuchtet werden:
11
1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
Jüngeren Kindern bis Eintritt in das Schulalter gelingt
es nur schwer, eigene Fehler einzusehen; im Allgemeinen
verinnerlichen sie Verhaltensregeln, die ihnen von Erwachsenen oder Gleichaltrigen vermittelt werden, weitgehend
unreflektiert und stellen Abweichungen von dieser Regel
fest, ohne die Regeln selbst zu begründen oder zu hinterfragen. Dennoch macht es einen großen Unterschied, ob man
Kindergartenkinder einfach nur für richtiges Verhalten belohnt und für falsches Verhalten bestraft oder ob man ihnen
eine Begründung dafür gibt. Insbesondere müssen sie erst
lernen zu verstehen, warum bestimmte zwischenmenschliche Regeln (z. B. sich nicht gegenseitig zu belügen, zu bestehlen, zu beleidigen oder zu schlagen; höflich zueinander
zu sein, sich gegenseitig zuzuhören) wichtig für das Zusammenleben sind. Man kann dieses Verständnis fördern, indem man ihnen die Erklärung in konkreten Situationen
liefert. Hört das Kind die Begründung solcher Regeln wiederholt, so erlangen diese allmählich an Bedeutung. Ein
konkretes Beispiel mag die Wichtigkeit von Lernen durch
Einsicht auch bei kleinen Kindern verdeutlichen:
Beispiel
Wenn ein fünfjähriger Junge ein anderes Kind auf der
Straße schlägt, und seine Mutter reagiert darauf konsequent und prompt mit der Aussage: »Das macht man
nicht! Du gehst jetzt sofort rein auf Dein Zimmer!«,
dann hat sie gute Chancen zu erreichen, dass ihr Sohn
seine Spielkameraden schon bald nicht mehr in ihrer
Gegenwart schlägt, um zu vermeiden, dass er auf sein
Zimmer gehen muss. Hier greift das Prinzip der operanten Konditionierung. Schaut die Mutter beim nächsten Mal aber gerade weg, dann gibt es aus der Sicht ihres Sohnes keinen Grund, das Hauen zu unterlassen,
denn er hat noch nicht verstanden, warum er nicht
schlagen soll. Die negativen Konsequenzen sind vor
allem daran gebunden, dass die Mutter sieht, was geschieht. Ist sie abwesend, besteht keine entsprechende
Gefahr.
Stellen wir uns im Kontrast dazu eine Mutter vor,
die ihrem fünfjährigen Sohn erklärt, dass er andere
Kinder nicht schlagen darf, weil das weh tut. Um Lernen durch Einsicht zu fördern, bittet die Mutter ihren
Sohn sich vorzustellen, selbst geschlagen worden zu
sein. Gelingt diese Vorstellung, dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, einzusehen, warum man
nicht schlagen soll. Auch wenn der Sohn vielleicht
noch nicht in der Lage ist, sich wirklich in sein Opfer
hineinzuversetzen, macht die Mutter auf diese Weise
doch deutlich, dass es eine Erklärung gibt und regt an,
nach Gründen für Verhalten oder Verhaltensregeln zu
fragen. Diese Grundhaltung ist nicht selbstverständlich
und muss Kindern erst durch Lernen am Modell vermittelt werden.
In der Grundschulzeit konsolidieren Kinder ihr bisher gelerntes Wissen über den richtigen Umgang miteinander.
Außerdem werden ihnen eine ganze Reihe neuer Regeln
zusätzlich vermittelt. Nicht umsonst dominieren in dieser
Zeit auch auf dem Schulhof oder zuhause Regelspiele –
seien es Brettspiele, Sportspiele oder Kartenspiele. Kinder
ermahnen sich gegenseitig zur Einhaltung der Regeln und
stellen fest, was passiert, wenn man Regeln überschreitet,
trickst oder sich unfair verhält. Kinder üben den »korrekten« Umgang miteinander – auch ohne Aufsicht von
Eltern.
Spätestens mit Beginn der Pubertät werden viele
Regeln noch einmal neu hinterfragt. Der Jugendliche setzt
sich nun aktiver als bisher mit den Erwartungen von
Erwachsenen auseinander und kontrastiert sie mit
Erwartungen von Gleichaltrigen und seinen eigenen
Vorstellungen. Jetzt wird das Lernen durch Einsicht besonders wichtig, gleichzeitig aber auch schwieriger, weil
es Pubertierenden im Allgemeinen nicht leicht fällt, sich
Einsichten durch Erwachsene vermitteln zu lassen. Häufig
sehen sich Eltern deshalb entweder mit verschlossenen
Jugendlichen konfrontiert, die zuhause nicht über ihre
Werte diskutieren wollen, oder mit solchen, die endlos diskutieren, um ihre Eltern von eigenen Vorstellungen zu
überzeugen.
! Zunehmende Fähigkeiten, über kognitives und emotionales Erleben nachzudenken und sprachlich zu
kommunizieren, ermöglichen eine bewusste Auseinandersetzung mit sozialen Regeln und Normen.
Dies schafft die Voraussetzung für eine Verhaltensmodifikation durch Einsicht.
> Fazit
Alle wichtigen Lernformen sind von Geburt an im Repertoire von Kindern vorhanden. Das gilt sowohl für die klassische und operante Konditionierung als auch für das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht. Dennoch verändert sich ihre Umsetzung auf verschiedenen
Ebenen. Dazu trägt einerseits die Verschiebung der potenziellen Verstärkermechanismen bei. In jedem Alter
sind andere Verstärker wirksam, wobei soziale Anerkennung immer einen hohen Stellenwert einnimmt. Unmittelbare positive Gefühlsreaktionen von emotional bedeutsamen Personen sind von Geburt an wirksam; mit zunehmendem Sprachverständnis spielt Lob eine immer
wichtigere Rolle, und ab dem Kindergarten- bzw. Grundschulalter, wenn Kinder das Prinzip des Belohnungsaufschubs verstehen, können Tokensysteme zum Einsatz
kommen. Weiterhin verändert sich die Reflexionsfähigkeit
über das eigene Tun, die vor allem sprachgebunden ist.
Sie beeinflusst insbesondere höhere Lernformen wie
etwa das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht.
1
12
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
1.5
Entwicklungspsychologische
Veränderungen mit Bedeutung für
die Verhaltenstherapie
Im nächsten Schritt werden ausgewählte Bereiche der
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die für die
Umsetzung verhaltenstherapeutischer Konzepte von besonderer Bedeutung sind, näher beleuchtet. Dazu zählen
die Bereiche
4 kognitive Grundfunktionen:
5 Aufmerksamkeit,
5 Lernen und Gedächtnis;
4 emotionale Grundfunktionen:
5 emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit sowie
5 Selbstregulation;
4 soziale Grundfunktionen:
5 Sprache und Kommunikation sowie
5 Sozialverhalten und soziale Fertigkeiten.
1.5.1 Entwicklung kognitiver Grundfunktionen
Das Ziel von Verhaltenstherapie ist Verhaltensänderung.
Verhaltensänderung setzt ihrerseits Aufmerksamkeits-,
Lern- und Gedächtnisprozesse beim Kind voraus. Wenn
wir Verhaltensänderungen gezielt induzieren wollen, müssen wir folglich über die Entwicklung solcher basaler kognitiver Funktionen Bescheid wissen.
Aufmerksamkeit
Der Mensch verfügt grundsätzlich über limitierte geistige
Ressourcen. Das fängt schon damit an, dass wir unsere Augen auf einen ganz bestimmten Bereich der Außenwelt lenken und auch nur einen eng umgrenzten Teil des Raumes
scharf sehen. Innerhalb dieses Bereiches können wir unsere
Aufmerksamkeit wiederum auf ganz bestimmte Teilaspekte
richten und die fokussierten Teile besonders intensiv verarbeiten. Es ist also der Normalfall, dass ein Großteil der prinzipiell zur Verfügung stehenden Information nicht verarbeitet wird. Damit stellt sich die Frage, wie Kinder lernen,
sich auf Teilaspekte zu konzentrieren. Solche Kenntnisse
sind für Verhaltenstherapeuten gleich aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen muss sichergestellt sein, dass Trainingsprogramme für Kinder ihren altersbezogenen Fähigkeiten entsprechen. Zum anderen sind Probleme mit der
Aufmerksamkeitssteuerung häufig Anlass für therapeutische Interventionen. Auf die eher praktisch orientierten
Aspekte wird später noch genauer eingegangen (7 Abschn. 1.5.2, »Selbstregulation«). An dieser Stelle sollen zunächst die Grundlagen der Aufmerksamkeitsentwicklung
näher erläutert werden.
Visuelle Aufmerksamkeit. Im Kontext der Wahrnehmung
nimmt der Sehsinn eine zentrale Stellung ein: Beim Neuge-
borenen ist das Sehen noch vergleichsweise schlecht entwickelt, und es dauert bis ca. Mitte des 1. Lebensjahres,
bevor ein Kind annähernd so gut sehen kann wie ein Erwachsener. Auch das Zusammenspiel der beiden Augen,
das für die Tiefenwahrnehmung bedeutsam ist, entwickelt
sich im Verlauf des 1. Lebensjahres. Es scheint daher kaum
verwunderlich, dass für die Steuerung des Blickverhaltens
zunächst nur subkortikale Regionen im Gehirn (die im
Stammhirn gelegenen Colliculi superiores) verantwortlich
sind. Sie ermöglichen es dem Baby, von Geburt an auf bewegte Reize mit Blickzuwendung zu reagieren. Aber auch,
wenn das Kind ein plötzliches Geräusch hört, dreht es seinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Etwas
später, mit ca. 3–4 Monaten folgt eine Phase, die man »obligatory looking« nennt. Hat das Kind jetzt einmal einen
Gegenstand fixiert, so »klebt« es förmlich daran und kann
seinen Blick nicht ohne Weiteres wieder auf etwas anderes
richten. Dieses Verhalten wird dann abgelöst durch willentlich gesteuerte visuelle Aufmerksamkeit, die das Kind
in der Folge zunehmend schult. Diese willentlich gesteuerte Aufmerksamkeit ist gebunden an Hirnprozesse, die den
Thalamus, das anteriore Cingulum sowie die frontalen Augenfelder einschließen (einen guten Überblick zur visuellen Aufmerksamkeitsentwicklung aus neurologischer
Sicht gibt Johnson 2006). Man kann nun feststellen, dass
der Aufmerksamkeitszustand eines Kindes variiert, während es einen Gegenstand fixiert. So unterscheidet man
zwischen einfachem »looking« (Anschauen) und »examining« (Examinieren, Untersuchen), wobei der letztgenannte Zustand mit einer Verlangsamung des Herzschlags zusammenfällt, was seinerseits als Hinweis auf eine
kortikale Beteiligung gewertet wird (Elsner et al. 2006).
Kortikal vermittelte Prozesse ermöglichen es dem Kind
auch, antizipatorisch fließende Blickbewegungen auszuführen: Wenn ein Objekt hinter einem Wandschirm verschwindet, eilt der Blick des Kindes dem Gegenstand nun
voraus und erwartet ihn am anderen Ende des Wandschirmes. In Babyversuchen spielt die visuelle Aufmerksamkeit und die Blickpräferenz (als Maß des Interesses an
einem Gegenstand) eine zentrale Rolle. Sie wird als Indikator für höhere Denkprozesse unter Beteiligung des Großhirns gewertet.
Aufmerksamkeitsspanne. Auch im weiteren Leben eines
Kindes ist sein Aufmerksamkeitsverhalten für das Lernen
und Denken von entscheidender Bedeutung. Dabei gilt es
zu beachten, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes
im Normalfall mit zunehmendem Alter anwächst. Während ein Baby im Durchschnitt nur wenige Sekunden bis
Minuten mit einem interessanten Gegenstand beschäftigt
ist, fällt diese Spanne beim Kindergartenkind schon deutlich länger aus und beträgt etwa eine halbe Stunde. Im
Grundschulalter sind Kinder unter Umständen auch mal
eine ganze Stunde mit einem Objekt beschäftigt. Jugendliche oder Erwachsene bleiben schließlich bis zu mehreren
13
1.5 · Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
Stunden konzentriert und aufmerksam bei der Sache. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Möglichkeiten, den
Gegenstand aktiv zu explorieren, also auch mit den Händen
zu manipulieren, ebenfalls wachsen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Kind sein Interesse in aktiver Auseinandersetzung mit Objekten länger erhält.
Aufmerksamkeitssteuerung. Wie bereits erwähnt, ist es für
den therapeutischen Prozess von großer Bedeutung, die
Aufmerksamkeitskapazitäten eines Kindes zu berücksichtigen – vor allem, wenn es um die Anregung neuer Lernprozesse geht. Aber noch ein zweiter Aspekt scheint an dieser
Stelle wichtig zu sein. Aufmerksamkeitsprobleme können
nämlich in zwei unterschiedlichen Richtungen bestehen:
Entweder wird nicht genug Aufmerksamkeit/Konzentration aufgebracht, um einen gegebenen Reiz zu verarbeiten,
oder die Aufmerksamkeit konzentriert sich zu stark auf
ganz spezifische Aspekte und kann nicht von ihnen gelöst
werden. Gerade bei jüngeren Kindern ist das Aufmerksamkeitssystem noch sehr stark außengesteuert. Eine ablenkende Umgebung macht es vielen von ihnen schwer, sich zu
konzentrieren. Sie haben also vor allem Probleme der ersten Art. Die einseitige Fokussierung auf ganz spezifische
Reize bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Aspekte findet sich dagegen vermehrt im Jugendalter. Diese Veränderungen auf der Verhaltensebene haben u. a. mit physiologischen Reifungsprozessen zu tun. In einem späteren Abschnitt zum Thema Selbstregulation (unter 7 1.5.3) wird die
Aufmerksamkeitssteuerung nochmals aufgegriffen und aus
einer etwas anderen Perspektive beleuchtet.
! Nur in einem aufmerksamen Zustand ist das Kind
wirklich aufnahmebereit. Gezielte Interventionen
sollten nur dann erfolgen, wenn sichergestellt ist,
dass das Kind diese auch bewusst wahrnimmt.
Lernen und Gedächtnis
Verhaltenstherapeutische Maßnahmen wollen Verhalten
ändern. Dies setzt Lern- und Gedächtnisprozesse voraus.
Sämtliche bereits besprochenen Lernformen gründen sich
auf die Fähigkeit von Kindern, Kontingenzen zu erkennen,
Wissen zu vernetzen und Erfahrungen zu konsolidieren.
Wie aber entwickeln sich diese Fähigkeiten? Bereits im
Mutterleib beginnen Kinder, Erfahrungen dauerhaft zu
speichern. Das konnte für unterschiedliche Sinnesmodalitäten, wie etwa das Riechen, Schmecken oder das Hören
nachgewiesen werden. In Bezug auf die akustische Wahrnehmung belegen empirisch gut kontrollierte Studien, dass
Babys die Stimme ihrer Mutter unmittelbar nach der Geburt wiedererkennen. Ebenso können sie sich offensichtlich an eine Geschichte erinnern, die ihnen in den letzten
Wochen vor der Geburt einmal pro Tag laut vorgelesen
wurde. Diese Befunde waren bereits im Zusammenhang
mit klassischer und operanter Konditionierung besprochen worden.
Implizites Lernen. Ein Lernmechanismus, der Kindern von
Geburt an zur Verfügung steht, aber noch nicht besprochen
wurde, ist das implizite Lernen. Darunter versteht man
nichtbewusstes Lernen, das mehr oder weniger automatisch erfolgt. Auf der Seite des Gedächtnisses differenziert
man zwischen
a) prozeduralem Gedächtnis, das sich vor allem auf motorische Abläufe bezieht, und
b) Priming, einer Art Bahnung zum Abruf von Gedächtnisinhalten durch die Wahrnehmung.
Während im erstgenannten Fall das Kleinhirn und die Basalganglien beteiligt sind, spielt im zweiten Fall das Großhirn mit seinen für die Wahrnehmung zuständigen sensorischen Arealen eine entscheidende Rolle.
Habituation und Dishabituation. Einen Lernmechanismus,
der z. T. mit Priming in Verbindung gebracht wird, stellt die
Habituation dar: Präsentiert man immer wieder den gleichen Reiz, dann wird ein Kind sich daran gewöhnen und mit
der Zeit weniger stark darauf reagieren. Habituationsvorgänge lassen sich schon vor der Geburt beobachten, wenn Föten
zunächst Schreckreaktionen (Blinzeln, Zucken) und eine
Beschleunigung ihrer Herzrate zeigen, sobald man einen vibratorisch-akustischen Reiz durch die Bauchdecke der Mutter
sendet. Diese Reaktion nimmt bei wiederholter Darbietung
ab. Interessant scheint dabei, dass der gleiche Reiz auch nach
24 Stunden zu einer schwächeren Reaktion führt als bei
seiner ersten Präsentation. Der Fötus hat sich also durchaus
etwas gemerkt. Mit zunehmendem Alter wird das Behaltensintervall größer. Die Habituation/Gewöhnung an angstauslösende Situationen ist für die Verhaltenstherapie mit älteren
Kindern und Erwachsenen wichtig. Konkret geht es um das
Verfahren der Desensibilisierung. Wie wir aus Studien mit
Föten schließen können, scheint Desensibilisierung, ähnlich
wie Konditionierung, eine Lernform zu sein, der man sich
von Anfang an bedienen kann, um Verhalten zu formen.
Habituationsprozesse sind für Studien, die das frühe
Lernen und Gedächtnis untersuchen wollen, ein überaus
wichtiges Phänomen – vor allem in Kombination mit Dishabituationsprozessen, die immer dann auftreten, wenn
nach Gewöhnung an einen Reiz ein anderer Reiz präsentiert wird, den das Kind als neu wahrnimmt und der deshalb eine Orientierungsreaktion (verstärkte Aufmerksamkeit) auslöst. Präsentiert man etwa ein bestimmtes Gesicht
auf einem Foto, bis das Baby daran gewöhnt ist, und gibt
ihm dann zwei Gesichter zur Auswahl – noch einmal das
bereits bekannte und ein anderes –, so wird das Baby bevorzugt das neue Gesicht anschauen.
Diskriminationslernen. Damit eine solche Orientierungsreaktion entstehen kann, muss das Kind in der Lage sein,
Reize zu unterscheiden. Es geht im vorliegenden Zusammenhang also vor allem um die Möglichkeiten eines Kindes, Dinge als vertraut wahrzunehmen. Man spricht daher
1
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
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. Abb. 1.1. Modell von Habituation- und Dishabituationsleistungen. (Aus Kavsek 2000)
auch von »recognition« oder Wiedererkennung. Das Diskriminationslernen ist im Rahmen von verhaltenstherapeutischen Verfahren von größter Relevanz, wenn es um
die Angemessenheit von Reaktionen geht. Nur wenn ein
Kind Reize sicher unterscheiden kann, kann es auch lernen,
unterschiedlich auf sie zu reagieren. Wie . Abb. 1.1 deutlich
macht, spielen bei Habituations- und Dishabituationsprozessen eine ganze Reihe latenter kognitiver Operationen
eine zentrale Rolle, von denen einige auch für das das Diskriminationslernen von großer Bedeutung sind.
Recall. Bislang war ausschließlich von Verhaltensweisen die
Rede, die in Reaktion auf einen gegebenen Reiz deutlich wer-
den. In vielen Fällen ist es aber auch wichtig, dass Kinder in
einer gegebenen Situation von sich aus bestimmte Aktivitäten zeigen oder sich etwas in Erinnerung rufen. Dazu
müssen sie sich aktiv an die passende Verhaltensweise erinnern. Man spricht auch von Recall. Ein berühmtes Beispiel
für frühe Recall-Leistungen liefert das Mobile-Paradigma
(s. unten). Recall ist u. a. für die verzögerte Imitation im
Rahmen des Beobachtungslernens (s. oben) von Bedeutung. Einen Überblick über die Lern- und Denkentwicklung
in den ersten Lebensjahren gibt Pauen (2006). Entwicklungspsychologische Veränderungen der Gedächtnisleistung
bei älteren Kindern (z. B. Metagedächtnis) werden in anderen Zusammenhängen später noch besprochen.
Beispiel
Das Mobile-Paradigma zur Untersuchung von Recall im Säuglingsalter (Rovée-Collier u. Hayne 1987)
Zunächst wird das spontane Strampelverhalten eines Babys in einem Bettchen unter einem Mobile beobachtet
(Basisphase). Anschließend folgt eine Lernphase, in der
Bein und Mobile verknüpft werden. In einer dritten Phase
wird dann nochmals unter Basisbedingungen gemessen,
wie sich die Strampelaktivitäten gegenüber der ersten
Phase verändern. Wie sich zeigte, stellen bereits Babys einen systematischen Zusammenhang zwischen den Bewegungen des Mobiles und denen ihrer Beine her. Dass sie
ihr implizites Wissen über diesen Zusammenhang aktiv
erinnern, zeigt sich daran, dass sie selbst Tage bzw. Wochen später mehr strampeln, wenn man das gleiche Mobile wieder über ihr Bettchen hängt. Indem man systematisch die Zeitabstände zwischen Lern- und Testphase vari-
ierte und außerdem die Kontextbedingungen (anderes
Bettchen, anderes Mobile) veränderte, konnte man untersuchen, wie sich die Lern- und Erinnerungsleistungen mit
dem Alter verändern. Dabei sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:
4 Die Zeitabstände, nach denen Erinnerungsleistungen
festgestellt wurden, vergrößerten sich systematisch
über das 1. Lebensjahr hinweg von einem Tag auf bis zu
2 Wochen.
4 Während die Kinder am Anfang nur dann in der Lage
waren, die Erinnerung wachzurufen, wenn die Kontextbedingungen identisch mit den Lernbedingungen waren, generalisierte diese Leistung mit dem Alter auch
auf andere Kontextbedingungen.
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