Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und 07.02.11 politische Identität, München 6/2007 (1992) (empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992), 07.02.2011, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/) 1. Lebenswelt als „Einheit von Gesellschaft und Gedächtnis“ 2. Der Körperleib als Urbild aller Grenzbestimmungen 3. Nachtrag: Zirkulation von Sinn und Serienproduktion Nachdem ich im letzten Post die Lebenswelt mit dem kommunikativen Gedächtnis gleichgesetzt habe, stellt sich nun natürlich in gewisser Weise die Frage, ob wir diesen Begriff überhaupt noch brauchen und nicht gleich vom kommunikativen Gedächtnis sprechen können, was natürlich auch umgekehrt gilt: warum noch vom kommunikativen Gedächtnis reden, wenn wir die damit verbundenen Phänomene einfach auch als Lebenswelt bezeichnen können. Zunächst bleibt festzuhalten, daß wir es hier mit einem Übergangsbereich zu tun haben zwischen einem bewußtseinphilosophischen und einem kulturwissenschaftlichen Zugang zum Menschen. Aus altertumswissenschaftlicher Sicht haben wir es in erster Linie mit kulturellen Lebensformen zu tun, von denen aus man sich an das individuelle Bewußtsein heranarbeitet. Aus bewußtseinsphilosophischer Sicht haben wir es vor allem mit subjektiven Weltverhältnissen zu tun, von denen aus man sich an soziale Strukturen heranarbeitet. Nun könnte man beide Sichtweisen für einander gleichwertig halten, in dem Sinne, daß – gleichgültig von welcher Richtung aus wir uns den mit ‚Lebenswelt‘ bzw. ‚kommunikatives Gedächtnis‘ beschriebenen Phänomenen nähern – man letztlich doch mit verschiedenen Begriffen über dasselbe redet. Das sehe ich aus zwei Gründen nicht so. Erstens aus wissenschaftspolitischen Gründen: die Bewußtseinsphilosophie wurde lange von seiten der Philosophie und aktuell wieder von biologistischen Ansätzen (Neurobiologie) aus gerne als eine veraltete, längst erwiesenermaßen unangemessene Beschreibungsweise des Menschen abgetan. Schon wissenschaftspolitisch ist also Bewußtseinsphilosophie der gesellschaftswissenschaftlichen unterlegen. Zweitens bin ich aber davon überzeugt, daß es eigentlich genau umgekehrt ist: nicht nur die gesellschaftswissenschaftlichen, sondern auch die kulturwissenschaftlichen Beschreibungen des Menschen sind einseitig fundiert im individuel- len Bewußtsein des Menschen, – das ich mit Plessner insbesondere auf die Grenzbestimmung des Körperleibes zurückführe. ‚Einseitig fundiert‘ heißt: es gibt keine Dialektik der Gleichursprünglichkeit zwischen individuellem Körperleib und dem ganzen gesellschaftlichen und kulturellen Komplex. Vielmehr müssen wir diesen Komplex in seinen Möglichkeiten und Grenzen allererst vom Körperleib her begründen, bevor man den umgekehrten Weg gehen und das individuelle Bewußtsein vom Sozialen her begründen und bestimmen kann. Da ich nun die Lebenswelt vor allem als Bewußtseinsphänomen verstanden wissen will, möchte ich gerne an diesem Begriff festhalten, denn der Begriff des kommunikativen Gedächtnisses verweist weniger auf das individuelle Bewußtsein als auf dessen soziale Determiniertheit und Funktionalität. Lebenswelt meint im Rahmen einer Kennzeichnung des Menschen als exzentrischer Positionalität dessen Positionierung in der Mitte einer Welt, also seine naive Unmittelbarkeit, die es ihm unmöglich macht, diese Welt in Frage zu stellen. Diese zentrale Positionierung hält seiner exzentrischen Positionierung als Peripherie, seinem derWelt-gegenübergestellt-Sein, die Waage. Dies ist es, was ich Haltung nenne und was ich im Falle der Eigenständigkeit unserer Urteilskraft als Wechselverhältnis von Naivität und Kritik bezeichne. Das kommunikative Gedächtnis bringt weder dieses Drin-Sein in der Mitte der Lebenswelt noch das Draußen-Sein der Welt gegenüber zum Ausdruck. Es beschreibt eine vernetzte Struktur und beinhaltet weder eine individuelle Positionsbestimmung (als Person) noch eine gemeinschaftliche Horizontbestimmung (als Lebenswelt). In diesem Post möchte ich noch einmal auf die Ähnlichkeiten in der Begrifflichkeit von Lebenswelt und Gedächtnis eingehen. Dabei beziehe ich mich auf Assmanns „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität“ (1992). Assmann beschreibt die Differenz zwischen mündlichen und schreibenden Dichtern: „Für den mündlichen Dichter ist die Tradition nicht ‚außen‘: sie geht durch ihn hindurch und erfüllt ihn von innen. Der schreibende Dichter hingegen sieht sich der Tradition von außen gegenüber und fühlt sich auf sein innerstes Selbst angewiesen, um sich ihr gegenüber behaupten zu können.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.99) – Hier haben wir genau die zwei verschiedenen, der Exzentrizität entsprechenden Positionen: der mündliche Dichter befindet sich mitten in der Lebenswelt, also einer Kultur, die noch kein schriftliches Gedächtnis hervorgebracht hat, während der schreibende Dichter sich seiner schriftlichen Kultur gegenübergestellt sieht, also exzentrisch positioniert ist. Denn: „Erst durch die Schriftform gewinnt die Überlieferung eine Gestalt, der gegenüber sich ihre Träger kritisch verhalten können.()“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.100) Die Lebenswelt wird als eine „kulturelle Formation“ dargestellt, mit der „von Haus aus eigene(n) Tendenz, über die Konventionalität und Kontingenz, d.h. die Auch-anders-Denkbarkeit ihrer Wirklichkeitskonstruktionen, den Schleier der Vergessenheit zu breiten“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.136) Diese Tendenz „erklärt sich aus der natürlichen Kulturangewiesenheit des Menschen.“ (ebenda) Das Tier nämlich „ist durch seine Instinkte an eine (artspezifische) Umwelt angepaßt“; der Mensch braucht stattdessen eine „symbolisch vermittelt(e) und dadurch bewohnbar“ gemachte „Welt“, eben eine Lebenswelt, als „(zweite) Natur“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.136f.) Hinsichtlich der Zeitlichkeit der Lebenswelt erscheint es mir als besonders interessant, wie Assmann das kommunikative Gedächtnis dem kollektiven Gedächtnis zuordnet. Er spricht vom letzteren als „Bezugsrahmen“: „Zwar ‚haben‘ Kollektive kein Gedächtnis“ – ein Gedächtnis hat nur der individuelle Mensch –, „aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder. Erinnerungen auch persönlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. ... Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den ‚Rahmen‘, die seine Erinnerung organisieren.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.36) Dieser soziale „Bezugsrahmen“, in dem und auf den hin sich das individuelle Gedächtnis ‚kommunikativ‘ formiert, müßte, wenn ich das richtig verstehe, ähnlich wie die shifting baselines funktionieren und mitwandern mit den Grenzen dessen, was wir an umweltlichen und kulturellen Veränderungen individuell und intergenerationell (drei bis vier Generationen) wahrnehmen können. Die shifting baselines bezeichnen unmerkliche Veränderungen, die so langsam vor sich gehen, daß sie außerhalb der 80 bis 100 Jahre umfassenden Zeitspanne von drei bis vier Generationen liegen, innerhalb deren noch Zeitzeugen über frühere Zeiten berichten können. Alles, was außerhalb dieser Zeitspanne liegt, fällt in mündlichen Traditionen entweder dem endgültigen Vergessen anheim oder gehört zum Sagenund Mythenrepertoire der ‚Altvorderen‘, von denen man nur noch aus Liedern und Erzählungen weiß. Der soziale Rahmen, der das individuelle Gedächtnis formiert, ist also deckungsgleich mit der Lebenswelt, in der wir uns bewegen. Ihre Zeitspanne be- steht in der mitwandernden und deshalb zeitlosen ‚Gleichzeitigkeit‘ von den genannten drei bis vier Generationen. Der Rahmen ändert sich nie, weil sich nie eine Generation und kein einzelner Mensch je außerhalb dieses Rahmens befindet. Das ist genau der Grund, warum globale ‚Katastrophen‘ wie die Klimaveränderung immer wieder auf Skepsis stoßen. Die mit ihnen einhergehenden Veränderungen liegen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich so weit auseinander, daß sie für das individuelle Gedächtnis nicht ‚kommunizierbar‘ sind. Dazu bedarf es eines kulturellen Gedächtnisses, das über die lebensweltliche Begrenztheit des Bezugsrahmens hinausreicht. Auf den historischen Zeitpunkt einer kulturellen Freisetzung der anthropologisch im Körperleib angelegten individuellen Urteilskraft verweist folgende Textstelle: „Im Zusammenhang mit dem Schriftlichwerden von Überlieferungen vollzieht sich ein allmählicher Übergang von der Dominanz der Wiederholung zur Dominanz der Vergegenwärtigung, von ‚ritueller‘ zu ‚textueller Kohärenz‘. Damit ist eine neue konnektive Struktur entstanden. Ihre Bindekräfte heißen nicht Nachahmung und Bewahrung, sondern Auslegung und Erinnerung. An die Stelle der Liturgie tritt die Hermeneutik.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.17f.) – Indem so ein „Umgang mit fundierenden Texten: auslegend, nachahmend, lernend und kritisierend“ möglich wird (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.102), kommt die individuelle Urteilskraft zu ihrem Recht. Der Mensch beginnt seinen Verstand zu gebrauchen, innerhalb des lebensweltlichen ‚Rahmens‘, aber in zunehmendem Maße auf individuelle Weise. Denn nicht, daß wir ihm nicht entkommen, ist das Entscheidende, sondern ob und wie wir um ihn wissen.