Zentrum für Postgraduale Studien Master of Social Work - Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« Individuum und (Welt)Gesellschaft1 Das klassische Problem des Mikro-Makro-Links und seine Lösung im Rahmen einer nichtholistischen systemtheoretischen Auffassung von individuellen und sozialen Systemen Prof. Werner Obrecht Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Zürich Departement Soziale Arbeit Entwurf! 1) Einleitung: Das Problem in seinem historischen Kontext: Sozialwissenschaftliche Theorie und Modelle des Menschen (....) 2) Individuum und Gesellschaft allgemein: Die systemistische Konzeption des MikroMakro-Links 2.1 Soziale Systeme 2.2 Menschliche Individuen oder: Das Menschenbild des sozialwissenschaftlichen Systemismus 2.3 Bedürfnisse und Probleme 2.4 Soziale Probleme 2.5 Determinanten und Formen der Lösung sozialer Probleme 2.6 Der normativ-kulturell-konstruktionistische und -konstruktivistische und der deskriptivstrukturelle Begriff sozialer Probleme 3 Individuum und Gesellschaft: Ungleiche Verteilungen und die Theorie struktureller und anomischer Spannungen 3.1 Einleitung 3.2 Moderne Gesellschaften und ihre strukturelle Differenzierung 3.3 Schichtung 3.4 Schichten sozialer Systeme und soziale Akteure 3.5 Theorie struktureller und anomischer Spannungen: Struktur -> Akteur -> Struktur: 4 Individuum und Weltgesellschaft: Grundzüge der Makroorganisation der Weltgesellschaft als gegenwärtiger Globalgesellschaft 4.1 Weltgesellschaft 4.2 Die Entstehung der Weltgesellschaft 4.3 Die institutionalisierten Werte und die drei umfassenden Ordnungen der Weltgesellschaft 4.4 Phasen der Weltgesellschaft (folgt) 4.5 Individuum und Weltgesellschaft 4.6 Migration: Migrationsformen, Migrationsdeterminanten (....) 1 Auszug aus einem Text, welcher der Lehrveranstaltung «Individuum und (Welt)Gesellschaft» im Rahmen des Lehrganges »Master of Social Work - Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« am Zentrum für Postgraduale Studien (ZPSA) in Berlin, vom 20. März und 25.-27. Juni 2004 zugrund lag. © W. Obrecht, Hänsenberg 18/19/20. März 2003 und 17/18. März 2004 – Druck 7. Dezember 2008 Individuum und (Welt)Gesellschaft 2 Im Andenken an Peter Heintz (1920 – 1983), dessen Todestag sich am 15. März 2003 zum 20. Mal jährte. Die(...) Begriffe (individuelles Handeln und soziale Struktur) bilden das Auge eines Sturms, der in den sozialen Studien (in den Sozialwissenschaften) und ihrer Philosophie während der letzten dreihundert Jahren gewütet hat. Dies ist die Kontroverse zwischen Individualisten und Holisten M. Bunge, 1996 . 1. Einleitung 1) Individuum und (Welt)Gesellschaft: ein klassisches Problem der Sozialwissenschaften und sein Lösungsraum Soziale Arbeit ist, wie in der Definition der International Federation of Social Workers (2000) festgehalten, mit sozialen Problemen beschäftigt, d.h. mit Problemen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ergeben2. Der Fortschritt der Disziplin und der Profession sind mit anderen Worten, insoweit sie von der Antwort auf das Verständnis der Natur und Dynamik sozialer Probleme abhängen, von den Antworten abhängig, die die Sozialwissenschaften auf die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu geben vermögen. Die Bedeutung dieses Problems und die Schwierigkeiten bei seiner Lösung können dabei daraus ersehen werden, dass die gesamte Theoriegeschichte der Sozialwissenschaften eine Geschichte alternativer Antworten auf dieses Problem ist. Die Antwort, die im Folgenden umrissen wird, unterscheidet sich in grundlegenden Hinsichten von vielen älteren Lösungsvorschlägen. Im Hinblick auf das vorliegende Thema von Bedeutung ist, dass die hier umrissene systemistische Konzeption des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft eine soziologische Makrotheorie der Weltgesellschaft zu entwickeln erlaubte und noch erlaubt (Heintz, passim; 2 Die Existenz eines weltweiten Konsens über Ziel und Natur Sozialer Arbeit vermag natürlich nicht zu verhindern, dass für kurze Zeit und lokal auch wieder Lehren einen Weg in die Soziale Arbeit finden, die mit dieser Auffassung nicht in Einklang zu bringen sind und auch sonst keinerlei Charakteristika besitzen, die sie für Soziale Arbeit qualifizieren. Ein aktuelles Beispiel ist die Systemlehre N. Luhmanns, die sich ausserhalb des klassischen Wissenschaftsbegriffes stellt, in ihrem Menschenbild Menschen auf Bewusstseinsprozesse reduziert, die von ausserhalb von ihnen gelegenen Sozialen System angetrieben werden (d.h. Individuen haben keine eigenständige interne Motivationsquellen wie z.B. Bedürfnisse und sie können auch nicht handeln bzw. ihre Handlungen beschränken sich auf mentale Akte gegenüber Dritten), die Relevanz von Problemen sozialer Ungleichheit leugnet, nicht in der Lage ist, einen Begriff sozialer Probleme zu definieren und deshalb – soziale Fakten auf eine spezifische Klasse von Sequenzen von Interaktionen zwischen Individuen, nämlich Kommunikationen) verkürzend – behauptet, Soziale Arbeit beschäftige sich mit der Inklusion von aus Kommunikationsnetzen exkludierten Individuen (zur Kritik vgl. Obrecht und Zwicky 2002) und über keine Handlungstheorie verfügt. Individuum und (Welt)Gesellschaft 3 Wobbe 2000), die der spezifischen emergenten Natur dieses weltumspannenden Sozialsystems systematisch Rechnung trägt. Die Entwicklung einer solchen Theorie erfolgte bereits in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt also, in der die Weltgesellschaft nicht nur für die Oeffentlichkeit, sondern auch für die allermeisten Soziologen kein Thema war3. Ein systematischer Vergleich zwischen den existierenden Antworten auf die Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft übersteigt den Rahmen der vorliegenden Arbeit (vgl. dazu Obrecht 2003): Ein solcher Vergleich involviert einen Reihe von Dimensionen, die den verglichenen Theorien gemeinsam sind und anhand derer sie verglichen werden können. (....) Während praktisch alle bisherigen Ansätze in ihren metatheoretischen oder objekttheoretischen Annahmen auf Lehren aus dem 18., 19. oder dem beginnenden 20. Jahrhundert beruhen, stützt sich die systemistischen Auffassung, die im Folgenden zum Tragen kommt, auf Entwicklungen seit Beginn des dritten Drittels des 20. Jahrhunderts innerhalb einer Reihe von Disziplinen wie der Ontologie (emergentistischer Systemismus), der Erkenntnistheorie (evolutionäre Erkenntnistheorie), der Wissenschaftstheorie (Wissenschaftlicher Realismus; mechanismischer Erklärungsbegriff), der Biologie (Biosysteme und Biofunktionen), der Psychologie (evolutionäre Psychologie, kognitive Neurowissenschaften, Theorie der Motivation, Handlungspsychologie), der Oekonomie (experimentelle Wirtschaftswissenschaften), der Soziologie (Theorie sozietaler Systeme und der Weltgesellschaft) stattgefunden haben. All diesen Wissenschaften gemeinsam ist, dass sie (1) von der Existenz einer erkennbaren Welt und einer Methode ihrer Erforschung ausgehen (ontologischer und wissenschaftlicher Realismus), dass sie (2) die Dinge, die diese Welt und damit die Objekte der Untersuchung bilden, als konkrete Systeme auffassen (Materialismus), die aus Subsystemen einer anderen Art gebildet werden und die umfassenderen Systemen einer dritten Art als Komponenten angehören (systemische Differenzierung der Wirklichkeit), sowie dass sie (3) davon ausgehen, dass die einfacheren Arten von Systemen den komplexen zeitlich vorangehen (Evolutionismus). In der hier umrissenen Auffassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft drücken sich diese Neuerungen darin aus, 3 Eine Ausnahme ist Niklas Luhmann, der, ausgehend von einer vollkommen anderen Auffassung der sozialen Realität diese Fragestellung mit den Mitteln seiner kommunikationsholistischen Systemlehre anging; für eine Übersichtsdarstellung beider Zugänge vgl. Wobbe 2000; für eine breit angelegte soziologische Kritik an Luhmann vgl. Haller, für eine Kritik an der Instrumentalisierung Luhmanns für die Soziale Arbeit vgl. Obrecht und Zwicky 2002 und am Machtbegriff Luhmanns Staub-Bernasconi, 2001. 5 Zur Ideengeschichte dieser kryptotheologischen Vorstellungen vgl. (Romano 2001; Wagner 1993). Individuum und (Welt)Gesellschaft 4 • dass Individuen als (konkrete) sprach- und selbstwissensfähige Biosysteme verstanden werden (und nicht als immaterielle psychische Prozesse), die, indem sie für ihr Ueberleben neben Beziehungen zu den physikalischen und biologischen Dingen in ihrer jeweiligen Umwelt namentlich auf die Errichtung und Pflege von konkreten (materiellen, energetischen, informationellen und emotionalen) Bindungen zu anderen Menschen angewiesen sind, soziale Systeme aller Art bilden; • dass diese (sozialen) Systeme sind, da ihre Komponenten wie auch deren Bindungen konkret sind, ihrerseits konkrete Systeme, wie (andere) Tiergesellschaften oder Oekosysteme auch; Dass Individuen durch interne (psychische) Prozesse gekennzeichnet sind, die ihre Orientierung sich selber und in der Welt gegenüber ermöglichen und ihr auf die Befriedigung von Bedürfnissen gerichtetes Verhalten steuern, wird in diesem Modell des sozialen Akteurs genau so anerkannt, wie die Tatsache, dass es sich bei diesen Prozessen nicht um Prozesse in einer immateriellen Psyche handelt, sondern um biologische Vorgänge in einem besonders dafür geeigneten Organ. Kurz, psychische Prozesse werden verstanden als konkrete Prozesse in einem konkreten Subsystem des menschlichen Organismus, dem Zentralnervensystem. Diese Prozesse unterliegen deshalb Gesetzmässigkeiten und können aus diesem Grunde nicht nur „verstanden“, sondern auch (durch Mechanismen) erklärt werden. Auf der anderen Seite sind in dieser Sicht die sozialen Systeme, die durch Menschen gebildet werden, eigenständige Dinge mit einer Vielzahl von emergenten (aber erklärbaren) Eigenschaften wie vertikaler, funktionaler und systemischer, sozialökologischer, geschlechtlicher Differenzierung und besteht die Dynamik sozialer Systeme in der Veränderung dieser Eigenschaften sozialer Systeme. Soziale Systeme wie auch ihre Dynamik werden allerdings nicht – wie in der holistischen Tradition – aus sich selber heraus erzeugt verstanden, sondern als das nicht beabsichtigte Ergebnis der Handlungen aller jener Individuen, die in ihre Struktur eingebunden sind und innerhalb der Handlungsspielräume, die ihre strukturelle Umgebung zulässt, ihre individuellen, jedoch an anderen Menschen und „gesellschaftlichen“ Normen orientierten Ziele zu erreichen suchen, sei es in einer mit den Erwartungen anderer verträglichen oder nicht verträglichen Weise (Konflikt). Die Weltgesellschaft ist dabei das jüngste und komplexeste Sozialgebilde, das Menschen in ihren Bemühungen, im Rahmen ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelten zu überleben, bis heute hervorgebracht haben. (....) 2) Ausgangspunkt und Ziel Ausgangspunkt der folgenden Diskussion über das Verhältnis von Individuen und Gesellschaft (...) sind eine Reihe von Grundannahmen über das Verhältnis zwischen Individuen und sozialen Gebilden. Sie formulieren die allgemeinsten Züge jener Individuum und (Welt)Gesellschaft 5 disziplinenübergreifenden Sicht auf Menschen und die Umwelten, in denen sie leben, wie sie sich aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen des Wissenschaftlichen Weltbildes im letzten Drittel des vorangehenden Jahrhunderts entwickelt hat: 3. Menschliche Individuen sind sozial lebende Lebewesen einer besonderen Art, nämlich neugierige, aktive, beziehungs- und mitgliedschaftsorientierte, lern-, sprach- und damit im vollen Sinne selbstwissensfähige Biosysteme; 4. da sie nur in sozialen Verbänden überlebensfähig sind und auf das Ueberleben in diesen hin sozialisiert werden, ist ihr Verhalten nur über den Einbezug der Eigenschaften ihrer sozialen Umwelten (soziale Systeme) verstehbar; Sozialisation und lebenslanges Lernen in sozialen Verbänden ist dabei ein Prozess, in dessen Verlauf die plastischen, d.h. lernfähigen Teile des Zentralnervensystems von Individuen laufend modifiziert werden, so dass deren interne Struktur einer ständigen Modifikation unterliegt (soziales Lernen); 5. da Individuen konkrete Biosysteme und als solche Komponenten sozialer Systeme sind, sind auch die letzteren konkret oder „materiell“ (wenn auch ohne geometrische Grenzen) und damit keine jenseits von Individuen existierenden ideellen Welten von immateriellen Werten und Normen, wie die verbreiteten (holistischen) Theorien der normativen Integration annahmen, zu denen auch die genannten Theorien sozialer Probleme als axiologischer und normativer Konsens gehören.5 2) Individuum und Gesellschaft: Die systemistische Konzeption des Mikro-Makro-Links Wie die vorangehende Charakterisierung von Individuen gezeigt hat, gibt es weder menschliche Individuen unabhängig von Gesellschaft, noch soziale Gebilde ohne oder jenseits von Individuen als Komponenten. Dies bedeutet, dass die Begriffe „Individuum“ und „soziales System“ (Gesellschaft) nicht unabhängig voneinander sind, sondern nur im Kontext einer wohl entwickelten Theorie definiert werden können, die in ihrem Gehalt über sie hinausgeht und in deren Rahmen ihrerseits beide Begriffe definiert werden können. Ein solcher theoretischer Rahmen ist die systemtheoretische Ontologie 6, in deren Rahmen neben allen anderen Grundbegriffen wie Existenz, Ereignis, Raum, Zeit, Wandel, Zufall, Geist und Leben, auch der des Systems präzise definiert werden kann7. 6 Ontologie ist die seriöse, säkulare Version der kryptotheologischen und spekulativen Metaphysik der traditionellen Philosophie. Sie ist der Zweig der Philosophie, der die allgemeinsten, hervorstechendsten Züge der Wirklichkeit untersucht wie z.B. Existenz, Ereignis, Prozess (Wandel), Raum, Zeit, Zufall, Leben, Geist und Gesellschaft. Allgemeine Ontologie untersucht dabei alle Existenten, während die speziellen Ontologien je eine Art (genus) von Dingen untersucht, physikalische, chemische, biologische, soziale etc. So erforscht etwa die Ontologie des Sozialen so allgemeine soziologische Begriffe wie jene des sozialen Systems, der Sozialstruktur und des sozialen Wandels. Von der Ontologie nicht untersucht werden Konstrukte, d.h. Ideen in sich selber; diese werden, von den Formalwissenschaften und der Erkenntnistheorie erforscht. 7 Es gibt im 20. Jahrhundert nur wenige realistische Ontologen, als Metaphysiker „einsame Denker sind, die eine Welt von verschiedenen nichtreduzierbaren Levels der Realität auf der Grundlage der (wie immer verstandenen) Entitäten der Mikrophysik postuliert haben: Samuel Alexander, Nicolai Hartman, Günther Jacoby, Michael Polanyi, John Searle, und Mario Bunge, wobei nur Searle’s und Bunge‘s wissenschaftsorientierte Philosophien sind. Ausgenommen ist und sowohl Bunge wie Searle auch eine Ontologie des Sozialen mit einschliessen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 6 Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen die Begriffe ‚soziales System‘, ‚menschliche Individuen‘ und ‚soziale Probleme‘. Die nachstehende Darstellung beginnt mit zwei einleitenden Abschnitten. Der erste behandelt den Begriff des Systems S im allgemeinen und macht damit deutlich, dass sich der Begriff des sozialen Systems lediglich auf eine besondere Form von Systemen bezieht. Dieser verallgemeinerte Systembegriff, der alle Einzelwissenschaften übersteigt, gehört in die philosophische Disziplin der Ontologie und ist ein Kernbegriff der wissenschaftsorientierten Ontologie, wie sie Mario Bunge in den vergangenen 30 Jahren entwickelt hat. Das Kapitel beginnt mit dem Begriff des sozialen Systems, obwohl aufgrund des Gesagten der Anfang auch mit der Theorie des sozialen Akteurs hätte gemacht werden können, d.h. mit dem sozialwissenschaftlichen Modell menschlicher Individuen. Wegen diesem Aufbau behandelt der zweite einleitende Abschnitt die Begriffe Akt, Handlung und soziale Handlung. Dies sind elementare begriffliche Ressourcen zum Verständnis des Begriffs sozialer Systeme. Der Begriff des individuellen sozialen Akteurs wird dann im anschliessenden Kapitel über menschliche Individuen eingeführt. a. Ontologische und praxeologische Vorbemerkungen i. Ontologische Vorbemerkungen: Der ontologische Begriff des Systems und einige allgemeine Hypothesen über die Wirklichkeit Im Mittelpunkt der systemischen Ontologie des Emergentistischen Systemismus stehen die begrifflichen Zwillinge ‚System‘ und ‚Emergenz‘, die, Mario Bunge folgend, folgendermassen definiert werden können (Kursivsetzung und Absätze nicht im Original). “Ein System ist ein komplexes Objekt, dessen sämtliche Teile oder Komponenten mit anderen Teilen desselben Objektes in einer Weise gekoppelt sind, dass das Ganze einige Charakteristika aufweist, die seinen Komponenten fehlen, d.h. emergente Eigenschaften. Ein System mag begrifflich sein oder konkret, jedoch nicht beides. Ein begriffliches System ist ein System, das aus Begriffen gebildet wird, die miteinander durch logische oder mathematische Operationen verknüpft sind. Klassifikationen und Theorien sind begriffliche Systeme. Ein konkretes oder materielles System ist eines, das gebildet wird aus konkreten Dingen, die miteinander durch nicht begriffliche Bindungen verknüpft sind wie physikalische, chemische, biologische, ökonomische, politische oder kulturelle Links. Atome und Moleküle, Zellen und Organe, Familien, Wirtschafts- und nicht gouvernementale Organisationen wie auch Regierungen und informelle soziale Netzwerke sind konkrete Systeme. Konkrete Systeme, die für andere stehen oder andere Objekte repräsentieren, wie Sprachen, Texte und Diagramme, mögen symbolisch oder semiotisch genannt werden.“ Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkretes System charakterisierbar durch seine Zusammensetzung (oder auch Komposition), seine Umwelt, seine Struktur (oder Individuum und (Welt)Gesellschaft 7 auch Organisation) sowie durch die Mechanismen, die es aufrecht erhalten. Die Komposition eines System ist die Gesamtheit seiner Teile. Die Umwelt eines Systems ist die Gesamtheit der Dinge, die auf die Komponenten des Systems wirken und auf die diese wirken. Die Struktur eines Systems ist das Gesamt der Bindungen unter den Komponenten des Systems wie auch zwischen diesen und Umweltitems. Die erstere kann als interne oder Endostruktur, die letztere als externe Struktur oder Exostruktur des Systems bezeichnet werden. Wir können die Grenze eines Systems definieren als die Gesamtheit der Komponenten des Systems, die direkt mit Items in der Umwelt des Systems in Beziehung stehen. (Zwei Items sind direkt gekoppelt, wenn sie gekoppelt sind und nichts zwischen ihnen stet.) Schliesslich bestehen die Mechanismen eines Systems in den internen Prozessen, die es in Gang halten, d.h. es in gewissen Hinsichten verändern, während sie es in anderen Hinsichten erhalten. Offensichtlich haben ausschliesslich materielle Dinge Mechanismen. Ausschlaggebend für den Systembegriff ist der Begriff der Emergenz, der wie folgt definiert werden kann: “P ist eine emergente Eigenschaft eines Dinges b wenn und nur wenn entweder b ein komplexes Ding (System) ist, von dessen Komponenten keine P besitzt, oder b ein Individuum ist, dass P dank dem Umstand besitzt, dass es Komponente eines Systems ist (d.h. b würde P nicht besitzen wenn es unabhängig oder isoliert wäre)” 8. Entscheidend für den systemistischen Begriff der Emergenz ist, dass er die emergenten Eigenschaften eines Systems als eine Folge der Interaktion der Komponenten versteht und nicht als etwas, was, wie Holisten und holistische Systemtheoretiker meinen, zu den Komponenten auf nicht erklärbare Weise hinzutritt und ihre Integration in ein System erst ermöglicht oder erzwingt9. Eine zentrale, für alle Systeme geltende und damit ontologische Hypothese lautet: Je nach ihren bindungsstiftenden Eigenschaften und äußeren Bedingungen können sich Dinge durch Selbstvereinigung zu Systemen vereinigen und solche Systeme zu Systemen höherer Ordnung, so dass die ursprünglichen Systeme zu Subsystemen werden etc. Falls mehrere solche Niveaus existieren, ist jedes System Mitglied eines Niveaus oder einer integrativen Schicht im Rahmen einer Niveaustruktur. Ein Niveau (eine Ebene, ein level) kann dabei als eine Kollektion von Dingen aufgefaßt 8 Emergente physikalische Eigenschaften von Dingen sind etwa Durchsichtigkeit (von Flüssigkeiten, Glas etc. oder (thermodynamisches) Gleichgewicht; biologische sind lebend sein (eine emergente Eigenschaft von Zellen), Warmblütigkeit); psychische emergente Eigenschaften sind Wahrnehmung oder Gefühle (als emergente Eigenschaften der Aktivität bestimmter Systeme von Neuronen); Beispiele emergenter Eigenschaften moderner Gesellschaften sind deren funktionale Differenzierung, ihre Differenzierung in Statussubsysteme (Schichtungen) und der Grad der Kristallisation zwischen Status-Subsystemen, die Kohärenz des Systems, der Typ des politischen Systems sowie seine Geschichte oder – im Falle von Märkten – Knappheit und Preis. Beispiele für emergente Eigenschaften von Akteuren bedingt durch deren Einbindung in solche Systeme sind ihre Positionen in Netzwerken, ihre Rollen-Status, ihre Statuskonfigurationen, Bürgerrechte. Individuum und (Welt)Gesellschaft 8 werden, die bestimmte gemeinsame Eigenschaften aufweisen und deren Verhalten Gesetzmässigkeiten unterliegt, unter denen mindestens einige für die das Niveau bildenden Systeme spezifisch sind. Die folgende Liste enthält - auf der Grundlage der eingeführten Begriffe – eine Reihe von ontologischen Hypothesen: • Die Welt besteht aus sich selbst heraus, d.h. unabhängig davon, ob man an sie denkt (oder sie erforscht). • Die Welt (die Wirklichkeit, der Kosmos) besteht ausschließlich aus konkreten «Dingen», wenn auch nicht nur einer einzigen Art, wie dies der materialistische Physikalismus behauptet, sondern aus verschiedenen (vgl. Punkt 7). • Jedes Ding ist entweder ein System oder eine Komponente eines Systems; davon ausgenommen ist nur das Universum, weil es keine Umwelt hat. • Jedes Ding, ob einfach oder komplex, hat eine Reihe von Eigenschaften und diese sind so real wie die Dinge selbst («Formen» sind solche Eigenschaften und keine aus sich selbst heraus existierenden (platonischen) Ideen); jedes komplexe Ding oder System verfügt dabei über einige Eigenschaften, die nur ihm, nicht aber seinen Komponenten zukommen und die im Zuge der Integration seiner Komponenten zu einem System entstanden sind. • Alle Dinge gehorchen in ihrem Aufbau und ihrem Verhalten Gesetzen (es gibt zufälliges Zusammentreffen aber keine Wunder). • Jedes System ist über (schwächere) Beziehungen, die mindestens einige seiner Komponenten auch zu Komponenten in seiner Umwelt unterhalten (externe Struktur), mit seiner Umwelt verbunden. Alle Systeme, außer dem Universum, unterliegen deshalb äußeren Einflüssen und verhalten sich dabei selektiv; es gibt weder ganz offene noch ganz geschlossene (isolierte) Systeme, sondern nur Systeme mit unterschiedlichen Graden an Offenheit. • Kein Ding entsteht aus nichts und kein Ding verschwindet ohne Spur in andern; Systeme zerfallen in ihre Komponenten und verändern darüberhinaus durch die dabei frei werdende Energie ihre Umgebung, oder sie werden als Komponenten in neue Systeme einbezogen; je komplexer ein System ist, desto zahlreicher sind die Schritte bei dessen Bildung und desto zahlreicher die Wege, auf denen es zusammenbrechen kann. • Alle Dinge verändern sich: Sein heisst werden. • Jedes System einer bestimmten Art (Ebene) ist ein Glied in einer evolutionären Kette und hat sich durch Selbstvereinigung von Dingen der vorhergehenden Ebene (Klasse von Dingen) gebildet, d.h. jedem System einer bestimmten Art (Ebene) gehen dessen Komponenten zeitlich voraus. • Es gibt gegenwärtig, zumindest auf der Erde, verschiedene Arten von konkreten Systemen (Niveaus oder Systemebenen), die ihrerseits zu Bündeln von Systemebenen zusammengefasst werden können, nämlich physikalische, chemische, biologische (bio)psychische und soziale. Die Komponenten eines sozialen Systems sind physikalischer, chemischer, biologischer bzw. biopsychischer Natur, die eines chemischen System sind physikalischer und chemischer Natur und die eines physikalischen nur physikalischer. Innerhalb dieser Arten gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Systeme, einige von ihnen wandeln sich schnell, andere nur langsam; einige vereinigen sich selbst, andere sind (von anderen Systemen) mit Absicht gemacht; einige sind geschlossen (aber nicht isoliert) und selbstreguliert, die meisten sind weder das eine noch das andere, einige haben eine räumliche Gestalt bzw. geometrische Grenzen, andere nicht und so weiter. • Mit der Evolution von Nervensystemen sind neue Arten von Fakten (d.h. Zustände und Prozesse) in die Welt gekommen, nämlich mit den starren Formen von Nervensystemen zunächst einfache Bilder (images) des Organismus in seiner Umwelt, und später – mit dem Auftreten von Lebewesen mit plastischen, d.h. lernfähigen Nervensystemen – be- 9 Zum theologischen Ursprung solcher Vorstellungen vgl. {Wagner, 1993 #2475}. Individuum und (Welt)Gesellschaft 9 griffliche Systeme und auf ihnen sowie auf Wahrnehmung beruhende Selbst und Umweltbilder. Diese sind das Ergebnis neuer Arten von (mentalen) Prozessen, nämlich von Erleben und – später bei Menschen – Erfahrung (reflektiertes Erleben) und methodisch kontrolliertem Erkennen (Philosophie und Wissenschaft)10. • Mit dieser neuen Art von Fakten in Koevolution sind menschliche Sozialsysteme entstanden, die einige Eigenschaften mit den Sozialsystemen von anderen höheren Primaten teilen, während andere Eigenschaften für sie spezifisch sind, insbesondere die Multiniveaunalität der menschlichen Sozialsysteme und ihre auf einer syntaktischpropositionlen Sprache (ab ca. 100‘000 Jahre) beruhende symbolische Kulturen (ab ca. 30‘000 Jahre), die sich namentlich durch die Erfindung von symbolischen Systemen, insbesondere der Schrift (ab ca. 4‘000), fortan „explosionsartig“ entwickelte. Vier Typen (mit drei Nebenlinien (Fischer, Hirten, Maritime) solcher Gesellschaften sind bisher evoluiert, Jäger- und Sammler-, Gartenbau-, Agrar- und Industriegesellschaften, ein fünfter ist im Entstehen Dienstleistungsgesellschaften. • Innerhalb der Evolution der Agrargesellschaften und ihren Subsystemen ist eine neue, artifizielle Art von Systemen entstanden, bürokratische Organisationen. Deren modernste Abkömmlinge – Transnationale Korporationen – dominieren heute die anderen beiden Ordnungen – die Bevölkerungen und die Staaten – der gegenwärtigen Weltgesellschaft, jener neu emergierten Form von weltweiter Gesellschaft, deren Vorgeschichte bis ins Jahr 1492 (Kolumbus) zurückreicht und deren Geschichte mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Entkolonialisierung begann und die sich gegenwärtig in einem schnellen und tiefgreifenden Wandel befindet. Die Niveaustruktur der terrestrischen Welt, und dies weist bereits auf die lokale Ontologie des Sozialen (genauer: von humansozialen Systemen) des übernächsten Abschnitts, kann zusammenfassend wiefolgt symbolisiert werden. {Die Grafik findet sich in einer einfacheren Variante bei \Bunge, 1996 #1870}. 10 Die Vorgänge in komplexen Nervensystemen weisen eine Reihe von emergenten Eigenschaften auf, die dem entsprechen, was wir innerhalb unseres Erlebens als psychische Prozesse erfahren: Was wir zusammen mit den älteren Gehirnfunktionen der Affekte «Psychen» nennen, sind m.a.W. keine körperlosen Wesenheiten, die in mysteriöser Weise auf den Körper ihrer «Träger» Einfluß nehmen und von ihm beeinflußt werden (psychophysischer Interaktionismus), sondern Klassen von Vorgängen in Gehirnen von Lebewesen mit plastischen Nervensystemen. (Für eine philosophisch informierte Darstellung der kognitiven Neurobiologie (auch Psychobiologie, physiologische Psychologie, Biopsychologie) vgl. {Bunge, 1990 #3565}; für eine zusammenfassende Darstellung des neuesten Forschungsstandes {Roth, 2001 #4725}; für Prozesse des Selbstbewusstseins {Damasio, 1999 #4253}. Individuum und (Welt)Gesellschaft 10 Abbildung 1: Systemebenen der Wirklichkeit Intergouvernementales System der politisch-militärischen Macht Interorganisationelles System Multinationaler Korporationen Biosphaere der Erde Nationen (Globalgesellschaften) Multis Provinzen (Kantone) Departemente (Gemeinden) Kannitscheider, 1984 Metagalaxie (= astronomisches Universum) Betriebe Soziale Gruppen (Familie, Freundschaftsgruppen) Organismen mit hochplastischem ZNS (Psychen): Menschliche Individuen Galaktische Aggregationen Gruppen (z.B. Schimpansengruppe) " Organismen ohne ZNS Amoeben) od. mit relat. starrem ZNS (z.B. Hydra bzw. Drosophila) Psychisches Niveau (Wirklichkeitsbereich) Molare Subsysteme (z.B. ZNS, Kreislaufsystem) Organe (z.B. Hypothalamus, Herz, Milz) Sternhaufen Sterne (Alpha Centauri); Planeten (Venus, Erde) Kristalle, Kolloide & Ungleichgewichtsstrukturen (z.B. Wolken, Strömungen) Moleküle (z.B., C02 Mikrosysteme (z.B. kortikale Mikrokolumnen) Zellen (z.B. Neuronen, Muskelzellen) Organellen (z.B. Mitochondrien (Bio-)Moleküle (z.B. H20; DNS, C40H56) Atome (z.B. Wasserstoff; Kohlenstoff, Chlor) Chemische Niveaus (bzw. chem. Wirkl.bereich) Physikalische Niveaus (bzw. Wirklichkeitsbereich) Populationen Teams Bemerkung: Organismus ist sichtbar, nicht aber "Psyche" Galaxien Oekosysteme Unternehmen Sozi(et)ale Niveaus mit biologischen Komponenten Internationales Entwicklungsschichtungssystem [Bornschier 1980; Heintz 1982a] [Heintz, 1982 a; Hischier, 1987] Biologische Niveaus (biol. Wirklichkeitsbereich) [Heintz, 1969 1972; 1973/74 1982 b] Kernteilchen Protonen & Neutronen) LEGENDE: " Elementare Patikel und Felder (Quarks u. Leptonen) Sozialökologische Systeme ! ! ! ! Systeme ! ! ! Sozietale ! ! Systeme ! ! ! ! ! ! ! Organisationelle ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! !! !! !! !! !! Interindividuelle ! ! ! ! Systeme ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Pflanzenund Tiersozietäten ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Organismen ! ! ! mit! hochplast. ! ! ZNS ! (= !Menschliche ! ! Individuen) ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Organismen mit plastischen ZNS (= höhere Wirbeltiere, namentlich Primaten) ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Organismen mit ! ! ! ohne ! zentral. ! !NS oder ! ! starrem ! ! ZNS ! (d.h. ! ohne ! "Psychen") ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Biologische Niveaus ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Chemische ! ! !Niveaus ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Niveaus ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Physikalische ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Ohne technische ! ! ! ! Hilfsmittel, ! ! d.h. ! unmittelbar ! ! !wahr-! nehmbar ! ! (= ! ! ! Universum ! ! !der möglichen ! ! ! "Objekte" ! ! der ! menschlichen ! ! ! Lebenswelt ! ! ! ("Phänowelt")) ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! !! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! !! ! ! ! !! !! !! !! !! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! 1980; !Psychische ! ! Systeme ! ! [Bunge, ! ! 1983; 1987] !Changeux, ! ! Bunge ! !& Ardila, ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Graph: Verknüpfung und Erweiterung von Laszlo, 1972 und Bunge 1980 ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Individuum und (Welt)Gesellschaft ii) 11 Praxeologische Vorbemerkungen: Akte, menschlich und soziale Handlungen sowie Kommunikation Die (elementaren) Komponenten von sozialen Gebilden sind menschliche Individuen. Für das Entstehen und Bestehen sozialer Systeme grundlegend sind absichtsvolle Handlungen, die Menschen in Bezug auf andere Menschen ausführen. Solche Handlungen sind eine besondere Form von Handlungen; sie werden als soziale Handlungen bezeichnet. Um den Begriff der Handlung zu definieren, greifen wir auf einen noch allgemeineren Begriff zurück, der sich auf alle Dinge (Systeme), d.h. nicht nur auf Menschen, bezieht: den des Aktes. Definition 1: Ein ist Akt das, was ein konkretes Ding einem anderen tut, das heißt eine Billardkugel einer anderen, ein Biomolekül in einer Zelle einem anderen, eine ein Jungtier fütternde Amsel ihrem Jungen, eine Ärztin einem Patienten oder eine Sozialarbeiterin einem Klienten, eine Organisation (eine Lieferfirma) einer anderen (Käufer). Definition 2: Menschliche Handlungen (auch „Praxis“) sind Akte einer besonderen Art, nämlich was immer Menschen bewusst oder nicht (voll) bewusst, aber absichtlich einem anderen Ding tun. Einer selbstbewussten Handlung geht die Entwicklung eines (Handlungs)Plans voraus. Da sie sich auf physikalische, chemische, biologische, (bio)psychische (das heißt auf Menschen), soziale Systeme (z.B. Gruppen, Organisationen) beziehen können, können Handlungen nach der Art ihrer Referenten unterschieden werden. Eine soziale Handlung lässt sich dabei wie folgt definieren: Definition 3: Eine soziale Handlung ist eine Handlung, mit der ein Individuum ein anderes (oder andere) zu verändern trachtet. Dabei ist die moralische Qualität der Handlung unerheblich. Anders gesagt sind auch Mord und das Führen eines Krieges soziale Handlungen (nicht aber das versehentliche Töten eines Menschen, das eine „fahrlässige Tötung“ ist); das Streicheln eines Säuglings nach der Geburt und die Geburtshilfe (nicht aber das Gebären, das ein biologischer Akt ist). Definition 4: Kommunikation ist eine besondere Form einer sozialen Handlung, durch die ein Mensch einen anderen auf dem Wege einer Mitteilung zu verändern trachtet; Kommunikation kann mimisch, gestisch und taktil unterstützt werden. Beispiele: sich mit einem anderen Menschen unterhalten; einen Vortrag halten; eine Mail oder einen Artikel schreiben. (Es gibt (noch) keine eingebürgerte Bezeichnungen für die anderen Arten von Handlungen (physikalische, biologische, kulturelle Handlungen etc.) und ist die Bezeichnung „soziale Handlung“ nicht ideal, weil sie eine interpersonelle Interaktion nicht von einer unterscheidet, die sich auf die Struktur eines sozialen Gebildes bezieht.) Individuum und (Welt)Gesellschaft 12 b. Soziale Systeme Neben physikalischen, chemischen, biologischen und psychischen Systemen sind soziale Systeme eine der fünf übergeordneten Klassen von konkreten Systemen. Ontologien des Sozialen erforschen so allgemeine soziologische Begriffe wie jene des sozialen Systems, der Sozialstruktur und des sozialen Wandels. Bunge tut dies mit den Mitteln seiner allgemeinen Ontologie. i. Soziale Systeme und menschliche Sozialsysteme Soziale Systeme sind – wie menschliche Individuen auch – materielle Systeme einer besonderen Art, und menschliche Sozialsysteme sind ein besonderer Typ von sozialen Systemen. Genauer: a) Ein soziales System ist ein konkretes System, das zusammengesetzt ist aus Tieren, die (a) eine gemeinsame Umwelt teilen, (b) direkt oder indirekt auf andere Mitglieder des Systems einwirken und die (c) zumindest in einigen Hinsichten kooperativ sind, während sie in anderen miteinander konkurrieren. Mit zu solchen Systemen gehören auch ihre physischen (z.B. Werkzeuge, Gebäude, Haustiere) und symbolischen Artefakte (Texte). b) Ein menschliches Sozialsystem ist ein soziales System11, das gebildet wird aus menschlichen Individuen12, die von ihrer eigenen Arbeit oder von jener anderer abhängen und die ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Wünsche erfüllen. Familien, Freundschaftsgruppen, Teams und Netzwerke (wie Nachbarschaften oder Fachgruppen), Organisationen, Gemeinden, Kantone (Provinzen, „Länder“), Nationalstaaten, die Weltgesellschaft sind menschliche Sozialsysteme. Danach ist das Soziale am Leben menschlicher Individuen weder ihr Denken an andere oder die Begriffe (Kategorien) u.ä., die sie von anderen gelernt haben, wie dies individualistische Subjektivisten wollen, oder ihre Moral – die Auffassung der Religionen und des Alltagsdenkens –, noch gar eine „Gesellschaft“ oder das „Kollektive“ jenseits von ihnen, die sie antreibt oder leitet, wie die soziologischen Holisten meinen. Das Soziale an Menschen sind vielmehr ihre Handlungen in Bezug auf andere Menschen und im besonderen in Bezug auf Mitglieder des eigenen sozialen Systems, gleichviel, ob diese Handlungen moralisch motiviert sind oder nicht. Und soziale Systeme werden durch solche Handlungen gebildet, in Gang gehalten und oft auch zerstört. 11 Z.B. Familien, Gruppen, Organisationen, Gemeinden, Nationen, die Weltgesellschaft, aber auch Netzwerke wie Freundschaftscliquen, Nachbarschaften oder lose Interaktionsnetze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (scientific communities). Individuum und (Welt)Gesellschaft 13 Soziale Handlungen mögen spontan, einseitig (unerwidert) und einmalig sein. Soziale Systeme sind jedoch das Ergebnis von wiederkehrenden Handlungen zwischen den selben (Arten von) Agenten oder anders gesagt von „rekursiven“ sozialen Prozessen sowie von gleichartigen Handlungen in Bezug auf unterschiedliche Agenten (z.B. Dienstleistungsberufe). Soziale Prozesse wiederum haben ihren Anlass in Bindungen zwischen den Agenten: Zusammengehalten (oder auseinandergerissen) werden soziale Systeme insbesondere durch Gefühle wie Liebe, Freundschaft und Wohlwollen, Mißgunst und Haß, durch moralische Empfindungen wie Stolz, Verpflichtung und Hingabe, durch Ueberzeugungen wie Normen und Ideale, durch informelle (moralische) und formelle organisationelle und gesetzliche Normen und darauf beruhende Erwartungen sowie „vor allem durch soziale Handlungen oder Interaktionen wie Teilen und Kooperieren, Austauschen und Informieren, Diskutieren und Befehlen, Belohnen und Bestrafen (drohen sowie erzwingen, verletzen oder ermorden), Ehrerbieten und Rebellieren.“ Zusammengehalten werden soziale Systeme mit anderen Worten durch die Bindungen (interne oder Endostruktur), die die Komponenten untereinander mehr binden als mit Individuen in der Umwelt des Systems (Exostruktur) und die stofflicher, energetischer, informationeller und emotionaler Art sind. Dabei ist die Struktur solcher Systeme das unbeabsichtigte Ergebnis der Handlungen der Komponenten, die durch sie ihre biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen trachten. Dasselbe gilt für die Kultur solcher Systeme, die das Gesamt der aggregierten Eigenschaften der kognitiven Struktur der individuellen Akteure, d.h. ihrer Sprache, Bilder, Codes und Werte, plus die symbolischen Artefakte ist. Umgekehrt bildet die Sozialstruktur den Rahmen, innerhalb dessen die Komponenten in Abhängigkeit ihrer Position in der Struktur ihre Handlungsziele wählen und zu erreichen suchen13. Als symbolisches Mittel der Orientierung in der folgenden Diskussion soll Abb. 2 dienen: 12 Auch: Personen, (bio)psychische Systeme. 13 Es ist damit die Sozialstruktur, die auf die Komponenten wirkt, und nicht „das System“ bzw. „die Gesellschaft“, wie dies in holistischen Lehren formuliert wird, und die Wirkung der Sozialstruktur ist die einer Restringierung von Handlungsmöglichkeiten und nicht die einer kausalen Determination der Handlungen. Akteure haben immer eine Wahl und damit einen bestimmten Grad an Autonomie, wie klein auch ihre Handlungsspielräume sein mögen. Voraussetzung ist, dass sie in der Lage sind, ihre Situation zu analysieren und ihre Optionen begrifflich zu erfassen. Dies hängt nicht zuletzt von der Qualität ihrer internen Modelle (Deutungsmuster) ab, deren Erwerbschancen ihrerseits mit der Position innerhalb der Struktur zusammenhängen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 14 Abbildung 2 Die wichtigsten Gruppen von Dimensionen sozialer Systeme ma The KULTUR Begriffliche Bilder III. Bilder Religiöse und magische Bilder Wissenschaftliche Bilder Weltgesellschaft Intergouvernementales System der politischmilitärischen Macht InternationalesEntwicklungs-Schichtungssystem Staatenbündnisse Selbstorganisation Soziologische Fragestellung n he ET nsc SW Me z.; oso ikr er Soziologische Fragestellung III. Vertikale Differenzierung Statuskonfiguration Chemische Systeme (Gefüge) Physikalische Systeme (Gefüge) Prestige IV. Sozialökolo gische Diffe- ! renzierung V. Lebenszeitliche Differenzierung VI. Geschlechtsdifferenzierung VII.Ethnische Differenzierung Land -- Stadt Einkom. (X) Positionsstruktur Politik Bildung Soz. & Ges.wesen Massenmedien Familien Ber.Rolle SOZIALSTRUKTUR Bildung Funktionale Differenzierung 3: Traditionelle Kleinfamilie (Binnenrolle & Aussenrolle) Wirtschaft Militär Religion Invest. Bel./Inv. Gleichgewichtige Statuskonfigurationen auf versch. Rängen Bel/Inv. Ungleichgewichtige Statuskonfiguration auf hohem Rang Ungleichgewichtige und unvollständige Sta- tuskonfigurationen auf mittlerem Rang Gleichgewichtige Konfiguration auf tiefem Rang Macht Anwesen - Weiler - Dorf - Stadt - Grosstadt - Metropolitane Gebiete Kleinkinder - Jugendliche - Junge Erwachsene - Erwachsene - Junge Alte - Senioren - 3. Alter Biologisches, psychisches und soziales Geschlecht Ethnische Homogenität versus Heterogenität Abbildung aus: {Obrecht, 1993 #3972} c) Eigenschaften sozialer Systeme: Soziale Systeme sind, wie andere Dinge (Systeme) auch, durch eine grosse Zahl von Eigenschaften gekennzeichnet, anhand derer sie beschrieben und in Bezug auf die ihr Werden, ihr Aufbau und ihr Verhalten erklärt werden können. Und wie bei allen Systemen sind unter diesen Eigenschaften auch eine Reihe von besonders wichtigen, da „emergenten“ Eigenschaften14. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie, da sie das Ergebnis (der Effekt) der Interaktion der Komponenten des Systems sind, nur dem System, nicht aber seinen Komponenten zukommen. Anders gesagt sind emergente Eigenschaften das Ergebnis der (bindenden) Aktivitäten der Komponenten der Systeme, woraus folgt, dass das Verhalten 14 Ausser emergente Eigenschaften weisen Systeme immer auch eine grosse Zahl von Eigenschaften auf, die sie der Aggregation von Eigenschaften ihrer Komponenten verdanken wie z.B. alle Formen von „Raten“ und Quoten wie Geburten, Sterbe-, Suizidraten und Einschulungsquoten, die Geschlechterzusammensetzung oder eben „Soziale Probleme“ im Sinne der klassischen Theorie sozialer Probleme. / gie s de Funktionale Differenzierung 1: Institutionelle Sektoren T Q Kosmologie lo do tho Me ET SW e ell r äch .F (M e ch tolo oli / ie/P mie log no zio ko / So / Oe gie gie nolo Eth d Mo Fä sch ie- en HM iss E BI Teams Gesellschafts"Bild" Individuen (Funktionale und segmentäre Differenzierung) Oktober 1981/ 26. 10. 1991/ 2.12. 1993 / 6.12.95 WA0 log ho Familien S Menschliche Individuen 6.12.95: Ethn. Diff Abteilungen lw zia Gemeinden II. Horizontale ! Differenzierung Interaktionsstruktur "Menschenbild" Betriebe P Psychische Systeme Biosysteme Systeme (Gefüge) Provinzen Y PS (Gesell schaft) Konzerne Firmen yc Ps . . . . schaftlicher und phioloso- phischer Theorien Multinationale Korporationen Regionen I Niveauale Differenzi erung ! (Levels) *) Wichtige Objektbereiche wissen- Interorganisationelles System . So Soziale Evolution Alltagsbilder Nationen SOZIALE SYSTEME Biosysteme ohne plastisches ZNS mittels empirischer Begriffe mittels transempirischer Begriffe Wahrnehmungen i.e.S We lt Philosophie der Erkenntnis, 1. Teil Wissenschaftliche Theorien *) Alltagscodes Kulturelle (begriffliche) Systeme Menschliche Individuen Alltagsnormen und Technik(en) Erklärungscodes die Terrestrischen Evolution v tand on K gens ult . Ge ur bzw ist II. Begriffssysteme IV. Werte Soziale Systeme. Techn. 2. Ordnung Techn. 1. Ordnung Technologien Interventionscodes Theorien, begriffliche/kognitive/kulturelle Codes) Funktionale Differenzierung 2: Organisationen bestehend aus "Rollen" -> Tätigkeiten, Berufe, Professionen Evolution des Universums I. Sprache UNIVERSUM Individuum und (Welt)Gesellschaft 15 solcher Systeme auch durch das Verhalten der Komponenten plus die äusseren Bedingungen, unter denen das System existiert. d) Gesetzmässigkeiten: Aufbau und Verhalten von sozialen Systemen sind, wie bei allen Systemen, gesetzmässig, auch wenn die Gesetzmässigkeiten lokal, d.h. an den Gesellschaftstyp gebunden sind und mit der Entstehung neuer Typen von Gesellschaften auch neue Gesetzmässigkeiten entstehen. (So gibt es Marktgesetze nur in Gesellschaften mit Märkten, und organisationsspezifische Gesetzmässigkeiten nur in Gesellschaften mit (bürokratischen) Organisationen.) Soziale Gesetzmässigkeiten sind, wie die Gesetzmässigkeiten anderer Arten von Systemen auch, das Ergebnis der Verhaltenstendenzen ihrer Komponenten, in diesem Falle von Menschen, in Abhängigkeit ihrer inneren Zustände und der variablen externen Bedingungen des Systems (Exostruktur). Zwar verfügen Menschen über freien Willen, doch dies heisst nicht, dass ihr Verhalten keinen Gesetzmässigkeiten unterliegt. Vor bedürfnismässig relevante Alternativen gestellt, entscheiden sie sich nämlich aus freien Stücken für mit grosser Wahrscheinlichkeit voraussehbare Optionen. Der Unterschied zwischen den Gesetzmässigkeiten in physikalischen, biologischen, psychischen und sozialen Systemen liegt lediglich in den Mechanismen, welche die regulären Tendenzen im Aufbau der Dinge und ihrem Verhalten erzeugen, und, im Falle von Menschen, in einer gewissen Streuung im Verhalten, die durch idiosynkratische Variationen und Fluktuationen in Situationsdeutungen entsteht, die sich allerdings erstens gegenseitig aufheben können15. ii. Kultur und Sozialstruktur Es gibt zwei übergeordnete Gruppen von Eigenschaften sozialer Systeme, die der Kultur und die der Sozialstruktur. Beginnen wir mit den ersteren. 1. Kultur a) Allgemeines: „Kultur“ ist einer der am meisten, vielfältigsten und diffusesten genutzten Ausdrücke überhaupt und hat, nach dem „cultural turn“ innerhalb der Sozialwissenschaften in den 70er Jahren {Reckwitz, 2000 #4073}, für eine längere Zeit jenen der Sozialstruktur in den Hintergrund gedrängt. 15 Bunge formuliert den Zusammenhang so: „Die Quelle sozialer Regularitäten ist diese: Wenn alle Mitglieder einer sozialen Gruppe ungefähr die selben Bedürfnisse und Wünsche haben und ähnlichen Zwängen und sozialen Kräften ausgesetzt sind, heben sich individuelle Idiosynkrasien auf, so dass Gruppeneigenschaften und Muster erscheinen. Stinchcombe (1968: 67f.) hat eine korrekte Analogie zwischen solchen Gruppen und einem Durchgang von Messungen einer Grösse gezogen: Der zufällige Messfehler (Idiosynkrasien) ist dabei umgekehrt proportional zur Quadratwurzel der Zahl der Beobachtungen (Gruppenmitgliedschaft)“ (Bunge 1998: 23). Individuum und (Welt)Gesellschaft 16 Kultur ist keine eigenständige Art von Dingen, sondern ein Bündel von Eigenschaften sozialer Systeme 16. Sie ist das Ergebnis der Lernfähigkeit der Nervensysteme der individuellen Komponenten solcher Systeme, wobei es der Zwang zur Auseinandersetzung mit der strukturellen und kulturellen Umgebung ist, in die der oder die Einzelne in einer mit dem Lebenslauf variierenden Form eingebunden ist, die die entscheidenden Lernprozesse stimuliert. Der Zwang zur Auseinandersetzung mit der sturkturellen und kulturellen Umgebung ergibt sich aus der Notwendigkeit, in diesem Rahmen das eigene Ueberleben als Organismus und Person sicherzustellen. Obwohl durch die soziokulturelle Umgebung stimuliert, ist Kultur allerdings eine emergente Eigenschaft nur von Individuen (persönliche Kultur), während sie, weil soziale Systeme keine Nervensysteme haben und damit weder Werte, noch Wissen irgend einer Form aufweisen, bei sozialen Systems lediglich eine resultante Eigenschaft ist17. b) Bereiche von Kultur: Wissen und Können sind komplexe Eigenschaften von lern und vor allem von selbstbwusstseinsfähigen Lebewesen. Die Erörterung der verschiedenen Bereiche oder Aspekte von Kultur ist ein Thema für sich. Hier sollen lediglich die vier übergeordneten Items von Kultur genannt und in aller Kürze charakterisiert werden. Diese Bereiche sind i) die Sprache, ii) Werte, und iii) das begriffliche Wissen und die mit ihm gekoppelten Fertigkeiten, wobei dieses Wissen in einen beschreibenden (deskriptiven) Teil, jener der begrifflichen Bilder (images) oder des Faktenwisssens aller Art, sowie einen begrifflich-theoretischen Teil (kulturelle Codes) zerfällt, im zuletzt genannten Fall darüberhinaus einerseits in jenen der Begriffs- und Aussagesysteme mit erklärender Funktion (Naive oder Alltagstheorien (oder auch Deutungsmuster etc.) und wissenschaftliche Theorien), andererseits in jenen mit einer präskriptiven (auch: normativen) Funktion (Technik und Technologie). Die verschiedenen Bereiche von Kultur zeigt Abbildung 3: 16 Man spricht u.a. in der Ethnologie statt von Gesellschaften mit je einer besonderen Kultur von „Kulturen“; dies ist jedoch eine problematische Sprechweise, weil sie insinuiert, Gesellschaften bestünden aus Werten, Sprache sowie weiteren Formen von Wissen, seien ausschliesslich durch ihre partikuläre Kultur gekennzeichnet und teilten darüber hinaus keine weiteren Eigenschaften, alles Hypothesen, die nicht haltbar sind. 17 Dieser Umstand ist nicht zu verwechseln damit, dass die sozialen Systeme selber, auf deren Grundlage sich eine Partikulärkultur bildet, eines der zentralen Themen dieses Kulturen sind, indem solche Kulturen je ein Weltbild (Kosmologie und Kosmogonie), ein Bild der Welt (der Erde), ein Gesellschaftsbild einschliesslich ein Bild der Kultur der Gesellschaft sowie ein Menschenbild entwickeln.) Individuum und (Welt)Gesellschaft 17 Abbildung 3 Die Bereiche von Kultur Sprache Werte Beschreibendes Wissen (Bilder) Bereiche von Kultur Substantives Wissen Begriffs- und Aussagesysteme Kulturelle Codes mit beschreibender und erklärender Funktion “Deutungsmuster”/ Wissenschaftl.Theo rien mit präskriptiver / normativer Funktion Techniken/Technolo gien i) Sprache: Eine Sprache ist ein System von Zeichen, die dazu dienen zu kommunizieren und zu denken. Ob natürlich (historisch), artifiziell (konstruiert) oder gemischt, werden Sprachen gebildet durch konventionelle Zeichen. Da jedes Zeichen in Termini anderer Symbole erklärt werden muss, haben isolierte Zeichen keine Bedeutung. Eine Sprache L kann definiert werden als ein System von konventionellen Zeichen so dass 1) Komposition von L = das Vokabular von L; 2) Umwelt von L = die Kollektion von extralinguistischen Items, auf die sich die Ausdrücke in L beziehen; 3) Struktur von L = die Grammatik von L; 4) Mechanismus von L = leer Man beachte, dass der Mechanismus, der L zum Funktionieren bringt, nämlich Kommunikation, in der obigen Definition fehlt, während er in der Definition eines symbolischen Systems auftritt – welches, anders als eine Sprache, ein konkretes System ist, das Sprecher einschliesst18. ii) Werte: Es gibt zwei Arten von Werten, intrinsische oder Biowerte und funktionale Werte, einschliesslich Ziele. Was die ersteren betrifft, so bevorzugen alle Organismen, d.h. bereits prokaryotische Einzeller, in bestimmten Zuständen zu sein. Diese Zustände können als die intrinsischen Werte einer Spezies bezeichnet werden. Diese inneren Zustände werden je 18 Was die Grammatik betrifft, so ist sie hier im breiten Sinne konstruiert, d.h. als bestehend aus Syntax, Semantik und Phonologie. Die Syntax von L plus die logischen Relationen zwischen den Begriffen, die durch die Zeichen von L designiert werden, bilden die interne Struktur (oder Endostruktur) von L. (...) Und die Exostruktur von L ist die Gesamtheit von Beziehungen, die die Zeichen von L mit der (natürlichen, sozialen und kulturellen) Welt (ver)binden, im besonderen des Sprechers und seinen Gesprächspartner. Die Beziehungen der Desigantion, Denotation (oder Referenz), des Sprechens und Hörens, gehören in die Exostruktur einer Sprache: Sie relationieren Zeichen mit Begriffen und konkreten Dingen. Die Exostruktur einer Sprache ist die Brücke zwischen der Sprache und der Welt. Sie ist, was eine Sprache zu einem Mittel der Kommunikation macht. Individuum und (Welt)Gesellschaft 18 nach Art durch spezifische Formen des Verhaltens, wie z.B. das Schlagen von Geisseln, bei Geisseltierchen, das Schwimmen bei Fischen, das Fliegen und Picken bei Vögeln, das Gehen, Hantieren und geplante Handeln bei höheren Primaten und Menschen zu erreichen versucht, Aktivitäten, also die auf die Erreichung oder Schaffung von äusseren Situationen zielen, von denen, im Falle von selbstbewussten Lebewesen, das Subjekt annimmt oder weiss, dass sie funktional für die Erreichung der primären Biozustände sind, d.h. für die Befriedigung seiner Bedürfnisse (vgl. unten). Die Dinge und Handlungen, die es dabei für die Erreichung seiner intrinsischen Werte (gewünschten Zustände) für funktional hält, sind seine funktionalen Werte. Beispiele sind „Freiheit“, „Frieden“, „Biodiversität“, „Umweltschutz“, „Vollbeschäftigung“, eine „gute Beziehung“, „Anstand“, „ein Zuhause“, „Lebensstil“ oder „Ferien“. iii) Deskriptives Wissen (begriffliche Bilder): Zielorientiertes Handeln beruht auf der Orientierung im Raum. Deshalb erzeugt das Gehirn beim Menschen (und anderen höheren Primaten) laufend ein Bild seiner selbst in seiner physikalischen, biologische, sozialen und kulturellen Umwelt sowie zu erwartender und gewünschter künftiger Zustände und Vorgänge (Prognose); das Gesamt dieses Wissens, einschliesslich der memorisierten Zustände und Prozesse (Gedächtnis) bilden das deskriptive Wissen einer Person. Ein (begriffliches) Bild einer bestimmten Situation ist dabei das Gesamt der Faktizitätsbehauptungen, die der Träger des Bildes in Bezug auf die Gegebenheiten und Vorgänge in der betreffenden Situation für wahr hält, unabhängig davon, ob die betreffenden Vorstellungen dies sind. Eine Situation besteht im Gesamt jener Dinge (Systeme) und aktuellen Prozesse zwischen ihnen, auf die die Aufmerksamkeit eines bewusstseinsfähigen Systems gerichtet ist. iv) Kulturelle Codes: Beschreibung involviert nebst logischen Begriffen Individual- und Klassenbegriffe, die im Alltagswissen in Form diffus definierter Begriffs- und locker verknüpfter Aussagensysteme vorliegen, während sie in den Kontexten von Wissenschaft (axiomatisierte hypothetisch-deduktive Systeme) und Philosophie (präzise philosophische Systeme) in variabler begrifflichen Präzision und variablen Graden an Kohärenz und Konsistenz auftreten bis hin zum Ideal (axiomatisierter hypothetisch-deduktive Systemer (Wissenschaft) und präzisen philosophischen Systemen (Philosophie). Zu unterscheiden sind Aussagensysteme, deren Komponenten Aussagen über Gesetzmässigkeiten (Alltags- und wissenschaftliche Theorien) und solche, deren Komponenten Regeln sind (Verfahren). Regeln können dabei (1) Faustregeln aufgrund von Erfahrung sein oder auf einem wissenschaftlichen Verständnis der Mechanismen im Interventionsbereich beruhen und sie können (2) in Bezug auf ihre Effektivität überprüft sein oder nicht. Eine Übersicht über die Bereiche von Kultur gibt die nachstehende Abb.4: Abbildung 4: Typen von Verfahren (Methoden) nach Nachweis der Wirksamkeit und Existenz einer wissenschaftlichen Erklärung der Wirkungsweise Erklärungsgrundlage Magisch-religiöse undAlltagserfahrung Ja Technologie (4) (2) (3) (1) Nein Nachweis der Wirkung (Effektivität) Wissenschaftliche Theorie(n) Prototechnologie Prototechnologie Technik Alltagsmethode Technik Diese Charakterisierung nach dem wissenschaftlichen Effektivitätsnachweis und der Erklärung der Wirkungsweise bezieht sich auf das Wissen moderner Gesell- Individuum und (Welt)Gesellschaft 19 schaften, in denen Wissenschaft und Technologie im Rahmen aller funktionalen Subsysteme eine zentrale Rolle zukommt., besonders aber in der Wirtschaft. Eine verwandte, wenn auch terminologisch andere Unterscheidung von Wissen ist die zwischen primären und sekundären Formen des Wissens {bzw. in der Terminologie Robin Hortons: „Theorien“; vgl. \Horton, 1983 #6009}. Bei der primären Form des Wissens, hinsichtlich der es, sieht man von unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten ab, keine nennenswerten interkulturellen Unterschiede gibt, handelt es sich um elementares kausales Alltagswissen, das sich auf den Mesokosmos bezieht, d.h. auf die „kognitive Nische“ {Vollmer, 1991 #467}, an die unser Empfindungs- und Wahrnehmungsapparat sowie die natürlichen Formen des Schliessens evolutiv angepasst ist und das dementsprechend auf einer anhand der Alltagserfahrung im Zusammenhang mit Handeln gebildeten (phänoweltlich-mechanische) Zug-StossKonzeption der Kausalität beruht. Sekundäres Wissen involviert in den meisten Kulturen eine spiritualistische Ontologie, die die Existenz von Geistern, Göttern und ähnlichen Entitäten sowie von Kräften aller Art postuliert und über sie das primäre, empirische Wissen in seinem Horizont über die Phänowelt hinaus erweitert und erklärt {Hernegger, 1989 #1513}. Im Unterschied zu den Wissenschaften und im Gegensatz zur meist impliziten Unterstellung stehen auch das mythische und religiöse sekundäre Denken im Dienste pragmatischer Interessen, nämlich der Sicherung des Wohlwollens und der Unterstützung der transzendenten Entitäten der lokalen Ontologie bei der Erreichung der eigenen Ziele. Den gesellschaftlichen Erfolg und das enorme Prestige zur Zeit ihrer Entstehung verdankten die Wissenschaften gerade nicht dem Vermögen, die Welt zu verändern, sondern ihrer Fähigkeit, kosmologische und makrophysikalische Prozesse präzise zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren {Kanitscheider, 1993 #1226}. c) Themen von Kultur: Gemeinsam sind der Kultur aller Gesellschaften vier umfassende und untereinander in Beziehung stehende Themenbereiche, deren inhaltliche Ausgestaltung sich von Kultur zu Kultur unterscheidet, nämlich i) der Kosmos und seine Herkunft und „Bestimmung“, ii) die (terrestrische) Natur, iii) menschliche Individuen (Menschenbild) sowie iv) die Gesellschaft (Gesellschaftsbild). d) Formen von Kultur: Kultur ist wie gesagt das Ergebnis der Lernfähigkeit der Nervensysteme der individuellen Komponenten sozialer Systeme und emergiert in diesem Rahmen, ist aber eine emergente Eigenschaft nur von Individuen (persönliche Kultur), während sie, weil soziale Systeme keine Nervensysteme haben und damit weder Werte, noch Wissen irgend einer Form aufweisen, bei sozialen Systems ledig- Individuum und (Welt)Gesellschaft 20 lich resultant19. Wir können davon ausgehend drei Begriffe von Kultur unterscheiden: K(1), die persönliche Kultur, deren Dimensionen im Kap.2 über das biopsychosoziokulturelle Modell des Individuums umrissen wurden; K(2) Kultur als aggregierte Eigenschaft sozialer Systeme und K(3) Kultur als funktionales Subsystem (vgl. unten). Ein vierter, vor allem in der Ethnologie innerhalb der kulturalistischen Paradigmen der Soziologie verbreiteter Begriff, „Kultur“ als Synonym für Gesellschaft(en), ist unverträglich mit dem Begriff eines sozialen Systems, weil dieses nicht aus den (aggregierten) Wissen und den Werten von Individuen besteht und dieser Begriff nicht zwischen Kultur und Struktur zu unterscheiden erlaubt. Er gehört in die kulturalistischen und damit ontologisch gesehen idealistischen (geisteswissenschaftlichen) Versuche, soziale Systeme als ideelle Gebilde aufzufassen. 2. Soziale Struktur (Sozialstruktur) Die zweite bedeutende Gruppe von emergenten Eigenschaften sozialer Systeme sind die Eigenschaften der Sozialstruktur. a) Interaktions- und Positionsstruktur: Die Struktur menschlicher Sozialsysteme ist in sich vielfältig differenziert; die beiden übergeordneten, interdependenten Formen sozialer Struktur sind, (1) die Interaktionsstruktur zwischen den Agenten (Komponenten), (2) die in sich vielfältig differenzierte Positionsstruktur. Die Beziehung zwischen den beiden Formen sozialer Struktur: Die Beziehung zwischen den beiden Formen sozialer Struktur ist die folgende: Die in einer bindenden Beziehung stehenden Individuen (z.B. Lehrerin x, Schüler y) bilden zusammen mit allen anderen Items, die in einer solchen Beziehung stehen, Aequivalenzklassen (alle Lehrer, alle Studierenden), die eine gegebene Population in paarweise disjunkte homogene Gruppen teilen wie die Klasse (Gruppe) der Verheirateten und Unverheirateten, der Händler und Nichthändler usw. Jede solche Gruppe ist eine Aequivalenzklasse (eine Kollektion von Dingen mit mindestens einer gemeinsamen Eigenschaft), doch keine ist ein System. Die in einem sozialen System s mit der Zusammensetzung (Mitgliedschaft) S existierenden Aequivalenzklassen bilden nun eine bestimmte Zahl von sozialen Zellen – wie jene, deren Mitglieder (ungefähr) die selbe Beschäftigung und das selbe Einkommen haben, (ungefähr) dieselbe Zahl von Schuljahren haben, (ungefähr) die 19 Dieser Umstand ist nicht zu verwechseln damit, dass die sozialen Systeme selber, auf deren Grundlage sich eine Partikulärkultur bildet, eines der zentralen Themen dieses Kulturen sind, indem solche Kulturen je ein Weltbild, ein Bild der Welt (Erde), ein Gesellschaftsbild einschliesslich ein Bild der Kultur der Gesellschaft sowie ein Menschenbild umfasst.) Individuum und (Welt)Gesellschaft 21 selbe politischen Präferenzen aufweisen – die je mit einer bestimmten Zahl von Individuen besetzt sind. Die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem System existierenden Zellen bilden dessen Sozialstruktur. Dabei ist die Positionsstruktur die Folge der fortgesetzten Interaktionen unter den Komponenten und beide, die Interaktions- wie Positionsstruktur, begrenzen, wenn auch in je spezifischer Weise, die weiteren Interaktionen der einbezogenen Komponenten. b) Die Entstehung solcher Positionsstrukturen aus fortgesetzten Interaktionen: Die Entstehung solcher Positionsstrukturen bestehend aus Aequivalenzklassen sozialer Akteure ist das Ergebnis fortgesetzter Interaktion zwischen ihnen unter für eine solche Interaktion günstigen und durch sie laufend weiter begünstigenden Bedingungen, in deren Verlaufe von den beteiligten Akteuren Klassenbegriffe sozialer Akteure entwickelt und geteilt und zu Zwecken der Konzipierung und Steuerung weiterer Interaktionen genutzt werden. c) Dimensionen (Eigenschaften) der Positionsstruktur moderner Gesellschaften: Vor allem moderne Gesellschaften sind in einer grossen Zahl von Hinsichten strukturell differenziert20, wobei die verschiedenen Formen der Differenzierung untereinander in je spezifischer Weise wechselwirken. Was die Positionsstruktur betrifft, so sind die gewichtigsten Differenzierungen die i) der vertikalen, ii) der (segmentären und funktionalen) horizontalen, iii) der Differenzierung in Systemniveaus, iv) der Gender-, v) der lebenszeitlichen, vi) der sozialökologischen, vii) der ethnischen Differenzierung, viii) der Differenzierung nach sexuellen Präferenzen und ix) nach Gesundheit; Teil III wird auf diese und weitere Differenzierungen kurz zurückkommen und die für alle Gesellschaften zentrale, wenn auch unterschiedlich akzentuierte vertikale Differenzierung theoretisch noch etwas vertiefter behandeln.21. d) Typen sozialer Systeme: Soziale Systeme können in verschiedenen Hinsichten klassifiziert werden, z.B. 1. nach der Art ihrer Entstehung (spontan oder artifiziell), 2. nach den verschiedenen Eigenschaften ihrer Binnenstruktur wie nach 20 Die übergeordnete Unterscheidung von Gesellschaften ist die in 1) Stammesgesellschaften, 2) Agrargesellschaften (seit der neolithischen Revolution vor ca. 11 000 Jahren) und 3) moderne Gesellschaften (seit der industriellen Revolution ab 1750/1800), wobei innerhalb jedes dieser Typen zahlreiche Unterformen unterschieden werden können. 21 Deren faktische Bedeutung wird durch die enormen Ausdehnungen der folgenden Schichtungssysteme verdeutlicht: das internationale Entwicklungsgefälle zwischen Nationen, das ebenfalls enorm ausgedehnte Schichtungssystem der Wirtschaftsorganisationen (Z.B. KMU versus Multis), das Entwicklungsgefälle zwischen Provinzen und Gemeinden und das nicht zuletzt mit jenem der Organisationen zusammenhängenden Gefälle zwischen kleinen und grossen Einkommen und Vermögen von Individuen. Individuum und (Welt)Gesellschaft • 22 der Zahl ihrer Levels – zwei (Individuen), oder mehr (soziale Systeme, Supersysteme etc.). Vom Alltagsdenken her vertraut sind uns soziale Systeme mit Individuen als Komponenten wie Dyaden (z.B. Freundschaften), Familien, Cliquen, Teams, Gemeinden, kleine Organisationen. Soziale Systeme können jedoch ihrerseits Komponenten umfassenderer sozialer Systeme sein und werden dann nach aussen vertreten durch Inhaber von Aussenrollen. Dieser Vorgang der Mitgliedschaft in einem umfassenderen System und der Vertretung nach aussen kann sich mehrmals wiederholen, so dass Systeme mit zahlreichen (sozial)ontologischen Niveaus wie Transnationale Korporationen oder die gegenwärtige Weltgesellschaft entstehen. Systematisch kann man unterscheiden zwischen den genannten interindividuellen Systemen22), und intersozialen Systemen23 sowie intersozietalen24 Systemen, auf jeweils auf Systemen eines tieferen Niveaus beruhen. • ihrer politischen Struktur (z.B. autokratische, totalitäre, populistische Diktaturen sowie repräsentative und partizipative Demokratien), • ihrer Wirtschaftsform (Jäger und Sammler-, Hortikultur-, Agrar-, Industrieund Dienstleistungsgesellschaften etc.), • der Art ihrer vertikalen Differenzierung (egalitäre, Klassen- und Kastengesellschaften), • ihrer funktionalen Differenzierung (biologisches, ökonomisches, politisches und kulturelles Subsystem) 3. nach ihrer Globalität, d.h. nach dem Umfang ihrer Exostruktur, wobei die Globalität umso ausgeprägter ist, je schwächer die Exostruktur entwickelt ist), 4. nach ihrer räumlichen Ausdehnung (lokal, regional, weltweit), wobei die heutige Weltgesellschaft global im doppelten Sinne des Wortes ist, sie erstreckt sich über den ganzen Globus und ist die einzige aktuelle Globalgesellschaft, da sie keine Exostruktur mehr hat). Gesellschaften sind soziale Systeme, die zwei dieser Charakteristika kombinieren, nämlich Zahl der Levels, nämlich mehr als zwei, sowie funktionale Differenzierung: „Wie einfach auch immer, menschliche Gesellschaften sind mehr als Systeme bestehend aus Individuen, sie sind Supersysteme, d.h. Systeme mit sozialen Systemen als Komponenten“. „Eine menschliche Gesellschaft ist ein System gebildet aus vier funktionalen Subsystemen: 1. dem biologischen System, dessen Mitglieder durch sexuelle Beziehungen, Verwandtschaft, Kindererziehung oder Freundschaft zusammengehalten werden, 2. dem ökonomischen System, dessen Bindungen Produktionsbeziehungen und des Gütertausches sind, 3. dem politischen System, dessen spezifischen Funktionen im Management von Kollektiven Gütern und der Kontrolle sozialer Aktivitäten besteht, und 22 Z.B. Familien und Clans, Arbeitsteams und Kleinbetriebe. 23 Z.B. moderne mehrniveaunale Organisationen, bestehend aus Betrieben, oder interorganisationelle Systeme bestehend aus Organisationen, wie das Intergouvernementale System der politischmilitärischen Macht oder das interorganisationelle System der transnationalen Wirtschaftskorporationen. 24 Z.B. das Internationale Entwicklungsschichtungssystem, das auf einer Schichtung von Nationen beruht, oder Netzwerke zwischen Nationen, d.h. Allianzen aller Art. Individuum und (Welt)Gesellschaft 4. 23 dem kulturellen System, dessen Mitglieder sich in solchen kulturellen Aktivitäten engagieren wie Lernen und Lehren, Informieren oder Akten anlegen; Entdecken oder Erfinden, Entwerfen oder Planen, Singen oder Tanzen, Beraten der Heilen, zur Kirche gehen oder Debattieren und so weiter. Dörfer, Nachbarschaften, Städte, Grafschaften oder Provinzen und der Nationalstaat sind Gesellschaften, da jede von ihnen gebildet wird durch biologische, ökonomische, politische und kulturelle Systeme. Im Gegensatz dazu sind Spitäler, Gefängnisse, Armen und transnationale Korporationen obwohl sie sehr komplex Sozialsysteme sind, keine Gesellschaften. Kurz, menschliche Sozialsysteme gibt es heute in allen Grössen und Graden der Komplexität, von der Kernfamilie bis zur Weltgesellschaft25, und von der unterschiedlichsten Art: Familien und andere Arten von Gruppen, Netzwerke, territorial definierte Systeme wie Gemeinden, Länder [Kantone, Provinzen] oder Nationen) oder Organisationen (wie Kleinbetriebe, Schulen, Föderationen, Kartelle, multinationale Wirtschaftskorporationen, Regierungen und wirtschaftliche oder politische Allianzen zwischen Nationen oder die Vereinten Nationen). Die einfacheren unter ihnen sind interindividuelle Systeme, die komplexeren dagegen sind intersoziale oder gar intersozietale Supersysteme. e) Die dynamische Beziehung zwischen Gesellschaftsbild der lokalen Gesellschaft und ihrer Sozialstruktur: Zwischen dem Gesellschaftsbild als Moment der Kultur und der Sozialstruktur gibt es eine entscheidende analytische Beziehung, die die Grundlage jener Klasse von strukturbildenden (morphogenetischen) und strukturstabilisierenden (morphostatischen) Mechanismen bildet, die in den letzten Jahren – mehr verdunkelnd als erhellend – häufig als „soziale Konstruktion“ bezeichnet worden sind26: Die Elemente des Gesellschaftsbilds einer Kultur sind die Kollektion der Arten sozialer Akteure, die innerhalb der Gesellschaft unterschieden werden und die, wie wir in Abschnitt b) gesehen haben, die Zellen der positionalen Sozialstruktur bilden, die als zentrales Moment der Steuerung konkreter sozialer Interaktionen fungiert. Da Kultur aggregierte Eigenschaften von Individuen sind, die diese im Verlaufe ihres Lebens innerhalb von sozialen Systemen erworben (gelernt) haben, 25 Die Weltgesellschaft ist, gleich wie das Universum, streng genommen kein soziales System, weil sie gegenwärtig (noch) keine soziale Umwelt hat (Heintz, 1980b). 26 Der Soziale Konstruktionismus, der eine ontologische These ist, darf nicht verwechselt werden mit dem erkenntnistheoretischen Radikalen Konstruktivismus. Beiden ist allerdings gemeinsam, dass sie das Wort „Konstruktion“ im Titel führen und dass sie beide unterstellen, dass Menschen die faktische soziale Realität (Konstruktionismus) bzw. die subjektive soziale Wirklichkeit (das Bild des Sozialen) „konstruieren“. Beide Prozesse, die Dynamik sozialer Systeme wie auch die kognitiven Prozesse in Individuen sind nur zu einem (sehr) kleinen Teil das Ergebnis bewusst geplanter Handlungen bzw. Denkakte, d.h. Konstruktionen; die meisten dieser Prozesse sind ungeplante („nicht intendierte“ Folgen der Handlungen Vieler (sozialer Konstruktionismus) oder nicht willentlicher zentralnervöser Aktvitäten (Radikaler Konstruktivismus). Hinzu kommt, dass wir nie die (eine) Realität erschaffen, sondern nur vorhandene physische, d.h. physikalische, chemische, biologische, psychische oder soziale Systeme verändern, gegebenenfalls allerdings in einer Art, dass Dinge mit neuen (noch nie dagewesenen) Eigenschaften entstehen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 24 werden wir unser Verständnis von Kultur im Kapitel über menschliche Individuen vertiefen, ehe wir dann in Teil III über ungleiche Verteilungen auf Kultur als Eigenschaft sozialer Systeme zurückkommen. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass die Dynamik sozialer Systeme nicht zuletzt eine zwischen ihrer Kultur und ihrer Sozialstruktur ist: die letztere wird durch Kultur mitdefiniert, stimuliert ihrerseits die Entwicklung der Werte und des Wissens der Akteure, d.h. deren „persönliche“ Kultur in Form ihrer Werte und ihres Wissens, die je nach struktureller Situation eher konserviert oder aber modifiziert werden, und die persönliche Kultur steuert ihrerseits das Verhalten der Akteure in ihrer strukturellen Situation, durch das die Struktur reproduziert oder verändert wird. 2.2. Menschliche Individuen oder: Das Menschenbild des sozialwissenschaftlichen Systemismus Von menschlichen Individuen zu sprechen, ist deshalb kein Pleonasmus, weil es auch tierische Individuen gibt. Immerhin verfügen andere höhere Primaten wenigstens über Grundformen von Selbstbewusstsein. a) Menschliche Individuen: Menschliche Individuen sind sozial lebende Lebewesen einer besonderen Art, nämlich neugierige, aktive, beziehungs- und mitgliedschaftsorientierte, lern-, selbstwissens- und sprachfähige Biosysteme. Die Bedeutung des Nervensystems als Grundlage psychischer Dispositionen: Die Dispositionen zu diesen Eigenschaften verdanken Individuen nicht der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind (wie dies holistische Auffassungen postulieren), sondern der Konstitution ihrer Nervensysteme (Vollmer 2002: 29ff.), weshalb sie als sozialisierte Individuen biopsychosoziale Systeme sind (und nicht lediglich im Rahmen von Kommunikation sozialisierte personale Systeme, wie Luhmann es will). Die Bedeutung der physico-chemischen, biologischen (ökologischen), sozialen und kulturellen Umwelt: Die Bedeutung der Individuen zu jedem Zeitpunkt gegebenen ökologischen und sozialen Handlungsräume und kulturellen Umwelt (symbolische [oder semiotische] Systeme) liegt darin, dass sie den Rahmen darstellen, der Menschen auf der Grundlage ihrer Dispositionen zu (weiteren) Lernprozessen anregt, in deren Verlauf sie zu Mitgliedern einiger (einfache Gesellschaften) oder zahlreicher Sozialsysteme (komplexe Gesellschaften) werden (Sozialisation). Individuum und (Welt)Gesellschaft 25 In der Sicht des sozialwissenschaftlichen Systemismus sind menschliche Individuen dadurch gekennzeichnet, dass sie erstens drei umfassende funktionale psychische Subsysteme aufweisen, nämlich27, 1 ein System von v.a. im Hirnstamm und im limbischen System verankerten allgemeinen Antrieben oder Motivationen; diese werden erzeugt über Bedürfnisspannungen, d.h. vom Nervensystem registrierte und bewertete Ungleichgewichte zwischen neuronal repräsentierten Ist- und Sollzuständen, von denen drei Arten unterschieden werden können: biologische, biopsychische und biopsychosoziale {Obrecht, 1998 #2287}, 2 ein kognitives System, repräsentiert in der Struktur der Assoziationsfelder des Neocortex‘ {Obrecht, 1998 #3225}28; Kognition ist das Gesamt jener Zustände (Wissen) und Prozesse (Wahrnehmung Begriffsbildung und Denken, Selbstbewusstsein) im plastischen, d.h. lernfähigen Bereich eines Nervensystems, die im Dienste der fortwährenden Erzeugung von impliziten und expliziten Selbst- und Umweltbildern in Bezug auf die Vergangenheit, Gegenwart (einschliesslich praktischer oder kognitiver Probleme) und Zukunft (Erwartung, Wünsche) und externen Ressourcen des Individuums stehen, 3 ein im Neo- und Allocortex und in subcortikalen Kernen gründendes Vermögen der Handlungsvorbereitung, -planung und -überwachung auf der Grundlage der aktuellen Motivation (Bedürfnisse bzw. bewusste praktische oder kognitive Probleme), das die Funktionen des Planens, Entscheidens und Wollens erbringt (Obrecht 1996a, b, 2002a; Straub und Werbik 1999; von Cranach und Tschan 1997, Prinz 2000). Zweitens ist jedes Individuum mindestens Mitglied eines sozialen Systems, als erwachsener Mensch meist aber Mitglied von mehreren (einfache Gesellschaften) oder vielen oder sehr vielen (komplexe Gesellschaften), sich teilweise überschneidenden sozialen Systemen (vgl. dazu die vorangehenden Abschnitte). (Eine Folge solcher Mehrfachmitgliedschaften ist die, dass über sie die Dynamiken verschiedener Systeme miteinander gekoppelt sind.) Es gibt mit anderen Worten keine vollkommen marginalen Personen, auch nicht etwa in Elendsvierteln, in denen Menschen ihre eigenen sozialen Systeme bilden, um zu überleben und auch Strassenkinder leben bekanntlich in Gruppen und nicht als Solitäre. b) Die Beziehung zwischen den drei funktionalen psychischen Subsystemen und die Funktion Interne Modelle: Eine grundlegende Beziehung zwischen den drei funktionalen psychischen Subsystemen (1-3) ist die: Eine Reihe von biopsychischen Bedürfnissen motivieren Individuen fortlaufend, ikonische (Wahrnehmung) und begriffliche Bil27 Für die Diskussion von Gehirnfunktionen, vgl. Bunge und Ardila 1990a; Roth 2001; für die Grundzüge eines integralen biopsychosozialen Erkenntnis- und Handlungsmodelles (PSYBIEHM) mit den drei genannten Funktionsbereichen vgl. Obrecht 1996b. 28 Für einige funktional besonders relevante Wissensformen vgl. Obrecht 1996a. Individuum und (Welt)Gesellschaft 26 der bzw. “interne Modelle“ ihrer selbst in ihrer näheren und weiteren Umwelt zu erzeugen, insbesondere aber von Situationen und Ressourcen, die für die Befriedigung ihrer biologischen, biopsychischen und biopsychosozialen Bedürfnisse von Bedeutung sind. Dabei werden diese Bilder über verschiedene Mechanismen wie motorisches Verhalten und interpersonelle oder massenmediale Kommunikation laufend modifiziert, ganz besonders schnell aber auf dem Wege sensu-motorischer Rückkoppelung im Bereich der sich mit dem Verhalten des Akteurs verändernden Nahumgebung29. Die Funktion interner Modelle (Bilder): Die Funktion interner Modelle (oder Bilder, d.h. Beschreibungen) besteht in der Orientierung des Organismus in Raum und Zeit und der Identifizierung von Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung, die Motivation erzeugen (vgl. i), sowie davon ausgehend in der Steuerung der Handlungen, die ihren Trägern die Befriedigung ihrer Bedürfnisse via Verfolgung von sozial legitimen Zielen (Wünschen) ermöglichen, was insbesondere auch die Produktion oder Modifikation von Dingen und Situationen, natürlichen wie sozialen, miteinschliesst, die Bedürfnisbefriedigung auf Dauer sicherstellen. Exkurs zu subjektivistischen Erkenntnistheorien, insbesondere dem Radikalen Konstruktivismus. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass „interne Modelle“ oder „Bilder“ in Rahmen anderer (radikalkonstruktivistischer) erkenntnistheoretischer Bezugsrahmen als „Konstruktionen“, „Wirklichkeit“ etc. bezeichnet werden. Von einer solchen subjektivistischen Auffassung unterscheidet sich die Erkenntnistheorie des systemtheoretischen Paradigmas durch folgendes. Sie ist, in Uebereinstimmung mit der Erkenntnistheorie der Gegenwartswissenschaften erstens realistisch, statt antirealistisch, d.h. geht davon aus, dass Menschen Aspekte der Realität zu erkennen vermögen, wenn auch nur in einer transformierten Form, der Phänowelt. Laien identifizieren dabei „die Welt“ ihrer Erfahrungen mit dem, was sie für wirklich halten, d.h. sie vertreten einen naiven Realismus. Es ist diese Form des Realismus, gegen den die Kritik des Radikalen Konstruktivismus gerichtet ist. Obwohl die Phänowelt unser einziger unmittelbarer Zugang zur Realität ist, beziehen sich die Theorien der modernen Wissenschaften auf die Dinge jenseits dieser Phänowelt und versuchen diese so zu erfassen, wie sie wirklich sind (d.h. die Dinge an sich), und nicht nur, wie sie uns erscheinen. Die Wissenschaften widersprechen damit zweitens dem naiven Realismus, ein Umstand, der den Vertretern des Radikalen Konstruktivismus, die deren Kritik auf den naiven Realismus beschränkt ist, entgangen ist. Die Wissenschaften gegen damit davon aus, dass wissenschaftliche Theorien die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern begrifflich rekonstruieren. Sie sind damit gleichzeitig realistisch (objektivistisch) und „konstruktivistisch“, während der Konstruktivismus Radikale Konstruktivismus radikal subjektivistisch, und damit mit Wissenschaft unvereinbar ist. Es gerade der Wissenschaftliche Realismus, der es ermöglicht, die internen Modelle oder Konstruktionen von Menschen als real zu akzeptieren und sich deshalb wissenschaftlich zu untersuchen. Vom Standpunkt 29 Zur Bedeutung interner Modelle innerhalb der Evolution der Wirbeltiere vgl. Jerison 1994. Individuum und (Welt)Gesellschaft 27 des Radikalen Konstruktivismus aus ist dies nicht möglich, denn die Konstruktionen andern Menschen sind nur Konstruktionen im Kopf des Radikalen Konstruktivisten. Formen interner Modelle (Bilder): Die beiden allgemeinsten Formen interner Modelle sind ikonische (Wahrnehmungen) und begriffliche Bilder, über die sich verschiedene Arten von instrumentellen Handlungen definieren lassen bzw. gesteuert werden30: Während Routinehandlungen nur Wahrnehmungen, affektive Bewertungen und exekutive Funktionen involvieren, involvieren selbstbewusste Handlungen darüberhinaus begriffliche Bilder und weitere, an sie anschliessende kognitive Operationen31. Anders gesagt sind menschliche Individuen– im Unterschied zu physikalischen oder (bio)chemischen Systemen – (halb)offene, sprach- und selbstwissensfähige Biosysteme 32, die ihre innere Struktur fortlaufend über einen materiellen, energetischen und informationellen Austausch mit ihrer physikalisch-biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt aufrecht erhalten. Dieser Austausch wird gewährleistet durch zielgerichtetes (auch: absichtsvolles), wenn auch nur teilweise selbstbewusstes neuro-motorisches Handeln (einschliesslich Sprechen). (Absichtsvolle, aber nicht selbstbewusste Handlungen sind Routinen.) Die organismische Funktion von Handlungen: Alles Handeln hat in dieser Sicht eine organismische Funktion: Es dient entweder unmittelbar oder mittelbar der Aufrechterhaltung der (Bio)Werte von Organismen33; unter (Bio)Werten versteht man ihre bevorzugten Zustände34. 30 Begriffliche Bilder bestehen – im Unterschied zu Wahrnehmungen – aus impliziten oder expliziten Aussagen (Propositionen) über Fakten, und involvieren deshalb über Wahrnehmung hinaus Begriffs- und Aussagensysteme, d.h. einen begrifflichen oder „kognitiven“ Code, in dessen Termini sie formuliert sind {Obrecht, 1996 #1377}. 31 Vollumfänglich rationale, und damit professionelle Handlungen verlangen darüber hinaus, dass die Bilder, auf die sie sich stützen, explizit und in Termini von Begriffen aus wissenschaftlichen Theorien oder anders gesagt, in Termini eines wissenschaftlichen Codes formuliert sind und dass ihre Items über Hypothesen aus diesen Theorien miteinander verknüpft sind (vgl. Kap. 5). Aussagen sind wissenschaftlich, wenn die involvierten Begriffe wohldefiniert sind, d.h. ihre Bedeutung klar ist, und wenn die Behauptungen über Zustände und Prozesse in der realen Welt, die sie formulieren, sich im Rahmen empirischer Forschung als wahr qualifiziert haben. 32 Offene Systeme gibt es nicht; denn dies wären Entitäten ohne Grenzen gegenüber einer Umwelt und damit per definitionem weder einfache Dinge noch Systeme (sondern Ansammlungen von Komponenten). 33 Unmittelbar heisst durch Handlungen, die direkt der Befriedigung von Bedürfnissen dienen wie das Stillen von Hunger oder Löschen von Durst, das Kommunizieren von Affekten oder des Bewältigen einer Konkurrenzsituation; mittelbar heisst durch Handlungen, die auf die Erzeugung, den Erhalt oder die Modifikation von Einrichtungen oder andere Ressourcen gerichtet sind, die Bedürfnisbefriedigung auf Zeit sicherstellen. 34 Die primären oder Zielzustände sind die inneren Zustände; diese werden unter anderem durch Handlungen zu erreichen versucht, die auf die Schaffung von äusseren Situationen zielen, von denen das Subjekt annimmt oder weiss, dass sie funktional für die Erreichung der primären Biozustände sind, d.h. für die Befriedigung seiner Bedürfnisse (vgl. unten). Die Begriffe, die sich auf die für die Erreichung der Biowerte funktionalen Zustände beziehen, sind begriffliche oder explizite Werte wie „Freiheit“, „Frieden“, „Biodiversität“, „Umweltschutz“, „Vollbeschäftigung“, eine „gute Beziehung“, „ein Zuhause“, „Lebensstil“ oder „Ferien“. Individuum und (Welt)Gesellschaft 28 Motivation und Kognition als die beiden Voraussetzungen von Handlungen: Handeln setzt zweierlei voraus. Es muss erstens motiviert sein, d.h. der Organismus muss über innere Antriebsmechanismen verfügen, die es in Gang bringen. Zweitens darf das Handeln, wenn es überlebensdienlich (funktional) sein soll, nicht blind, sondern muss zielgerichtet sein; dazu muss es anhand von inneren Repräsentationen, d.h. ikonische (Wahrnehmungen) und begriffliche Bilder der handlungsrelevanten Aspekte der organismischen Umwelt sowie einen auf solchen Bildern und anderem Wissen beruhenden Handlungsplan gesteuert werden. Die nachstehende Abb. 1 symbolisiert die elementare Version des biopsychosozialen Modells des Individuums, dessen Grundlagen in den vorangehenden Abschnitten umrissen worden sind und das einen der zahlreichen theoretischen Kerne des Systemtheoretischen Paradigmas der Sozialen Arbeit ausmacht. Dabei handelt es sich lediglich um ein Funktions- und kein Strukturmodell, d.h. die Gehirnprozesse, die die symbolisierten Gruppen von Gehirnleistungen erbringen, sind nur angedeutet: Abbildung 5: Ein rudimentäres biopsychosoziales Funktionsmodell des Individuums Gehirnfunktionen Psyche "Internes Modell" (Geist) M Bedürfnisse S Beschreiben, Erklären, Bewerten, Prognostizieren Kognition Isocortex Empfindg 2 ng du in pf m .E or Motivation Isocortex Wünsche, Ziele, Planen, Entscheiden, Wollen Se ns ) ln" n de an nge ("H dlu n n ne Ha tio n nk l vo Fu ei ive er T h isc or ot Empfindung 1 ut (m R Motorischer Cortex ek Limb.System Neuroendokrines Syst. Stammhirn Ex Sensor.Cortex Affekte Effektoren Interne Sensoren Externe Sensoren Gestr. Muskulatur Multinivaunal differenzierte Realität Arten von Affekten: V ko org m än m ge un a izi lle er r A te rt Si (e gn in al sc e hl un ies d sl Te ich xt e) Hunger, Durst, Sexualität, Ekel (Abscheu), Müdigkeit, Erregung, Emotionen Schreck, Furcht, Aerger; Kummer, Neugierde Freude, Hoffnung, Ratlosigkeit Gefühle Empathie Liebe (Hass) Sehnsucht Trauer Vertrauen (Misstr.) Einsamkeit Anerkennung Demut, Ehrgeiz, Stolz, Moral. Scham, Schuld, Gerechtigkeit, Hingabe Empfindg (Verpflichtung), moralische Gleichgültigkeit, Empörung, Triebe E Kult.Syst Soziale Syst Biopsych.Syst Biolog. Syst Chem..Syst Physikal.Syst g lun nd a H . i.s es ng ga e ch lis ika s y ph es ein r Vo Legende S U R M E System Umwelt Rezeptoren (Sensoren) (internes) Modell Effektoren Interne Prozesse ohne motorischen Output U Individuum und (Welt)Gesellschaft 29 Von dieser Vorstellung von Individuen als Organismen, die über Handlungen ihre inneren Repräsentationen und über ihren Stoffwechsel und über diesen den ganzen Rest der inneren Struktur reproduzieren, trennen uns nur noch zwei kleine Schritte von einem groben Verständnis dessen, was man ein Bedürfnis – oder besser eine Bedürfnisspannung – nennen kann, und dem, was man im Anschluss daran unter einem praktischen Problem und im besonderen unter einem sozialen Problem versteht. 2.3. Bedürfnisse und Probleme Zunächst können wir eine Abweichung von den bevorzugten Zuständen (Werten) Bedürfnisse oder besser: Bedürfnisspannungen nennen, von denen drei Arten unterschieden werden können: biologische 35, biopsychische 36 und biopsychosoziale 37. Dabei ist zwischen Bedürfnissen, die ihrem Inhalt nach nicht bewusst sind, aber als diffuse Spannungszustände erlebt werden, und ihrer Interpretation durch das Individuum in Termini der Begriffe jenes kulturellen Codes zu unterscheiden, den es im Verlaufe seiner Biografie in den verschiedenen kulturellen und strukturellen Umgebungen gelernt hat, denen es ausgesetzt war. Bewusste Bedürfnisse bezeichnet man als Wünsche. Eine zentrale Hypothese der Theorie menschlicher Bedürfnisse besagt, dass Bedürfnisse universell sind, während wünsche lokal, d.h. kulturgebunden sind. Vorausgesetzt ist bei der These der Universalität allerdings erstens ein gesundes Gehirn und zweitens ein Aufwachsen innerhalb irgendeiner Gesellschaft. Nur 35 Nämlich 1. nach physischer Integrität d.h. nach Vermeidung von Verschmutzung, das Wohlbefinden reduzierenden (schmerzhaften) physikalischen Beeinträchtigungen (Hitze, Kälte, Nässe), Verletzungen, sowie der Exposition gegenüber (absichtsvoller) Gewalt; 2. nach den für die Autopoiese erforderlichen Austauschstoffen: 1. verdaubarer Biomasse (Stoffwechsel); 2. Wasser (Flüssigkeitshaushalt); 3. Sauerstoff (Gasaustausch); 3. nach Regenerierung; 4. nach sexueller Aktivität und nach Fortpflanzung. 36 Nämlich 5. nach wahrnehmungsgerechter sensorischer Stimulation durch a) Gravitation, b) Schall, c) Licht, d) taktile Reize (sensorische Bedürfnisse); 6. nach schönen Formen in spezifischen Bereichen des Erlebens (Landschaften, Gesichter, unversehrte Körper (aesthetische Bedürfnisse; B. nach aesthetischem Erleben); 7. nach Abwechslung/Stimulation (Bedürfnis nach Abwechslung); 8. nach assimilierbarer orientierungs- & handlungsrelevanter Information: a. nach Information via sensorischer Stimulation (Bedürfnis nach Orientierung) b. nach einem der gewünschten Information angemessenen Code (Bedürfnis nach (epistemischem) „Sinn“ , d.h. nach dem Verstehen dessen, was in einem und um einen herum vorgeht und mit einem geschieht, insofern man davon Kenntnis hat (vgl. 8.1) ). Im Bereich des bewussten Denkens entspricht diesem Bedürfnis das Bedürfnis nach subjektiver Sicherheit/ Gewissheit bzw. nach «Ueberzeugung» in den subjektiv relevanten Fragen); 9. nach subjektiv relevanten (affektiv besetzten) Zielen und Hoffnung auf Erfüllung (Bedürfnis nach subjektivem “Sinn” ); 10. nach effektiven Fertigkeiten, (Skills), Regeln und (sozialen) Normen zur Bewältigung von (wiederkehrenden) Situationen in Abhängigkeit der subjektiv relevanten Ziele (Kontroll- oder Kompetenzbedürfnis); 37 Nämlich nach 11. nach emotionaler Zuwendung (Liebe, Freundschaft, aktiv & passiv) (Liebesbedürfnis); 12. nach spontaner Hilfe (Bedürfnis zu helfen); 13. nach sozial(kulturell)er Zugehörigkeit durch Teilnahme (Mitgliedschaft in Familie, Gruppe Gesellschaft (Sippe, Stamm, „Ethnie“, Region, Nationalstaat) (Mitglied zu sein, heisst, Rechte zu haben, weil man Pflichten erfüllt) (Mitgliedschaftsbedürfnis); 14. nach Unverwechselbarkeit (Bedürfnis nach biopsychosozialer Identität) 15. nach Autonomie (Autonomiebedürfnis); 16. nach sozialer Anerkennung (Funktion, Leistung, «Rang») (Anerkennungsbedürfnis); 17. nach (Austausch-)Gerechtigkeit (Gerechtigkeitsbedürfnis). Individuum und (Welt)Gesellschaft 30 unter diesen Bedingungen entwickelt das Gehirn jene minimale Grundausstattung, die auch alle sozialen Bedürfnisse ins Spiel bringen. a) Praktische und kognitive Probleme: Dabei können solche Bedürfnisspannungen entweder über Routinehandlungen (vgl. oben) kurzfristig abgebaut werden, oder nicht. Wir können deshalb sagen, ein praktisches Problem liege vor, wenn es einem Individuum nicht gelingt, eine in Frage stehende Bedürfnisspannung innert der erforderlichen Zeit, die durch die unterschiedliche Elastizität verschiedener Bedürfnisse gegeben ist, zu abzubauen. Das praktische Problem besteht in dem, was den Organismus gegenwärtig von einer Situation trennt, die Bedürfnisbefriedigung ermöglichen würde; solche Probleme haben oft mehrere und nicht selten viele mögliche Lösungen. Eine zweite oder sekundäre Form praktischer Probleme liegt im Falle von Handlungen vor, die nicht auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung wie das Stillen von Hunger oder Löschen von Durst, das Kommunizieren von Affekten oder des Bewältigen einer Konkurrenzsituation gerichtet sind, sondern auf die mittelbare Bedürfnisbefriedigung, d.h. auf die Erzeugung, den Erhalt oder die Modifikation von Einrichtungen oder andere Ressourcen, die Bedürfnisbefriedigung auf (eine bestimmte) Dauer sicherstellen sollen (Erzeugen oder Beschaffen von Vorräten, Haus- und Werkzeugbau; kollektive Güter sind Ressourcen, die von mehreren Akteuren genutzt werden können, eventuell ohne dadurch aufgebraucht zu werden). Was praktische Probleme betrifft, d.h. Probleme des know how’s bezogen auf die verfügbaren äusseren Ressourcen, so können sie als kognitive Probleme formuliert werden, d.h. als Probleme des Wissens („know that“), oder genauer als Probleme fehlenden Beschreibungs-, Erklärungs-, Wert-, Prognose-, Ziel-, Plan-, oder Interventionswissens (oder eine Kombination davon). Die Lösung eines solchen Problems mag in der Folge zur Lösung des praktischen Problems beitragen38. b) Arten von Problemen nach Arten von Systemen: Es können sechs Arten praktischer Probleme unterschieden werden, je nachdem, welcher Art das System ist, das Bedürfnisbefriedigung bedroht oder durch Handlungen in einer Art modifiziert werden muss, damit eine angemessene (Sicherstellung von) Bedürfnisbefriedigung (auf Zeit) möglich ist: 1. physikalische Probleme wie Nässe, Kälte und Hitze oder wie Probleme der Lokomotion oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Gewalt; 38 Wissenschaft und Technologie können als gesellschaftlich organisierte Bereitstellung von kognitiven und anderen Ressourcen zur Lösung kognitiver und praktischer Probleme verstanden werden. Professionen sind davon ausgehend Systeme von Personen, die dafür ausgebildet sind, eine bestimmte Klasse von praktischen Problemen im Rahmen methodischen Handelns und unter Anwendung von für die Lösung der genannten Problemen geeigneten Methoden (oder anders gesagt: technologischen Wissens) zu lösen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 31 2. chemische Probleme wie Immissionen; 3. biologische Probleme wie Hunger, Verletzungen und Krankheit; 4. (bio)psychische Probleme wie Informationsdefizite in Bezug auf wichtige Aspekte von Handlungssituationen, Konzentrationsschwächen infolge Übermüdung, „psychische Störungen“ wie Phobien und Traumatisierungen oder Funktionsausfälle im Bereich von Wahrnehmung, Denken, Planen, Entscheiden und exekutiven Funktionen als Folge von Neuropathologien mechanischer (Verletzungen), biologischer (Viren, Tumore), degenerativer (Demenz) oder funktioneller Art (z.B. Schizophrenie, Manisch-depressives Irresein u.a.); 5. (biopsycho-)soziale Probleme wie drohender oder erfolgter Mitgliedschaftsverlust oder drohender oder erfolgter sozialer Abstieg, ungerechter Tausch und allgemein Verletzung von Normen der Fairness durch Dritte; Heteronomie im Rahmen sozialer Beziehungen oder Verlust von Beziehungen, u.a. durch (erzwungene) Migration und von Bezugspersonen; 6. kulturelle Probleme wie fehlende (interne) Kommunikationsressourcen (Sprache, selbstverständliches Orientierungswissen, fehlende oder als unzureichend eingeschätztes Erklärungswissen, subjektiv als unzureichend empfundenes Bild der im Interaktionsfeld geltenden Werte und Normen). Wie die Vergegenwärtigung von Wünschen erfolgt auch die bewusste Identifikation („Definition“) von Problemen in Termini gelernten Wissens (Begriffe, Aussagen, Hypothesen) und ist damit Ausdruck von (lokaler) Kultur. So gab es z.B. vor der Entwicklung der Chemie keine „chemischen“ Probleme (wohl aber schädigende chemische Prozesse), vor der Entwicklung der modernen Medizin weniger biologische Probleme (wohl aber biologisch dysfunktionale Prozesse), vor der Entwicklung der Psychologie wesentlich weniger psychische Probleme (wohl aber psychische Störungen), und vor der Entwicklung der Theorie sozialer Probleme weniger und anders verstandene soziale Probleme (wohl aber sehr viele strukturelle und anomische Spannungen und soziale Konflikte auf ihrer Grundlage). c) Macht: Die Abhängigkeit von Individuen von erfolgreicher Bedürfnisbefriedigung und damit von knappen Ressourcen der Bedürfnisbefriedigung macht Individuen entweder zu gegenseitigen Ressourcen für einander – sei es im Rahmen einer von positiven Affekten getragenen Beziehung (Liebe, Freundschaft, Bekanntschaft) oder im Rahmen einer funktionalen Kooperation–, oder zu Konkurrenten um knappe Ressourcen alles Art oder aber, was meist der Fall ist, gleichzeitig zu beidem. In einer solchen Situation erhält ein(e Gruppe von) Akteur(en) in dem Masse Macht über eine(n) andere(n), in dem er oder sie, auf welchem Wege auch immer, Kontrolle für die fraglichen Ressourcen erlangt. Geschieht dies auf eine sozial anerkannte Weise, ist die erworbene Macht legitim, andernfalls nicht ( Machtüberschuss bzw. Legitimationsdefizit und umgekehrt, vgl. \Heintz 1968). Gewalt, d.h. die Androhung oder faktische Verletzung der physischen Integrität von Personen ist dabei, da sie keinerlei institutionalisierte soziale Struktur voraussetzt, die elementarste Form von Macht und historisch der Ausgangspunkt und die Grundlage aller komplexen, Individuum und (Welt)Gesellschaft 32 staatlich organisierten Gesellschaften (Gewaltmonopol) {Mann, 1993 #6078}. Während Konflikt total sein, d.h. alle möglichen Klassen von Gütern gleichzeitig betreffen kann, dominiert im Falle von Kooperation zwar eine Verteilung von Ressourcen, von der beide Seiten der Beziehung zu profitieren vermögen, doch müssen solche Beziehungen deshalb nicht (immer oder vollständig) frei sein von antagonistischen Interessen (Zielen und verfügbaren Gütern) und sind es zumeist auch nicht. (Ein Maximum einer legitimen Beziehung oder anders gesagt ein Minimum von Konflikt kennzeichnet der Tendenz nach die Beziehung zwischen (frisch)Verliebten.) . Menschen sind mit anderen Worten vor allem dies: sozial lebende Wesen, die in ihre sozialen Umwelten eingebunden sind und deshalb ihr Verhalten an ihren strukturell gegebenen Handlungsräumen zu orientieren gezwungen sind. Und da sie als von der Befriedigung ihrer Bedürfnisse abhängige Wesen auf Ressourcen angewiesen sind, neigen sie dazu, ihre Umwelt zu kontrollieren, soweit ihnen dies möglich ist, oder aber sie in ihrem Namen durch Dritte kontrollieren zu lassen, sei dies durch Einzelne oder, noch viel wirksamer, durch soziale Systeme wie Gruppen, Wirtschaftskorporationen oder politische Organisationen wie Verbände, Gemeinden oder Staaten. Beides macht sie zu Mächtigen über andere oder an der Macht über andere Teilnehmende, während sie, wenn andere Individuen oder soziale Systeme die Ressourcen kontrollieren, die sie zur Befriedigung ihrer (inelastischen) Bedürfnisse benötigen, Objekte der Macht Dritter sind. Macht ist mit anderen Worten mindestens eine quadernäre Relation: "Ein Akteur a hat über die Kontrolle einer Ressource r Macht über Akteur b im Hinblick auf sein Ziel z" (1998: 160). Mit Bezug auf das untersozialisierte und rationalistische Menschenbild des homo oeconomicus und das übersozialisierte des homo sociologicus kann man folgendes sagen: Alles in allem nutzen Menschen zwar ihre Vernunft, um ihre Ziele zu erreichen, doch sind sie keine ausschliesslich rationalen Egoisten, denn sie lassen sich nicht minder durch so a und irrationale Antriebe wie Leidenschaften oder unbegründete Ängste leiten und sie streben in der Regel auch nicht danach, ihren Nutzen auf Kosten aller anderen zu maximieren. Noch sind sie ihrer Natur nach willenlose Sklaven, die sich vorgegebenen Normen unterwerfen und sich so zu Mitteln im Rahmen der unerkannten Pläne anderer machen, und wenn schon, dann tun sie dies, weil sie dies für ihre Pflicht erachten und im Gehorsam einen Nutzen für sich selber erblicken. Schliesslich verfügen Menschen über freien Willen, was allerdings nicht heisst, dass ihr Verhalten keinen Gesetzmässigkeiten gehorchte. Vor bedürfnismässig relevante Alternativen gestellt, entscheiden sie sich nämlich aus freien Stücken für mit grosser Wahrscheinlichkeit voraussehbare Optionen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 33 2.4. Soziale Probleme Soziale Probleme sind eine von 5 oder 6 (je nach Art des Zählens) übergeordneten Arten von Problemen. Sie können, wie angedeutet, als jenes Bündel von Problemen definiert werden, die sich im Zusammenhang mit den elementaren Bedürfnissen von Individuen nach Einbindung in eine soziale Umwelt nach eigener Wahl ergeben (vgl. den Abschnitt über Bedürfnisse). Sie können danach unterschieden werden, ob sie die Interaktionsstruktur oder die Positionsstruktur betreffen. Die wichtigsten Arten solcher Probleme sind: Abbildung 6: Arten von sozialen Problemen im Sinne nicht befriedigter sozialer Bedürfnisse 1. Auf die Interaktionsstruktur bezogene 1. Gewalt, anonym oder im Rahmen einer das Bedürfnis nach physischer Integrität nicht respektierenden sozialen Beziehung; 2. Mangel an sexueller Beziehung; 3. Fehlen oder Mangel an Liebe und Zuwendung; 4. Fehlen oder Mangel an freundschaftlichen und allgemein zwischenmenschlichen Beziehungen zu Menschen, die einem wohlgesinnt sind bis hin zu sozialer Isolation im Sinne eines Extremes der Beziehungslosigkeit – aber auch ein Übermass an sozialen (Pflicht)Kontakten; 5. Fremdheitsgefühle im Rahmen sozialer Interaktion gegebenen Interaktionsmöglichkeiten; 6. ein Mangel oder das Fehlen von informellen oder formalen Normen, die Interaktion regeln (Anomie im Sinne E. Durkheims); 7. die Erfahrung von Unrecht im Sinne des Verstosses von Regeln der Fairness; 8. soziale Deklassierung im Rahmen von Interaktionen; 9. strukturelle Diskriminierung in Form von Zugangsverweigerung oder Ausschluss (im Extremfall Vorenthalten oder Entzug von Mitgliedschaftsstatus) durch identifizierbare individuelle Akteure; 10. ungerechter Tausch in Bezug auf die Reziprozitätsnorm (z.B. von Arbeit und Gratifikation) im Rahmen der Interaktion von individuellen Akteuren, und zwar in beiden Richtungen der Abweichung (unangemessen viel (Privilegierung) bzw. wenig); 11. 12. 13. 14. 15. 16. 2. Auf die Positionsstruktur bezogene strukturelle Diskriminierung in Form einer Erschwerung des Zuganges oder zu oder Ausschluss von einer gewünschten Mitgliedschaft (im Extremfall Vorenthalten oder Entzug von Mitgliedschaftsstatus) als Mitglied einer sozialen Kategorie von Akteuren; Heteronomie (unterkomplexe Handlungsspielräume im Rahmen von Rollen). Machtlosigkeit im Sinne unzureichender Kontrolle über Ressourcen zur Steuerung der eigenen bedürfnisrelevanten Umwelt (aber auch illegitime Macht, im Besonderen "Machtüberschuss"); Statusunvollständigkeit (Statuskonfiguration mit mindestens einem nicht besetzten Status); tiefer Status (Rang) und sozialer Abstieg innerhalb Gruppen, Organisationen und der Statussubsysteme der Gesellschaft; Statusungleichgewichte im Sinne einer von institutionalisierten Aequivalenznormen abweichenden Statuskonfiguration; Individuum und (Welt)Gesellschaft 34 Soziale Probleme im vorliegenden Sinne sind mithin das, womit jeder Mensch lebenslang beschäftigt ist. Die überragende Bedeutung dieser Art von Problemen ergibt sich allein schon daraus, dass Menschen auch die anderen, d.h. die physikalischen, biologischen, psychischen und kulturellen Probleme, die sich im Zusammenhang mit ihrem Ueberleben (ihrer Bedürfnisbefriedigung) ergeben, im Rahmen von sozialen Beziehungen und damit innerhalb der Handlungsräume zu lösen bzw. zu befriedigen trachten, die sie aufgrund ihrer Position innerhalb der umfassenden Sozialstruktur innehaben. 2.5. Determinanten und Formen der Lösung sozialer Probleme Zustandekommen, aber auch gelöst werden können soziale Probleme durch eigene Handlungen, durch Handlungen und Handlungsfolgen identifizierbarer einzelner oder kollektiver Dritter, oder aber durch die strukturellen Effekte des Verhaltens Vieler. Ein Beispiel für das Zustandekommen eines sozialen Problems Einzelner oder Vieler sind Entlassungen, die zu einer Statusunvollständigkeit mit den mit ihr verbundenen sozialen und psychischen Folgen führt und die erfolgen kann (in Klammern die Art der Determinante) 1. als Folge einer Schädigung der Firma durch nicht versicherte Elementarschäden (Oekosystem), 2. wegen einem objektivierbaren Fehlverhalten des Entlassenen (Verhalten des Betroffenen ), 3. wegen Unfähigkeit oder sozialer Verantwortungslosigkeit der Geschäftsinhaber oder des Managements (organisationelle und gesamtgesellschaftliche Oberschicht), 4. wegen einer Übernahme der Firma durch eine dritte, verbunden mit einer anschliessenden Reorganisation (Machtverteilung innerhalb des interorganisationellen Systems), 6. wegen strukturell oder durch politische Ereignisse bedingten Konjunktureinbrüchen oder schnellem, gesamtgesellschaftlichem Wandel. Neben solchen sozialen Ereignissen können soziale Probleme aber auch durch andere Arten von Problemen eines Individuums verursacht werden, z.B. biologischen (Krankheit, Hunger -> Leistungsschwäche -> Entlassung -> Erwerbslosigkeit) oder biopsychischen (endogene Depression -> Partnerschaftsverlust (Liebe, Sexualität, Mitgliedschaft in Familie und Verwandtschaft), oder Orientierungslosigkeit (Machtlosigkeit; soziale Isolation -> Orientierungslosigkeit). Umgekehrt können soziale Probleme nicht nur ihrerseits soziale, sondern auch biologische und biopsychische Probleme zur Folge haben. So erzeugt soziale Isolation -> Depression (= Neuropathologie) und diese kann -> süchtiges Verhalten stimulieren und eines wie Alkoholabusus erzeugt -> Leberschäden). Soziale Probleme im Sinne der biopsychosozialen Theorie sozialer Probleme sind mithin weder sozialpathologische gesellschaftliche Ausnahmezustände (auch wenn sie, falls sie gleichzeitig, räumlich konzentriert und in grosser Zahl auftreten, desin- Individuum und (Welt)Gesellschaft 35 tegrative strukturelle Prozesse verstärken können), noch „Diskrepanzen“ zwischen „Kultur und Sozialstruktur“ (obwohl sie eine Folge ihres Verhältnisses sind), noch „kollektive“ Definitionen (obwohl sie den anderen Mitgliedern einer Gesellschaft registriert (Bild), erklärt (integriertes Bild) und bewertet werden können (= „kollektive Definition), sondern alltägliche und überwiegend transitorische Zustände, und die Versuche, solche Probleme zu vermeiden und bestehende zu lösen, gehören zum Leben, wie die Beschaffung und Zubereitung von Nahrung oder die Sicherung geschützter Räume. Gelöst werden können soziale Probleme durch die an ihrer Genese direkt oder indirekt beteiligten Akteure aller Art wie auch durch Dritte. Ein kollektiver und professioneller Akteur ist die Soziale Arbeit als Teil des Sozialwesens und damit des Solidarsystems moderner Gesellschaften39. Gesunde Menschen sind in der Lage, laufend ein beträchtliches Mass an solchen Problemen zu lösen (Lebensbewältigung). Entsteht ein länger anhaltendes Ungleichgewicht zwischen den anfallenden Problemen und dem Problemlösungsvermögen (sei es durch eine Erhöhung der ersteren oder eine Reduktion der letzteren), und gelingt es einer Person nicht, das Ausmass ihrer Probleme durch eine Anpassung ihrer Ziele an ihre Möglichkeiten zu reduzieren, so kommt es zu einem schleichenden oder schnellen Zusammenbruch der psychischen Struktur und mit ihr des persönlichen sozialen Handlungsraumes (Tagesstruktur, Wohnung, Beziehungsnetz, Arbeitsplatz). Dies weil ungelöste soziale Probleme das (subjektive) Erleben schwer beeinträchtigende faktische (und damit objektive und objektivierbare) Zustände im Nervensystem der Betroffenen sind, die langfristig pathogene Folgen haben und auf jeden Fall die Handlungs- und damit Problemlösungsfähigkeit beeinträchtigen. 2.6. Der normativ-kulturell-konstruktionistische und -konstruktivistische und der deskriptiv-strukturelle Begriff sozialer Probleme Der hier entwickelte Begriff sozialer Probleme unterscheidet sich deutlich von jenem, der bisher im Rahmen der Bindestrich-Soziologie Soziologie sozialer Soziale Probleme“ entwickelt worden ist. In dieser klassischen, aber theoretisch wenig entwickelten Sicht sind soziale Probleme von einer signifikanten Gruppe definierte problematische Zustände oder Vorgänge {Groenemeyer, 1999 #3540}. Methodologisch gesehen sind so verstandene soziale Probleme statistische Raten einer bestimmten Art von Einstellungen und damit eine aggregierte oder resultante (und 39 Die Systematisierung der Theorie der Solidarsysteme von Gesellschaften, namentlich aber der modernen, die gesellschaftliche Einrichtungen zur Verhinderung (nicht nur, aber insbesondere) von sozialen Problemen sind, ist die makrosoziologische Aufgabe der Wissenschaft der sozialen Arbeit. Individuum und (Welt)Gesellschaft 36 keine emergente) Eigenschaft sozialer Gebilde; theoretisch gesehen handelt es sich bei solchen Aggregaten von individuellen „Einstellungen“ um Momente der Kultur der betreffenden sozialen Systeme. Manchmal wird noch vorausgesetzt, dass soziale Probleme eine soziale „Ursache“ haben müssen, nicht jedoch, dass sich die kollektiven Definitionen auf soziale Sachverhalte beziehen – das Waldsterben ist danach (oder war vielmehr) nicht minder ein soziales Problem wie Armut oder soziale Isolation. Mehr noch: seit der konstruktionistischen „Wende“ von 1973 durch die Arbeit von Malcom Spector und John Kitsuse {Spector, 1973 #3219} ist es nichteinmal mehr erforderlich, dass es überhaupt problematische Zustände – soziale oder andere – gibt. Damit man sagen kann, es liege ein soziales Problem vor, reicht es in dieser Sicht, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt genügend soziale Akteure existieren, die irgendetwas, was sie sich vorstellen40, als Problem definieren. Wenn genug viele von ihnen morgen etwas anderes denken, gibt es morgen andere soziale Probleme (und, müsste man beifügen, hat die Soziale Arbeit andere Aufgaben). Von dieser Sicht unterscheidet sich die vorliegende in verschiedenen Hinsichten: Erstens sind hier die Anlässe von sozialen Probleme weder (immaterielle) kollektive Definitionen oder gar „Konstruktionen“, sondern es sind Spannungszustände in den Nervensystemen von Akteuren, die sich aus der Wahrnehmung und Bewertung von Aspekten ihrer strukturellen Situation innerhalb von Interaktionsstruktur oder der Positionsstruktur von sozialen Systemen ergeben. Dabei wird von diesen Anlässen angenommen, dass sie das Nervensystem auf eine gesetzmässige Weise aktivieren und anschliessend codiert werden. Der Code, der dabei zur Anwendung gelangt, ist gegebenenfalls durch die Kultur angereichert und differenziert, aber nicht durch sie determinierbar. Zwar mag die Kultur einer Gesellschaft tolerant sein gegenüber bestimmten Formen sozialer Probleme, diese werden von den Akteuren gleichwohl als Probleme erlebt und codiert. Schwierigkeiten macht in einer solchen Situation die Kommunikation solcher Probleme, denn diese ist durch den verfügbaren kulturellen Code eingeschränkt (vgl. auch Obrecht, 1998)41. Zweitens erlaubt der vorliegende strukturelle Begriff eine klare Unterscheidung von verschiedenen Arten von Problemen, die auch innerhalb der klassischen normativen Definition fruchtbar genutzt werden könnte, um verschiedene Arten von kollektiv definierten Problemen zu unterscheiden. Drittens trennt der vorliegende Begriff zwischen Problemen und ihren Determinanten und öffnet damit den Blick einerseits auf den Umstand, dass soziale Probleme zwar 40 Das klingt eigenartig aber ist so, ja mehr noch, sie müssen im Prinzip nichteinmal daran glauben, dass es das gibt, was sie als Problem definieren. 41 In dieser Einschränkung liegt die Wirkung des ökonomistischen Codes, der von sozial privilegierten Gruppen in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit in allen Bereichen beruflicher Kommunikation und drüber hinaus durchgesetzt worden ist. Individuum und (Welt)Gesellschaft 37 durch die soziale Struktur determiniert sein können, aber auch, wie sozialer Wandel im allgemeinen, physikalische, biologische, psychische und kulturelle Determinanten aufweisen können. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass soziale Probleme ihrerseits physikalische biologische (und im besonderen demografische), biopsychische, und nicht zuletzt kulturelle Folgen haben können, die alle ihrerseits wieder als Determinanten zu wirken vermögen. Damit wird auch deutlich, dass die soziologische Suche nach einer rein soziologischen (strukturellen) Theorie der Dynamik sozialer Systeme ein naiver holistischer Traum ist, der im übrigen allzu lange und mit fatalen Folgen für die Entwicklung der Disziplin Grundlage ihrer Arroganz und Selbstisolation gegenüber anderen Wissenschaften war (und noch ist). Alles, was sich Soziologen fragen können ist, unter welchen äusseren und inneren (strukturellen) Bedingungen die Mechanismen strukturellen und kulturellen der Reproduktion eines gegebenen sozialen Systems und damit gleichzeitig die Chancen für eine maximale soziologische Erklärung maximal sind {Heintz, 1982 #353}. Viertens eröffnet die vorliegende Konzeption sozialer Probleme umgekehrt die Möglichkeit einer dynamischen Theorie sozialer Systeme, die über Mechanismen der strukturellen Reproduktion auch die Entstehung, Konsolidierung, den Wandel und der Zerfall von sozialen Systemen zu theorisieren erlaubt {für ein elementares dynamische Modell der Genese, des Wandels und es Zerfalls sozialer Systeme vgl. \ Heintz, 1977 #691}. Indem sie soziale Akteure nicht nur als Komponenten, sondern auch als treibende Kräfte der Morphogenese und Morphostase {Archer, 1995 #5365} sozialer Systeme versteht, rückt mit die biopsychosoziokulturellen Auffassung sozialer Probleme den Begriff des sozialen Problems von der theoretischen Peripherie der Soziologie ins Zentrum jeder dynamischen erklärenden strukturellen, d.h. im engen Sinne soziologischen Theorie sozialer Systeme. Fünftens erlaubt die hier vorgestellte materialistische Auffassung von Individuen als Biosysteme und von Psychen als Prozesse im Nervensystem die Rückkehr zur klassischen Konzeption des Verhältnisses von Akteuren und Struktur als eines von (konkreten) Teilen zum (konkreten) Ganzen, wodurch auf einen Schlag alle jene Probleme entfallen, die die dualistischen Auffassungen von sozialer Integration als normative Integration wie auch die fehlgeschlagenen Versuche ihrer Überwindung durch prozessualistischen Versuche (Giddens, Luhmann) kennzeichneten. Das Neue an der hier vorgetragenen Lösung des klassischen Problems der Soziologie besteht in der Art, wie das „Bindungsproblem“ der soziologischen Theorie, wie man es nennen könnte, auf der Grundlage des biopsychosoziokulturellen Modells des Menschen gelöst werden kann. Statt äussere (Durkheim) oder internalisierte Normen (Parsons), sozialisierte und die Struktur reproduzierende Habitus (Bourdieu), akteurgenerierte Strukturatierungen (Giddens) oder individuelle Bewusstseinspro- Individuum und (Welt)Gesellschaft 38 zesse zu ihrem Ueberleben nutzende „Systeme“ von Kommunikationen (Luhmann), die alle Bindungen zwischen Individuen und von Individuen an soziale Systeme nicht erklären können oder zu erübrigen versuchen, postuliert die vorliegende Sicht, dass soziale Systeme gebildet und zusammengehalten werden über Mechanismen, in denen Bindungsbedürfnisse zwischen Individuen (Primärgruppen) und zu sozialen Systemen (Mitgliedschaft) sowie bedürfnisbasierte Interessen (Abhängigkeit) und Kognitionen (Bilder, kognitive Codes und imaginierbare Ziele und Pläne) ebenso beitragen, wie momentan oder dauerhaft fehlende Möglichkeiten der Lösung sozialer Probleme durch Migration. Als letzter und sechster Punkt verdient ein Umstand hervorgehoben zu werden, der sich auf die methodologische Fragen der Theoriebildung bezieht und auf eine Entdifferenzierung von Soziologie (Sozialwissenschaften) und Psychologie hinausläuft: Da Individuen Komponenten von sozialen Systemen sind und die letzeren Systeme mit Individuen als Komponenten, können die beiden Terme, wie das Vorangehende gezeigt hat, nicht unabhängig voneinander, sondern nur in einem umfassenderen theoretischen Kontext definiert werden. Wie Teil III noch vertieft zeigen wird, muss auch das alte, seiner Grundidee nach positivistische Ziel oder Programm aufgeben werden, Gesellschaft aus sich selbst heraus zu „verstehen“ (Durkheim, Luhmann), sei es, wie beim ersteren, durch die Beschränkung der Soziologie auf Beschreibungstheorien (bestehend aus Verallgemeinerungen von Beziehungen zwischen Eigenschaften von sozialen Gebilden) und das Hempel-Oppenheim-Schema der „Erklärung“ von Gesetzmässigkeiten, sei es, wie beim letzteren, durch die holistische Hypothese, soziale Systeme seien autopoietische Systeme im Sinne Humberto Maturanas. 3. Individuum und Gesellschaft: Ungleiche Verteilungen und die Theorie struktureller und anomischer Spannungen 3.1. Einleitung Die Abschnitte über soziale Systeme und Individuen haben die Unmöglichkeit illustriert, im Rahmen einer Systemtheorie wie der vorliegenden, etwas über das Verhalten von Individuen ohne Bezug auf soziale Systeme zu sagen und umgekehrt. Der Grund ist der, dass Gesellschaften (und soziale Systeme im allgemeinen) einerseits das Ergebnis individueller Handlungen sind, und dass andererseits die das Verhalten der solche Systeme bildenden Individuen durch die Struktur wie die persönliche Kultur der Individuen (mit)geprägt wird, das letztere durch strukturelle Spannungen, die soziales Verhalten motivieren und gleichzeitig in seinen Möglich- Individuum und (Welt)Gesellschaft 39 keiten einschränken, das erstere, indem es eine kognitive Ressource darstellt, um die Möglichkeiten innerhalb der gegebenen strukturellen Bedingungen zu erkennen. Besonders deutlich wurde die wechselseitige logische Abhängigkeit von Individuen und sozialen Systemen (die faktisch natürlich asymmetrisch ist) im Zusammenhang mit der Definition des Begriffes des sozialen Problems. Auf der anderen Seite haben wir noch darauf verzichtet, die Beziehung zwischen Individuen und sozialen Systemen systematischer darzustellen. Dies soll im vorliegenden Kapitel geschehen, wobei dieses Kapitel mit der „vertikalen Differenzierung“ (auch: Schichtung) eines der bereits erwähnten Strukturmerkmale sozialer Systeme herausgreift und die Beziehung zwischen Individuum und Sozialstruktur anhand dieses Merkmals zeigt. (Zu beachten ist dabei, dass es genau besehen um die Beziehung zwischen Individuen und der sozialen Struktur geht, in die sie eingebunden sind und nicht zwischen Individuen und sozialen Systemen oder Gesellschaft, wie es die Rede über die Beziehung zwischen Individuen und Gesellschaft nahelegt. Eine solche Beziehung gibt es nämlich aus logischen Gründen deshalb nicht, weil eine physische Komponente eines Dinges nicht durch das Ding beeinflusst werden kann, dessen Komponente es ist. Für eine solche Form der Interaktion müssten sich zwei unabhängige Dinge gegenüberstehen (und die Interaktion über dann dadurch erfolgen, dass die die beteiligten Dinge, von denen jedes zur Exostruktur des anderen gehört, dessen Endostruktur modifiziert. Vorsicht also mit der Rede der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft: diese Beziehung ist eine zwischen einen Individuum und der Struktur der Gesellschaft, in die es involviert ist.) Die gesetzmässigen Prozesse (Mechanismen) zwischen Sozialstruktur und sozialen Akteuren (Individuum) und von diesen zurück zur Sozialstruktur sind Gegenstand der Theorie struktureller und anomischer Spannungen von Peter Heintz {Heintz, 1968 #2488}. Diese Theorie der Beziehung zwischen sozialer Struktur und sozialen Akteuren eignet sich besonders, um die herausragendsten Aspekte der Struktur und Dynamik der Weltgesellschaft und ihrer gegenwärtigen Komponenten, der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften sowie der transnationalen Wirtschaftskorporationen (Multis) in ihren Grundzüge , dass sich diese Einführung auf Systeme mit Individuen als Komponenten bezieht, die Theorie jedoch nicht auf solche Systeme beschränkt ist. Sie ist vielmehr auch auf Schichtungssysteme mit sozialen Systemen als Komponenten anwendbar und zwar unabhängig davon, um welchen Typ von Systemen es sich handelt (Organisationen, territoriale Systeme). Leider privilegieren die meisten soziologischen Studien interindividuelle Systeme und ignorieren die in ihrer Bedeutung innerhalb moderner Gesellschaften wesentlich zentraleren intersozialen und intersozietalen Systeme. Dies ist ein weitere Ausdruck der Schwierigkeiten der Soziologie, sich von den Gesellschaftsbildern (dem Gesellschaftsverständnis) der Gesellschaften zu emanzipieren, in denen sie strukturell und ökonomisch verankert sind und von denen sie getragen werden. Individuum und (Welt)Gesellschaft 40 3.2. Moderne Gesellschaften und ihre strukturelle Differenzierung Wie wir gesehen haben sind Globalität und Gesellschaftlichkeit sozialer Systeme in der vorliegenden Theorie sozialer Systeme logisch voneinander unabhängig42. Begonnen hat die soziale Evolution mit acephalen und egalitären Stämmen (tribes) als Gesellschaften ohne Staat in den Jäger- und Sammlergesellschaften {Siegrist, 1995 #3284} und sie hat mit der im Zuge der Entkolonialisierung nach dem 2. Weltkrieg entstandenen gegenwärtigen Weltgesellschaft beruhend auf nationalstaatlich organisierten Gesellschaften {Heintz, 1977 #691} ist vorläufiges Ende gefunden {für eine vergleichende Darstellung vgl. \Wobbe, 2000 #3606}. Dabei haben die modernen oder sich modernisierenden nationalstaatlich organisierten Gesellschaften (und erst recht deren gesellschaftlichen Subsysteme), die im Zuge der “Globalisierung” zugunsten der entstehenden Weltgesellschaft zunehmend an Globalität verloren, sind hyperkomplexe, aus verschiedenartigen Subsystemen bestehende territoriale Sozialsysteme, die nach aussen Komponenten des Internationalen Entwicklungsschichtungssystems der Weltgesellschaft sind und nach innen differenziert sind in 1 Staaten, die in territoriale Subsysteme (Gemeinden [Departemente], Provinzen [Kantone], differenziert sind und die diese Gesellschaften nach innen ordnen und nach aussen vertreten und die geführt werden durch eine Vielzahl verschiedenartiger strukturell verankerter politischer Regime {Heintz, 1983 #3205}43. 2 Bevölkerungen mit variabler ethnischer Homogenität (vgl. unten), deren Mitglieder (a) über ihren Wohnort Mitglieder einer Gemeinde und damit Mitglieder auch der höheren Niveaus territorialer Systeme sind, und die darüberhinaus (b) über eine variable Zahl von Mehrfachmitgliedschaften Mitglieder von weiteren von staatlich organisierten Gesellschaften umfassten oder auch ihre Grenzen überschreitenden Sozialsystemen unterschiedlichster Art sind, nämlich a) von nicht territorialen Sozialsystemen wie Familien, Gruppen, Netzwerken (wie Verwandtschaften, Cliquen, Nachbarschaften), weltanschaulichen und religiösen Gemeinschaften, b) von sozialräumlichen Systemen wie Weiler, Dörfern, (Gross-)Städten und Agglomerationen (mit Quartieren und Nachbarschaften) sowie metropolitanen Gebieten, 42 Dies ist einer der grundlegenden Unterschiede zwischen dem Gesellschaftsbegriff Luhmanns, der Gesellschaften als globale Sozialsysteme definiert, und der vorliegenden nichtholistischen Theorie sozialer Systeme. Andere grundlegende Unterschiede betreffen (in nicht systematisierter Reihefolge) der Begriff der funktionalen Differenzierung, die Betonung der faktischen Interdependenz statt der „logischen“ Unabhängigkeit der „Funktionssysteme“, den Primat der ungleichen Verteilung knapper Gütern über die funktionale Differenzierung, die Komplexität des Akteurmodelles und seine Verankerung in aktuellen und anerkannten biologischen, psychologischen und sozialpsychologischen Theorien, die echte evolutive Natur der Theorie als Teil ihrer Erklärungskraft, der erklärungsorientierte Wissenschaftsbegriff, der Systembegriff ganz allgemein und damit verbunden eine Reihe von Unterschieden in der Ontologie, die bei Luhmann idealistisch und prozessualistisch ist, die Rolle der Logik im Zusammenhang mit dem Wert der logischen Konsistenz etc. 43 Die Sozialstruktur der territorialen Systeme umfasst zum einen Teil Dimensionen, die an den Strukturdimensionen interindividueller Systeme ansetzen und sie aufnehmen (vgl. den nächsten Punkt), z.T. umfassen sie aber auch für solche Systeme spezifische emergente Eigenschaften wie Rohstoffvorkommen, räumliche Ausdehnung, geografische und geopolitische Lage etc. {Knox, 2001 #4717}. Individuum und (Welt)Gesellschaft c) 41 von formalen Organisationen aller Art und Funktion mit lokalen, internationalen oder weltweiten (Markt-)Beziehungen. Alle diese Sozialsysteme sind Komponenten von umfassenderen intersozialen und intersozietalen Systemen auf deren Darstellung (Struktur und Dynamik) und Diskussion hier verzichtet werden muss. {Zur Theorie multiniveaunaler Sozialsysteme und der Mechanismen ihrer Interdependenz vgl. Heintz 1968, 1969, 1972, 1980a, b, 1982a, c; für eine Diskussion der Folgen der Vernachlässigung mesosozialer Systeme für die traditionelle Klassen- und Schichtungsforschung vgl. \Levy, 2002 #5034}. Gebildet werden diese Systeme letztlich durch Individuen, die in ihnen RollenStatus besetzen, die – die Relevanz des Mitgliedschaftsstatus oder hinreichende Zwangsmittel seitens des Systems vorausgesetzt – mehr oder weniger grosse Bereiche ihres Handelns strukturieren. Mit anderen Worten umfassen diese Systeme die Zellen der Sozialstruktur dieser Gesellschaften (sozialstrukturelle Aequivalenzklassen, vgl. oben) in Bezug auf individuelle Akteure. Grosses Gewicht für die Strukturierung des Verhaltens von Individuen im Rahmen von sozialen Systemen kommt insbesondere den folgenden strukturellen Differenzierungen solcher Systeme zu: 1 vertikale Differenzierung, d.h. die Verteilung von für die Akteure zentralen Gütern in Form von Statussubsystemen (Statuskonfiguration), 2 horizontale (segmentäre und funktionale) Differenzierung, 3 systemische Differenzierung (in reale Systemniveaus), 4 Geschlechterdifferenzierung und die an sie gebundenen Normen, 5 lebenszeitliche Differenzierung (Alterskategorien und die an sie gebundenen Normen), 6 sozialökologische Land-Stadt-Differenzierung, 7 ethnische Differenzierung 8 Differenzierung nach dem biologischen und biopsychischen Gesundheitsstatus und neuerdings 9 Differenzierung nach sexueller Präferenz Die letzten beiden Dimensionen deuten an, dass die strukturelle Differenzierung kulturell unter einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht (Gesundheit) und nicht zuletzt, dass die strukturelle Differenzierung das Ergebnis eines historischen Prozesses und damit nie abgeschlossen ist. (Und zu beachten ist ferner, dass die in der sozialwissenschaftlichen Analyse unterschiedenen Dimensionen der Sozialstruktur Die verschiedenen Dimensionen sind logisch, im konkreten Fall aber nicht empirisch voneinander unabhängig, wobei die Beziehungen, in die sie zueinander treten, variabel sind (Kristallisationsgrad). Individuum und (Welt)Gesellschaft 42 Die für die soziale Integration von Individuen herausragende Form der Differenzierung moderner Gesellschaften besteht in der Existenz dreier mit der (ausserhäuslichen) Arbeitswelt44 in Zusammenhang stehender und je untereinander verknüpfter Status-Subsysteme im Sinne institutionalisierter ungleicher Verteilungen zentraler (knapper) Güter, nämlich 1) Bildung, 2) berufliche Stellung und 3) Einkommen {Heintz passim, \ Stamm, 2003 #5061}. Die folgende Darstellung von Grundzügen der Theorie struktureller und anomischer Spannungen bezieht sich zunächst auf interindividuelle Systeme, genauer auf Schichtungssysteme mit Individuen als Komponenten (Akteuren) und im besonderen auf nationalstaatlich organisierte Gesellschaften. 3.3 Schichtung 1. Schichtung: Unter Schichtung versteht man die ungleiche Verteilung eines relevanten Gutes unter die Mitglieder eines sozialen Systems oder anders gesagt die Verteilung der Einheiten eines sozialen Systems auf einer (vertikalen) Status- oder Rangdimension. Die Position einer Einheit innerhalb einer solchen Verteilung wird dabei ihr Status (gelegentlich auch: ihr Rang) genannt. Da es innerhalb sozialer Systeme in der Regel mehr als ein relevantes Gut, d.h. mehr als eine einzige Rangdimension gibt, koexistieren in sozialen Systemen in der Regel mehrere Schichtungssysteme. Die Schichtung oder Verteilung hinsichtlich eines einzelnen institutionalisierten Wertes bezeichnet man als Schichtung eines StatusSubsystems. Die soziale Schichtung eines Systems ist demnach die Gesamtheit der Schichtungen der Status-Subsysteme eines sozialen Systems 2. Soziale Schichten: Der Begriff der sozialen Schichtung ist zu unterscheiden von jenem der sozialen Schicht. Eine soziale Schicht kann definiert werden als relativ dicht (häufig) besetzter Rangbereich innerhalb einer gegebenen Verteilung. Umgekehrt sind Schichten im verteilungstheoretischen Sinne durch Bereiche relativ geringer Häufigkeiten voneinander getrennt. Die Schichtung innerhalb einer Verteilung eines sozialen Systems ist umso ausgeprägter, je deutlicher die Schichten aufgrund des genannten Kriteriums voneinander getrennt sind und je weiter die Spitze von der Basis entfernt liegt. Von Sättigung 44 D.h. der nicht an Subsistenz orientierten Produktion im Rahmen von staatlichen und an Märkten orientierten Produktionsfunktionen. Individuum und (Welt)Gesellschaft 43 (oder Saturation) einer Verteilung spricht man dann, wenn sich die Grosszahl der Einheiten in den oberen Rängen der Verteilung konzentriert. 3. Arten von Verteilungen (Schichten): Es gibt viele verschiedene Arten von Verteilungen. Besonders häufig befasst sich die Soziologie mit pyramidenförmigen, d.h. mit Verteilungen in denen relativ wenige Einheiten in hohem Masse an den betreffenden Gütern teilhaben und relativ viele Einheiten dies nur in relativ geringem Masse tun. (Eine solche Verteilung ist der dem bereits erwähnten entgegengesetzte Fall einer gesättigten Verteilung). 4. Macht: Pyramidenförmige Verteilungen ergeben sich mit Bezug auf Güter, die knapp sind45 und die sich deshalb als Quellen von Macht eignen: Die Macht eines Akteurs ist in diesem verteilungstheoretischen Sinne definierbar als die Chance (Wahrscheinlichkeit), dass es ihm gelingt, seine Teilhabe an einem gewünschten Gut (d.h. seine Position innerhalb der Verteilung) aufgrund seiner bisherigen Teilhabe (Position) zu erhöhen. Diese Chance ist nun umso grösser, je grösser seine Teilhabe am betreffenden Gut im Vergleich zur Teilhabe der anderen ist. Diesen systematischen Zusammenhang nennt man gelegentlich auch das «MatthäusPrinzip» (Wer hat, dem wird gegeben (werden)). Vorausgesetzt ist dabei, dass das betreffende Gut für alle Akteure zentral und (kurzfristig) nicht substituierbar ist oder anders gesagt, dass es eine kurzfristig nicht substituierbare Quelle der Befriedigung oder Ressource für die Befriedigung von inelastischen Bedürfnissen ist (vgl. oben, 2.3. und 2.4)46. Ein Gut, das diese Bedingung erfüllt, kann man als «machthaltig» bezeichnen. In modernen Gesellschaften mit ihren monetären Oekonomien ist Geld deshalb ein solches Gut, weil es bekanntlich in eine enorme Zahl von (knappen) Gütern und Dienstleistungen konvertierbar ist. Eine hohe Konzentration der Teilnahme an Gütern bei relativ wenig Mitgliedern, d.h. eine pyramidenförmige Verteilung eines Gutes, kann nach dem Gesagten als Ausdruck der Möglichkeit der Steuerung von Verhalten der Besitzlosen durch die Besitzer des Gutes auf der Grundlage von „Macht“ gesehen werden. Das Machtverhältnis wird zwischen denjenigen sozialen Gruppen errichtet, für die das Gut unterschiedlich knapp ist, d.h. zwischen solchen, die gemessen an ihren Zielen viel und jenen die wenig davon haben. Die pyramidenförmige Art der Verteilung von zentralen Gütern beinhaltet also einen doppelten Aspekt der Ungleichheit: Nicht nur gibt es Einheiten, die mehr an diesen Gütern teilhaben als andere, sondern die 45 Die Knappheit eines Gutes ist eine Funktion des Verhältnisses zwischen seiner Verfügbarkeit (Angebote) und seiner Nachfrage: Ein Gut ist umso knapper, je grösser der Überhang der Nachfrage gegenüber dem verfügbaren Angebot. 46 Vgl. dazu Obrecht, W., Umrisse einer biopsychosozialen Theorie menschlicher Bedürfnisse in: Mikrosoziologie. Individuum und (Welt)Gesellschaft 44 Zahl dieser privilegierten Einheiten ist geringer als die Zahl jener, die weniger haben. 5. Prestige oder Legitimation: Ein immer wieder bestätigter Befund soziologischer Ungleichheitsforschung ist der, dass deutlich ungleiche Verteilungen knapper Güter der Tendenz nach in den Augen derjenigen mit tieferen und tiefen Positionen nicht legitim sind: Gemessen an dem, was den tiefrangigen Akteuren in ihren Augen aufgrund ihrer Leistungen zustehen würde, erhalten sie im Verteilungskampf zu wenig, während das Umgekehrte für Akteure auf hohen Rängen gilt. Kurz, ungleiche Verteilungen knapper Güter sind der Tendenz nach nicht legitim und damit Quellen von sozialen Spannungen. Die Frage nach den strukturellen Bedingungen für die Legitimierung oder Gerechtigkeit ungleicher Verteilung ist die Frage nach den strukturellen Quellen von Prestige: Nach der soziologischen Strukturtheorie von Peter Heintz (z.B. 1969) ist die ungleiche Verteilung eines machthaltigen Gutes A dann legitimiert, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Es existiert neben A ein zweites relevantes Gut B, für das gilt, dass es a) weniger ungleich verteilt und damit zugänglicher ist als A, d.h. bei dem das Matthäus-Prinzip weniger wirksam ist, und dass b) die Teilhabe an B instrumentell ist für den Zugang zu A. Kurz, eine Verteilung ist umso legitimer, je weniger sie geeignet ist, Besitz in Macht zu verwandeln oder aber je instrumenteller für den Zugang zu diesem Gut ein anderes Gut ist, dessen Verteilung weniger illegitim ist. 6. Kristallisation, die nichtvertikale Dimension von Schichtung: Nach dem im letzten Punkt Gesagten brauchen die Schichtungen der verschiedenen Status-Subsysteme innerhalb eines sozialen Systems nicht zusammenzufallen. Je mehr dies jedoch hinsichtlich des Profils und relativen Ranges der Einheiten der Fall ist, umso höher ist der sogenannte Kristallisationsgrad der Schichtung. Hohe Kristallisation kann z.B. hinweisen auf eine hohe Stabilität des Systems in der Zeit, bedingt durch eine hohe subkulturelle Differenzierung. Je grösser die Sättigung und die Kristallisation eines Schichtungssystems sind, desto grösser ist tendenziell die Legitimität der Verteilung. 3.4. Schichten sozialer Systeme und soziale Akteure 7. Positionen von Akteuren innerhalb von Schichten: Verteilungen (Schichtungen) sind emergente Eigenschaften sozialer Systeme; die geschichteten Einheiten (Komponenten) haben selber keine Verteilungen des betreffenden Gutes; sie verfügen vielmehr über ein bestimmtes Maß von ihm (Teilhabe) und sie haben entsprechend dieser Individuum und (Welt)Gesellschaft 45 Teilhabe eine bestimmte Position innerhalb der Schichtung. Das Einnehmen einer Position innerhalb einer Verteilung ist allerdings auch eine emergente Eigenschaft der Komponente (eine Position p innerhalb eines Subsystems a eines Systems s innehaben). Soziologisch gesehen ist nun für das Verständnis des Verhaltens der Akteure (und damit für die Dynamik des Systems) nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einer Schicht von Bedeutung, sondern auch ihre Lage und Bewegung innerhalb einer Schicht, wie z.B. eine Position am oberen oder am unteren Rand einer Schicht, eine steigende oder absteigende Bewegung, das Erreichen des Kulminationspunktes einer Bewegung etc. Vom einzelnen Akteur aus gesehen kann sodann auch das Verhältnis der höheren zu den niedrigeren Lagen bedeutsam sein. Alle diese die Lage von Einheiten (Komponenten) beschreibenden Eigenschaften sind sowohl für individuelle Akteure wie für sozietale oder «kollektive» Akteure von Bedeutung. 8. Subjektive und institutionalisierte Bewertung: Die „Güter“, auf deren Verteilung die Schichtungen beruhen, sind definiert als positiv bewertete „Dinge“ irgendwelcher Art (natürliche oder artifizielle physische Objekte, soziale Positionen oder Wissen), und positiv bewertet werden Dinge dann, wenn sie für die Bedürfnisbefriedigung von Individuen oder Gruppen – bei gegebenen Techniken und Technologien – unverzichtbare Ressourcen sind. (Die Bedeutung (Relevanz) von „Gütern“ kann sich durch die Erfindung neuer Techniken oder Technologien verändern, indem sich durch eine neue Technologie z.B. ihre Funktionalität erhöht oder, falls eine Technologie gefunden wird, die ein bisher relevantes Gut zu substituieren erlaubt, erniedrigt.) Es können zwei Arten der Bewertung unterschieden werden: a) eine individuelle (auch: «subjektive») Bewertung durch jeden einzelnen Akteur und b) eine institutionelle (oder institutionalisierte) und damit konsensuale Bewertung. Von institutionalisierter Bewertung bzw. von institutionalisierten Werten spricht man 1. wenn bestimmte Aktivitäten durch bestimmte Belohnungen normativ verknüpft werden (z.B. Arbeit und Lohn), 2. wenn Aktivitäten aufgrund bestimmter Werte institutionell vermittelt werden wie in modernen Gesellschaften - z.B. Bildung im Bildungssystem und Beschäftigung in Arbeitsrollen innerhalb von Betrieben bzw. Organisationen), und 3. wenn ein institutionell geregelter Zugang zu den betreffenden Werten besteht (in modernen Gesellschaften z.B. der Zugang zu höherer Bildung via eine Abfolge von Bildungsstufen innerhalb des Bildungssystems (Goode, 1978) oder der Zugang zu höheren Funktionen innerhalb der Wirtschaft durch höhere Bildungssabschlüsse (vgl. nächstes Kapitel). Individuum und (Welt)Gesellschaft 46 Weil sich Individuen – sei‘s aus Gründen der Abhängigkeit oder aus Interesse – an ihrer gesellschaftlichen Umgebung orientieren, fällt die individuelle oder subjektive Bewertung häufig mit der institutionellen Bewertung zusammen, sie muss dies aber nicht. Abweichungen von der institutionalisierten Bewertung treten in der Regel im Zusammenhang mit der Schichtung gemäss den institutionalisierten Bewertungen bzw. Statuslinien auf. So bewerten Menschen vor allem jene „Dinge“ positiv, die für sie wichtig und gleichzeitig ungenügend vorhanden (knapp) sind, während sie faktisch Wichtiges, aber für sie nicht Knappes nicht besonders betonen47. Ist dies der Fall, dann liegt eine subkulturelle Differenzierung im bereits erwähnten Sinne vor (vgl. oben). Eine solche besteht also darin, dass die Mitglieder der entsprechenden sozialen Schicht die institutionalisierten Werte der Tendenz nach anders gewichten als die Akteure in anderen Schichten. 9. Naive Bilder und Codes: Nicht nur Soziologinnen und Soziologen, sondern auch die Mitglieder der von ihnen untersuchten sozialen Gebilde befassen sich mit den gesellschaftlichen Gebilden, denen sie angehören und insbesondere mit den Verteilungen der zentralen Güter innerhalb der Systeme, denen sie angehören: Jeder Akteur entwickelt aufgrund täglicher unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung (Massenmedien) Bilder und Bewertungen derjenigen sozialen Gebilde, deren Mitglied er ist (einschliesslich seiner Umwelt). Was die Verteilungen betrifft, so sind die wichtigsten Fragen des oder der Einzelnen natürlich die nach seiner oder ihrer Position innerhalb diesen Verteilungen und vor allem die nach ihrer „Gerechtigkeit“ (Verteilungsgerechtigkeit). Wie wir sehen werden, variieren die Bewertungen dieses Aspekts der Sozialstruktur systematisch in Abhängigkeit mit der Lage innerhalb der Struktur. Dies ist ein deutlicher Ausdruck der Systemhaftigkeit solcher Gebilde und gleichzeitig ein Moment ihres Wandels. Die verallgemeinerten Formen solcher Bilder sind, wie bereits dargestellt48, Begriffsund Aussagensysteme (kulturelle Codes). Deren Funktion für Akteure besteht in der Analyse der ihnen verfügbaren Information und ihrer Synthese zu einem zusammenhängenden Selbst- und Umweltbild49. 47 Aus diesem Mechanismus erklärt sich z.B. die Zunahme der subjektiven Relevanz von Geld (Einkommen) mit sinkendem Einkommen und umgekehrt oder anders gesagt die negative Korrelation von Einkommen und der subjektiven Wertschätzung von Einkommen; bereits die Einkommensunterschiede zwischen mittlerer Mittel- und Unterschicht sind (in Zeiten von Arbeitsplatzsicherheit) gross genug, dass Individuen auf zusätzliches Einkommen zugunsten von anderen Dingen wie eine interessante Arbeit oder eine egalitäre geführte Partnerschaft (keine Differenzierung von Binnen- und Aussenrolle zwischen den Partnern, vgl. Soziologie der Familie) 48 verzichten. Vgl. den Kulturaspekt des einfachen statischen Modells sozialer Systeme, In: Allgemeine Soziologie. 49 Vgl. dazu auch das Bedürfnis nach Information und das Bedürfnis nach kulturellen Codes in: Mikrosoziologie, Umrisse einer biopsychosozialen Theorie menschlicher Bedürfnisse. Individuum und (Welt)Gesellschaft 47 Sowohl Bilder wie Codes sind nun - so lautet die soziologische Hypothese - nicht einfach das Ergebnis einer perspektivlosen Aufnahme und Verarbeitung von Information unabhängig von der Lebenslage und den mit ihr verbundenen praktischen Probleme (Bedürfnisse und Möglichkeiten ihrer Befriedigung) eines Akteurs. Wie die soziologische Erforschung der Entstehung und Verbreitung unterschiedlicher Bilder und Codes gezeigt hat (Heintz & Obrecht, 1980; Streit, 1994), sind sie vielmehr das Ergebnis der Auseinandersetzung des Akteurs mit seiner näheren und weiteren sozialen Umgebung unter dem Gesichtspunkt der Probleme, die er in seiner strukturellen Situation erfährt50. Aus diesem Grunde können, wie in Abschn. 8 erwähnt, die Bewertungen der Struktur durch die Akteure von der institutionellen Bewertung abweichen. 10. Soziale Systeme als Akteure: Soziale Systeme können - durch ihre Mitglieder - in Beziehung zueinander treten, sei dies konfliktiv oder im Rahmen friedlicher Konkurrenz oder gar von Kooperation. Von einer Interaktion von sozialen Systemen kann man aber streng genommen nur dann sprechen, wenn die interagierenden Akteure sich im Verlaufe der Interaktion als Mitglieder ihrer jeweiligen Sozialsysteme verstehen und ihre Interaktion - bewusst oder nicht bewusst - unter diesem Gesichtspunkt gestalten (Rolle). Andernfalls interagieren zwei Individuen auf der Grundlage anderer (sozialer) Kriterien wie z.B. des Geschlechts oder des Alters. Genau betrachtet beruht die Interaktion von sozialen Systemen aber darauf, dass die beteiligten Individuen sich bewusst als VertreterInnen ihrer jeweiligen Systeme verstehen und ihre Interaktion in deren Auftrag, d.h. innerhalb einer Aussenrolle, gestalten. Anders gesagt setzt eine Interaktion von sozialen Systemen die Differenzierung von Binnen- und Aussenrollen voraus. Dass jede solche Interaktion eine von Individuen ausgeführt wird, bedeutet, dass Aussagen von der Art: Sozialsystem X unterhält eine (kriegerische, kooperative) Beziehung mit Sozialsystem Y, sich immer auf individuelle Akteure beziehen, die im Namen der sozialen Systeme und im Rahmen der Rollenvorgaben handeln, die sie vertreten. Der Unterschied zwischen einer einfachen Interaktion zwischen Individuen und einer solchen als Rollenträger eines sozialen Systems ist der, dass letztere durch einen Handlungsspielraum gekennzeichnet ist, der sich aus den internen Strukturen und den externen Positionen der Systeme ergibt, die die betreffenden Individuen vertreten. Dieser Handlungsspielraum unterscheidet sich in der Regel sehr stark von jenem, den jedes der beteiligten Individuen als Nichtrollenträger hätte. Umgekehrt ist klar, dass die Art, wie die Beteiligten ihre Handlungsspiele ausnützen, von ihren Fähigkeiten abhängen (Rollenkompetenz) und dass die einzelnen ihre Rolle möglicherweise 50 Für die Diskussion der Studie von B. Heintz & W. Obrecht, «Die sanfte Gewalt der Familie», vgl. die Lehrveranstaltung «Soziologie der Familie». Individuum und (Welt)Gesellschaft 48 (aber nicht notwendigerweise) unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Interessen ausüben. Diese Deutung der Interaktion zweier Aussenrollenträger verknüpft die Begriffe des sozialen Systems als sozialer Akteur mit jenem von Individuen als sozialen Akteuren und er entspricht einer systemischen Konzeption sozialer Systeme im Sinne es «Emergentistischen Systemismus‘» 51. Dieser bejaht die Existenz sozialer im hier beschriebenen Sinne und steht damit sowohl im Gegensatz zur Position des (radikalen) methodologischen Individualismus‘, der einen sozialen Atomismus (besser: Individualismus) vertritt, als auch zur Position des (sozialen) Holismus‘, der die autonome Existenz von sozialen Systemen behauptet, die verbunden ist mit der Vorstellung, dass das soziale System Individuen in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten vollkommen determiniert. Versteht man die Aussage, dass zwei soziale Systeme miteinander interagieren, im hier dargestellten Sinn, spricht nichts gegen eine solche Sprechweise, ausser dass diese Sprechweise ein holistisches Verständnis solcher Aussagen nicht nur nicht ausschliessen, sondern ohne ausdrückliche Klärung sogar nahelegen. Wie bereits erwähnt, kann sich der Vorgang der Vertretung auf weiteren Ebenen der Systembildung wiederholen, sodass komplexe, mehrniveaunale Systeme möglich sind. Unter dem Gesichtspunkt der interindividuellen Schichtung gilt dabei, daß die Aussenrolle ein höheres Ansehen genießt als die Binnenrollen des entsprechenden Systems. 3.5 Theorie struktureller und anomischer Spannungen (Struktur-Akteur-Theorie) Dieses Kapitel schliesst an das erste Kapitel, Soziale Systeme und soziale Schichtung an. Während jenes einige zentrale Begriffe der Schichtungstheorie einführte und einige schichtungstheoretische Gesetzmässigkeiten auf der Ebene sozialer Systeme formulierte, bringt das vorliegende Kapitel die sozialen Akteure, die Komponenten geschichteter sozialer Systeme ins Spiel. Diese haben Positionen auf den institutionalisierten Rang- oder Statusdimensionen (Statussubsystemen) inne. Die Position eines Individuums innerhalb des multidimensionalen Schichtgefüges seiner Gesellschaft legt zu einem beträchtlichen Teil die Lebenschancen eines Men- 51 Vgl. die beiden Vorlesungen Methodologie I, Kapitel 1: Systemische Ontologie; sowie Systemische Wirklichkeits- und Erkenntnistheorie, Teil I: Einführung in die systemische Ontologie des Emergentistischen Systemismus‘. 52 In der Unterstellung solcher Eigenschaften unterscheiden sich holistische soziologische Theorien (z.B. holistische Systemismen: T. Parsons; N. Luhmann) von der vorliegenden. Sie fügt sich in eine emergentistische systemische Ontologie, die auf einem elementaristischen Systembegriff aufbaut im Unterschied zu einem holistischen (vgl. Methodologie, Kapitel I sowie SWET) Individuum und (Welt)Gesellschaft 49 schen fest, d.h. sie begrenzt seinen Handlungsspielraum (Geissler et. al. 1994)53. Dabei kann unter „Lebenschancen“ Art und Ausmass der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse verstanden werden (vgl. Mikrosoziologie). Wie andere Strukturakspekte sozialer Systeme auch, spricht Schichtung spezifische menschliche Bedürfnisse an, insbesondere das Bedürfnis nach Mitgliedschaft (strukturelle Integration, d.h. nach einer vollständigen Statuskonfiguration), das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (Rang), das Bedürfnis nach Austauschgerechtigkeit und (negativ) das Bedürfnis nach physischer Integrität54. 3.5.1. Statuskonfigurationen55 Eine Statuslinie wird gebildet aus der Menge der möglichen vertikalen Positionen innerhalb eines Statussubsystems eines sozialen Systems. Der Tendenz nach bildet sich in sozialen Systemen mehr als ein Statussubsystem aus, wobei die verschiedenen Linien in einer Beziehung zueinander stehen (vgl. unten). Die Entwicklung einer solchen Situation ist gleichbedeutend mit der Verbreitung von Normen, die die Zahl der von einem normalen Mitglied zu besetzenden Statuslinien (unabhängig von der Position) festlegen. Den für die Mitglieder eines sozialen Systems als verbindlicher Satz normierten Statuspositionen nennt man Statuskonfiguration. Die in modernen Gesellschaften im Verlaufe des 19. Jahrhunderts institutionalisierte Konfiguration umfasst nebst dem Bürgerrechtsstatus die Status Bildung, Berufsrolle und Einkommen als dominante Status. Die Konfiguration bezieht sich aber nur auf innerhalb der Gesellschaft voll anerkannte Mitglieder. (Bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hinein betraf dies ausschliesslich die erwachsenen Männer, während für Frauen (von Männern und Frauen) eine andere Statuskonfiguration erwartet wurde, in deren Mittelpunkt die Besetzung der Binnenrolle in bürgerlichen Kleinfamilien stand und die mit einer entsprechend geringeren Betonung des Bildungsstatus und der Gesellschaft als verbindlicher Orientierungsrahmen verbunden war (vgl. Soziologie der Familie). Die gegenwärtigen hochentwickelten Gesellschaften befinden sich in dieser Beziehung bekanntlich in einem schnellen und konfliktiven Wandel (Emanzipation der Frauen; „Geschlechterkampf“), in deren Verlauf sich die für die weibliche Normalbiografie geltende Statuskonfiguration nach- 53 Die Autoren der im Band von Geissler versammelten Beiträge analysieren den Zusammenhang zwischen Schichtung und Teilnahme am politischen System, Schichtung und Bildungchancen, Schichtung und Kriminalität, Schichtung und Gesundheit und Schichtung und Alter. Dieses hervorragende Buch eignet sich als weiterführende Lektüre zu dieser Einführung. 54 Alle Macht und Herrschaft gründet letztlich in der Drohung der Verletzung der physischen Integrität (Gewalt). 55 Zur Theorie struktureller und anomischer Spannungen vgl. z.B. P. Heintz, Strukturelle und anomische Spannungen. Kapitel 14 in: Ders., Einführung in die soziologische Theorie. Enke, Stuttgart 1968. Individuum und (Welt)Gesellschaft 50 haltig ändert und sich - mit einigen Abweichungen - jener der Männer angleicht und in deren Verlauf der Orientierungshorizont für Frauen nur noch bedingt die Familie und vermehrt die globale Gesellschaft ist.) Während nun die Position innerhalb einer einzigen Linie nur in ihrer Höhe variieren kann, ergibt sich durch die Kombination mehrerer Positionen zu einer Statuskonfiguration eine Reihe von zusätzlichen variablen Charakteristika 56: Die Position in einer Linie kann - wie gesagt - punkto Höhe (Rang) variieren. Kommt eine weitere Linie hinzu, so können die beiden Positionen darüberhinaus miteinander verglichen werden: Zwar können die beiden Positionen gleich hoch sein, doch ist auch der andere Fall möglich (und nicht unwahrscheinlich). Man spricht dann von "Statusungleichgewichten". Drittens ist es auch möglich, dass eine oder mehrere Positionen einer Konfiguration nicht "besetzt" sind. In diesem Fall spricht man von "Statusunvollständigkeit". Rangdimensionen ergeben sich dadurch, dass sich in einer Population gemeinsame Bewertungskriterien durchsetzen. Gleichgewichtigkeit und Vollständigkeit von Statuskonfigurationen erfordern ebenfalls eine gesellschaftliche Normierung und zwar erstens die einer vollständigen Konfiguration sowie zweitens die einer Zuordnung von Positionen zwischen verschiedenen Linien, d.h. von Gleichgewichtsdefinitionen (z.B.: für diese Arbeit ist ein Lohn zwischen n und m Franken angemessen). Das Gesagte ist in der Abb. 8 veranschaulicht. Auf die Möglichkeit, Statuslinien (Rangdimensionen) hinsichtlich ihrer Verteilung miteinander zu vergleichen, wurde bereits hingewiesen. In diesem Zusammenhang angesprochen wurde der Grad der „Kristallisation“ oder anders gesagt der Grad der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung in den Verteilungen innerhalb der verschiedenen Statussubsysteme. Ein Schichtungssystem ist in den Masse kristallisiert, in dem die Verteilungen der verschiedenen Statussubsysteme übereinstimmen. Statuslinien können nun noch in zwei anderen Hinsichten miteinander verglichen werden, nämlich erstens bezüglich ihrer „Zugänglichkeit“ und bezüglich ihrer Instrumentalität (vgl. Abb.1). Man kann davon ausgehen, dass die Güter, die Rangdimensionen zugrundeliegen, immer knapp sind. (Andernfalls treten sie gar nicht ins Bewusstsein der Akteure und bilden dementsprechend keine expliziten Werte, deren Erwerb durch Normen geregelt wird). Dabei mag es allerdings zentralere und knappere und weniger zentrale und knappe geben. Je knapper ein Gut, umso mehr eignet es sich als Quelle von Macht, verstanden als die Chance, seinen Willen gegenüber Dritten - auch gegen deren Widerstand - durchzusetzen. Knappe und zent56 Wir sehen hier noch von der Stärke der Besetzung von Rangbereichen ab. Individuum und (Welt)Gesellschaft 51 rale Güter können aus diesem Grunde „machthaltig“ genannt werden, während weniger knappe und deshalb zugänglichere weniger „machthaltig“ sind. Von der Instrumentalität eines Gutes (oder einer Statuslinien) für ein anderes (eine andere Linie) spricht man dann, wenn sich eine bestimmte Position auf einer Linie für den Erwerb auf einer anderen Linie verwenden lässt. Das klassische Beispiel in der Statuskonfiguration moderner Gesellschaften ist die Beziehung von Bildung und Beschäftigungsstatus und von Beschäftigungsstatus zu Einkommen: Bildungsstatus können deshalb aufgefasst werden als Investionsstatus für den Erwerb von bestimmten Beschäftigungsrollen, die dann als Belohnungsstatus erscheinen. Die Ausübgung einer Beschäftigungsrolle kann dabei ihrerseits aufgefasst werden als Investionsstatus im Hinblick auf Einkommen als Belohnungsstatus. Empirische Untersuchungen zeigen nun immer wieder, dass diese drei Status unterschiedlich zugänglich sind, wobei der Bildungsstatus der zugänglichste und der Einkommensstatus der unzugänglichste (machthaltigste) ist. Legitimität ist der letzte Begriff, der kurz eingeführt werden soll, wobei er hier strukturell definiert wird. Statuslinien können - wie erwähnt - unterschiedlich zugänglich sein. Unzugängliche, machthaltige Linien sind als solche in den Augen der Beteiligten nur unter besonderen Bedingungen legitim. Sie entsprechen stark ungleichen Verteilungen zentraler, d.h. für die Befriedigung unelastischer Bedürfnisse unerlässlicher Güter. Existiert in einem sozialen System neben der zentralen Linie auch noch eine zugänglichere und gleichzeitig instrumentelle Linie, so legitimiert diese zugängliche Linie die Verteilung der weniger zugänglichen, zumindest zu einem erheblichen Teil. Da (und insoweit) der Bildungsstatus instrumentell ist für den Erwerb von Einkommen (via Beschäftigung), erfüllt er in modernen Gesellschaften diese Legitimationsfunktion. Individuum und (Welt)Gesellschaft 52 Abbildung 7: Statuskonfigurationen GESELLSCHAFT Soziale Systeme SOZIALSTRUKTUR KULTUR (Verteilungsstruktur) Werte In verschiedenen Statussubsystemen institutionalisierte Werte Bildung Beschäftigung Bilder "Theorien" (Codes) Einkommen a) Gleichgewichtige Konfiguration auf hohem Rang "Instrumentalität" (vgl. z.B. AU "Beziehung zwischen Statuslinien in der Schweiz) d) Ungleichgewichtige Konfigur. Einkommen > Bildung b) Gleichgewichtige Konfiguration auf mittlerem Rang e) Ungleichgewichtige Konfigur. Einkommen < Bildung f) Unvollständige Konfiguration c) Gleichgewichtige Konfiguration auf tiefem Rang "Machtladung" oder "Machthaltigkeit" (vgl. das Kapitel über Macht und Prestige Zugänglichkeit (Prestige) 3.4.2. Strukturelle und anomische Spannungen Individuum und (Welt)Gesellschaft 53 Die Theorie struktureller und anomischer Spannungen besagt nun, dass jede Abweichung von einem der drei Aspekte einer vollständigen und gleichgewichtigen Konfiguration auf hohem Rang zu einer bestimmten Form von Spannung beim betroffenen Individuum führen. Die Abweichungen in der Konfiguration nennt man strukturelle Spannungen, die Spannungen, die das Individuum aufgrund der Abweichung von der Norm erfährt, nennt man anomische Spannungen. Die drei Formen struktureller und die ihnen entsprechenden anomischen Spannungen sind: STRUKTURELLE SPANNUNG ANOMISCHE SPANNUNG 1) Abweichungen vom höchsten Rang Rangspannung 2) Statusungleichgewicht Ungleichgewichtsspannung 3) Statusunvollständigkeit Unvollständigkeitsspannung Diese Unterscheidung von strukturellen und anomischen Spannungen ist eine zwischen Eigenschaften des sozialen Systems (strukturelle Spannungen ) und Eigenschaften psychischer Systeme (anomische Spannungen). Die "strukturelle Spannung" ist eine Eigenschaft der aktuellen sozialen Struktur bzw. der strukturellen Lage eines Akteurs innerhalb der Struktur, sofern diese unter bestimmten Kriterien bewertet wird (hoher Rang, vollständige Konfigurationen und Gleichgewichte zwischen verschiedenen Positionen in verschiedenen Statuslinien): so weist z.B. ein soziales System mit stark ungleichen Verteilungen von Gütern viele Akteure mit tieferen und tiefen Rangpositionen auf; oder: sind die Verteilungen innerhalb eines Systems nicht alle gleich ungleich, ist dies ein Ausdruck einer grossen Zahl von AkteurInnen mit Statusungleichgewichten. 3.5.2. Formen von Bedürfnissen und Formen anomischer Spannungen Im Unterschied zu strukturellen Spannungen im sozialen System sind "anomische Spannungen" Spannungen im Organismus des Akteurs als Antwort auf seine "gespannte" strukturelle Lage, d.h. eine potentielle "Spannung" in der Struktur. Eine solche "Spannung" besteht in einer Diskrepanz zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeit im Falle einer unbewussten Spannung und einer solchen Diskrepanz zwischen legitimen Zielen und legitimen (gesellschaftlich akzeptierten) Mitteln zu ihrer Erreichung. Die Theorie der strukturellen und anomischen Spannungen besagt nun, dass die verschiedenen strukturellen Spannungen je besondere Formen von anomischen Spannungen zur Folge haben, d.h. verschiedene Arten von Ziel-Mittel- bzw. Bedürfnis-Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten: Je tiefer z.B. der Rang ist (z.B. Hilfsarbeiter), umso grösser ist die erfahrene Rangspannung; je grösser das Status-Ungleichgewicht (z.B. Akademiker in subalterner Position mit dem Lohn Individuum und (Welt)Gesellschaft 54 eines niederen Angestellen oder umgekehrt fünf oder gar sechsstelliges Einkommen eines "Neureichen" mit Primarschulabschluss), umso grösser ist tendentiell die erfahrene Ungleichgewichtsspannung, und je mehr Status einer vollständigen Konfiguration nicht besetzt sind (arbeitsloser, unverheirateter Mann mit 35 Jahren), umso grösser tendentiell die erfahrene Unvollständigkeitsspannung. Voraussetzung für das Auftreten einer Spannung beim Akteur ist, dass der Akteur die entsprechenden Ziele und Normen kennt und akzeptiert (vgl. unten). Jede dieser verschiedenen strukturellen Spannungen stellt den Akteur vor ein ganz bestimmtes, von den anderen unterschiedenes praktisches Problem: Das Problem der Rangspannung heisst: Ich bin innerhalb der Gesellschaft sozial nicht besonders anerkannt (oder: ich bin deklassiert oder gar verachtet (vgl. Moore, 1982, Kapitel 2.3); wie kann ich dies ändern oder - wenn dies nicht möglich ist - wie werde ich damit fertig ? Das Problem des Statusungleichgewichtes dagegen heisst: ich erhalte, für das was ich leiste, weniger (im Falle eines umgekehrt gelagerten Ungleichgewichtes: mehr) als was mir gemäss allgemein anerkannten Normen zusteht. Wie kann ich das mir Zustehende erhalten ? bzw. im Falle eines umgekehrt gelagerten Ungleichgewichtes: wie kann ich verhindern, dass dies von andern als ungerecht erkannt wird oder auch: wie kann ich meine Belohnungen gegenüber anderen rechtfertigen? Schliesslich besteht das Problem der Unvollständigkeit darin, dass man kein Mitglied oder zumindest kein vollwertiges Mitglied jener sozialen Gruppe ist, in der man sich eine Mitgliedschaft wünscht. Die Frage lautet in diesem Fall: Wie kann ich die gewünschte Mitgliedschaft erreichen? In allen Fällen, in denen das Problem nicht lösbar ist, heisst die anschliessende Frage dann: Welche Möglichkeiten stehen mir offen, um meine Spannungsbilanz, d.h. die Diskrepanz zwischen meinen Zielen und den faktischen sozialen Gegebenheiten so klein wie möglich zu halten? Ein "Problem" setzt die bewusste Feststellung voraus, dass man ein bestimmtes Ziel mit den verfügbaren (oder den bisher angewandten Mitteln nicht lösen kann. Man kann dementsprechend die Probleme, welche sich dem betroffenen Akteur als Folge einer bestimmten strukturellen Spannung stellen, auch noch als Ausdruck von unerreichten Bedürfnissen interpretieren. So bedeuten tiefe Positionen innerhalb einer Verteilung ein geringes Mass an sozialer Anerkennung und damit ein geringes Mass an jener Form des Wohlbefindens , die mit solchen Anerkennungen verbunden sind (für die Reaktionen auf extreme Formen der Anerkennung vgl. z.B. Interviews mit Sport oder Unterhaltungsstars). Ferner sind solche Positionen in der Regel mit Gefühlen der Ohnmacht verbunden, d.h. mit dem Bild der Nichtkontrollierbarkeit der eigenen Situation. Individuum und (Welt)Gesellschaft 55 Bei unvollständigen Statuskonfigurationen wird das Bedürfnis nach Teilnahme an einer sozialen Gruppe (Mitgliedschaft) verletzt, indem der oder die Statusunvollständige nicht als vollwertiges Mitglied einer Gruppe anerkannt wird. Damit verbunden sind oft (ganz besonders im Falle der Arbeitslosigkeit) Gefühle des Ungenügens, und die Betroffenen reagieren entsprechend mit Selbstvorwürfen (ego blame). Eine solche Situation ist deshalb auch kognitiv schlecht strukturierbar, was einer Stärkung des Ichs ebenfalls entgegensteht. Verletzt wird bei Statusungleichgewichten das Bedürfnis nach (AustauschGerechtigkeit). Im Unterschied zu Statusunvollständigkeit sind Ungleichgewichte im Sinne eines Belohnungsdefizites mit einer starken Position des Ichs verbunden und verhältnismässig leicht zu strukturieren: Selbstvorwürfe drängen sich in der Regel nicht auf, sondern die Reaktionen sind extrapunitiv, d.h. die Ursache des Problems wird vom Betroffenen in der "Struktur" gesehen und nicht in ihm selbst. Für die Reaktion auf ein strukturelles Problem ist allerdings nicht nur die Struktur des Problems ausschlaggebend, sondern auch die Anzahl Individuen innerhalb des Systems, die vom entsprechenden Problem betroffen sind. Je weniger es sind und je geringer die Kommunikationsmöglichkeiten unter den Betroffenen, umso grösser ist die Tendenz zu intrapunitiven Reaktionen und individualistischen Lösungen. Diese Beispiele zeigen, dass es sich bei den verschiedenen strukturellen "Spannungen" um ganz unterschiedliche Probleme für betroffene Individuen handelt, und es dürfte auch klar sein, dass die Möglichkeiten, die Spannung aus eigenen Kräften zu reduzieren, in den drei Fällen tendentiell unterschiedlich sind: Sie sind von der Struktur des Problems her gesehen in der Regel gering im Falle der Unvollständigkeit, sie mittel im Falle des Ranges und sie sind eher noch höher im Falle des Ungleichgewichtes. Vor allem aber unterscheiden sich die drei Fälle hinsichtlich der der Art der möglichen Interpretation für den Grund des Problems. Eine Mitgliedschaft kann man in der Regel erbitten oder wünschen (es sei denn, die Zulassungskriterien seien "universalistisch", d.h. rein formal bestimmt); einen höheren Rang kann man wollen (ausgenommen in subkulturell höchstdifferenzierten Kastensystemen mit geschlossenen Subkulturen (vgl. z.B. Moore, 1982, Tumin, 1952), selbst wenn es schwierig ist, die gewünschte Mobilität auch zu vollziehen; eine den etablierten Normen entsprechende Belohnung für eine nachgewiesene Leistung hingegen kann man verlangen. Wird einem letzteres vorenthalten, liegt die Deutung auf der Hand: ich werde diskriminiert und mit ein legitimer Anspruch vorenthalten. Akteure in solchen Situationen werden versuchen, ihre Ansprüche geltend zu machen und ihre Diskriminierung in geeigneter Form deutlich zu machen. Wird einem hingegen eine Mitgliedschaft vorenthalten, ist es schwieriger, dagegen zu protestieren. Im Falle des vertikalen Differenzierung hingegen eröffnen sich im Falle der Unmöglichkeit, die Individuum und (Welt)Gesellschaft 56 Spannung durch vertikale Mobilität abzubauen, mehrere Möglichkeiten (vgl. Abschnitt 5). 3.5.3. Voraussetzung für die Umsetzung von strukturellen in anomische Spannungen "Strukturelle Spannungen" sind mithin insofern "Spannungen", als sie Anlass für Spannungen bei den Komponenten (anomische Spannungen) und damit von Spannungen innerhalb des Systems (z.B. geringe Legitimität der Struktur, vgl. unten) sind. Entwickelt sich ein soziales Gebilde so, dass seine Struktur "gespannte" Zustände aufweist, so bedeutet dies, dass die Tendenz besteht, dass bei den Mitgliedern anomische Spannungen auftreten. Dass ein(e) Akteur (In) eine strukturelle Spannung subjektiv auch wirklich erfährt, d.h. sie als "anomische" Spannung erlebt, setzt natürlich voraus, dass die Werte (Rangdimensionen), die den Statuslinien "zugrundeliegen", psychisch für ihn oder sie verbindlich sind. Eine solche Verbindlichkeit kommt etwa dadurch zum Ausdruck, dass er oder sie die entsprechenden Kriterien bei Selbstbewertungen auf sich selber anwendet. Eine solche Verbindlichkeit kann sich aus verschiedenen Konstellationen heraus entwickeln. Der einfachste Fall eines solchen Prozesses stellt die "normal" verlaufende Sozialisation im Rahmen einer (integrierten) Familie dar (vgl. auch den Mechanismus der "Traditionsbildung" bei Degen, 1988). Aber auch ohne hohe bewusste Verbindlichkeit bleibt ein Rest von subjektiver Relevanz: Tiefrangige Personen werden z.B. in Interaktionssituationen "marginalisiert", d.h. sie werden von höherrangigen selten angesprochen, müssen sich Aufmerksamkeit für ihre Mitteilungen erkämpfen und diese erfahren darüberhinaus eine geringe Beachtung. Ferner werden sie "soziometrisch" schlecht plaziert, wobei sie selber dabei in der Regel einen erheblichen Beitrag leisten, indem sie sich räumlich in Zonen positionieren, die vom sozialen "Zentrum" des Geschehens (z.B. an einem Stammtisch oder an einer Stehparty) relativ weit entfernt sind. Eine solche Distanzierung wird auch dann noch als unangenehm erlebt, wenn die zentralen Werte einer Gruppe persönlich nicht verbindlich sind. 3.5.4. Anomische Spannungen und Formen („Strategien“) der Anpassung Alle erwähnten Spannungen rufen natürlich nach ihrer Reduktion und Aufhebung. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Strategien, die allerdings nicht alle im selben Mass zur Lösung der selben strukturellen Problematik geeignet sind. Einige dieser Strategien seien im folgenden genannt: 1. Ablehnung des Wertes, welcher der Rangdimension zugrundeliegt und subkulturelle Differenzierung: Mit der Bedingung subjektiver Verbindlichkeit der Rangdi- Individuum und (Welt)Gesellschaft 57 mensionen (in kleinen Gruppen) oder der institutionalisierten Statuslinien (in hochstrukturierten Gebilden) ist bereits eine mögliche Strategie genannt, die Akteuren offensteht: Um die Spannung zum Verschwinden zu bringen, können sie versuchen, sich innerlich insofern an diese Situation anzupassen, als sie den entsprechenden Wert herunterspielen. In der Regel geschieht sich dadurch, dass gleichzeitig andere "Werte" reaktiviert und betont werden. Subkulturen bilden sich dann, wenn zahlreiche AkteurInnen von ähnlichen Problemen betroffen sind und Kommunikationsund Assoziationsmöglichkeiten bestehen (z.B. Buchmann, 1983). 2. Soziale Isolation (Rückzug): Eine zweite Strategie hat sich implizit dadurch angedeutet, dass der Akteur einer Aktualisierung der Spannung entgehen kann, indem er sich nach Möglichkeit Interaktionssituationen mit höherrangigen Einheiten, die ja die strukturelle Spannung verkörpern, ausweicht. Das Resultat einer solchen Strategie besteht in der zunehmenden Beschränkung (und Reduktion) der Interaktionen auf AkteurInnen aus dem selben Rangbereich und im Extremfall die soziale Isolation. Eine solche Strategie kann der Beginn einer Ablehnung des Wertes sein bzw. wenn viele Akteure ein ähnliches Problem erfahren und die betreffende Strategie wählen - die Integration in eine Subkultur . 3. Individuelle vertikale Mobilität: Eine dritte Strategie stellt die vertikale Mobilität dar (sozialer Aufstieg). Im günstigen Falle ist sie direkt, d.h. betrifft den zentralen Wert im Falle hochentwickelter Länder: das Einkommen. Dies führt, wenn nichts eine entsprechende Mobilität im Bereich der Bildung motiviert, zum allmählichen Aufbau eines Ungleichgewichtes im Sinne grösserer Belohnungen als Investitionen. In der Regel ist aber der zentrale Wert weniger zugänglich als der Bildungsstatus (vgl. das nachfolgende Kapitel). Deshalb führen Versuche des Abbaues von Rangspannung in solchen Situationen über den Aufbau einer Ungleichgewichtsspannung durch den Erwerb von Bildung. Anschliessend kommt es dann zur Umsetzung des Bildungs- in einen diesem Status angemessenen Beschäftigungsstatus sowie einem entsprechenden Einkommen. Wird ein solches Gleichgewicht erreicht, so ist - über den Umweg eines Aufbaues von Ungleichgewichtsspannung, die Rangspannung reduziert worden. 4. Kollektive vertikale Mobilität: Eine andere Form der vertikalen Mobilität ist die über die Verbesserung der sozialen Situation einer ganzen Gruppe von Akteuren (kollektive Mobilität). Die gegenwärtige Diskussion einer Quotenregelung für Frauen gehört in diesen Zusammenhang, selbstverständlich aber die ganze Arbeiterbewegung. Hier versucht der einzelne nicht als einzelner, mobil zu sein, sondern durch Aggregation von "Köpfen" eine bestimmte Form von Verhandlungsmacht zu erlangen und auf diesem Wege die Position im Verteilungskampf zu verbessern. Selbst- Individuum und (Welt)Gesellschaft 58 verständlich reduziert das Auftreten von grossen individuellen Mobilitätschancen die Chance, dass es zu jenem Mass an Solidarität kommt, die für eine kollektive Mobilität erforderlich ist. 5. Migration oder geografische Mobilität: Eine weitere Form der Anpassung an strukturelle Spannungen ist die geografische (oder horizontale) Mobilität. Im Rahmen dieser räumlichen Bewegung versuchen AkteurInnen, ihre - gemessen an ihren Zielen geringen - strukturellen Mobilitätschancen zu erhöhen, indem sie in soziale Systeme mit erhöhten Arbeits- und Aufstiegschancen immigrieren. Die gegenwärtige Asylproblematik ist ein extremes Beispiel für die internationale Form von Migration (im Unterschied zu Binnenwanderungen); die Unterschichtung der höchstentwickelten Länder durch Migranten aus armen (weniger entwickelten) Regionen weniger entwickelter Länder in den vergangen Jahrzehnten ist das klassische Beispiel (vgl. z.B. Galtung, 1976). Ebenfalls klassisch sind die Binnenwanderungen vom Land in die Stadt (vgl. Heintz, 1968, Kapitel 3). 6. Delinquenz: Eine typisch individuelle Form der Spannungsreduktion ist die (Vermögens-)Delinquenz. Die Häufigkeit ihres Auftretens hängt denn auch mit der Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung zusammen und reagiert auf deren Veränderungen (vgl. z.B. Zwicky, 1982, Buchmann, 1983). 7. Gewalt: Zwar mag individuelle Gewalt als eine besondere Form von Delinquenz gesehen werden, doch sind individuelle wie kollektive Gewalt insbesondere eine eigenständige Form der Adaptation an strukturell problematische Situationen [Heitmeyer, 2001 #5888]. Während Gewalt durch eine bestimmte moralische Kultur begünstigt wird, wird sie doch nicht durch sie erzeugt. Motiviert werden gewalttätige Handlungen vielmehr durch strukturelle Konstellationen, in denen die Befriedigung von vitalen Bedürfnissen von Menschen in Frage steht (ibid, passim). Immer deutlicher wird, dass es insbesondere die ungleiche Verteilung von Gütern (Vermögen/Einkommen) ist (also relative und nicht etwa absolute Armut), die für ein hohes Mass an Gewaltbereitschaft und realisierte Gewalt verantwortlich ist. Dies indem im untersten Bereich solcher Verteilungen Lebenssituationen entstehen, die durch die das vollkommene Fehlen von Chancen auf ein befriedigendes Leben auch bei jeder Form eigener Initiative gekennzeichnet sind und die zu einer radikalen Entwertung der Zukunft und damit verbunden zu einem extremen Mass an psychosozialen Spannungen führen, die äusserst risikoreiches Verhalten mit entsprechend hohen Raten an Ereignissen mit negativem Ausgang bis hin zu Totschlag im Affekt provozieren {Daly, 2001 #5939}. Individuum und (Welt)Gesellschaft 59 8. (Chronische) Krankheit und Suizid: Eine weitere Form der Reaktion auf strukturelle Spannungen ist Krankheit (z.B. Jones, 1978). Sie stellt eine Form extremen Rückzugs dar, welche die Ansprüche der Struktur an den Akteur zumindest zeitweise sistieren. Chronifizierung bedeutet dann eine endgültiges Ausscheiden aus dem Spannungsfeld. Diese Formen von Anpassung sind in der Regel Reaktionen auf strukturelle Situationen, in denen der Akteur es schwer hat, anders als intrapunitiv zu reagieren. Eine noch extremere Form der Reaktion auf strukturelle Spannungen ist schliesslich der Suizid. Die Spannung wird dabei in keiner Form bewältigt, sondern das System setzt die Spannung in Autoaggressivität um). 4. Individuum und Weltgesellschaft: Grundzüge der Makroorganisation der Weltgesellschaft als gegenwärtige Globalgesellschaft57 4.1. Weltgesellschaft Die heutige „Weltgesellschaft“ ist das komplexeste soziale Interaktionsfeld oder System, das je existiert hat. Sie ist differenziert in drei weltweite Ordnungen, nämlich (1) das Internationale Entwicklungsschichtungssystem beruhend auf der Schichtung des Lebensstils von im Rahmen von Nationalstaaten lebenden und organisierten Bevölkerungen (Bildung, Lebensstandard, etc.), (2) das intergourvernementale System der politisch-militärischen Macht, beruhend auf der Schichtung von Regierungen von Nationalstaaten auf der Grundlage ihrer politisch-militärischen Macht (Steuereinnahmen, staatlich kontrollierte natürliche Ressourcen) und (3) das Interorganisationelle Schichtungssystem transnationaler Wirtschaftskorporationen. [Für einen Ueberblick vgl. Heintz, 1982 #38]58. Daneben existieren weltweite Interaktions-, und im besonderen Kommunikationssysteme von individuellen Mitgliedern von Nationalstaaten, die in zunehmendem Masse von weltweiten Technosystemen wie der Mobiltelefonie und dem Internet unterstützt werden. Wie diese Charakterisierung bereits erkennen lässt, ist die in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene Weltgesellschaft ein durch eine Reihe emergenter Eigenschaften gekennzeichneter neuer Typ von Gesellschaft59. Diese weltweite gesellschaftli57 Das Folgende orientiert sich an der Theorie sozialer Systeme und der Weltgesellschaft, wie sie am Soziologischen Institut der Universität Zürich seit den späten 60er Jahre entwickelt worden ist (vgl. dazu [Heintz, 1962 #3504; Heintz, 1969 #37; Heintz, 1972 #36; Heintz, 1982 #38; Heintz, 1974 #39; Heintz, 1977 #691; Hoffmann-Nowotny, 1973 #26; Bornschier, 1998 #2244] sowie die wichtige Teile des Zürcher Paradigmas zur Weltgesellschaftsanalyse zusammenfassende Darstellung bei [Wobbe, 2000 #3606]. 58 Für eine grafische Darstellung vgl. [Obrecht, 1999 #2492] sowie die Lehrveranstaltungen Methodologie Teil I, Kap. 1.und SWET, Teil I, Ontologie. 59 Im Unterschied zu dieser soziologischen Sicht der Weltgesellschaft als eigenständige Form einer Gesellschaft erscheint die moderne soziale Welt in im Rahmen der individualistischen Auffassung von Gesellschaft als Ergebnis einer rein quantitativen Ausdehnung vor allem der Wirtschaftsbeziehungen zwischen einzelnen Ländern. Damit werden alle soziologisch relevanten und für das Ver- Individuum und (Welt)Gesellschaft 60 che Ordnung ist hervorgegangen aus einem weltweiten feudalen Kolonialsystem mit Weissen an der Spitze [Osterhammel, 1996 #1778], das diese, beginnend mit der iberischen Landnahme in Mittel- und Südamerika zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, gebildet hatten und das, nachdem es nach einen 400jährigen Prozess kurz nach dem ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreicht hatte60, nach dem zweiten Weltkrieg zu Ende ging (Entkolonialisierung) und dem gegenwärtigen Klassenoder Schichtungssystem beruhend auf Nationen Platz machte (für eine frühe Analyse der Weltgesellschaft und ihrer Dynamik vgl. [Heintz, 1969 #37; Heintz, 1972 #36; Heintz, 1977 #691; Heintz, 1982 #38; Heintz, 1983 #3204; Heintz, 1983 #3205; Heintz, 1983 #3206]. Das Folgende wendet sich zunächst etwas ausführlicher der Frage nach der Entstehung der Weltgesellschaft zu (4.2) und behandelt daran anschliessend in 4.3 die Frage nach der Struktur der Weltgesellschaft, in Kap. 4.4 in aller Kürze wichtige bisherige Phasen der Weltgesellschaft, in Kap. 4.5 das Verhältnis von Individuum und Weltgesellschaft und in 4.6. schliesslich Grundfragen der Ursachen und Folgen von Migration in den Ursprungs- bzw. in den Immigrationskontexten. 4.2. Die Entstehung der Weltgesellschaft 1. Die Diffusion moderner Werte: Die Etablierung von kolonialen Herrschaftsbeziehungen über grosse Teile der Menschheit war begleitet von der Ausbreitung der Weissen über die Welt und die Verschleppung von Menschen aus ihrer Heimat. (Vgl. dazu und zum folgenden [Emmer, 1989 #500].) So steht das europäische Ancien Régime (zwischen 1450 und 1800) im Zeichen einer gigantischen interkontinentalen Expansion mit zwei grossen interkontinentale Migrationsströmen in die Neue Welt im Zentrum: (a) die (freiwillige) Auswanderung von einer Million Europäeständnis der Dynamik dieser Gesellschaft entscheidenden Charakteristika übersehen. Es gehört zur Phase der gegenwärtigen Weltgesellschaft, dass die in sie involvierten Akteure ein überwiegend individualistischen Verständnis dieser Gesellschaft, also gewissermassen ein „falsches Bewusstsein“ von ihr haben. Ja in den letzten 20 Jahren hat sich mit der weltweiten Verbreitung des ökonomistischen Marktcodes eine weltweite Kultur gebildet, die die weltweite soziale Welt als eine Welt von untereinander konkurrierender Akteur in einem jenseits von Rechtsnormen sozial nicht weiter strukturierten Raum sieht. 60 Der Kolonialismus begann mit der iberischen Landnahme in Mittel- und Südamerika und endete für die meisten Kolonien nach dem zweiten Weltkrieg (für andere etwas später). Zu diesem Zeitpunkt unterstanden mehr als 600 Millionen Menschen, d.h. ungefähr 40% der Weltbevölkerung, kolonialer Herrschaft: 440 Millionen in Asien, 120 Millionen in Afrika, 60 Millionen in Ozeanien und 14 Millionen in Amerika (Girault, A. (1921) Principlex de colonialisation et de législation coloniale, 4. Aufl., Band 1, Paris: 17 {zit. in \Osterhammel, 1996 #1778: 29}. Dabei hatten die meisten europäischen Länder Kolonien (England: Afrika, Asien; Holland: Asien; Spanien: Südamerika; Portugal: Südamerika, Asien; Belgien: Afrika; Frankreich: Afrika; Deutschland: Afrika; Italien: Afrika) und nur wenige Länder ausserhalb Euopas waren nicht kolonisiert (allen voran Japan, China, Aegypten), und auf allen Kontinenten wurden indigene Völker aller Art unterworfen, vertrieben oder ausgelöscht, in Süd- Mittel- und Nordamerika Indianer, in Afrika Araber und Afrikaner, in Asien Inder, Asiaten, in Australien die Aborigines und in Neuseeland die Maori, um je nur die wichtigsten (grössten) Gruppen zu nennen. Und nur wenige Länder Europas hatten keine Kolonien (z.B. die Schweiz, Norwegen, Schweden). Individuum und (Welt)Gesellschaft 61 rInnen und (b) die erzwungene Auswanderung von 6 Millionen AfrikanerInnen (Verschleppung). Nach 1850 erfolgt gar eine explosionsartige Zunahme dieser interkontinentalen Migration, in deren Verlauf die Europäer auf der ganzen Welt ein enormes Übergewicht erlangten: Zwischen 1800 und 1960 emigrierten 61 Millionen Europäer, die meisten nach Nordamerika (41 Mio. oder 70%), die übrigen nach Südamerika (12%), nach Südafrika, Australien und Neu-Seeland (9%) und ins asiatische Russland (9%). Demgegenüber war der Anteil der Nicht-Europäer an der interkontinentalen Völkerwanderung nach 1800 mit zwischen 6 und 7 Millionen Afrikanern und Asiaten viel kleiner, wobei 50% davon afrikanischen Sklaven waren, die in die Neue Welt verschleppt wurden; der Rest waren afrikanische und asiatischen Kontraktarbeiter. 2. Nationalstaaten: Die Nationalstaaten sind die Globalgesellschaften der ersten Phase der Moderne, d.h. vom Ende des Ancien Régime 61 bis zur Entstehung der Weltgesellschaft nach dem 2. Weltkrieg, die lokalere Siedlungsgemeinschaften, bestehend aus Netzen von Verwandtschafts- Freundschafts- und Berufsbeziehungen, in dieser Funktion ablösten. Die Entstehung der Nationalstaaten bestand dabei in der Herausbildung eines Bildes einer nationalen Gemeinschaft, d.h. einer nationalen politischen Kultur oder „imagined commuinity“ (Benedict Anderson) im Rahmen eines politischen Prozesses [für die Schweiz vgl. z.B. \Jost, 1998 #3797], die die lokalen Gemeinschaften nicht zerstörte, sondern überformte und zu einem neuen Horizont von Solidaritätserwartungen wurden. Im Zuge dieses Prozess wurde die Idee gegenseitiger Verbundenheit und Fürsorge auch auf die nationale Gruppe übertragen. (vgl. auch Wimmer 1996). „Der außerordentliche Erfolg dieses nationalistischen Selbstbildes ist weniger als funktionales Korrelat zunehmender funktionaler Differenzierung oder als Ergebnis der bürgerlichen Machtergreifung zu interpretieren. Er 61 Die Moderne beginnt nicht genau mit der französischen Revolution (1789), obwohl dies das politisch entscheidendes Ereignis der Entstehung der Moderne war. Das erste wichtige und wesentlich frühere Ereignis war die Entstehung der modernen Wissenschaft in ihrer Grundform am Ende des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts (Galilei Galilei), (kulturelles Subsystem), um 1700 gefolgt vom Beginn des demografischen Übergangs (biologisches Subsystem) und 1760 dem Beginn der Industriellen Revolution in England (ökonomisches Subsystem). Mit der französischen Revolution, mit der das „Ancien Régime“ 1789 zu Ende ging, erfolgte der Modernisierungsbeginn im vierten funktionalen Subsystem der sich modernen Nationalstaaten transformierenden Gesellschaften. Ein halbes Jahrhundert später, 1850, beginnt der weltweite Prozess der Urbanisierung und Alphbetisierung (kulturelles Subsystem), während 1859 mit Charles Darwins Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl die bedeutendste Theorie der Moderne, die Theorie der Bioevolution geschaffen wurde. Mit der Urbanisierung verändert sich nachhaltig die Binnenstruktur der sich modernisierenden Nationalstaaten in sozialökologischer Hinsicht: sie schafft eine räumliche Konzentration ökonomischer relevanter Ressourcen und damit eine Voraussetzung für die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sich beschleunigendes wirtschaftlichen Entwicklungprozess (Taylorismus), während sich mit dem modernen Bildungssystem jenes Statussubsystem dieser Gesellschaften aufgebaut wird, das für eine breite Streuung von Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Mediennutzung) sowie von Orientierungswissen (Geschichtsbild, Staatsbild, Gesellschaftsbild, Naturbild plus die jeweiligen Codes in rudimentärer Form) und Funktionswissen (Berufsausbildungen) in der Bevölkerung erfolgt und die strukturelle Einrichtung darstellt, über die die ungleiche Verteilung von Einkommen bis zu einem gewissen Grade legitimiert wird ([Obrecht, 1993 #3226]). Individuum und (Welt)Gesellschaft 62 verdankt sich vielmehr einem Interessenkompromiss zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nämlich einem Tausch von politischer Loyalität gegen soziale Sicherheit und politische Teilhabe. Denn die bürokratische Elite kann im Namen Nation und der Sorge für das Wohl seiner Bürger ihren Machtbereich immer weiter ausdehnen. Die Bevölkerung andererseits apelliert an die Vorstellung der nationalen Solidargemeinschaft, um Rechte auf politische Mitbestimmung, freie Schulbildung sowie schliesslich auch wohlfahrtsstaatliche Leistungen einzufordern. In der nationalistischen Sprache lassen sich beider Interessen formulieren (Wimmer 1996a); 1996b). Gerade weil in der nationalstaatlichen Ordnung eine Vielzahl von Gruppierungen aufeinander bezogen werden, muss der Nationalismus arm und diffus bleiben, denn nur dank seiner ausgeprägten Polysemie und Primitivität kann er aus den unterschiedlichsten Interessenpositionen Sinn manchen. Vielleicht liesse sich durch diese Betrachtung eines der Paradoxa des Nationalismus auflösen (vgl. Elwert 1989) – nämlich dass die geschichtsmächtigste Ideologie der Moderne gleichzeitig ihre inhaltliche ärmste ist“ (Wimmer 1996: 411f.). 3. Die Folgen der Diffusion moderner Werte: Die Selbstdefinition der „Entwicklungsländer“ als „unterentwickelt: Der Übergang vom Kolonialsystem zum weltweiten Schichtungssystem beruhend auf Gesellschaften (autonome Nationalstaaten) entsprach einem Uebergang von einer intergesellschaftlichen Kasten- und in eine internationale Klassengesellschaft. Seine Entstehung verdankt dieses Schichtungssystem von Nationen der Herausbildung der Selbstdefinition der Entwicklungsländer als „unterentwickelte“ Gebiete, ein Vorgang, welcher der gleichzeitigen Anerkennung der technischwirtschaftlichen Ueberlegenheit der dadurch als „hochentwickelt“ definierten Gesellschaften entsprach [Heintz, 1962 #3504]. Diese Selbstdefinition der Entwicklungsländer als „unterentwickelt“ war dabei das Ergebnis einer zeitlich ausgedehnten selektiven Offenheit dieser Gesellschaften gegenüber fremden Kulturelementen, nämlich insbesondere von Technik/Technologie im Bereich der Oekonomie und späten vom „bürgerlichen Lebensstil “ (Konsum von Konsumgütern aufgrund von Einkommen aus Lohnarbeit auf der Basis von formaler Bildung und beruflicher Qualifikation62). Der Begriff der „Unterentwicklung“ bezieht sich „auf die technische und wirtschaftliche Rückständigkeit von Gebieten, die gleichzeitig versuchen, die Mittel zu erlangen, um die technisch und wirtschaftlich hoch entwickelten Gebiete in der genannten Hinsicht einzuholen, die - mit anderen Worten - nach einem "höheren Lebens62 Zu den Strukturdimensionen moderner Gesellschaften vgl. I.5.4 sowie Obrecht, W. (2000). Ein einfaches statisches Modell von Gesellschaften in (ders.), Allgemeine Soziologie, Zürich: Hochschule für Soziale Arbeit. Individuum und (Welt)Gesellschaft 63 standard" streben [Heintz, 1962 #3504]63. Dieses Streben scheint oft die Folge davon zu sein, daß sich solche Gebiete meist schon seit längerer Zeit daran gewöhnt haben, größere Mengen von Erzeugnissen zu gebrauchen, die aus höher entwickelten Ländern eingeführt werden müssen. Als Folge davon werden sie mehr oder weniger abhängig vom Import, ohne gleichzeitig im eigenen Lande die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, um eine regelmäßige und vorteilhafte Versorgung mit den begehrten Erzeugnissen zu gewährleisten. Diese Diskrepanz läßt sich mit den Bedingungen in Zusammenhang bringen, welche die differentielle Rezeptivität“ (=selektive Offenheit, W.O) gegenüber fremden Kulturelementen bestimmen. Überdies scheint es, daß es gerade diese Konstellation ist - und nicht irgendeine angebliche "Distanz" zwischen der eignen und der fremden Kultur-, die dem Gefühl der Unterlegenheit zugrundeliegt, das in vielen unterentwickelten Gebieten stark verbreitet ist. Soziologisch gesprochen hängt die Einfuhr fremder Erzeugnisse auf lange Sicht gesehen von der Akkommodation an die Konkurrenz oder von der Erfüllung der Konkurrenzbedingungen auf dem internationalen Markt ab (wozu natürlich auch der Tourismus gehört), das heißt vom Angebot an Gütern und Dienstleistungen. Eine solche Akkommodation setzt im Prinzip voraus, daß den Konkurrenten gewisse kulturelle Elemente gemeinsam sind, deren Bedeutung im übrigen gerade als Folge der Konkurrenz immer größer wird. Obgleich die Konkurrenz ein antagonistisches Verhältnis ist, setzt sie doch ein Minimum an kultureller Gemeinsamkeit zwischen den Konkurrenten voraus (Ziele, Regeln/Normen, W.O.). Andererseits besteht natürlich kein Zweifel, daß die Akkommodation an den internationalen Markt in keiner Weise eine vollständige Assimilation der fremden Kultur voraussetzt.“ (ibid). Kurz, die gegenwärtige Weltgesellschaft ist das Ergebnis der weltweiten Verbreitung und Institutionalisierung der Werte der modernen Lebensweise [Flora, 1974 #2485]: 121ff.) im Zuge der Kolonialisierung der Welt durch in ihrer soziökonomischen Entwicklung vorauseilende westliche Nationalstaaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen aus dem weltweiten feudalen Kolonialsystem mit Gesellschaften von Weissen an der Spitze (Oster63 Diese Erwartungen betrafen Individuen wie auch sozialökologische Systeme und können folgendermassen zusammengefasst werden: (a) Individuen i) Steigende Erwartung bezüglich Lebensstandard (materielle Güter) (Erwartung eines Wandels) ii) Optimismus bezüglich Wandel Erwartung einer Zunahme der Zufriedenheit durch materielle und soziale Veränderungen) (Positive Einstellung zum Wandel); iii) Glaube an die Instrumentalität der Bildung (Bildung als Status); iv) Glaube an die Industrialisierung als Entwicklungsweg (sektorielle Differenzierung; moderne Berufe als Status); v) Bevorzugung der Grossstadt (Urbanisierung und urbaner Status): (b) Regionale & Nationale Kontexte: Erwartung schneller "Modernisierung": i) die Entwicklungsländer holen Entwicklungsrückstand bis ins Jahr 2000 auf, ii) es dominiert die Vorstellung nationaler „Modernisierung“, deren Prämissen lauten: (1 ) jedes Land folgt dem selben Entwicklungspfad wie die Hochentwickelten Länder , (2) dieser Prozess ist entsprechend nur abhängig von internen Gegebenheiten (Atomismus), (3) es gibt kaum Vorstellungen der den Handlungsspielraum der Entwicklungsländer formenden Struktur der entstehenden Weltgesellschaft (Systemismus). Individuum und (Welt)Gesellschaft 64 hammel 1996), ist die heutige Weltgesellschaft jene weltweite Sozialordnung, die das Leben der überwiegenden Zahl der auf der Welt lebenden Menschen in einem hohen Masse durch dreierlei bestimmt: 1. durch den Wert der modernen, selbstbestimmten Lebensweise und damit den Wert der sozioökonomischen Entwicklung, den ein Grossteil der Menschen teilt und der von Regierungen von (territorialen) Gemeinden, Provinzen und Nationalstaaten (wenn auch in Abhängigkeit vom politischen Regime) als politisches Ziel nach innen verfolgt und nach aussen betont wird, 2. durch den Umstand, dass die Chancen der Verwirklichung dieses Wertes innerhalb ihrer Gesellschaft unter Umständen noch mehr als von ihren eigenen Anstrengungen und ihrer Klassenlage vom Entwicklungserfolg ihrer Gemeinde, Provinz oder Nation abhängt, mit deren Schicksal sie sich deshalb bis zu einem gewissen Grad identifizieren, damit aber auch von den Zielen und dem Geschick der Regierungen (politischen Regimen), die an die politische Macht gelangen, und 3. durch den Umstand, dass ein (variabler) Teil von Menschen entweder durch ihre Arbeitsrolle Mitglieder transnationaler Konzerne sind (oder in Organisationen arbeiten, die Zulieferer für oder Bezüger von Gütern solcher Organisationen sind) oder von solchen Organisationen produzierte oder vertriebene Güter konsumieren, einschliesslich der Produkte von Medienorganisationen, oder beides. Als Folge der geteilten Orientierung an modernen Formen des Lebensführung und den gesellschaftlichen Gebilden, in die diese Formen eingebettet sind und durch die sie ermöglicht werden, stellt die Weltgesellschaft als umfassendstes Sozialsystem der sich an den sozio-ökonomischen Werten orientierenden Nationen, Regierungen und transnationalen Organisationen faktisch eine allen Individuen gemeinsame soziale Umwelt dar. Dabei besteht dieses soziale Gefüge aus drei übergeordneten weltweiten Ordnungen, 1. dem internationalen Entwicklungsschichtungssystem, dessen Einheiten die Bevölkerungen von Nationalstaaten und ihren territorialen Subsystemen und dessen dominante Werte der Lebensstandard und die formale Bildung der Bevölkerung sind, 2. dem intergouvernementalen System politisch-militärischer Macht, dessen Komponenten Regierungen von Nationalstaaten mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau, unterschiedlicher Bevölkerungsgrösse und militärischer Macht sind und 3. dem interorganisationellen System transnationaler Wirtschaftskorporationen (TNC). Heintz 1982a: 27ff.). Die Dynamik der Weltgesellschaft ergibt (und erklärt) sich nach der systemistischen Theorie der Weltgesellschaft zu einem erheblichen Teil aus der (konfliktiven) Dynamik innerhalb und zwischen diesen drei Ordnungen, deren Mitglieder alle an je eigenen, wenn auch interdependenten Werten orientiert sind, und die je Schichtungssysteme einer besonderen Art sind, nämlich von Individuen territorialer Systeme verschiedener Art einerseits sowie Regierungen und grossen Wirtschaftsorganisationen andererseits. Die Schichtung ergibt sich daraus, dass die jeweiligen Einheiten um Güter konkurrieren, wobei sie in Abhängigkeit der Interessen, die sich Individuum und (Welt)Gesellschaft 65 aus ihrer Situation ergibt, verschiedene Arten von Kooperationen suchen und Allianzen eingehen können. 4.3. Die institutionalisierten Werte und die drei umfassenden Ordnungen der Weltgesellschaft Die wichtigsten Werte und die Formen ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung , die ihre Verwirklichung ermöglichen, sind: • Staatsbürgerstatus (insbesondere Rechtsstaat mit Demokratie, Menschenrechten), • städtische (urbane) Lebensweise (Städte), • formale Bildung (modernes Bildungssystem mit allgemeiner Schulpflicht), • Lohnarbeit, d.h. moderne Berufe, formale Organisationen und Produktion von Investitions- und Konsumgütern für Märkte (Marktökonomie) und • individuelles Einkommen und Konsumgüterkonsum (Verbrauchermärkte) Dabei sind im Zuge dieser Institutionalisierung drei interdependente Ordnung entstanden, die als Ganzes die soziale Struktur der Weltgesellschaft ausmachen. Jede dieser Ordnungen besteht in einem Schichtungssystem mit einer besonderen Art von Sozialsystemen als Komponenten, nämlich Bevölkerungen, Staaten und transnationale Wirtschaftsorganisationen : 1. Das internationale Entwicklungsschichtungssystem, beruhend auf den Bevölkerungen von Nationen, deren Mitglieder danach streben, die Entwicklungs- werte zu erreichen und die, falls sie an strukturelle Grenzen stossen, von ihren Regierungen vermehrte Entwicklungsanstrengungen verlangen. Seine Rangdimensionen (oder Statussubsysteme sind) sind 1. das Bildungsniveau der Bevölkerung (Index); 2. die Modernität der Beschäftigungsstruktur (Index); 3. das Pro Kopf-Einkommen, 4. der Urbanisierungsgrad, 5. der Bürgerrechtsstatus sowie 6. die Menschenrechte Neben diesem Internationalen Entwicklungsschichtungssystem (INS), das in der Öffentlichkeit in Form der Unterscheidung von Entwicklungsländern, Schwellenländern und hochentwickelten Ländern bekannt ist, gibt es noch zwei weiteren grosse Ordnungen innerhalb der Weltgesellschaft, die hier nur noch angedeutet seien, nämlich Individuum und (Welt)Gesellschaft 66 5. Das intergouvernementale System der politisch-militärischen Macht, beruhend auf den Regierungen der Bevölkerungen der Nationalstaaten, die von den entwicklungsorientierten Teilen der Bevölkerung zu Entwicklungsanstrengungen gedrängt werden, gleichzeitig aber, da sie aufgrund des Steuerertrags, der ihnen aus der Arbeitsleistung der Bevölkerungen zufliesst, über polizeilich-militärische und aussenpolitische Macht verfügen und entsprechend zusammen mit den Regierungen der anderen Länder ein an eigenen Werten orientiertes System bilden und dessen Werte oder Schichtungsdimensionen die folgenden sind: 1. das politische Regime, 2. die Bevölkerungsgrösse, 3. das Bruttosozialprodukt, 4. die natürlichen Ressourcen und 5. die militärische Macht64. Regierungen vertreten m.a.W. nicht nur die (Entwicklungs-)Interessen der individuellen Mitglieder ihres Nationalstaates, sondern auch die Werte bzw. Ziele des Staates als Organisation. Diese betreffen die Kontrolle a) nach Aussen (die Wahrung der territorialen Integrität und physischen Sicherheit der Population, Legitimation (Prestige) innerhalb des Systems der Staaten) und b) nach Innen: Ordnung, Legitimation (z.B. demokratische Wahlen). Die Macht von Staaten beruht dabei insbesondere auf ihrem Vermögen Steuern zu erheben und diese ist deshalb umso grösser, je grösser die Population ist und je höher die Wirtschaftskraft der betreffenden Gesellschaft. Dabei hat die letzte Dimension, wie der gegenwärtig krasse Rückgang an Militärausgaben und die Redimensionierungen der Armeen in den 90er Jahren zeigte, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Europa vorübergehend an Bedeutung eingebüsst. Gegenwärtig erlebt es durmassive Aufrüstung der USA und durch die hegemoniale Rolle, die die USA gegenwärtig anstreben, einen erneuten Bedeutungszuwachs. (Vgl. aber die Pläne der US-Regierung für ein neues interkontinentales Abwehrsystem); 2. Das System der transnationalen Wirtschaftskorporationen, die jene sich seit den 60er Jahren ständig ausdehnende weltweite technologische Produktion und Verteilung von Wirtschaftsgütern bewerkstelligen (Globalisierung), die während der Krise der 90er Jahre – mit einer Verspätung von 30 Jahren – ins Öffentliche Bewusstsein gedrungen sind; diese Produktion und Verteilung von Gütern ist mit hohen Gewinnchancen verbunden, was erklärt, weshalb „Multis“ eine bevorzugte Investitionsquelle des (weltweiten) Kapitals sind. 1. die Grösse (Belegschaft, Ausdehnung im Weltmasstab) (Macht) 2. der Umsatz und (Macht) 3. die Modernität der Technologie (Prestige) 64 Regierungen vertreten m.a.W. nicht nur die (Entwicklungs-)Interessen der individuellen Mitglieder ihres Nationalstaates, sondern auch die Werte (v.a. Macht) des Staates, die sich auf der Grundlage der aggregierten, durch den Staat mobilisierten Ressourcen ergeben Individuum und (Welt)Gesellschaft 67 Die „Multis“ oder TNC’s (transnational corporations) organisieren die weltweite technologische Produktion und Verteilung von Wirtschaftsgütern und dies mit hohen Gewinnchancen; sie sind deshalb eine bevorzugte Investitionsquelle des (weltweiten) Kapitals. Ein Vergleich der Grössenverhältnisse zwischen den Einheiten des INS/IGS und dem IOS lässt die Machtverhältnisse zwischen Regierungen und privaten Organisationnen erahnen (vgl. Grafik; sowie Clairmont & Cavanagh, 1994, unten). (Für einen Vergleich der Grössenverhältnisse zwischen den Einheiten des INS/IGS und dem IOS lässt die Machtverhältnisse zwischen Regierungen und privaten Organisationen erahnen vgl. Grafik im Anhang) Die gegenwärtige Struktur der Weltgesellschaft ist gekennzeichnet durch Spannungen innerhalb und zwischen den drei genannten Ordnungen65, wobei diese Spannungen zwischen den Ordnungen teils Ursache von positionsabhängigen intranationalen Spannungen und Konflikten sind (z.B. ethnische Konflikte [Wimmer, 1998 #3369], Kriege, ökonomische Stagnation), teils Folgen (Konflikte zwischen Ländern infolge von nicht kontrollierbaren Migrationsströmen (z.B. Italien-Albanien). 4.4. Phasen der Weltgesellschaft (folgt) 4.5. Individuum und Weltgesellschaft66 Wie erwähnt, ergibt (und erklärt) sich die Dynamik der Weltgesellschaft nach der systemistischen Theorie der Weltgesellschaft zu einem erheblichen Teil aus der (konfliktiven) Dynamik innerhalb und zwischen diesen drei Ordnungen, deren Mitglieder alle an je eigenen, wenn auch interdependenten Werten orientiert sind. Eine besondere Rolle spielt in dieser Dynamik innerhalb und zwischen diesen Systemen der Umstand, dass die Weltgesellschaft, wie alle sozialen Systeme, nicht nur ein objektives soziales Faktum ist, sondern dass die beteiligten Einheiten ihre eigene strukturelle Situation innerhalb der weltweiten Sozialordnung wahrnehmen, deuten und im Hinblick auf ihre Ressourcen und die von ihnen abhängenden Ziele interpretieren müssen und davon ausgehend ihre „Politik“ wählen. Im Unterschied vor allem zu TNCs, die ihre Situation im gesamten Weltrahmen deuten, orientieren sich Individuen ausserhalb oder auf tiefen Stufen solcher Organisationen in der Regel an jenen Systemen, an denen sie unmittelbar teilnehmen (für unsere Verhältnisse also 65 Ein Beispiel für eine Spannung zwischen Nationalstaaten und transnationalen Korporationen ist die Geschichte des MAI [Glunk, 1998 #2924]); äussester Ausdruck von Spannungen zwischen Nationen als Komponenten des intergouvernementalen Systems politisch-militärischer Macht sind Kriege wie der kürzliche zwischen Indien und Pakistan; Spannungsindikatoren innerhalb des Entwicklungsschichtungssystems sind internationale Auseinandersetzungen über Protektionismus, Fluchtgeld-Ströme, die Ausbeutung des Meeresbodens. 66 Vgl. auch Abschn. 4.5.2über Migrationsdeterminanten Individuum und (Welt)Gesellschaft 68 schwerpunktmässig an der Gemeinde oder der Provinz, oder der Nation), während dem die Existenz und Struktur der Weltgesellschaft nicht oder nur am Rande und in Umrissen in ihren Horizont gerät (vgl. u.a. Heintz et al. 1978). Die Wahl des Orientierungsrahmens und die Art der Deutung der Situation hängen dabei u.a. von der Position des Individuums innerhalb des Landes und dessen Position im INS ab. Je nachdem wird es versuchen, individuell, sozial oder auch geografisch mobil zu sein, z.B. im Rahmen von Binnenmigration vom Land in die Stadt, und/oder aber durch die Unterstützung eines bestimmten Regimes auf die Entwicklungspolitik der es umfassenderen Einheiten zu setzen, was die Chancen für unterschiedliche politische Regimes bestimmt. Beides, das unmittelbare teilnehmende Verhalten wie das des Regimes, das es unterstützt, haben Rückwirkungen auf die Struktur der Systeme, in welche Individuum und Regierung als Akteure involviert sind. Auf diese Weise können Spannungen, die auf bestimmten Systemebenen existieren auf über- oder untergeordnete Ebenen verschoben werden (Heintz 1982b: 16). Auf einem solchen Hintergrund können z.B. die sowohl am oberen wie am unteren Ende des INS beobachtbaren Tendenzen zur Abschliessung gegen aussen – z.B. in Form eines ausgeprägten Nationalismus oder einer radikalen Politik der "selfreliance" – als eine Verlagerung von Spannungen interpretiert werden, über die die extern existierenden Probleme nicht als solche wahrgenommen, sondern ausschließlich in einem internen Rahmen gedeutet werden. Während eine solche "Internalisierung" im Falle der hoch entwickelten Länder eine Reaktion auf deren mangelnde Legitimität im internationalen Schichtungssystem ist, ist sie im Falle der armen Länder eine Folge blockierter Entwicklungsmöglichkeiten (Heintz 1982a: 66ff.). Zu ähnlichen Relevanzverschiebungen und Spannungstranfers kann es auch in Bezug auf die verschiedenen Systemtypen kommen, indem z.B. das internationale Schichtungssystem zugunsten eines faktischen Bedeutungszuwachses des politischmilitärischen Systems an Relevanz verliert (oder umgekehrt). Beides, sowohl die Internalisierung von Spannungen wie auch die Relevanzverschiebung auf das IGS, verstärkt die mit einer zunehmenden Konfliktivität verbundene Entstrukturierung der Weltgesellschaft, zu der die Weltgesellschaft seit den 70er Jahren tendiert, nachdem sie ihre maximale Legitimität zwischen 1950 und 1970 erreicht und danach überschritten hatte, einer Phase in ihrer Geschichte, in der zunächst maximale Entwicklungserwartungen in den Entwicklungländern aufgebaut worden, daraufhin aber dramatisch enttäuscht worden waren. (....) Individuum und (Welt)Gesellschaft 69 4.6. Migration, Migrationsformen, Migrationsdeterminanten: Internationale Migration als Form der internationalen Transaktion von Gütern 4.6.1. Migration und Migrationsformen67 Migration ist kein kürzliches Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit, die zuerst permanent migriert ist (Jäger- und Sammler, Nomaden), ehe sie sesshaft geworden ist, ohne dass damit die Migration aufgehört hätte: Sowohl Gruppen wie vor allem einzelne Individuen sahen sich in allen Zeiten und in nicht geringer Zahl zu Wanderung gezwungen oder animiert. Hinweise auf und Beispiele für Wanderungsbewegungen sind: 1. Ursprung der menschlichen Spezies: Der Ursprung der menschlichen Spezies ist räumlich konzentriert (Afrika); sie lebt heute, als Folge von Migration, über den ganzen Erdball verteilt (Meyer, 1988), 2. Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachen (vgl auch den anschliessenden Punkt): Die indoeuropäischen Sprachen entwickelten sich aus einer indoeuropräischen Ursprache, die vermutlich ihren Ursprung vor ca. 6000 Jahren im heutigen Nahen Osten hatte. Sie sind heute die dominierenden Sprachen auf allen Kontinenten ausser Afrika. (Gamkrelidse & Iwanow, 1990). Die Ausbreitung der Sprachen ist ein Ergebnis von Wanderungen von Bevölkerungen. 3. Geschlecht und die Wanderung von Erbgut: Was die individuelle Migration betrifft, so stehen an der Spritze der zu Migration neigenden Bevölkerungsgruppen nicht Krieger, Händler, abenteuerlustige Junggesellen oder Manager, sondern Frauen, wie neue genetische Untersuchungen gezeigt haben. In diesen hat sich gezeigt, dass Merkmale, die nur von der Mutter über das Erbgut der zellulären Energiefabriken (Mitochondrien) vererbt werden, wesentlich uniformer verteilt über die fünf Kontinente als nur vom Vater stammende. Die an das männliche Y-Chromosom gebundenen Erbfaktoren sind erst in jüngster Zeit Gegenstand der populationsgenetischen Untersuchungen geworden. 4. Durch einen Vergleich des Erbguts verschiedener Völker kann man die Verwandtschaftsverhältnisse feststellen. Aus Berechnungen der Rate an Erbsprüngen oder Mutationen lässt sich auch die zeitliche Dimension berechnen. Die von einem kalifornischen Forschungsteam durchgeführten neuen Studien haben ergeben, dass die Migrationsrate der Frauen etwa achtmal höher ist als diejenige der Männer 5. Über den Grund der weiblichen Wanderfreudigkeit sinnierten die Genetiker auch nach. Sie kamen zum Schluss, dass des Rätsels Lösung in den Heiratsgebräuchen zu suchen sein könnte. Viel öfters nämlich als die Bräutigame verlassen in traditionellen Gesellschaften die Bräute ihre Familie und Heimat. Damit aber tragen sie auch ihr Erbgut in die Welt hinaus. [RWS, 1998 #2965] 6. Kolonialismus: Die Periode des europäischen Ancien Régime, d.h. die Zeit zwischen 1450 und 1800 steht im Zeichen einer interkontinentalen Expansion (Kolonialismus i.w.S.), die zwei grosse interkontinentale Migrationsströme auslöst, beide in die Neue Welt: 1. die Auswanderung von einer Million EuropäerInnen und 2. die erzwungene Auswanderung von 6 Millionen AfrikanerInnen Nach 1850 erfolgt gar eine explosionsartige Zunahme dieser interkontinentalen Migration, in deren Verlauf die Europäer auf der ganzen Welt ein enormes Übergewicht erhalten: Zwischen 1800 und 1960 emigrierten 61 Millionen Europäer, die meisten nach Nordamerika (41 Mio. oder 70%), die übrigen nach Südamerika (12%), nach Südafrika, Australien und Neu-Seeland (9%) und ins asiatische Russland (9%). 67 Dieses Unterkapitel stammt aus der Einleitung in [Obrecht, 1991 #3974] und ist hier ohne Nachführung von Daten übernommen worden (folgt) Individuum und (Welt)Gesellschaft 70 7. Demgegenüber war der Anteil der Nicht-Europäer an der interkontinentalen Völkerwanderung nach 1800 mit zwischen 6 und 7 Millionen Afrikanern und Asiaten viel kleiner (50% davon waren afrikanischen Sklaven, die in die Neue Welt transportiert wurden, die andere Hälfte afrikanische und asiatischen Kontraktarbeiter). (Emmer, 1989) 8. Einige Nationen in Europa waren aber nicht nur Gebiete von Emigration. So war in den Dreissigerjahren " z.B. der Prozentsatz Ausländern, die in Frankreich lebten, höher als er gegenwärtig ist. Die meiste Migration in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg war jedoch intern, gewöhnlich von der Peripherie ins Zentrum unseres Kontinents. Nach dem Krieg und bis in die späten 60er Jahre setzte sich dieses Muster fort” (Entzinger, 1989). Die Schweiz hatte kurz vor dem 1. Weltkrieg eine Spitze der Immigantenquote, die erst kürzlich überflügelt worden ist. 9. Städte als Folge der Land-Stadt-Wanderung: Die heutigen Städte sind in erster Linie das Ergebnis von Wanderungen vom Land in die Stadt. Anteil der Städter an Gesamtpopulation wächst in praktisch allen Ländern. Landregionen haben in der Regel erheblich Geburtenüberschüsse und leisten so einen beträchtlichen demografischen Beitrag zur Urbanisierung, zumeist ohne dass es zur Entvölkerung kommt. Einschränkend muss man sagen, dass die für Grosstädte gilt; mittlere Städte schrumpfen sogar gelegentlich (Heintz, 1968). 10. Europäische Binnenwanderung: Europa war nicht nur ein Emigrationskontext, sondern vor allem in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg: "In der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebten wir eine massive Migration von sogenannten displaced persons aus Ost- nach West-Europa. Später rekrutierten die Industrienationen von West- und Zentraleuropa Millionen von Arbeitern aus dem nördlichen Küstenstreifen des Mittelmeeres: Italien, Spanien, Yugoslawien, Portugal, Griechenland und in einigen Gebieten aus Ländern wie Finnland und Irland” (Entzinger, 1989). Die europäische Binnenwanderung hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen und wird mit der politischökonomischen Integration noch weiter zunehmen. Einen (weiterhin) grossen Beitrag dazu kann man von der Ost-West-Entspannung erwarten (Entzinger, 1989). Die intranationalen Land-Stadt- Wanderungsprozesse halten in den allermeisten Ländern immer noch an und tragen zum ständigen Wachstum der Städte bei. Kennzahlen von Städten und der Verstädterung auf der Welt liefern m.a.W. Indikatoren für das Ausmass von Migrationsströmen. Betrachten wir im folgenden Tabelle 68. Tabelle 1: Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt, nach ausgewählten Zeitpunkten 1950 ca. 600 Millionen Menschen oder 14 % der damaligen Weltbevölkerung 1986 ca. 2 Milliarden Menschen oder 43 % der damaligen Weltbevölkerung 2010 ca. 3,62 Milliarden oder über 70 % der dannzumal nach eher vorsichtigen Schätzungen 7 Mia. Menschen, die zu diesem Zeitpunkt leben werden Tabelle 2: Zahl der Städte mit mehr als 5 Mio Einwohnern auf der Welt 1900 1 (London) 1950 7 1980 34 68 Die Daten der drei folgenden Tabellen sind entnommen dem Artikel "Megapolis in der Dritten Welt. Die Verstädterung unseres Planeten als Herausforderung". NZZ, 6. Juni 1987: 65. Individuum und (Welt)Gesellschaft 71 Von diesen Städten liegen die meisten in Entwicklungsländern, mit Mexico City an der Spitze mit (1982) 16 Mio Einwohnern und einer enormen Wachstumsprognose: Um 2000 werden es über 26 Mio Einwohner sein. Weitere grosse Städte und ihre prognostizierte Grösse umd 2000 sind: Tabelle 3: UN-Prognosen der Grösse ausgewählter Städte (gemessen an der Zahl der EinwohnerInnen) für das Jahr 2000 Mexico City (Mexico, Lateinamerika) : São Paulo (Brasilien, Lateinamerika): Bombay (Indien, Asien) Delhi (Indien, Asien) Kairo (Aegypten, Afrika) Jakarta (Indonesien, Asien) Lagos (Nigeria, Afrika) Nairobi ((Kenya, Afrika) 26,3 Millionen 24.0 Millionen 16,0 Millionen 13,3 Millionen 13,2 Millionen 12,8 Millionen 8,3 Millionen 5,3 Millionen Mexico City wird m.a.W in 10 Jahren eine mehr als vier mal grössere Zahl von Stadtbewohnern haben als die Schweizerische Bevölkerung dannzumal umfassen wird. Dass die Städte in Entwicklungsländern liegen ist ein Hinweis darauf, dass Lebensstandard der Stadtbevölkerung tief ist. Als unkonventionellerer Indikator für den Lebensstandard von Bevölkerungen in Städten könnten die Daten dienen, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor einiger Zeit veröffentlicht hat (NZZ, 6. November 1987: 7). Danach leben fast eine Milliarde Menschen, hauptsächlich in den Entwicklungsländern, in unzureichenden Unterkünften. In Elendsvierteln leben z.B. Addis-Abeba (Aetiopien, Afrika): Mexico City (Mexico, Lateinamerika) Lusaka (Sambia, (Süd-)Afrika) Manila (Philippinen, (Südost-)Asien) 90% ca. 60%, ca. 50% über 30% "400 bis 500 Menschen in den EL sterben oder erkranken (jährlich (?) schwer an den direkten Auswirkungen der Gärung biologischer Substanzen (Holz, Holzkohle, Abfall, Tierexkremente) im Inneren ihrer Unterkünfte". Und wegen fehlender finanzieller Mittel sind "diese Menschen nicht in der Lage, sich gegen extreme Temperaturen, Überschwemmungen, Insekten und Nagetieren zu schützen, die ebenfalls schwere Krankheiten hervorrufen" (WHO, NZZ, 6. November 1987: 7). Fassen wir zusammen: 1. Migration ist allgegenwärtiger Prozess und er tritt in zwei Formen auf, als Binnenwanderung oder Binnenmigration [Heintz, 1968 #3216] und als intergesellschaftliche, im besonderen als Internationale Wanderung (Migration). Internationaler Migration geht vielfach intranationale Migration voraus. Individuum und (Welt)Gesellschaft 2. 72 Zwei Dinge müssen im Zusammenhang mit Migration erklärt werden, nämlich i) die Rate und ii) die "Richtung" von Wanderungsprozessen, wobei eine Messung von Raten voraussetzt, dass ein Mass für den Raum zur Verfügung steht, innerhalb dessen sich die Ströme bewegen. 3. Da Migration zwar eine Bewegung im physischen Raum ist, der physische Raum in der Gegenwart aber sozial vollkommen strukturiert (territoriale Nationalstaaten) und durch sie darüberhinaus idR soziale (vertikale) Veränderungen angestrebt werden, kann sie sinnvollerweise auch nur auf einem Koordinatennetz abgebildet werden, welches die Dimensionen des sozialen Raumes umfasst. 4.6.2. Migrationsdeterminanten Auch die Gründe für Wanderungen sind seit alters her die selben: Zu knappe oder sich verknappende Lebensgrundlagen, gemessen an den biologischen oder sozialen Bedürfnissen auf der einen und gewaltsame Vertreibung oder Verschleppung auf der anderen Seite. Zu unterscheiden sind Beschreibungen von kulturellen und oder strukturellen Zuständen oder Prozessen, die Individuen zu Migration veranlassen einerseits und die Mechanismen, aufgrund derer diese Gegebenheiten als Migrationsdeterminanten wirken. Als Mechanismen freiwilliger (nicht durch physische Gewalt erzwungener) Migration bietet sich die chronische Versagung von Bedürfnisbefriedigung an. Einige Migrationsdeterminanten auf der Ebene von Individuen sind: 1. gewaltsame Vertreibung oder Verschleppung (Sklaven-wirt-schaft, Frauenhandel), sei es durch private (z.B. grosse Wirtschaftsunternehmen bzw. durch von ihnen Beauftragte) oder durch staatliche Akteure (z.B. Armee) (Verletzung der physischen und psychischen Integrität); 2. bedrohliche soziale Konflikte in der näheren oder weiteren sozialen Umgebung wie Bandenkriege, gewaltsame Unruhen oder Bürgerkriege (drohende Verletzung der physischen und psychischen Integrität); 3. zu knappe oder sich verknappende Lebensgrundlagen gemessen an den physischen Bedürfnissen, z.B. aufgrund von wirtschaftlichen Krisen, sei es als Folge struktureller Probleme oder eines übermässigen Bevölkerungswachstums, oder aufgrund von oekologischen Krisen, die "selbergemacht" "importiert oder aber "natürlich" sein können (Erdbeben, Vulkannausbrüche), (Hunger, Armut (Rang, Abwechslung; Ziele); 4. Knappheit geeigneter LebenspartnerInnen (Sexualität, Liebe, Fortpflanzung); 5. soziale Umgebungen, die vitale (moderne) Lebensziele nicht zu erreichen erlauben, gemessen an persönlich verbindlichen Zielen (biopsychosoziale Bedürfnisse nach Autonomie, Abwechslung, Zielen, sozialer Anerkennung (Rang: Mittelschicht), Austauschgerechtigkeit), insbesondere 6. der Wunsch nach einem weniger beschwerlichen, interessanteren oder sozial erfolgreicheren Leben (z.B. Emigration aus der Schweiz), (physische Integrität (Gesundheit; Abwechslung, Soziale Anerkennung) oder einfach 7. die Optimierung der beruflichen Laufbahn und der sozialen Position (z. B. internationale Wanderung innerhalb der hochentwickelten Gesellschaften) (Abwechslung, Autonomie) soziale Anerkennung) Für jedes dieser Motive können strukturelle Gegebenheiten genannt werden, die als Determinante für den Mechanismus stehen. (.....) Individuum und (Welt)Gesellschaft 73 69 Dies gilt natürlich auch für die intranationale Migration, die in der Regel ebenfalls eine zwischen (unterschiedlich entwickelten) Kontexten ist. 70 Da große soziale Systeme unvermeidlich komplex sind und soziale Komplexität ebenso unvermeidlich mit vertikaler Differenzierung einhergeht, folgt aus diesem Begriff der sozialen Integration, dass nur kleine und einfache soziale Systeme einen hohen Grad an sozialer Integration aufweisen können (aber nicht müssen), deren soziale Probleme sich in diesem Fall auf Probleme im Interaktionsbereich beschränken, während die Positionsstruktur in hohem Maße legitim ist. Große soziale Systeme mit einer ausgeprägten ungleichen Verteilung zentraler Güter zerfallen entweder entlang der Vertikalen in mehrere stark segregierte Subkulturen (Klassen oder im Extremfall Kasten), deren Verhältnis latent (Kasten) oder manifest (Klassen) konfliktiv ist, oder sie sind in der Vertikalen relativ „offen“ und damit entkristallisiert, und weisen dann, wie die modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, eine große Zahl von unterschiedlichen sozialen „Problemlagen“ und eine große Zahl von Akteuren mit schwerwiegenden sozialen Problemen auf. 71 Dies ist einer der Gründe für Nichteinbürgerung von Unterschichtsangehörigen in modernen Demokratien, vor allem wenn die potentielle Einbürgerungen zahlreich sind. Die Verweigerung der Einbürgerung reduziert die anomische Spannung vom Typ „Strukturkritik“, die sich im politischen System manifestiert, beträchtlich 72 Zu beachten ist, dass Kognitionen nur erzeugt und in Gang gehalten werden durch Affekte: Es gibt keine affektiv vollkommen ungetönten Kognitionen [Damasio, 1994 #3159]; und das was danach aussieht - affektfreies „rationales“ Verhalten - ist ein Verhalten, indem der Akteur auf der Grundlage eines Affektes (Kontrolle) alle anderen Affekte unter Kontrolle hält. 73 Die klassischen Konflikte dieser Art sind die zwischen sexuellen Bedürfnissen und der verinnerlichten Sexualmoral - das Thema, auf das Sigmund Freud als erster nachdrücklich aufmerksam gemacht hat. 74 Z.B. zwischen a) zwei alternativen Existenzsätzen oder Prognosen (Erwartungen) etc. (Bildkonflikt), b) verschiedenen Zielen (Zielkonflikt), c) zwei Plänen (Entscheidungskonflikt bezüglich Handlungen. 75 Eine Norm bzw. ein moralisches Item ist der Inbegriff einer affektiv besetzten Kognition in Bezug auf inneres und äusseres Verhalten: eine verbindliche Erwartung, deren Beachtung ein Individuum für unverzichtbar hält (Moral); eine soziale Norm ist ein Norm im Hinblick auf die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Ein Normkonflikt ist ein Konflikt zwischen zwei unverträglichen Vorschriften. 76 Z.B. innerhalb oder zwischen zwei (oder mehr) alternativen kognitiven Systemen wie a) zwischen zwei alternativen komplexen Bildern, bestehend aus verschiedenen Items oder b) alternativen Theorien oder Technologien. (Zahlreiche Dimensionen, in Bezug auf die sich nomologische und technologische Codes unterscheiden und die Anlass für subjektive Konflikte sein können, finden sich in den Listen der Wissenschaftstheorie zur Bewertung von Theorien [Vollmer, 1993 #439] und Technologien [Bunge, 1983 #3372].) 77 Dies widerlegt eine (groteske) Kritik an der biopsychosoziale Theorie menschlicher Bedürfnisse, wonach diese ein Korrelat einer sozialromantisch-harmonizistischen Gesellschaftsauffassungen sei. 78 Die Typografie der der beiden folgenden Abschnitte ist gegenüber dem Original modifiziert. Dieser Typ des Interessenkonflikts wird im zweiten Teil des hier zitierten Kapitels von Wiswedes Arbeit noch genauer diskutiert. 79 Dieser Typ des Interessenkonflikts wird im zweiten Teil des hier zitierten Kapitels von Wiswedes Arbeit noch genauer diskutiert. Individuum und (Welt)Gesellschaft 74