Der Anspruch der Ethik und seine Bedeutung für die Medizin Georg Marckmann Universität Tübingen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Tagung „Medizin, Recht, Ethik – zwischen Konflikt und Kooperation“ Evangelische Akademie Tutzing Tutzing, 17. März 2010 Ausgangspunkte Leitfrage der Tagung: „Wie kann das Zusammenspiel zwischen Medizin, Recht und Ethik verbessert werden?“ Impliziert: Medizin, Recht und Ethik lassen sich trennen! These: Medizin & Ethik lassen sich (konzeptionell) nicht trennen Medizin ist ohne Ethik (konzeptionell) nicht denkbar Medizin & Recht lassen sich (konzeptionell) trennen Medizin ist ohne Recht (konzeptionell) denkbar Medizin benötigt das Recht aber aus pragmatischen Gründen Medizin, Recht & Ethik unterschiedliche Fachdisziplinen, von unterschiedlichen Fachleuten vertreten Kooperation und Konflikte möglich Herausforderungen liegen vor allem auf der pragmatischen, nicht auf der konzeptionellen Ebene! 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 2 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 3 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 4 Moral vs. Ethik Moral Sittliche Phänomene in einer bestimmten Gemeinschaft: moralische Überzeugungen, Regeln, Normen, Wertmaßstäbe, Gebote Die Moral gibt an, was moralisch richtig und falsch ist Bspl.: „Der Wille eines Patienten ist zu respektieren.“ Ethik 17.03.2010 Die (philosophische) Reflexion über moralische Phänomene Die Ethik versucht zu begründen, warum etwas moralisch richtig und falsch ist. Bspl.: „Warum ist der Wille eines Patienten zu respektieren?“ Bspl.: „Wie kann man den Willen bei einem nicht äußerungsfähigen Patienten respektieren? Georg Marckmann, Uni Tübingen 5 Formen der (philosophischen) Ethik Metaethik Deskriptive Ethik Klärt die Verwendung moralischer Begriffe und Grundfragen Bspl.: Gibt es eine rational begründbare, allgemein verbindliche Medizinethik? Untersucht faktische moralische Orientierungen Bspl.: Einstellungen von ÄrztInnen zur aktiven Sterbehilfe Normative Ethik 17.03.2010 Prüfung & Begründung moralischer Urteile Leifrage: „Was soll ich (sollen wir) tun?“ Bspl.: „Ist die aktive Sterbehilfe ethisch vertretbar?“ Bspl.: „Soll man dem Wunsch des Patienten folgen und das Beatmungsgerät abstellen?“ Georg Marckmann, Uni Tübingen 6 Ethik als „Disziplin“ Ethik = Reflexion über moralische Fragen Zielsetzung: Begründete Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ Ist nicht an eine bestimmte „Fachdisziplin“ gebunden Kein Privileg der professionellen „Ethiker“ Jeder vernünftige Mensch ist (potenziell) zu ethischer Reflexion fähig Man kann unmoralisch, aber nicht „unethisch“ handeln! Akademische Ethik = Moralphilosophie: professionelle Reflexion über moralische Fragen 17.03.2010 Ursprünge: Antike Philosophie Entwicklung ethischer Theorien allgemeine Kriterien, was moralisch richtig & falsch, gut & schlecht, gerecht & ungerecht ist Orientierung in schwierigen moralischen Konfliktsituationen! Georg Marckmann, Uni Tübingen 7 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 8 Medizin & Moral Medizin: sehr heterogene Disziplin (Bereiche, Institutionen, Wissen, Argumentation, …) Definition über interne Zielsetzung: Hilfe für kranke (oder von Krankheit bedrohte) Menschen Ausgangspunkt: archetypische Situation von Not (Bedrohung durch Krankheit) und Hilfe Interne Moralität der Medizin als „Hilfsdisziplin“ Integrale moralische Verpflichtungen Das eigene Handeln den Interessen des Kranken unterordnen Wohlergehen der Betroffenen nach bestem Wissen und Gewissen fördern Schweigepflicht & Schutz der Privatsphäre Selbstbestimmung der Kranken respektieren Medizin ist (konzeptionell) ohne Moral nicht denkbar! 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 9 Medizin & Ethik Medizinethik: Reflexion über moralische Fragen in der Medizin Traditionelle Medizinethik: professionsinterne Regelung für das Verhalten von Ärzten („ärztliches Ethos“) Hippokratischer Eid Urspr.: 4. Jhdt. v. Chr. in pythagoräischer Ärztegruppe Z.B.: Patient nutzen und nicht schaden, Schweigepflicht Historisches Dokument, kein aktuell verbindlicher Moralkodex! Neue Entwicklungen seit 1950: Seit den Ursprüngen der (schriftlich überlieferten Medizin) Medizinisch-technischer Fortschritt (v.a. Intensivmedizin) Pluralisierung von Wertüberzeugungen Akzentuierung der Patientenautonomie (v.a. durch Rechtssystem!!) Akademisierung der Medizinethik eigene Disziplin! 17.03.2010 USA seit 1970, D etwa seit 1995) Georg Marckmann, Uni Tübingen 10 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 11 Leitfrage: Was soll ich tun? technisch evaluativ moralisch Kann eine PEG bei Demenz eine Aspirationspneumonie verhindern? Dient die PEG dem Wohlergehen eines Demenzpatienten? Ist die vorausverfügte Verweigerung einer PEG bei Demenz zu respektieren? Naturwissenschaften/Medizin Abhängig von wissenschaftlicher Evidenz Ärztlich-pflegerische Expertise 17.03.2010 Strebensethik Evaluative Ethik Abhängig von Vorstellungen des guten Lebens (Pluralität) Individuelle Patienten-Präferenzen Georg Marckmann, Uni Tübingen Sollensethik Normative Ethik Allgemeine Verbindlichkeit Oft rechtliche Regulierung 12 Prinzipienorientierte Medizinethik Normative Ethik Begründung ethische Theorie Problem der angewandten Ethik: Pluralismus ethischer Theorien Abstraktionsgrad ethischer Theorien Berücksichtigung verschiedener moralischer Aspekte erforderlich (vgl. moralisches Ereignis) Alternativmodell: prinzipienorientierte Medizinethik „Konzeptionelles Kooperationsmodell“ Ausgangspunkt: weithin geteilte moralische Überzeugungen Rekonstruktion sog. „mittleren Prinzipien“ als moralische Grundorientierung Prüfung auf Kohärenz: bei der Anwendung und im Hinblick auf Hintergrundtheorien ggf. Revision „Kohärentistische“ oder „rekonstruktive“ Ethikbegründung 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 13 Prinzipienorientierte Medizinethik Moralische Alltagsüberzeugungen Rekonstruktion Mittlere Prinzipien Interpretation Gewichtung Autonomie Wohltun/Nutzen Nichtschaden Gerechtigkeit Einzelfall 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 14 Prinzipienorientierte Falldiskussion 1. Analyse: Medizinische Aufarbeitung des Falles Information über Patient (Diagnose etc.) Behandlungsmöglichkeiten, Chancen und Risiken 2. Bewertung 1: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten Interpretation 3. Wohl des Patienten/Nichtschaden (Fürsorge) Autonomie des Patienten Bewertung 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten (Gerechtigkeit) Familienmitglieder, andere Patienten, Gesellschaft Gewich4. Synthese: Konflikt? Begründete Abwägung tung 5. Kritische Reflexion des Falls 17.03.2010 Stärkster Einwand? Vermeidung möglich? Georg Marckmann, Uni Tübingen 15 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 16 Pragmatische Kooperation Ziel: Verankerung bzw. Unterstützung der ethischen Reflexion im Medizinsystem Ethische Beratung: verschiedene Ebenen & Bereiche Forschung Ethikkommissionen Klinik Klinische Ethikkomitees (KEKs) Gesundheitswesen Ethische Beratungsorgane Ethikberatung im Einzelfall: Ethische Fallbesprechung im Team nach dem Modell der prinzipienorientierten Falldiskussion Nationaler/deutscher Ethikrat Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer Zielsetzung der Beratung: Verbindung von fachlicher & ethischer Expertise unter Einbeziehung der Betroffenen 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 17 Gliederung Klärung 1: Verhältnis zwischen Moral und Ethik Klärung 2: Verhältnis zwischen Moral/Ethik und Medizin Perspektiven 1: konzeptionelle „Kooperation“ zwischen Medizin & Ethik prinzipienorientierte Medizinethik Perspektiven 2: pragmatische Kooperation zwischen Medizin & Ethik ethische Beratung Ausblick: Verhältnis von Ethik und Recht in der Medizin 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 18 Medizin, Ethik & Recht Recht: ebenfalls normative Disziplin Reflexion & Anwendung rechtlicher Normen – in der Medizin In den meisten Fällen: (konzeptionelle) Konvergenz von Ethik und Recht Legitimationsvoraussetzungen ärztlichen Handelns: (1) Nutzen für den Patient („Indikation“), (2) Willen für den Patienten, (3) Durchführung lege artis Orientierungspunkte bei der stellvertretenden Entscheidung: (1) Patientenverfügung, (2) mündlich geäußerte Behandlungswünsche, mutmaßlicher Wille, (3) „objektives“ Wohl Herausforderung: rechtliche Regulierung bei moralischer Pluralität 17.03.2010 Bspl.: Schwangerschaftsabbruch, Forschung an embryonalen Stammzellen, Tötung auf Verlangen Konflikte zwischen Ethik und Recht möglich! Georg Marckmann, Uni Tübingen 19 Fazit Medizin und Ethik sind durch die interne Moralität der Medizin konzeptionell nicht zu trennen Handeln in der Medizin muss sich immer an moralischen Normen orientieren Medizin ist konstitutiv auf die ethische Reflexion angewiesen Konzeptionelle „Kooperation“: prinzipienorientierte Medizinethik strukturierte Verbindung von medizinischer Fachexpertise und ethischer Reflexion Pragmatische Kooperation: multidisziplinäre Beratungsgremien und Beratungsstrukturen 17.03.2010 Georg Marckmann, Uni Tübingen 20 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Folien, Kommentare: [email protected]