Dossier Islamismus - Fachsymposium

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Dossier
Islamismus
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
2
Einleitung
Seit 9/11 hat ein Wort Hochkonjunktur: Islamismus. Welche Gruppen kämpfen weltweit ihren "heiligen
Krieg"? Wie unterscheiden sich diese Gruppen ideologisch und bei der Wahl ihrer Mittel? Und wie
sollten wir umgehen mit der Bedrohung?
Strategien gegen Radikalisierung
Der Aufstieg des Salafismus ist nach Meinung von Guido Steinberg eine welthistorische Entwicklung. Welche
Möglichkeiten haben Staat und Gesellschaft, darauf einzuwirken – und Radikalisierungsprozesse zu verhindern? Was
muss gute Präventionsarbeit leisten? Und wer muss sich aktivieren für den Kampf gegen die Radikalen? Lizenz: cc
by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/238891/strategiengegen-radikalisierung)
Radikalisierung von Muslimen
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
3
Kaum ein Wort hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine derartige Konjunktur erfahren wie Islamismus.
Aber was genau versteht man unter Islamismus? Welche Gruppen und Strömungen gibt es? Und auf welche
ideologischen (Vor-)Denker berufen sie sich? Sind alle Islamisten Gewalttäter? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (©
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/233982/was-heisst-islamismus)
Was heißt Islamismus?
Viele der Tatbeteiligten in Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort
radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Muslime. Für die Gesellschaft ist das eine enorme
Herausforderung. Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche
Rolle spielt dabei der Islam? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.
bpb.de/mediathek/236880/radikalisierung-von-muslimen)
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Inhaltsverzeichnis
1.
Was heißt Islamismus?
6
1.1
Islamologie: sozialwissenschaftliche Erforschung islamischer Realitäten
7
1.2
Erklärfilm: Was heißt Islamismus?
12
1.3
Dschihad zwischen Frieden und Gewalt
16
1.4
Islamismus - Was ist das überhaupt?
23
1.5
Islamismus und Fundamentalismus
29
1.6
Islamismus im 19. und 20. Jahrhundert
33
1.7
Endzeitvisionen als Quelle islamistischer Gewalt?
37
1.8
Islam und Recht
42
1.9
Antisemitismus im Islamismus
46
1.10
Antisemitismus und Antizionismus in der Charta der Hamas
51
1.11
Dschihadismus
55
2.
Aktuelle Situation, Gruppen und Strömungen
59
2.1
Die Spaltung des Jihad-Salafismus in Syrien
60
2.2
Die Dschihad-Subkultur im Westen
71
2.3
Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer
76
2.4
Der "Islamische Staat": Interne Struktur und Strategie
84
2.5
Der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS)
99
2.6
Dschihadistische Nachwuchswerbung 2.0
104
2.7
Die Salafiyya – eine kritische Betrachtung
108
2.8
Die Salafiyya-Bewegung in Deutschland
115
2.9
Islamistische Bewegungen im Arabischen Frühling
120
2.10
Die Rolle Irans als Unterstützer islamistischer Gruppen
122
2.11
Dschihadismus im Internet
125
2.12
Islamistische Gruppen in Deutschland
129
2.13
Al-Qaida
135
2.14
Taliban
140
2.15
Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad
145
2.16
Hisbollah
150
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
5
2.17
Selbstmordattentäter
153
2.18
Islam an der Macht
159
2.19
Islamismus in Südostasien
163
2.20
Virtueller Jihad
168
2.21
"Ein Korsett für Schwache"
172
2.22
"Terrorismus setzt auf psychologische Effekte"
174
3.
Dem Islamismus begegnen
176
3.1
Salafistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann
177
3.2
Islamismus in Schule und Unterricht
187
3.3
Folgen des 11. September 2001 für die deutschen Sicherheitsgesetze
191
3.4
Die muslimische Jugendszene
197
3.5
Die dunkle Bedrohung
206
3.6
Islam, Islamismus und Jihadismus in den Medien
211
3.7
"Terroristen werden zu Helden stilisiert"
215
3.8
"Ich bin ein Taliban..."
217
4.
Erklärfilme
221
5.
Redaktion
223
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Was heißt Islamismus?
5.7.2007
Der Islamismus ist keine Ideologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Seine Wurzeln liegen in der
Konfrontation der Muslime mit den europäischen Kolonialmächten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts
entstand in Ägypten eine als Salafiya bezeichnete islamische Reformbewegung. Mit der Gründung
der Muslimbruderschaft in den 1920er Jahren entwickelte sich dann die erste islamistische
Massenbewegung. Heute zeigt sich der Islamismus nicht nur in seiner gewalttätigen Ausprägung. Auch
legalistische Gruppen trachten danach, einen islamischen Staat zu errichten.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Islamologie: sozialwissenschaftliche Erforschung
islamischer Realitäten
Von Prof. Dr. Bassam Tibi
23.1.2017
ist Professor Emeritus for International Relations. Er ist Begründer der Islamologie. Er lehrte neben Göttingen, Harvard, Berkeley,
Yale, Cornell und Jakarta an insgesamt 18 Universitäten auf allen vier Kontinenten und legte ein umfassendes Werk von 30
deutschsprachigen und 11 englischsprachigen Büchern vor. Für sein Eintreten für ein besseres Verständnis des Islam in Deutschland
und für die Vermittlung zwischen den Zivilisationen wurde ihm 1995 von Bundespräsident Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz
1. Klasse verliehen.
Die Islamwissenschaft kann die politische Erscheinung des Islamismus in der islamischen
Zivilisation nicht erklären, gerade weil sie eine Philologie ist, sagt Bassam Tibi. Er plädiert für
seine "Islamologie", die die gesellschaftlichen Realitäten erforscht.
Der Islamismus gehört zu den Basiserscheinungen der islamischen
Zeitgeschichte. Der Begriff Islamismus, auf Arabisch al-islamiyya, ist ein neoarabischer Begriff, der in beiden autoritativen Quellen des Islam – d.h. im Koran
und in den Hadithen (schriftliche Überlieferungen des Propheten) – nicht
vorkommt. Gleichwohl ist dieser Begriff nicht von Westlern geprägt und
zwanghaft als Orientalismus auf den Islam übertragen worden. Denn es war
Hassan al-Bana, Begründer der Muslimbruderschaft und damit der ersten
islamistischen Bewegung von 1928, der den Begriff geprägt hat. Darunter
versteht er auf S. 23 seiner gesammelten Schriften[1], dass der Islam ein
"nizam islami" (islamische Staatsordnung) sei, das alle Bereiche des Lebens
durchdringt, also sie als Totalität, d.h. totalitär umfasst.
Prof. Dr. Bassam Tibi,
hier als Gast bei "Anne
will" im Januar 2015. (©
picture-alliance, Event­
press)
Hiermit will ich die zentrale These dieses Artikels einleiten, nämlich dass die
skriptualistische, also schriftbezogene philologische Erforschung des Islam
nicht helfen kann, zu verstehen, was Islamismus ist. Mit dem Credo "sola
scriptura" der Islamwissenschaft als Philologie kommt man kein Stück weiter.
Es handelt sich um politische, ökonomische, soziale und kulturelle Erscheinungen (wovon 2 Milliarden
Menschen in 57 Staaten betroffen sind), die zwar in islamischen Begriffen vorgetragen werden, aber
eben nicht um der Skriptur selbst willen.
Als ein Muslim aus Damaskus, der in Frankfurt neben Sozialwissenschaft, Geschichte und Philosophie
im Nebenfach auch Islamwissenschaft studiert hat, kenne ich diese akademische Disziplin sehr gut
von innen. In meiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den Islamwissenschaften bin ich zu
dem Schluss gekommen, dass es einen Paradigmenwechsel braucht, um eine akademische Disziplin
zu bekommen, die den Islamismus erklären kann. Was meint nun Paradigmenwechsel in Bezug auf
den Islamismus?
In seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen hat Thomas Kuhn die Auffassung
vertreten, dass für eine Wissenschaft, die nicht mehr in der Lage ist, Sachverhalte erklären zu können,
ein Paradigmenwechsel notwendig wird. Sowohl bei der Anfertigung meiner Dissertation in den 1960er
Jahren als auch meiner Habilitationsschrift in den 1970er Jahren war ich im höchsten Maßen
unzufrieden mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium der Islamwissenschaft. Deswegen habe ich
zu Beginn der 1980er Jahre an einem Paradigmenwechsel gearbeitet. Zwischen 1981 und 2012 habe
ich drei Buchtrilogien geschrieben und veröffentlicht, in denen ich die Grundlagen der Islamologie
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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festlege, um einen Paradigmenwechsel anzuregen. Der Widerstand dagegen war und ist bis heute
noch sehr groß.
Der zentrale Gegenstand dieses Artikels ist die These, dass die Islamwissenschaft die politische
Erscheinung des Islamismus in der islamischen Zivilisation nicht erklären kann, gerade weil sie eine
Philologie ist. Dagegen kann die entgegengesetzte, auf dem Verständnis von Islam als "fait social"
("sozialer Tatbestand" nach E. Durkheim) basierende Islamologie die Entstehung und Wirkung lokaler
islamistischer Bewegungen im Rahmen des überregionalen Phänomens des Islamismus angemessen
deuten, weil sie mit sozialwissenschaftlichen und nicht mit philologischen Methoden arbeitet. Kurzum:
der Gegenstand der Islamwissenschaft ist die Skriptur; der Gegenstand der Islamologie ist die
gesellschaftliche Realität.
Zunächst möchte ich meine analytischen Ausführungen mit einer Anekdote veranschaulichen und sie
mit einer tagespolitischen Beobachtung assoziieren: eine respektable Monatszeitschrift hat mich 2016
im Internet bei der Vorstellung meiner Person und Arbeit als einen "Islamwissenschaftler" vorgestellt.
Auf meinen Protest und meine Bitte hin, die falsche Angabe zu korrigieren und mich als Islamologen
vorzustellen, reagierte der betreffende Redakteur verständnislos mit folgender Frage: "Warum diese
Besessenheit mit Fremdwörtern, denn schließlich ist der deutsche Begriff Islamwissenschaft besser
als das behäbige Fremdwort Islamologie". Ich war deshalb irritiert, weil ich seit 36 Jahren nicht nur
wissenschaftlich, sondern auch publizistisch meinem Leserpublikum den Unterschied zwischen
Islamwissenschaft und Islamologie erklärt habe.
Nicht anders verhält es sich mit dem bereits verwendeten Begriff Paradigma. Dieses von Thomas
Kuhn eingeführte Konzept meint einen Corpus von Theorien, Methoden, Gedanken und Hypothesen,
die die Denkweise einer Disziplin dominieren, um mit deren Hilfe einen Gegenstand zu erklären. Sobald
aber ein Paradigma die wissenschaftliche Leistung einer plausiblen Erklärung nicht mehr erbringen
kann, dann entsteht eine Anomalie. Die Kumulation von Anomalien führt zu einer wissenschaftlichen
Krise, die schließlich in einem Paradigmenwechsel mündet. In der deutschen Öffentlichkeit wird diese
Begrifflichkeit dermaßen verhunzt, dass Zeitungen von einem Paradigmenwechsel schon dann
sprechen, wenn ein deutscher Politiker seine Meinung ändert. Mit den Begriffen und Methoden der
Islamologie sowie mit dem Verständnis von Paradigma will ich nun an meinen Gegenstand herangehen.
Der Islam ist eine Religion, die die Geburt einer Weltzivilisation anregte und – wie ich in meinem
Geschichtsbuch Kreuzzug und Djihad belege – viel mit dem christlichen Abendland zu tun hatte, als
Karl der Große die europäische Zivilisation begründet hatte. Zwar gehört der Islam als Religion,
Geschichte und Zivilisation – bis auf das andalusische Kapitel in der europäischen Geschichte – nicht
zu Europa. Dennoch hat der Islam mit Europa auf zwei Ebenen viel zu tun. Die erste Ebene ist die der
Interaktion beider Zivilisationen und die gegenseitige Wahrnehmung, sowohl negativ als Bedrohung,
als auch positiv als Faszination. Diese Ebene reicht zurück bis ins 8. Jahrhundert. Dann die zweite,
zeitgeschichtliche Ebene der Migration aus der Welt des Islam nach Europa, auch nach Deutschland.
Mit dieser Migration kommt der Islamismus, der seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 in der Welt des
Islam floriert, nach Europa. Seit 2011 schlagen die Völker nicht nur "weit in der Türkei", sondern vor
allem in Syrien, Irak und Afghanistan aufeinander ein; mittlerweile reichen diese Konflikte auch bis
nach Deutschland.
Was kann die Wissenschaft tun? Sie hat die Aufgabe, den Menschen nicht nur zu helfen, ihre Umwelt,
Geschichte, Staat und Gesellschaft zu verstehen, sondern auch positiv zu verändern. Bei der Geburt
der deutschen Islamwissenschaft als akademische Disziplin an der deutschen Universität hat sie in
erster Linie den deutschen Interessen gedient. Und was ist daraus geworden? Hierfür möchte ich den
promovierten deutschen Islamwissenschaftler Michael Lüders zitieren, der in einem ZEIT-Artikel vom
06.01.1995 schreibt: "Der Orientalist klassischer Prägung versteht sich in erster Linie als Philologe,
er übersetzt den Orient in Grammatik und Lexikographie … die meisten … sind deutlich konservativ,
d.h. philologisch ausgerichtet … Orientalisten sind Eigenbrötler und logieren gerne im Elfenbeinturm."
Diese Aussage lässt sich illustrieren an einer der Koryphäen der deutschen Islamwissenschaft: Prof.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Tilmann Nagel. Dieser ruft zur Bewahrung der Philologie in der Islamwissenschaft und gegen die
Sozialwissenschaft auf. "Die Philologie ist eine Wissenschaft, die jede Beziehung zwischen uns und
den Fremden ausschließt." Und weiter: Philologie "toleriert gewissermaßen die Distanz zwischen uns
und den Fremden". Seine Schlussfolgerung lautet: "Philologie statt Soziologie … auch der Fremde
wird wieder von Europa fortgerückt, in dem seine Andersheit betont wird." Diese Zitate entstammen
einer Rede von Tilmann Nagel auf einer Feier der deutschen Islamwissenschaft an der Universität
Göttingen, die in der FAZ vom 10.06.1998 veröffentlicht worden ist.
Vor Nagel hat der Begründer der deutschen Islamwissenschaft C.H. Becker (1876-1933) zusätzlich
zum philologisch-kulturwissenschaftlich dominierten Paradigma Anleihen beim Rassismus
genommen: Er hat den homo islamicus sowie die Unterschiede zwischen diesem und dem Europäer
rassenpsychologisch erklärt. Als Karikatur eines Islamwissenschaftlers erinnere ich mich an eine ARDSendung, in der ich als Studiogast mitgewirkt habe, wo es um den von Saddam Hussein erklärten
Djihad im Golfkrieg 1991 ging. Der Islamwissenschaftler verwechselte Vorlesung mit Talkshow, zückte
seine Zettel und las Zitate aus dem Koran vor, um das Verhalten von Saddam Hussein zu erklären;
also: sola scriptura. Das ist die islamwissenschaftliche skriptualistische Methode. Gegen diese führe
ich mein historisch-sozialwissenschaftliches Paradigma an, um plausible Erklärungen für die
Entstehung des Islamismus bieten zu können.
Die wissenschaftliche Orientierung, die ich hier verfolge, wendet die Methoden der historischen
Soziologie an, die in den USA entstanden ist und auf Max Weber als Ziehvater fußt. Die Hauptvertreter
dieser Schule sind Barrington Moore und seine Schülerin Theda Skocpol, die Harvard-Professorin
wurde, sowie Charles Tilly. Es geht nicht allein darum, den Skriptualismus der Islamwissenschaft,
sondern auch die Religionssoziologie zu überwinden, die soziale Erscheinungen ohne
Geschichtskenntnisse erklären will. Ein angemessenes Verständnis des Phänomens Islamismus aber
erfordert Geschichtskenntnisse und ein begriffliches sozialwissenschaftliches Instrumentarium.
Nicht nur geschichtliche Entwicklung, sondern auch kultureller Wandel sind Bestandteil meines
Denkens. Ich bin gegen jede essenzialisierende Ahistorizität! Der zweite Band meiner ersten bei
Suhrkamp 1985 erschienenen Islamtrilogie trägt den Titel "Der Islam und das Problem der kulturellen
Bewältigung sozialen Wandels". Der Begriff des Wandels ist von zentraler Bedeutung, denn durch ihn
wird klar, dass der Islam und die Muslime keine ahistorischen Konstanten sind.[2] Zwanzig Jahre später
habe ich als Mitglied des Forschungsteams "The Culture Matter Research Project" (CMRP) an der
Fletcher School for Diplomacy in den USA kulturelle Wandlungen innerhalb des Islam erforscht und
das zweibändige Werk Developing Cultures (2006 in London und New York erschienen) mitverfasst.[3]
Eines unserer Ergebnisse war auch hier, dass der Wandel in der islamischen Zivilisation in den
vergangenen ca. 50 Jahren, besonders seit 1970, krisenhaft war und zur Entstehung des Islamismus
führte. Dieser wiederum religionisiert die Politik und politisiert die Religion in einer Krise der islamischen
Zivilisation. Was können Islamwissenschaft bzw. Islamologie leisten, um diese Krise bzw. ihr Produkt
des Islamismus zu verstehen? Ich möchte die deutsche Islamwissenschaft, die sich ebenso wie der
Islam wandelt, in drei Stufen des Wandels darlegen. Beim Wandel von einer Stufe zur nächsten, so
behaupte ich, hat aber leider nur ein Ideologie-, jedoch kein Paradigmenwechsel stattgefunden. Für
die drei angesprochenen Stufen steht beispielhaft jeweils ein spezifisches Buch.
Für die erste Stufe steht ein Buch des oben bereits erwähnten Carl Heinrich Becker, des Begründers
der deutschen Islamwissenschaft. Er war Rassist, weil er in seinem Buch "Islamstudien" den Muslim
als "homo islamicus" rassenpsychologisch definiert, Muslime also rassenpsychologisch von anderen
Menschen trennt. Auf dieser Grundlage meinte C.H. Becker, dass Muslime es nicht so weit bringen
könnten wie Europäer. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin und heute gibt es in Deutschland
genau das Gegenextrem: Professor Thomas Bauer mit seinem Buch "Die Kultur der Ambiguität". Darin
geht er vom Extrem der Verteufelung der Muslime als "Gewaltmenschen" zum anderen Extrem der
Verherrlichung der Muslime als Super-Kerle der Ambiguität über. Er zeichnet Muslime als edle Wilde,
die dem Europäer zudem als bisexuelle Lover überlegen seien. Beide Extreme sind deutsche
Projektionen in uns Muslime.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Beckers Buch "Islamstudien" empört mich als Muslim genauso wie jenes über die uns zugeschriebene
Kultur der Ambiguität. Wie Bauer zu behaupten, der Muslim sei deshalb ein freier Mensch, weil er die
freie Wahl zwischen Mann und Frau bei Erfüllung seiner sexuellen Begierde hat, ist völliger Unfug.
Weder ist der Durchschnittsmuslim ein bisexueller Lover, noch gibt es eine freie Sexualität im Orient –
genau das Gegenteil ist der Fall, nämlich Repression. Zu behaupten, diese "Kultur der Ambiguität" sei
der europäischen Kultur überlegen, ist Orientalismus und heißt, dass wir Muslime besser sein sollen
als die Europäer. Das ist der Übergang von einem Extrem der Verteufelung zum anderen der
Verherrlichung. Und nun kommt es zu einem weiteren dritten Extrem mit der Behauptung, der Islam
habe bei der Erklärung der Migrationsprobleme keinerlei Relevanz. Wer sich daran nicht hält, steht im
Verdacht "rechtspopulistisch" oder gar "rechts" zu sein. Das steht im Buch "Die neuen Deutschen" des
Ehepaars Münkler. Entweder Verteufelung oder Verherrlichung des Islam oder dessen vollkommene
Abschaffung.
Ich fasse zusammen: Für den ersten Fall der Verteufelung steht das Buch von C.H. Becker, für den
zweiten Fall der Verherrlichung Thomas Bauer, für den dritten Fall der Abschaffung des Islam als
relevante Bezugsgröße steht Münklers Die neuen Deutschen. All diese Bücher sind deutsch und
ideologisch, sie verdunkeln statt zu informieren. Der Islam der Muslime ist nicht der Islam, den diese
Bücher zum Gegenstand haben.
Die Islamologie hingegen verfährt auch normativ-kritisch, hat jedoch eine andere Denkweise als
Edward Saids Orientalismus. Auch ich bin Orientalismus-Kritiker, aber eben kein Anhänger von Said.
Zwar vertrete ich mit ihm die Schule der Entkolonialisierung der Islamforschung, d.h. Muslime nicht
mehr als Objekte westlicher Forschung, sondern als Subjekte zu begreifen, aber Said endet in einer
Umkehrung des Orientalismus, d.h. eines "orientalism in reverse". Das ist nicht die Lösung, die wir
benötigen, um die "Krise der islamischen Zivilisation", aus der der Islamismus hervorgeht, plausibel
zu erklären.
Ich möchte auf vier Bücher verweisen, die meines Erachtens die gegenwärtige Situation der
islamischen Welt als Krise des Islam deuten und davon absehen, Muslime zu verteufeln oder als Opfer
westlicher Machenschaften zu verherrlichen - sondern vielmehr Muslime und ihre Handlungen
verstehen wollen. In meinem Buch "Crisis of Modern Islam" (Utah University Press 1988; dt. Original
von 1981) habe ich in den 80er Jahren eine Krise des modernen Islam diagnostiziert. In den weiteren
drei Büchern, die ich nennen möchte – vom Princeton-Historiker Bernard Lewis mit seinem Buch "Crisis
of Islam" über den tunesischen Philosophen Hischem Djait mit seinem Buch "The Crisis of Islamic
Culture" bis zum Iraker Ali Allawi mit seinem an der Yale University geschriebenen Buch "Crisis of
Islamic Civilization" – wird gegen die Opferrolle argumentiert, die die Islamisten unterstellen, ja sogar
pflegen. Stattdessen sagen diese Autoren: die Muslime verantworten die Krise selbst, weil sie Subjekte,
keine Objekte sind.
Kurz und knapp: der Islamismus hat mit dem Islam und seiner Krise etwas zu tun und das ist der
Kontext seiner Entstehung. Dieses Phänomen lässt sich weder mit der rassenpsychologischen
Einordnung der Muslime von C.H. Becker noch mit der Sexualisierung des Islam in der These der
"Kultur der Ambiguität" von Thomas Bauer erklären. Letzterer entpolitisiert den Islam; er sexualisiert
Muslime dadurch, dass er es zur Hauptsorge des Muslims macht, ob dieser sich für die Befriedigung
seiner sexuellen Triebe einen Mann oder eine Frau nimmt. Das ist der Inhalt der unterstellten Ambiguität.
Zur Dualität der Verteufelung und Verherrlichung kommt noch die These des Ehepaars Münkler, dass
der Islam keine Rolle spielt und jeden Bezug hierauf als "Islamisierung der Debatte" ächtet. Der Begriff
Islamismus ist nach dieser Logik ein islamophobes Vorurteil, aber keine politische und gesellschaftliche
Realität.
Ich schließe diesen Aufsatz orientalisch wie ich ihn oben begonnen habe mit einer Anekdote. Im
Sommer 2016 hat mich der Deutschlandfunk über den Islamunterricht interviewt und nach meiner
Meinung hierüber gefragt. Ich antwortete, dass ich natürlich für den Islamunterricht bin, damit die Leute
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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wissen, was Islam ist. Ich fügte jedoch ironisch hinzu: Vor allem ist ein solcher Islamunterricht für
deutsche Politiker und Kirchenväter erforderlich. Ich füge hier hinzu: auch für deutsche Wissenschaftler,
die wie ein "djahil" (Ignorant) über den Islam reden und einer Belehrung bedürfen.
Fußnoten
1.
2.
3.
Hassan al-Bana: "Rasai'il al-Imam al-Schahid" (Kairo, legale Ausgabe 1990)
Siehe hierzu den zweiten Band meiner ersten bei Suhrkamp 1985 erschienenen Islamtrilogie "Der
Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels".
Es handelt sich um das "Culture Matters Research Project", in dessen Forschungsteam ich Mitglied
war. Die Ergebnisse sind in zwei Bänden erschienen, hrsg. von Lawrence Harrison: "Developing
Cultures" (N.Y. 2006); Tibi ist Mitautor beider Bände.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Erklärfilm: Was heißt Islamismus?
Transkript
17.10.2016
Kaum ein Wort hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine derartige Konjunktur
erfahren wie Islamismus. Aber was genau versteht man unter Islamismus? Welche Gruppen
und Strömungen gibt es? Und auf welche ideologischen (Vor-)Denker berufen sie sich? Sind
alle Islamisten Gewalttäter?
Kaum ein Wort hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine derartige Konjunktur erfahren wie Islamismus.
Aber was genau versteht man unter Islamismus? Welche Gruppen und Strömungen gibt es? Und auf welche
ideologischen (Vor-)Denker berufen sie sich? Sind alle Islamisten Gewalttäter? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (©
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In Deutschland leben rund fünf Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund. Ob und wie sie
ihre Religion leben und interpretieren, ist sehr unterschiedlich.
Ein kleiner Teil dieser fünf Millionen Muslime kann als Islamisten bezeichnet werden. In Deutschland
geht der Verfassungsschutz von rund 44.000 Islamisten aus.
Innerhalb des Islamismus gibt es wiederum ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Strömungen
und Gruppen.
Sie haben unterschiedliche Ziele und Vorstellungen davon, wie das politische System aussehen sollte.
Manche lehnen Gewalt ab, andere befürworten sie oder sehen in ihr den einzigen Weg zum Erreichen
ihres Ziels.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Was Islamismus bedeutet und welche Personen und Rahmenbedingungen für den Islamismus
wesentlich waren und sind, zeigt dieser Film.
Nach dem 1. Weltkrieg endet ein langer geopolitischer Niedergang der islamischen Welt: Das
osmanische Reich wird aufgelöst und viele Regionen wie Palästina, der Irak oder Nordafrika fallen
unter europäische Herrschaft.
Schon im 18. und 19. Jahrhundert zeigt sich, dass die muslimische Welt technologisch, wissenschaftlich
und militärisch vom Westen abgehängt wird.
Gelehrte wie Jamal ad-Din Al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida formulierten schon damals
die ideologischen Grundlagen für den Islamismus.
Ein wichtiger Grundgedanke: Die historische Schwäche der islamischen Welt liege in der unislamischen
Lebensweise der Menschen. Um zurück zu alter Stärke zu finden, müssten die Muslime wieder
gottgefälliger Leben.
Der Maßstab dafür sind die Muslime der ersten drei Generationen, die Salaaf Asalih, die zwischen
dem 7. und dem 9., Jahrhundert lebten. Der Begriff bedeutet so viel wie „Altvordere“ und ist
Namensgeber für den Salafismus.
Durch die Rückbesinnung auf die Ursprünge soll der wesentliche Kern der Religion freigelegt werden
und als Grundlage für die Schaffung einer modernen Gesellschaft dienen.
Muhammad Bin Abdal Wahhab, Namensgeber des Wahhabismus, hat im 18. Jahrhundert ähnlich
geschlussfolgert und die Rückbesinnung besonders wörtlich ausgelegt. Die sunnitischen Wahhabiten
stehen insbesondere technologischen und sozialen Neuerungen skeptisch gegenüber. Sie bekämpfen
den schiitischen Islam und wenden sich unter anderem gegen Heiligenverehrung und den Sufismus.
Der Ägypter Hassan al-Banna gründet 1928 die Muslimbruderschaft, die erste und bis heute eine der
einflussreichsten islamistischen Gruppen mit Ablegern in vielen arabischen Ländern.
Er formuliert einen Grundgedanken auf den sich alle Islamisten beziehen: Die Religion soll nicht nur
für den privaten, spirituellen Bereich gelten, sondern alle Lebensbereiche ordnen, also auch die Politik,
die Wirtschaft und das Rechtssystem.
Diese Grundansätze haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch verschiedene politische, soziale
und ökonomische Faktoren in einzelnen Ländern und international weiter geformt und entwickelt.
Die wichtigsten Entwicklungen:
Der Wahhabismus geht im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel eine Allianz mit dem
Königshaus Saud ein, die bis heute hält und die religiöse Legitimitätsgrundlage für die Monarchie in
Saudi-Arabien ist. Die gigantischen Öleinnahmen des Landes sind im 20. und 21. Jahrhundert die
finanzielle Grundlage für den Export dieser Ideologie in die ganze Welt. Der Salafismus wahabbitischer
Prägung ist in Europa die derzeit am stärksten wachsende islamistische Strömung.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird von Islamisten als Propagandainstrument
genutzt.
Seit die islamistische Hamas zum wichtigsten Gewaltakteur auf palästinensischer Seite aufgestiegen
ist, wird der Konflikt immer häufiger religiös gedeutet.
Islamisten werfen dem Westen vor, einseitig Israel zu unterstützen. Das befeuert auch das Feindbild
des Westens innerhalb des Islamismus.
Ein weitere entscheidende Rahmenbedingung: Die meisten Staaten der islamischen Welt waren und
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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sind autoritär regiert. In den Diktaturen haben sich islamistische Strömungen oft zur einzigen
nennenswerten Opposition entwickelt und gegen die autokratischen Herrscher aufbegehrt. Das hat
ihre Legitimität in den Augen der Bevölkerung erheblich erhöht.
Die Diktaturen bekämpfen die islamistische Opposition oft mit Gewalt. In Ägypten werden in den 1950er
Jahre viele Mitglieder der Muslimbruderschaft hingerichtet oder in Foltergefängnisse gesteckt. In einem
dieser Gefängnisse kommt der Muslimbruder Sayyid Qutb zu dem Schluss, dass eine friedliche
islamistische Opposition das Land nicht verändern wird. Er entwickelt die ideologische Grundlage für
den bewaffneten Kampf, oft auch Jihadismus genannt. Damit legt er die Grundlage für eine große
Vielzahl an gewalttätigen Organisationen.
Ein guter Nährboden für den Islamismus ist die schwierige wirtschaftliche Situation in vielen Ländern
der islamischen Welt, besonders im arabischen Raum. Verbesserungen in den Bildungssystemen
haben zu einem höheren Ausbildungsgrad geführt. Aber die vielen jungen Absolventen haben kaum
Aussicht auf Arbeit und damit auf die Grundlage für eine Familiengründung.
Islamistische Bewegungen stoßen häufig in Versorgungslücken, die die ineffizienten Staaten
hinterlassen. Die ägyptische Muslimbruderschaft betreibt z.B. Krankenhäuser, Kindergärten und
Suppenküchen. Auch diese karitativen Tätigkeiten tragen viel zu ihrer Beliebtheit bei.
1979 wird im Iran der Schah gestürzt. Es entsteht ein islamischer Staat unter der Führung Ajatollah
Chomeinis. Viele Islamisten sehen sich durch diesen Erfolg in ihrem revolutionären Kampf bestätigt
Der Iran unterstützt anschließend islamistische Organisationen wie die Hisbollah und die Hamas.
Aus dem Krieg zwischen der Sowjetunion und den von Pakistan, den USA und Saudi-Arabien
unterstützten islamistischen Mujaheddin geht in Afghanistan ein neuer jihadistischer Ansatz hervor.
Bisher ging es in erster Linie darum, im eigenen Land etwas zu erreichen. Nun gründen
Afghanistanveteranen um Osama bin Laden mit Al-Qaida die erste Organisation mit globalem
Anspruch.
Al-Qaidas Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 haben
Islamismus und Jihadismus in den sicherheitspolitischen Fokus der westlichen Staaten gerückt. Der
Angriff von „9/11“ und der anschließende Krieg gegen den Terror haben eine Konfliktspirale in Gang
gesetzt, die zur Destabilisierung des Nahen Ostens beigetragen hat.
2003 haben die USA und ihre Verbündeten den Irak angegriffen und den Diktator Saddam Hussein
gestürzt. Die nachfolgenden jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen im Irak haben das Land
destabilisiert. Sie haben damit einer neuartigen jihadistischen Organisation viel Raum zur Expansion
gegeben.
Dem Islamischen Staat. Der Miliz ist es 2014 gelungen größere Gebiete im Irak und in Syrien zu
erobern und in diesem Gebiet quasi-staatliche Strukturen wie ein Steuersystem zu etablieren.
Der IS rekrutiert erfolgreich auch in europäischen Staaten und koordiniert dort Anschläge wie in Paris
2015 und in Brüssel 2016. Die Radikalisierung junger Muslime in Folge der geschickten IS-Propaganda
ist in Europa und Deutschland zu einem Problem geworden.
Gewalttätige jihadistische Gruppen bekommen viel Aufmerksamkeit. Doch auch gemäßigte Islamisten
spielen in vielen Ländern eine Rolle in den politischen Systemen. So etwa die Ennahda in Tunesien,
die PJD in Marokko oder die AKP in der Türkei.
Islamismus ist also ein sehr breiter Begriff. Er fasst eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gruppen und
Bewegungen zusammen, die verschiedene Ziele und Strategien verfolgen.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Dschihad zwischen Frieden und Gewalt
Von Prof. Dr. Rüdiger Seesemann
18.8.2015
ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bayreuth.
Unter Dschihad versteht der Duden den "Kampf der Muslime zur Verteidigung und Verbreitung
des Islams", den "Heiligen Krieg". Zugleich bezeichnet Dschihad das zu den muslimischen
Grundpflichten gehörende Streben, nach dem islamischen Glauben zu leben. Wie ist das
Dschihad-Konzept historisch zu verstehen? Welche modernen Auslegungen gibt es?
Mitglied der Terrorgruppe "Palästinensischer Islamischer Dschihad" (© picture-alliance)
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Der Islam – Religion des Friedens oder Religion des Schwerts?
Gängigen Definitionen von Islamismus zufolge streben seine Träger nach der Errichtung eines
Gottesstaates auf Grundlage des islamischen Rechts und verfolgen dieses Ziel gegebenenfalls auch
mit Gewalt, d.h. per Dschihad. Doch was genau hat es mit dem Dschihad auf sich? Inwieweit können
sich Islamisten, die den Dschihad im Munde führen oder in seinem Namen kämpfen, tatsächlich auf
ihn berufen?
Spätestens im Gefolge der terroristischen Anschläge auf das World Trade Center in New York und das
Pentagon in Washington D.C. vom 11. September 2001 ist das Wort Dschihad in das Lexikon aller
Weltsprachen eingegangen. Der Duden erklärt den Begriff als Kampf der Muslime zur Verteidigung
und Verbreitung des Islams und fügt hinzu, dieser Kampf werde oft "Heiliger Krieg" genannt. Zugleich
bezeichne Dschihad das zu den muslimischen Grundpflichten gehörende Streben, nach dem
islamischen Glauben zu leben; als Beispiel wird der "große Dschihad" angeführt, der sich auf die
religiöse und ethische Pflicht zur Selbstbeherrschung und Selbstvervollkommnung beziehe.
Mit dieser brauchbaren, wenn auch aus islamwissenschaftlicher Sicht nicht ganz präzisen Definition
ist bereits das Spektrum umrissen, in dem sich die divergierenden Auslegungen des Konzepts von
Dschihad bewegen. Im umgangssprachlichen Gebrauch verhält es sich mit dem Dschihad im Übrigen
ähnlich wie mit dem Kreuzzug: So, wie dem Bundesgesundheitsministerium ein "Kreuzzug gegen das
Rauchen" nachgesagt werden könnte, lässt sich auch von einem "Dschihad gegen den Tabakgenuss"
sprechen. George W. Bush hat, vermutlich eher unbedacht, nach dem 11. September 2001 ein
Schlaglicht auf die übertragene Bedeutung des Wortes Kreuzzug geworfen, als er den "Krieg gegen
den Terror" mit der Aussage kommentierte, "Wir befinden uns auf einem Kreuzzug." Sicherlich dachte
er dabei an Krieg, jedoch nicht an einen Krieg im Namen des Christentums gegen die Muslime. Wenn
die US-amerikanische Studentenorganisation "Campus Crusade for Christ" an nordamerikanischen
Universitäten ihre Mission mit dem Kreuzzug im Namen betreibt, so tut sie dies mit radikaler Rhetorik,
aber nicht mit militanten Mitteln. Dieser vergleichende Blick auf den Sprachgebrauch ist hilfreich, um
beim Hören des Wortes Dschihad nicht gleich in Reflexe zu verfallen und den "Heiligen Krieg"
heraufzubeschwören.
Zugleich ist es unverkennbar, dass sich in der jüngeren Vergangenheit militante Muslime zur
Rechtfertigung ihrer Gewalttaten verstärkt auf den Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes gegen
Feinde des Islams beziehen. Dabei hat sich insofern eine bemerkenswerte Konstellation ergeben, als
das Dschihad-Verständnis der gewaltbereiten Muslime mit islamkritischen und islamfeindlichen
Sichtweisen weitgehend kongruent ist: Unter Dschihad wird hier wie dort der Kampf für die Sache
Gottes unter Einsatz von Gewalt verstanden. Solchen Muslimen, die den Dschihad als spirituelle
Anstrengung begreifen und Gewalt höchstens zu Verteidigungszwecken für gerechtfertigt halten, wird
sowohl von Befürwortern des bewaffneten Kampfes als auch von Vertretern islamfeindlicher Positionen
vorgeworfen, die Wahrheit zu verfälschen. Diese Wahrheit laute, dass der Islam nicht die Religion des
Friedens sei, sondern die Religion des Schwerts.
Aus islam- wie auch allgemeiner gesprochen aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist jede
Aussage, in der "Islam" (oder Christentum, Judentum, etc.) grammatikalisch als Subjekt fungiert,
fragwürdig. Nicht "die Religion" ist das handelnde Subjekt, sondern die Akteure sind ihre Angehörigen.
Es ist nicht ein abstrakter, zeitloser Islam, der die Muslime zu dem machen würde, was sie sind,
sondern die Muslime sind es, die den Islam auslegen, umsetzen oder über ihn streiten. Muslime sind
ebenso wenig religionsgesteuert wie die Angehörigen anderer Religionen. Demzufolge ist "der Islam"
nicht der Produzent von Gewalttätern oder Friedenstauben.
Im Laufe seiner über 1400 Jahre alten Geschichte haben sich auf dem Boden des Islams zahlreiche
unterschiedliche religiöse Strömungen entwickelt. Im Namen des Islam wurden Kriege geführt und
Andersgläubige verfolgt; in seinem Namen wurde Frieden geschlossen und religiöse Toleranz
praktiziert. Unter dem Banner des Islam wurde Wissenschaft gefördert, aber auch freies Denken
unterdrückt. Der Islam diente als Rechtfertigung ganz unterschiedlicher, teils einander
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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widersprechender Positionen und Handlungen, und was als "wahrer" Islam zu erachten sei, war stets
Gegenstand von Auseinandersetzungen. Allein die Vielzahl der vergangenen und gegenwärtigen
Protagonisten, die den "wahren" Islam für sich beanspruchen, zeigt bereits, dass es den einen "wahren"
Islam nur als theologische Kategorie, aber nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt. Schon aus
diesem Grund ist es falsch, "den Islam" allgemein als friedlich oder gewalttätig zu charakterisieren.
Eine kleine Geschichte des Dschihad
Will man ein differenziertes Bild der Entwicklung unterschiedlicher Konzepte von Dschihad gewinnen,
so gilt es zunächst, seine Ursprünge zu betrachten. Relevant sind hier insbesondere die Aussagen
zum Dschihad im Koran sowie die Kriegszüge des Propheten Muhammad. Die koranischen Passagen
über den Kampf gegen Ungläubige lassen sich in vier Phasen untergliedern und sind ein Spiegelbild
der Entwicklung der frühen muslimischen Gemeinschaft. Der 632 gestorbene Muhammad empfing –
so die islamische Lehrmeinung – die im Koran niedergelegten göttlichen Offenbarungen über einen
Zeitraum von 20 Jahren. Das wohl wichtigste Ereignis in diesem Zeitraum war die Hidschra, die
Auswanderung aus Mekka im Jahr 622: Angesichts der Anfeindungen seiner Stammesmitglieder, die
Muhammads monotheistische Verkündigungen mehrheitlich ablehnten und weiterhin die Vielgötterei
pflegten, zogen sich die Muslime aus Mekka zurück und bauten im etwa 340 km nördlich gelegenen
Medina eine Gemeinschaft auf, die auf den offenbarten Regeln beruhte.
In der ersten, mekkanischen Phase gibt es keinen Dschihad. Muhammad wird
verspottet und bekämpft, doch Gott befiehlt ihm Geduld. Die Hidschra läutet
eine neue, zweite Phase ein: In Medina erhält der Prophet eine Offenbarung,
die ihm gestattet, gegen diejenigen zu kämpfen, die ihn bekämpfen (Sure 22,
Verse 39-40); dies bezieht sich auf die Mekkaner, die die wenigen in Mekka
zurückgebliebenen Muslime drangsalieren. In der dritten Phase, die mit der
Schlacht von Badr (Muslime aus Medina gegen die Mekkaner) im Jahre 624
beginnt, ergeht der göttliche Befehl zum Kampf gegen die Verfechter der
Vielgötterei (Sure 2, Verse 190-193 sowie Sure 47, Verse 4-6). Die vierte und
letzte Phase schließlich ist durch Offenbarungen gekennzeichnet, die in
zeitlichem Zusammenhang mit der Kapitulation der Mekkaner und der
Einnahme Mekkas durch die Muslime Ende 629 stehen. Exemplarisch lassen
Mohammed schickt
Truppen in die Schlacht sich die so genannten "Schwertverse" in Sure 9 anführen. In Vers 5 erhalten
von Badr. Illustration die Muslime den Befehl, den Kampf gegen die "Götzenanbeter"
aus dem "Siyer-i Nebi
(Das Leben des Proph­ weiterzuführen; Vers 29 ruft auch zum Kampf gegen die sogenannten
eten)" von 1388. (© "Buchbesitzer" (gemeint sind insbesondere Juden und Christen als Empfänger
Public Domain, Quelle:
früherer, schriftlich niedergelegter Offenbarungen) auf, bis sie den Tribut
wikimedia commons)
entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen. Ein weiterer Koranvers befiehlt
den Muslimen, so lange zu kämpfen, bis es keine Unterdrückung (oder: Verführung zum Abfall vom
Glauben; fitna) mehr gebe und die Religion ganz und gar Gottes sei (Sure 8, Vers 39).
Inwieweit lassen sich diese Verse und historischen Ereignisse in konkrete Handlungsanweisungen für
spätere Generationen von Muslimen übersetzen? Müssen sie wörtlich verstanden und ebenso direkt
umgesetzt werden, oder bedürfen sie einer kontextabhängigen Interpretation und damit einer
umfassenden Exegese? Sowohl für die eine als auch für die andere Umgangsweise mit den Quellen
und geschichtlichen Vorbildern gibt es zahlreiche Beispiele. Allerdings hat die islamische
Gelehrtentradition, die sich in den ersten drei Jahrhunderten des Islams herausgebildet hat, weitgehend
den Weg der Kontextualisierung und der Exegese beschritten. Der bewaffnete Kampf für die Sache
Gottes war stets Teil dieser Gelehrtentradition, doch der Begriff des Dschihad, der im Koran übrigens
nur 41 Mal zur Bezeichnung des Kampfes und damit deutlich weniger verwendet wird als der Begriff
qital (wörtlich, Kämpfen; insgesamt 170 Mal einschließlich verbaler Ableitungen), erfuhr eine spirituelle
Aufladung, indem (wie selbst der Duden andeutet) zwischen einer "großen" und einer "kleinen" Variante
unterschieden wurde. Diese Interpretation stützte sich auf ein Prophetenwort: Nach der Rückkehr von
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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einer Schlacht soll Muhammad gesagt haben, "Nun sind wir vom kleinen Dschihad zum großen
Dschihad zurückgekehrt." Auf die Frage eines seiner Begleiter, was denn der große Dschihad sei,
habe Muhammad geantwortet, "Das ist der Kampf gegen die eigenen schlechten Eigenschaften."
Bei der Umsetzung der koranischen Handreichungen zum Thema Dschihad stießen die Muslime schon
nach dem Tod des Propheten auf Probleme. Zunächst standen die so genannten rechtgeleiteten Kalifen
an der Spitze des weiter expandierenden islamischen Staatswesens und führten den Kampf gegen
die "Götzenanbeter" auf der Arabischen Halbinsel weiter. Binnen weniger Jahre schlossen sie sich
dem Islam an. Doch die Einigkeit der umma, der Gemeinschaft der Muslime, war nicht von langer
Dauer. Bereits im dritten Jahrzehnt nach Muhammads Tod standen Muslime sich als Gegner auf dem
Schlachtfeld gegenüber. Ali, der vierte Kalif und zugleich Vetter und Schwiegersohn des Propheten,
musste seinen Führungsanspruch gegen ein unter anderem von Muhammads Lieblingsfrau Aischa
organisiertes Bündnis verteidigen. Alis Seite ging aus der Kamelschlacht (so genannt, weil Aischa sie
vom Rücken eines Kamels aus verfolgte) siegreich hervor, doch dies war nur der Auftakt zu weiteren
Bruderkriegen, die letztlich in die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten mündeten.
Bereits die Frühzeit des Islam ist also vom Dilemma der Gewalt unter Muslimen gekennzeichnet,
welche dem göttlichen Gebot der Einigkeit der Gläubigen zuwiderläuft. Häufig blieben Kriege nicht auf
die im Koran spezifizierten Gegner des Dschihads beschränkt. Besonders die als Charidschiten
bezeichnete Gruppe, aus deren Reihen auch der Mörder Alis kam, ist für ihre Legitimation von Gewalt
gegen andere Muslime bekannt geworden. Indem sie ihre muslimischen Widersacher als Ungläubige
abstempelten, schufen sie die religiöse Basis, Gewalt auch gegen solche Gruppen auszuüben, die
eigentlich nicht als legitime Gegner des Dschihad gelten. Gleichwohl blieben die Charidschiten trotz
mancher spektakulärer Aktionen eine Randgruppe. Die muslimischen Rechtsgelehrten, die sich ab
Mitte des 8. Jahrhunderts in juristischen Denkschulen organisierten, lehnten die pauschalisierende
charidschitische Praxis des takfir, d.h. andere Muslime zu Ungläubigen zu erklären, ab und warnten
davor, Glaubensbrüder leichtfertig aus dem Islam auszuschließen. Ende des 9. Jahrhunderts, zur Zeit
des letzten großen Charidschiten-Aufstands im Gebiet des heutigen Irak, hatten sich bereits die großen
Rechtsschulen formiert, aus denen schließlich vier sunnitische und eine schiitische Schule
hervorgingen. Letztere weicht in verschiedener Hinsicht von der sunnitischen Lesart ab, unter anderem
auch darin, dass in ihr religiös legitimierte Gewalt gegen Andersgläubige weniger ausgeprägt ist.
Die einschlägigen Rechtshandbücher der vier sunnitischen Rechtsschulen befassen sich – neben
vielen anderen Fragen – mit den Situationen, in denen Gott den Muslimen den Dschihad im Sinne von
bewaffnetem Kampf vorschreibt. Im Verteidigungsfall gilt die Pflicht zum Dschihad für alle waffenfähigen
Männer, in anderen Fällen genügt es, wenn einige aus der Gemeinschaft stellvertretend für andere
den Kampf führen. In jedem Fall kann sich der Kampf aber nur gegen genau definierte Gegner richten
und keinesfalls gegen Zivilisten. Zudem ist Dschihad stets an die Bedingung gebunden, dass er unter
der Führung des als Imam bezeichneten obersten Befehlshabers aller Muslime steht.
Dieses Kriegsrecht hat seine Wurzeln im historischen Kontext eines islamischen Einheitsstaats. Das
"Gebiet des Islams" vereinte in seinen Grenzen die umma, also die Gemeinschaft aller Muslime, unter
einem Herrscher, dem Kalifen. Außerhalb dieses Gebietes lag das "Gebiet des Krieges", das potenzielle
Angriffsziel des Dschihad. Es galt als Pflicht der Gemeinschaft, das islamische Territorium zu
vergrößern; damit ging jedoch keine kollektive Zwangskonversion der Bevölkerung in den eroberten
Gebieten einher, was sich bis heute unter anderem an der Präsenz christlicher Gruppen in zahlreichen
Ländern des Nordafrikas und des Mittleren Ostens zeigt. Im Falle eines Angriffs auf das "Gebiet des
Islam" war es die individuelle Pflicht eines jeden Muslims, am Dschihad zur Verteidigung des
islamischen Bestandes teilzunehmen. Schließlich sehen die Handbücher der Rechtsschulen einen
Dschihad für den Fall vor, dass ein Teil der Muslime dem Herrscher die Gefolgschaft versagt. Die
Rebellen werden durch Verweigerung des Gehorsams zum legitimen Gegner im Dschihad, selbst
wenn sie weiterhin als Muslime erachtet werden.
Das Ideal eines geeinten islamischen Staatswesens, auf dem diese Konzeption von Dschihad basiert,
hat in der Realität nicht lange existiert. Mit dem bereits im 10. Jahrhundert einsetzenden Zerfall der
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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zentralen Autorität des Abbasidenkalifats (750-1258) etablierten sich zahlreiche Sultanate und Emirate,
die, wenn auch formell dem Kalifen unterstellt, jeweils eigenständig das Kriegsrecht auslegten und
anwandten. Gleichwohl war jeglicher Kampf im Namen des Islam stets an die Befehlsgewalt des
jeweiligen Herrschers gebunden, die er in Abstimmung mit den religiösen Gelehrten ausübte; es gab
gewissermaßen ein Gewaltmonopol des Staates, das dieser im Einklang mit der Scharia durchsetzen
sollte. Einer der vorerst letzten Versuche, das klassische Dschihad-Konzept der Rechtsschulen zu
mobilisieren, datiert auf die Zeit des Ersten Weltkriegs, als der osmanische Sultan auf Drängen von
Kaiser Wilhelm II muslimische Rekruten für den Kampf gegen Russland, Frankreich und Großbritannien
zu mobilisieren suchte.
Moderne Deutungen des Dschihad-Konzepts
Dieser Exkurs in die islamische Geschichte zeigt, dass der sunnitische Islam, wie er jahrhundertelang
verstanden und praktiziert wurde, nichts von dem billigte oder forderte, was seit etwa fünf Jahrzehnten
unter dem Banner des Dschihad geschieht. Die Gewalttäter, die nunmehr den Islam als Rechtfertigung
für terroristische Akte heranziehen, stützen sich auf eine ganz andere Auslegungstradition als die
Rechtsschulen. Da sie beanspruchen, den sogenannten salaf, d.h. den Muslimen der ersten drei
Generationen des Islam, zu folgen, hat sich für sie im 20. Jahrhundert die Bezeichnung Salafiyya
(neudeutsch: Salafisten) eingebürgert. Maßgeblich ist für sie nicht, wie Generationen von Gelehrten
auf der Basis breiter und tiefer Kenntnisse der islamischen exegetischen Tradition Gotteswort und
Prophetenwort verstanden haben, sondern wie sie selbst, oft ohne profunde Ausbildung in den
islamischen Wissenschaften, den Koran und das Beispiel des Propheten interpretieren.
Gewiss beruft sich die salafistische Auslegung auf historische Vorläufer, insbesondere Muhammad
ibn Abdalwahhab (gest. 1792), den Begründer der wahhabitischen Lehre, die in leicht modifizierter
Form in Saudi-Arabien den Status einer Staatsreligion hat, sowie den hanbalitischen Rechtsgelehrten
Ibn Taymiyya (gest. 1328). Letzterer hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Vorstellung,
dass ein nicht nach den Regeln der Scharia handelnder Herrscher per Dschihad bekämpft werden
müsse. Trotz dieser Rückbezüge ist die Salafiyya ein durch und durch modernes Phänomen; daran
ändert auch ihre rückwärtsgewandte Ideologie nichts. Sie bedient sich einer Auslegung, die das Primat
des Gelehrten durch den direkten Zugriff auf Gottes- und Prophetenwort ersetzt und mithin das
hermeneutische Gepäck der Rechtsschulen abwirft.
Die moderne dschihadistische Strömung innerhalb der Salafiyya stellt nur eine kleine Randgruppe
neben den beiden anderen Strömungen dar, für die sich die Bezeichnungen puristisch und politisch
eingebürgert haben. Eines ihrer Kennzeichen ist, dass sie das Recht zur Ausübung von Gewalt für
sich selbst beansprucht und nicht an die Existenz eines islamischen Staates knüpft. Indem die
Dschihadisten das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen, brechen sie den Konsens der in der
Tradition der Rechtsschulen stehenden Islamgelehrten. Sie fordern die autoritären Herrscher der
Staaten, in denen sie leben, heraus, indem sie die Regierenden zu Ungläubigen und damit zu legitimen
Angriffszielen erklären. Die Ausrufung des "Islamischen Staats" (IS) in Irak und Syrien Mitte 2014 ist
unter anderem Ausdruck des Versuchs, der Gewaltausübung im Namen des Islam größere Legitimität
zu verleihen.
In der Wahrnehmung der Dschihadisten führt der Westen einen Krieg gegen den Islam. Die
Glaubenskämpfer sehen sich als Avantgarde, die im Gegensatz zum muslimischen Establishment die
Initiative ergreift, um den Islam verteidigen. Von den etablierten Islamgelehrten, die Dschihad in erster
Linie als den Kampf des Individuums gegen seine niederen Leidenschaften interpretieren, sei dies
schließlich nicht zu erwarten. Auf Grundlage dieser Weltsicht konstruiert die dschihadistische Logik
die Ziele und Gegner ihres Kampfes: Der Dschihad ist von den aufrechten Muslimen gegen diejenigen
zu führen, die den Islam bekämpfen. Dazu zählen alle Repräsentanten der islamisch geprägten
Staaten, in denen die Scharia nicht angewendet wird oder die mit "dem Westen" gemeinsame Sache
machen, vom Staatsoberhaupt bis zum Verkehrspolizisten. Bestimmte islamistische Strömungen,
darunter die Ideologen des IS, folgen der takfir-Praxis der Charidschiten und erklären ihre muslimischen
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Gegner pauschal zu Ungläubigen und entfernen sich damit noch weiter von der "klassischen" DschihadLehre.
Es liegt auf der Hand, dass das herkömmliche islamische Kriegsrecht, welches in der veränderten
Welt der Nationalstaaten ohnehin Makulatur ist und heute im Gewand von Dschihad als
Verteidigungskrieg daherkommt, damit ausgehebelt wird. An die Stelle sorgfältiger Exegese treten aus
dem Zusammenhang gerissene eklektische Auslegungen, die suggerieren sollen, dass man dem
Propheten und seinen Gefährten folge. Der an Regeln gebundene Krieg von Armeen zur Verteidigung
des islamischen Bestandes wird abgelöst durch den mit allen Mitteln zu führenden Guerillakrieg, in
dem alles, vom Selbstmordattentat bis zum Bombenanschlag, erlaubt ist, solange es "den Westen"
und seine nur noch nominell muslimischen Verbündeten trifft.
Selbst wenn ihre Stimmen in der westlichen Medienlandschaft kaum zur Geltung kommen, haben sich
gelehrte Repräsentanten des sunnitischen Islam häufig und eindeutig gegen diese Ideologie der Gewalt
im Namen Gottes ausgesprochen. In ihrer modernen Deutung des Dschihad-Konzepts stehen der
"große Dschihad" im Sinne der inneren Reinigung sowie der Dschihad als Verteidigungskrieg im
Vordergrund. Dennoch ist aus nicht-muslimischen Kreisen häufig der Vorwurf zu hören, die Muslime
würden sich nicht klar genug von der Gewalt distanzieren. Warum schrecken viele Gelehrte davor
zurück, ihrerseits den takfir gegen die Führer und Anhänger dschihadistischer Gruppen
auszusprechen? Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass sie dann den gleichen Fehler
machen würden wie die Dschihadisten: nämlich ein Urteil über andere Menschen fällen, das – sofern
nicht eindeutige Indizien vorliegen – ihrer Auffassung zufolge allein Gott vorbehalten ist.
Vergiftete Früchte im Garten des Islams
Die Frage, ob der Islam nun friedlich oder gewalttätig sei, wird in der westlichen Öffentlichkeit seit
Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. An der deutschen Debatte des Jahres 2015 fällt auf, dass
beide Aussagen weniger durch sorgfältige Analyse oder Fakten, sondern vorwiegend durch Interessen
geleitet sind. Politiker, die den friedlichen Charakter des Islam betonen und auf der Unterscheidung
zwischen Islam und Islamismus beharren, tun dies in dem Bestreben, der kollektiven Ausgrenzung
einer signifikanten Bevölkerungsminderheit entgegenzuwirken und so den sozialen Frieden zu wahren.
Muslime, die sich von den Terrorakten distanzieren, suchen ihre Religion gegen pauschale
Verurteilungen in Schutz zu nehmen und wehren sich dagegen, unter Generalverdacht gestellt zu
werden. Das Lager der Islamfeinde macht "den Islam" für die Gewalt verantwortlich und zeichnet das
Bild von einer Welt im Kulturkonflikt, in dem sich nicht miteinander kompatible Wertesysteme
gegenüberstehen. Diese Sichtweise offenbart deutliche Parallelen zur Rhetorik der Dschihadisten, die
den Islam zur Legitimation ihrer Gewalttaten benutzen.
Islamkritische Stimmen, ob von linken oder der rechten Seite des politischen Spektrums, können nach
jedem im Namen des Islam verübten Anschlag mit neuem Nachdruck darauf verweisen, dass doch
etwas faul sein müsse mit einer Religion, die zur Rechtfertigung solcher Gräueltaten dient. Der bekannte
amerikanische Fernsehsatirist Bill Maher hat es so formuliert: Wo es so viele faule Äpfel gebe, stimme
etwas nicht mit dem Garten. Dieser Logik zufolge ist es überflüssig, ganze Bibliotheken füllende
islamische exegetische Literatur zur Kenntnis nehmen. Generationen von Islamgelehrten wollen
schließlich nur verschleiern, was Islamkritiker und militante Islamisten von heute sofort und ohne
Umschweife verstehen.
Tatsächlich hat nicht der islamische Garten die Früchte verdorben, sondern das Gift, das viele Gärtner
darin verspritzt haben, morgen- wie abendländische. "Der Islam", wie er jahrhundertelang von der
überwiegenden Mehrheit der Muslime gelebt wurde und auch heute noch vielfach gelebt wird, hilft
daher bei der Suche nach den Gründen für das Blutvergießen im Nahen und Mittleren Osten des 20.
und 21. Jahrhunderts nicht weiter. Im Gegenteil, der "mittelalterliche" Islam war in mancher Hinsicht
sogar toleranter als der heutige Islam salafistischer Prägung. Will man verstehen, warum dort die
giftige Frucht des Dschihadismus gedeiht, so gilt es die Umstände zu analysieren, unter denen das
salafistische Spektrum in den vergangenen fünf Jahrzehnten einen so militanten Flügel hervorgebracht
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hat.
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Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Prof. Dr. Rüdiger Seesemann für bpb.de
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Islamismus - Was ist das überhaupt?
Definition - Merkmale - Zuordnungen
Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber
9.9.2011
Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten
Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und
Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).
Bei "Islamismus" denken viele nur an Terror und Gewalt. Dabei gibt es auch Islamisten, die
keine Gewalt einsetzen bei der Verfolgung ihrer Ziele. Ihre Vision eines islamischen Staats
verfolgen sie dennoch hartnäckig.
Einleitung und Fragestellung
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist der Begriff "Islamismus" in der öffentlichen wie
wissenschaftlichen Debatte kontinuierlich präsent. Häufig wird er mit Bezeichnungen wie "islamischer
Fundamentalismus", "Jihadismus" oder "radikale Muslime" synonym verwendet. Doch was damit
genau gemeint ist, bleibt häufig unklar. Meist sollen mit "Islamismus" solche fanatischen und
gewalttätigen Gruppen mit terroristischer Ausrichtung begrifflich erfasst werden, die sich auf den Islam
beziehen. Diese Auffassung ignoriert, dass es sehr wohl auch Islamisten gibt, die nicht in der
Gewaltanwendung ihr vorrangiges politisches Instrument sehen. Mit der einseitigen Fixierung auf
diesen Handlungsstil beraubt man sich einer wichtigen Erkenntnis: Islamistische Auffassungen sind
aus demokratietheoretischer Sicht grundsätzlich problematisch – unabhängig von einer latent oder
manifest vorhandenen Gewaltbereitschaft.
Definition von Islamismus allgemein
"Islamismus"ist eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Handlungen, die im
Namen des Islam die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung
anstreben. Der ideologische Ursprung der gemeinten Bewegung liegt in inner-islamischen
Reformbestrebungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die organisatorische Wurzel ist in
der 1928 in Ägypten gegründeten "Muslimbruderschaft" zu sehen. Allen späteren Strömungen war
und ist die Absicht eigen, den Islam nicht nur zur verbindlichen Leitlinie für das individuelle, sondern
auch für das gesellschaftliche Leben zu machen. Dies bedeutet: Religion und Staat sollen nicht mehr
getrennt und der Islam institutionell verankert sein. Damit einher geht die Ablehnung der Prinzipien
von Individualität, Menschenrechten, Pluralismus, Säkularität und Volkssouveränität.
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Handlungsstile zwischen Gewalt und Politik
Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung sind keineswegs alle Islamisten grundsätzlich
gewaltorientiert bzw. zu terroristischen Handlungen bereit. Idealtypisch lassen sich folgende vier
Handlungsstile unterscheiden, wobei sie wiederum zwei Obergruppen zugeordnet werden können:
Gemeint sind damit gewaltgeneigte und reformorientierte Strömungen, also ein "jihadistischer" und
"institutioneller Islamismus" (Bassam Tibi). Für den letztgenannten Bereich wären etwa Parteien zu
nennen, welche auf parlamentarischem Weg nach erfolgreichen Wahlen wirken wollen. Islamisten,
die mehr auf die Sozialarbeit ausgerichtet sind, geht es um die Gewinnung von Anhängern durch
Präsenz im Alltagsleben. Bei den gewaltgeneigten bis terroristischen Gruppen im Islamismus
unterscheidet man zwischen denen, die lediglich in ihren Heimatländern Gewalttaten begehen, und
denen, die auch in anderen Ländern solche Taten beabsichtigen. In der Realität mischen sich mitunter
mehrere dieser Handlungsstile mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Verhältnis Islam und Islamismus
Wie sich Islam und Islamismus zueinander verhalten, darüber gibt es zwei grundsätzlich
unterschiedliche Auffassungen: Die eine Auffassung geht davon aus, dass kaum ein Unterschied
zwischen Islam und Islamismus bestehe, da der Islam sich als Religion auch auf die Lebensweise und
damit ebenso auf die Politik beziehe. Diese Sicht erklärt letztendlich jeden Muslim zum Islamisten,
was weder der Realität in den westlichen noch in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften entspricht.
Die andere Auffassung postuliert, dass Islamisten den Islam lediglich im eigenen Interesse
instrumentalisieren und daher kein Zusammenhang zwischen Islam und Islamismus bestehe. Diese
Deutung unterschlägt den grundlegenden Stellenwert der Berufung auf den Islam und der
Identitätsbildung über diese Religion im Islamismus. Demgegenüber soll hier für die Auffassung von
der "Islamismuskompatibilität des Islam" (Armin Pfahl-Traughber) plädiert werden, wonach die
Islamisten zwar nicht die einzige, aber eine mögliche Deutung des Islam vertreten.
Anknüpfungspunkte in Basis und Geschichte des Islam
Dazu verweisen sie auf Aussagen im Koran und die Geschichte dieser Religion: Im Koran finden sich
Aussagen, die einen Absolutheitsanspruch für den eigenen Glauben und Ausgrenzungstendenzen
gegenüber Andersgläubigen zum Ausdruck bringen. Hierzu gehören auch abwertende und
diffamierende Worte über die Juden, findet man doch im islamistischen Antisemitismus häufig
einschlägige Bezüge und Zitate. Bereits die Frühgeschichte des Islam war nach muslimischer
Überlieferung dadurch geprägt, dass Mohammed zunächst zwar nur als Prophet, danach aber auch
als Politiker und Feldherr auftrat. Hieraus leiten Islamisten die Notwendigkeit ab, Religion und Politik
wieder zu vereinen, denn schon Mohammed habe diese Einheit postuliert. Auch in seiner Nachfolge
wurden Eroberungskriege im Namen der Religion geführt, zunächst aus dem arabischen Raum, später
dann über das Osmanische Reich bis nach Europa hinein. Sie gelten Islamisten als historischpolitischer Bestandteil ihres Islamverständnisses.
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Merkmale des Islamismus
Merkmal I: Absolutsetzung des Islam als Lebens- und Staatsordnung
Worin bestehen nun die inhaltlichen Besonderheiten der politischen Bewegung des Islamismus? Als
ein Merkmal kann die Absolutsetzung des Islam als Lebens- und Staatsordnung gelten. Jeder
überzeugte Muslim wird in seiner Religion den für ihn wahren Glauben sehen und seine persönliche
Lebensführung in gewissem Maße nach seiner Deutung des Islam ausrichten. Diese Auffassung hat,
selbst wenn sie mit einem gewissen Exklusivanspruch auf die "einzig wahre Religion" einhergeht, nicht
notwendigerweise etwas mit Islamismus zu tun. Erst wenn die gemeinte Absolutsetzung dieses
Glaubens notwendiger Bestandteil für die Regelung des sozialen Miteinanders in einer Gesellschaft
etwa im Sinne einer Rechts- oder Staatsordnung werden soll, kann von einer solchen politischen
Ausrichtung gesprochen werden. Sie läuft in Kombination mit anderen Grundpositionen der Islamisten
auf die Überwindung einer Trennung von Politik und Religion und die Etablierung eines islamischen
Staates im theokratischen Sinne hinaus.
Merkmal II: Gottes- statt Volkssouveränität als Legitimationsbasis
In einem solchen politischen System bestünde die oberste Legitimationsbasis in einer Gottes-, aber
nicht in einer Volkssouveränität. Ausgangspunkt für eine solche Deutung ist folgende Erkenntnis: Da
sich Gott nicht selbst äußern kann und die "Heiligen Schriften" unterschiedlicher Glaubensformen
ambivalent und selektiv deutbar sind, kommt in einem solchen theokratischen Staat einer Minderheit
von "Religionsgelehrten" die Aufgabe der einzig richtigen und rechtlich verbindlichen Deutung des
jeweiligen Glaubens zu. Allein aufgrund dieser Tatsache läuft die Etablierung islamistischer Herrschaft
auf ein diktatorisches System hinaus, das die behauptete Gottes- über die reale Volkssouveränität
stellt. Diese Auffassung muss nicht für die rigorose Ablehnung von Wahlen stehen. Gleichwohl dürfen
sich die Kandidaten oder Parteien in dieser Perspektive nur im eingeschränkten Rahmen des
islamistischen Denkens bewegen, was unabhängige Bestrebungen ebenso wie eine politische
Opposition ausschließt.
Merkmal III: Ganzheitliche Durchdringung und Steuerung der Gesellschaft
Ein solches Gesellschaftsmodell führt dazu, dass das politische und soziale Miteinander komplett
durchdrungen und gesteuert wird. Aus der Auffassung "Der Islam ist die Lösung" - oder besser
formuliert: "Die islamistische Deutung des Islam soll die Lösung sein" – folgt nicht nur die alleinige
Ausrichtung des Staates in diesem Sinne. Hiermit würde auch die Ablehnung von Menschenrechten
verbunden sein. Meinungs- und Religionsfreiheit für alle gäbe es schließlich in solch einem Staat nicht.
Islamisten wollen, dass Staat, Recht und Gesellschaft total geprägt sind von ihrer Ideologie. In sozialen
Kontexten mit islamistischer Hegemonie lässt sich dies etwa an der Indoktrination von Kindern ebenso
wie an Kleidungsvorschriften für Frauen ablesen. Den "Religionsgelehrten" als angeblichen Sprechern
der "Gottessouveränität" geht es nicht nur um die diktatorische Beherrschung, sondern auch um die
politische Mobilisierung der Gesellschaft.
Merkmal IV: Homogene und identitäre Sozialordnung im Namen des Islam
Dies läuft auf eine homogene und identitäre Gesellschaftskonzeption hinaus, nach der sich alle
Menschen in einer solchen Sozialordnung den politischen Vorgaben des "wahren Glaubens" zu
unterwerfen haben. Den "Religionsgelehrten" kommt aus der Perspektive dieses kollektivistischen
Denkens dann auch keine Bedeutung und kein Wert mehr als Einzelpersonen zu, sondern nur als Teil
einer "Glaubensgemeinschaft". In dieser Sicht muss die Ausrichtung von menschlichem
Sozialverhalten auf Autonomie und Individualität als Abweichung vom Islam und demnach als
schändlicher Ausdruck von Unmoral und Verderbnis gelten. Eine solche Auffassung schließt die
Artikulation von Individual- und Partikularinteressen im Sinne eines gesellschaftlichen Pluralismus aus,
denn es gibt in einer als authentisch islamisch geltenden Gesellschaft keine Differenzen zwischen
Einzelnen und Gruppen. Gläubige und "Religionsgelehrte", Regierte und Regierende bilden ein
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Kollektiv, das Individualität nur in begrenztem Maß zulässt.
Merkmal V: Frontstellung gegen den demokratischen Verfassungsstaat
Aus den vorherigen Ausführungen ergibt sich auch eine Frontstellung der Islamisten gegen die Normen
und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates: Ihre Forderung nach einem islamischen Staat
richtet sich gegen das Gebot einer Trennung von Politik und Religion. Historisch gesehen wurde das
friedliche und gleichrangige Miteinander von Angehörigen unterschiedlicher Glaubensauffassungen
dadurch aber erst möglich. Die Beschwörung einer Gottessouveränität – als entscheidende Instanz
für Politik auf Basis der angeblich allein richtig interpretierten Botschaft des Glaubens – hebt das
demokratische Grundprinzip der Volkssouveränität auf. Und da die Deutung des behaupteten einzig
wahren Islam eine Gruppe von "Religionsgelehrten" übernehmen soll, eine selbsternannte Elite, läuft
dies auf die Etablierung einer Diktatur durch einen Einzelnen oder eine Gruppe hinaus. Menschenrechte
oder Pluralismus sind in dieser ideologisch und religiös homogen ausgerichteten Gesellschaft
überflüssig.
Merkmal VI: Fanatismus und Gewaltbereitschaft als Potentiale
Die genannten islamistischen Grundpositionen müssen nicht mit der Bereitschaft zu Gewalt und
Terrorismus einhergehen. Allerdings sind in diesem Denken Grundannahmen enthalten, die die
Gewaltbereitschaft befördern. Hierzu gehört die rigorose Verdammung der bestehenden
Gesellschaftsordnungen nicht nur in den westlichen Ländern. Aufgrund ihrer säkularen Ausrichtung
gelten sie als Lebenswelt der Unmoral und "Zustände der Unwissenheit". Da aber die Mehrheit der
Muslime derartige politische und soziale Systeme akzeptiert und nicht die Notwendigkeit zu deren
Ersetzung durch einen "Gottesstaat" fordert, sehen sich die Islamisten auch in der Frontstellung gegen
diese Gläubigen. Als eine Art selbsternannte Elite wollen sie ihnen gegenüber die Alternative einer
islamisch legitimierten Diktatur unbedingt durchsetzen. Fehlt ihnen die politische und soziale
Unterstützung, greifen Islamisten dann unter Umständen zum Mittel der Gewalt.
Islamismus als hybride Kategorie
Wie kann man den Islamismus nun begrifflich und inhaltlich sinnvoll zuordnen? Im Vergleich mit
anderen politischen Kategorien zeigen sich recht schnell Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.
Extremismus
Unter Extremismus versteht man alle Auffassungen und Handlungen, die sich gegen die
Minimalbedingungen eines demokratischen Verfassungsstaates richten. Bei dieser Zuordnung spielt
eine inhaltliche Ausrichtung im Sinne einer bestimmten politischen Ideologie keine Rolle. Insofern kann
es auch unterschiedliche Formen wie den Links- und Rechtsextremismus geben. Bei der Betrachtung
der islamistischen Ideologie lassen sich zwar bezogen auf die jeweiligen Feindbilder (Israel, USA) und
Strukturprinzipien (Antipluralismus, Kollektivismus) Gemeinsamkeiten ausmachen. Hinsichtlich der
jeweiligen Prioritäten im Selbstverständnis dominieren aber Unterschiede zum Links- (Gleichheit) und
Rechtsextremismus (Ethnie). Gleichwohl könnte man für den Islamismus durchaus von einem
"islamischen Extremismus" oder "religiösen Extremismus" als weiterer Form sprechen.
Faschismus
Mitunter findet für den Islamismus auch in polemischer Absicht die Formulierung "grüner Faschismus"
Verwendung: Bestimmte historische Erfahrungen wie etwa die Kooperation des Muftis von Jerusalem
mit den Nationalsozialisten oder unterschiedliche Gemeinsamkeiten wie Antisemitismus oder FührerDenken scheinen für diese Einschätzung auch gute Sachargumente zu liefern. Der Verfasser hält
diese Einschätzung aber nicht für überzeugend: Beim Faschismus als politischer Bewegung der Zeit
zwischen den 1920er und 1940er Jahren in Europa handelte es sich um ein ideologisch, organisatorisch
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und sozial ganz anderes Phänomen: Ethnische Gesichtspunkte spielen für den Islamismus kaum eine
Rolle, während sie für den Faschismus von zentraler Bedeutung waren. Die letztgenannten
Bewegungen definierten sich eher als säkular, wenngleich sie sich christlich-religiös geprägter Inhalte
und Rituale bedienten. Demgegenüber stellt die Berufung auf den Islam, den Propheten und die
Frühgeschichte der Religion den konstitutiven inhaltlichen Identitätsfaktor dar.
Fundamentalismus
Häufig findet bezogen auf den Islamismus auch die Formulierung "Fundamentalismus" Verwendung:
Darunter versteht man in einem engeren Sinne religiöse Bewegungen, die sich auf eine wortwörtliche
Auslegung ihrer "Heiligen Schriften" beziehen und eine Modernisierung des eigenen Glaubens rigoros
ablehnen. In einem weiteren Sinne gilt der "Fundamentalismus" als eine Sammelbezeichnung für alle
kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auffassungen, welche sich nicht einer kritischen
Prüfung ihrer Grundannahmen unterziehen wollen und argumentative Einwände mit Verweis auf die
eigenen fundamentalen Werte negieren. Der Islamismus könnte sowohl im erst- wie im letztgenannten
Sinne als eine Erscheinungsform des Fundamentalismus gelten. Umgekehrt sollte aber keine
Gleichsetzung von "islamischem Fundamentalismus" und "Islamismus" erfolgen. Dem erstgenannten
Bereich lassen sich auch orthodoxe Islamauffassungen ohne politische Aktivitäten zuordnen – womit
ein konstitutives Merkmal von "Islamismus" fehlt.
Totalitarismus
Und schließlich wäre noch zu erörtern, inwieweit der Islamismus als eine neue Form des Totalitarismus
gelten kann. Mit dieser Bezeichnung wird ein bestimmter Diktaturtyp begrifflich erfasst, der sich sowohl
von einer liberalen Demokratie als auch von einer autoritären Diktatur unterscheiden lässt. Der zentrale
Unterschied zum Letztgenannten besteht darin, dass es einer totalitären Diktatur um die breite
Durchdringung der Gesellschaft geht und diktatorische Herrschaft demnach nicht nur auf
Staatsfunktionen begrenzt wäre. Genau dies ist auch die Absicht von Islamisten, wollen sie doch selbst
das Privatleben der Menschen in Richtung ihrer ideologischen Auffassungen steuern. Insofern wäre
die Bezeichnung "totalitär" auf den Islamismus anwendbar, auch wenn der Begriff eigentlich als
Terminus für die Staatsebene benutzt wird. Da es aber nur wenige islamistische Staaten und Systeme
gibt, stellt die Anwendung des "Totalitarismus"-Begriffs ein Problem dar. Bezogen auf die Ideologie
kann man durchaus von einer Erscheinungsform des "totalitären Denkens" sprechen.
Schlusswort und Zusammenfassung
Bei "Islamismus" geht es um eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und
Handlungen, die im Namen des Islam die Errichtung einer religiös legitimierten Gesellschafts- und
Staatsordnung anstreben. Islamisten bedienen sich unterschiedlicher Handlungsstile von der
Parteipolitik über die Sozialarbeit bis zum Terrorismus. Ihnen allen sind verschiedene Merkmale eigen:
1.
Die Absolutsetzung des Islam als Lebens- und Staatsordnung.
2.
Der Vorrang der Gottes- vor der Volkssouveränität als Legitimationsbasis.
3.
Die angestrebte vollkommene Durchdringung und Steuerung der Gesellschaft.
4.
Die Forderung nach einer homogenen und identitären Sozialordnung im Namen des Islam und
5.
die Frontstellung gegen
Verfassungsstaates.
die
Normen
und
Regeln
des
modernen
demokratischen
Dies macht in der Bilanz aus dem Islamismus eine Form des religiösen Extremismus, ein Phänomen
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des politischen Fundamentalismus und eine Variante des ideologischen Totalitarismus.
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Totalitarismus? Eine Erörterung zu Angemessenheit und Erklärungskraft der Zuordnungen, in:
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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
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Islamismus und Fundamentalismus
Von Martin Riexinger
5.7.2007
Dr. Martin Riexinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für
Arabistik/ Islamwissenschaft in Göttingen.
Seit 9/11 hat ein Wort Hochkonjunktur: Islamismus. Aber was versteht man eigentlich darunter?
Und welche Erscheinungsformen gibt es?
Mitte des 20. Jahrhunderts formulierten islamische Autoren eine Ideologie, für die im Deutschen die
Begriffe "Islamismus" und "islamischer Fundamentalismus" verwendet werden. Fundamentalismus ist
insofern ein problematischer Begriff, als er im christlichen Kontext die theologische Position bezeichnet,
wonach die Heilige Schrift wörtlich verstanden werden müsse. Der relevante Aspekt des Islamismus
ist jedoch, dass es sich um eine Herrschaftstheorie handelt, wenngleich seine Wortführer in
theologischen Fragen durchaus "Fundamentalisten" sind.
Beim Islamismus handelt es sich um eine Ideologie, die in der Auseinandersetzung mit westlichen
Weltanschauungen formuliert wurde. Deshalb charakterisiert ihn eine Mischung von Elementen, die
seit Jahrhunderten im islamischen Denken verankert sind und Importen aus westlichen
Weltanschauungen. Dass das islamische Recht auch mit Hilfe der staatlichen Institutionen
durchzusetzen sei, ist eine althergebrachte Auffassung. Gleiches gilt für das Bestreben, durch jihād
den Herrschaftsbereich des Islam auszuweiten. Die antisemitischen Verschwörungstheorien gehen
dagegen auf europäische Vorbilder zurück. Ideen wie die Begründung einer islamischen Ökonomie
oder einer islamischen Wissenschaft sind auf das Bestreben zurückzuführen, westlichen Ideologien
Gleichwertiges entgegenzusetzen.
Wegen dieser eigentümlichen Mischung ist der Islamismus gegenüber folgenden politischen
Bewegungen und Strömungen abzugrenzen, wenngleich die Übergänge fließend sind:
1.
Radikalen traditionalistischen Bewegungen wie den Taliban und ihren Verbündeten in Pakistan
sowie den wahhabitischen Opposition in Saudi- Arabien.
2.
Konservativen Reformbewegungen, die entweder apolitisch ausgerichtet sind wie die indopakistanische Missionsbewegung Tablīghī Jamā´at, oder Bündnisse mit konservativen politischen
Kräften schließen wie die Nurcus in der Türkei.
3.
Konservativen Gelehrten in den staatlichen religiösen Lehranstalten, die, wenngleich sie in Fragen
mit den Islamisten übereinstimmen, das politische Herrschaftssystem nicht infrage stellen.
4.
Versuchen, durch die Präsentation in entsprechender Terminologie sozialistische Politik als "linken"
Islam zu verkaufen.
Von der Entwicklung in der Türkei wird abhängen, ob dieser Liste in näherer Zukunft eine fünfte Rubrik
hinzugefügt werden muss: ein politisch aktiver konservativer Islam, der sich in das parlamentarische
System integriert.
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Entstehung und Erscheinungsformen
Der Islamismus im engeren Sinne entstand um 1930 unabhängig in zwei verschiedenen Regionen.
In Ägypten gründete 1928 der Lehrer Hasan al-Bannā´ (1906 – 1949) die Vereinigung der Muslimbrüder.
Sie war zunächst als karitative Organisation konzipiert, entwickelte sich aber zu einer hierarchischen
Massenpartei, die Zellen im gesamten Land unterhielt und in die arabischen Nachbarländer
expandierte. Als Theoretiker taten sich die frühen Muslimbrüder nicht hervor. Abgesehen von der
Förderung der islamischen Moralität und der Abschaffung der "Parteienwirtschaft" forderten sie
wirtschaftliche Autarkie, die Förderung des einheimischen Gewerbes und die Verstaatlichung der
Bodenschätze.
Der zweite Begründer des Islamismus profilierte sich hingegen primär als Theoretiker. Sayyid Abu lAlā Maudūdī (1903 – 1979), der einer verarmten Familie der nordindischen muslimischen Aristokratie
entstammte, formulierte in den 1930er Jahren die politische Theorie, wonach allein Gott legitimer
Gesetzgeber sei. Deswegen müssten alle menschengemachten Ordnungen als "neues Heidentum"
verworfen werden. Gleichwohl weisen seine Konzepte unverkennbar Einflüsse westlicher totalitärer
Ideologien auf. Am Faschismus bewunderte er die Absicht, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus
und Sozialismus zu finden, der Kommunismus imponierte ihm, weil der Staat ganz in den Dienst einer
politischen Ideologie gestellt wird. 1941 gründete er die am leninistischen Vorbild ausgerichtete
Kaderpartei Jamāat-i islami (Islamische Gemeinschaft). In Pakistan, wohin Maudūdī 1947 übersiedelte,
blieb sie eine kleine, wenngleich überproportional einflussreiche Partei.
Ende der 1940er Jahre wurden Maudūdīs Ideen in Ägypten bekannt. Sie beeinflussten den jungen
Literaten Sayyid Qutb (1906 – 1966), der nach dem Putsch der Freien Offiziere um Nasser 1952
zunächst als Mittelsmann zwischen ihnen und den Muslimbrüdern fungierte. Als sich die Freien Offiziere
dem Sozialismus zuwandten, kam es jedoch zum Bruch zwischen beiden Bewegungen, und die
Muslimbrüder wurden verfolgt. In der Haft vor seiner Hinrichtung verfasste Sayyid Qutb mehrere
Abhandlungen, in denen er darlegt, dass die Muslime verpflichtet seien, gegen die gottlosen,
menschengemachten Ordnungen zu revoltieren. Diese Idee wurde in Ägypten während der 1970er
Jahre von mehreren radikalen Gruppierungen aufgegriffen. Während sich die Muslimbrüder gegen
eine gewaltsame Machtübernahme aussprachen und versuchten, durch eine Islamisierung der
Gesellschaft von unten langfristig einen islamischen Staat zu errichten, führten diese Gruppierungen
Attentate auf Christen, Touristen und Repräsentanten des Staates vom einfachen Polizisten bis zum
Staatspräsidenten Sadat aus. Neben den Vertretern des radikalen Wahhābismus aus Saudi-Arabien
bilden sie heute ein Hauptelement von al-Qā´ida, in der einer ihrer Führer, Aiman az-Zawāhirī, als
Cheftheoretikers fungiert.
Der schiitische Islamismus in Iran knüpft an spezifisch schiitische Vorstellungen an. Nach Auffassung
der Schiiten ist der einzige legitime Herrscher der zwölfte Imam, ein angeblich "entrückter" Nachfahr
Muhammads. Da jedoch auch in dessen Abwesenheit die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten werden
musste, wurde nach traditioneller schiitischer Theorie die Rechtssprechung den Gelehrten und die
Exekutivgewalt den weltlichen Herrschern übertragen. In dem von Āyatullāh Khumainī (1902 – 1989)
formulierten Konzept der stellvertretenden Herrschaft des Rechtsgelehrten (wilāyat al-faqīh), wird auch
die Exekutivgewalt an dafür qualifizierte Gelehrte übertragen. Er selbst übernahm nach der
erfolgreichen Revolution 1979 diese Funktion, seit seinem Tod füllt sie ein Wächterrat aus, der über
Parlament und Regierung steht.
In der Türkei entwickelte sich der Islamismus ebenfalls eigenständig. Während anderorts Islamisten
den Sufismus ablehnen, ist die islamistische Bewegung in der Türkei eng mit dem unter Atatürk
verbotenen Nakşibendi-Orden verbunden. Mit Unterstützung führender Ordensführer gründete
Necmettin Erbakan 1970 die Partei der Nationalen Ordnung, die mehrfach nach Verboten unter
anderem Namen neu gegründet wurde. Doch es gelang den Islamisten in der Türkei nicht, die religiöse
Opposition gegen das säkulare System zu monopolisieren, da mehrere religiöse Bewegungen sich
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dem ideologischen Anspruch des Staates entzogen, dabei jedoch Parteien der rechten Mitte
unterstützten. 1994 wurde Erbakans Wohlfahrtspartei stärkste Partei und konnte mit der Partei des
Rechten Weges eine Koalition eingehen. Auf Druck des Militärs musste diese Regierung jedoch 1997
aufgeben. Daraufhin spaltete sich der größere Teil der Mitglieder ab und gründete die AKP, deren
Führung um Tayyip Erdoğan pragmatisch und unideologisch auftritt.
Islamismus in Europa
Islamistische Strömungen gelangten auf zwei Wegen nach Europa. Zum einen entzogen sich bekannte
Muslimbrüder der Verfolgung in Ägypten und Syrien dadurch, dass sie in Europa Asyl suchten. Sie
spielten eine führende Rolle bei der Organisation islamistischer Netzwerke. Zum anderen waren
Islamisten unter Arbeitsmigranten und Studenten vertreten. Die meisten von ihnen gehören zu
Organisationen, die eng mit in den Herkunftsländern aktiven Bewegungen verbunden sind. Gerade
unter jüngeren und gebildeteren, sowie bei Konvertiten finden transnational ausgerichtete
Organisationen wie die Hizb at-Tahrir (Befreiungspartei) Anhänger (Taji-Farouqi).
Islamismus und demokratische Verfassung
Aus zwei Gründen ist der Islamismus kaum mit dem demokratischen Verfassungsstaat in Einklang zu
bringen. Der alleinige Geltungsanspruch des "göttlichen" Rechts widerspricht dem Prinzip der
Volkssouveränität wie auch dem Gedanken, dass Entscheidungen des Gesetzgebers revidiert werden
können. Die Anwendung dieses Rechts wiederum impliziert eine Diskriminierung von Frauen und
Nichtmuslimen, sowie, dass Muslimen bei Androhung der Todesstrafe die Abkehr vom Islam verboten
ist.
Literatur
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Islamismus im 19. und 20. Jahrhundert
Salafiya-Bewegung
Von Dr. Franz Kogelmann
5.7.2007
Dr. Franz Kogelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Bayreuth. Zu seinen
Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Scharia-Debatten und islamisches Recht in Afrika sowie islamische Bewegungen in
Ägypten.
Die Salafiya-Bewegung gilt als ein Vorläufer der Muslimbruderschaft. Beide Bewegungen übten
im 20. Jahrhundert großen Einfluss auf die Entwicklung unterschiedlichster islamistischer
Ideologien aus. Darunter sind auch zahlreiche militante Gruppen.
Anfang des Jahres 2003 wurden knapp drei Dutzend Touristen in der algerischen Sahara entführt.
Offizielle Stellen beschuldigten die so genannte Groupe Salafiste pour la prédication et le combat
(GSPC bzw. Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf) diese Monate andauernde Entführung
inszeniert zu haben. Im Mai des gleichen Jahres verübten Selbstmordattentäter Anschläge in
Casablanca. Die marokkanischen Behörden machten für die Anschlagsserie eine Gruppe namens
Salafiya Jihadiya (Für den Heiligen Krieg kämpfende Salafisten) verantwortlich. Nach der
Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahre 2007 spricht die militant islamistische
Bewegung der Jihadiya Salafiya Drohungen gegen Andersgläubige aus. Nach einer islamistisch
motivierten Anschlagsserie in Algerien im April 2007 tritt die Gruppe der Beschützer des salafistischen
Aufrufs (Jihadiya SalafiyaHumat ad-Dacwa as-Salafiya) an die Öffentlichkeit, um sich von diesen
Attentaten sowie von den Machenschaften von al-Qaida und GSPC in Algerien zu distanzieren. So
wenig diese militant-islamistischen Gruppen in ihren Methoden und häufig auch in ihrer Weltsicht
gemeinsam haben, alle tragen den Begriff Salafiya in ihren Namen.
Die islamische Reformbewegung Salafiya
Selbst wenn sich die Anhänger der in Saudi-Arabien staatstragenden religiösen Ideologie des
Wahhabismus gelegentlich als Gefolgsleute der rechtschaffenden Altvorderen (as-Salafiyun)
bezeichnen, populär wurde der Begriff Salafiya im ausgehenden 19. Jahrhundert als Bezeichnung für
eine islamische Reformbewegung von weitreichender Wirkung. Gemeinhin wird Paris als Geburtsort
für die Salafiya Bewegung angenommen. Djamal ad-Din al-Afghani (1837/8-1897), rastloser Agitator
gegen den europäischen Kolonialismus und für die Sache des Panislamismus, sowie Muhammad
Abduh (1849-1905), ägyptischer Intellektueller, Exilant und späterer oberster Mufti von Ägypten,
gründeten in der französischen Hauptstadt 1884 als Sprachrohr ihrer Ideen zur Reform des Islam die
Zeitschrift al-Urwa al-Wuthqa (Das feste Band). Sie war zwar recht kurzlebig, doch waren in ihr bereits
die Eckpunkte der Ideologie der Salafiya-Bewegung skizziert.
Das zentrale Leitthema aller islamischen Reformbemühungen konzentriert sich seither auf die Frage,
weshalb die Muslime im Vergleich zum Westen so schwach und rückständig sind. Durch ein Abweichen
vom wahren Islam sei diese Misere hervorgerufen worden, so die Antwort. Erst eine Rückbesinnung
auf die Zeit der rechtschaffenden Altvorderen (as-Salaf as-Salih) – daher der Name Salafiya – würde
die Muslime auf den rechten Weg zurückführen und die muslimische Gemeinschaft würde somit wieder
den ihr zustehenden Platz in der Weltgeschichte einnehmen. Wer jedoch in diese Gruppe der
rechtschaffenden Altvorderen, abgesehen vom Propheten und seinen unmittelbaren Genossen, fällt,
ist umstritten. Erstreckte sich für Muhammad Abduh dieser Personenkreis noch auf die großen
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islamischen Rechtsgelehrten und Gründer der unterschiedlichen Rechtsschulen im 3. oder 4.
Jahrhundert nach islamischer Zeitrechnung, schränkte sein Schüler Raschid Rida (1865-1935) den
Kreis der Altvorderen bereits deutlich ein.
Allerdings forderten weder Abduh noch Rida eine originalgetreue Neuauflage der frühislamischen
Gemeinschaft in der Gegenwart, sondern die Altvorderen dienten vielmehr als Inspiration zur Lösung
zeitgenössischer Probleme sowie zur Erzielung von Fortschritt und sozialer Erneuerung unter Wahrung
einer spezifisch muslimischen Identität. Die grundlegenden Quellen des Islam, der Koran und die
Überlieferungen des Propheten, die Sunna, sollen rational und im Lichte der zeitgenössischen
Erfordernisse neu interpretiert werden. Als Modernisten war ihr Blick nicht rückwärtsgewandt, sondern
in die Zukunft gerichtet. Ihre Ziele versuchten die Gründer der Salafiya-Bewegung durch eine Reform
des Bildungswesens, meist gegen den Willen des religiösen Establishments und im Kontext des
kolonialen Staates, zu erreichen. Untrennbar mit einer muslimischen Identität verbunden ist die
Betonung des islamischen Rechts, der Scharia, das die oberste Richtschnur für islamisch korrektes
Handeln für den einzelnen Muslim ist. Gleichzeitig werden bestimmte Praktiken des Sufismus, der
mystisch inspirierten Spielart des Islam, als unislamische Neuerungen verworfen.
Zahlreiche persönliche Kontakte, aber vor allem die ab 1898 über vier Jahrzehnte erscheinende
Zeitschrift al-Manar (Der Leuchtturm) verbreiteten die Ideen der Salafiya-Bewegung in der gesamten
muslimischen Welt, die großen Einfluss auf die sich im Laufe der 1930er Jahre entstandenen, gegen
die europäischen Kolonialmächte gerichteten nationalistischen Bewegungen hatten. Seit den 1970er
Jahren gingen die ursprünglich modernistischen Ansätze der Salafiya Bewegung weitgehend verloren,
zu sehr wird die Salafiya seither mit dem Wahhabismus der saudischen Herrscher identifiziert.
Neo-Salafiya: Die Gesellschaft der Muslimbrüder
Zu den wichtigsten durch die Ideologie der Salafiya Bewegung inspirierten islamistischen Bewegungen
zählt die von Hasan al-Banna (1906-1949) Ende der 1920er Jahre in Ägypten gegründete Gesellschaft
der Muslimbrüder (Jamiyat al-Ikhwan al-Muslimin). Aufgrund der ideologischen Weiterentwicklung wird
sie auch als Beispiel der so genannten Neo-Salafiya bezeichnet.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sie sich zu einer streng hierarchisch organisierten
primär urbanen Massenbewegung mit einer klar definierten Ideologie. Für die Muslimbrüder ist der
Islam ein allumfassendes auf Koran und Sunna beruhendes System, das immer und überall anwendbar
sei. Sie versteht sich als politische Organisation, die zahlreiche sozial-karitative und wirtschaftliche
Aktivitäten entwickelte. Hier liegt auch ein gravierender Unterschied zu Abduh und Rida, deren
Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung durch eine von oben initiierte Reform des
Bildungswesens geleitet waren. Al-Banna hingegen wandte sich durch seinen Aktionismus an die
muslimischen Massen und reagierte unmittelbar auf deren materielle, soziale und religiöse Bedürfnisse.
Grundlage für ein Wiedererstarken der Muslime sei die Errichtung eines islamischen Systems (nizam
islami). Das islamische Recht soll im Lichte zeitgenössischer Erfordernisse neu interpretiert werden
und als oberste Richtschnur für ethisch korrektes Handeln nicht nur dem einzelnen Muslim dienen,
sondern auch dem Herrscher bzw. dem Staat. Europäische Fremdherrschaft ist somit in jedem Fall
inakzeptabel und wird als Bedrohung der Scharia sowie der muslimischen Gemeinschaft betrachtet.
Aber auch die Legitimität eines muslimischen Herrschers wird an der Umsetzung des islamischen
Rechts gemessen.
Nach einer Phase der Expansion – in Palästina, Syrien, Jordanien und Sudan kam es in den 1940er
Jahren zur Gründung von direkten Ablegern der Muslimbrüder –, folgte im Ägypten der 1950er und
1960er Jahre eine Phase staatlicher Verfolgung. Die Gesellschaft wurde verboten, ihre Organisation
zerschlagen und ihre Anhänger verfolgt. Die Repressalien des ägyptischen Staates hatten mehrere
Konsequenzen. Zahlreiche führende Muslimbrüder waren gezwungen ins Exil zu gehen, was zu einer
Weiterverbreitung ihres Gedankengutes führte. Zudem setzte mit Sayyid Qutb (1906-1966) eine
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ideologische Radikalisierung ein.
Qutb popularisierte einen für nachfolgende islamistische Bewegungen grundlegenden Begriff. Seiner
Meinung nach befindet sich die gesamte muslimische Welt im Zustand der Jahiliya, der vorislamischen
Barbarei und Ignoranz. Zentral für diesen Zustand ist der Umstand, dass Herrschaft sowie
Gesetzgebung der Willkür der Menschen unterliegen und nicht Gott. Selbst wenn der einzelne Muslim
sein Leben nach den Vorschriften der Scharia ausrichtet, ist die Gesamtgesellschaft noch lange nicht
islamisch. Es sei Pflicht für alle Muslime diese unislamischen Zustände zu beseitigen – auch unter
Einsatz von Gewalt. Der Jihad ist für Qutb ein revolutionärer Befreiungskampf. Er ist Glaubenskrieg,
Kampf für Gott, und Kampf für den Menschen, deren Errettung aus der Unterdrückung er bewirkt.
Erst nach der Machtübernahme von Anwar as-Sadat im Jahr 1970 hatten die Muslimbrüder in Ägypten
wieder die Möglichkeit, in dem von den Machthabern gebilligten Rahmen öffentlich zu agieren. Obwohl
sie der Gewalt und den von Qutb entwickelten radikalen Thesen abgeschworen haben und zu den
moderaten Islamisten zählen, blieb ihnen ein rechtlich abgesicherter Status bislang aber verwehrt.
Trotz dieser prekären Situation waren sie dazu in der Lage, auf die ägyptische Gesellschaft und Politik
wieder einen großen Einfluss auszuüben und gelten heutzutage als stärkste Oppositionsgruppe im
Lande. Ihre Bemühungen, die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben, führte zwar zu einer
Islamisierung des politischen Diskurses, aber auch zu einer Stärkung des vom Staat kontrollierten und
von den Muslimbrüdern abgelehnten religiösen Establishments.
In Syrien beteiligten sich die Muslimbrüder seit den 1960ern aktiv am gewaltsamen Widerstand gegen
das herrschende Regime. Ab 1980 stellte das Regime in Damaskus die Mitgliedschaft in der
Gesellschaft der Muslimbrüder unter Todesstrafe. Mit dem äußerst brutalen Niederschlagen des
Aufstandes der Muslimbrüder in der Stadt Hama war der politische Einfluss der Muslimbrüder in Syrien
schließlich weitgehend beendet. In Jordanien wiederum sind Muslimbrüder im Parlament vertreten
und immer wieder an der Regierung beteiligt. Mit Unterstützung der von Hasan at-Turabi geführten
Muslimbrüder putschte sich 1989 General Umar al-Baschir im Sudan an die Macht. Erstmals hatte
sich eine sunnitisch-islamistische Bewegung eines Staates bemächtigt und begann, ihn ihren
Vorstellungen entsprechend umzugestalten. In den besetzten Gebieten gewann die sich aus den
palästinensischen Muslimbrüdern entwickelte Hamas im Januar 2006 die Parlamentswahlen und nach
bürgerkriegsartigen Zuständen 2007 die Macht im Gaza Streifen. (vgl. dazu den Artikel "Hamas" von
Peter Philipp in diesem Dossier) Diese Beispiele belegen, dass die Gesellschaft der Muslimbrüder
keineswegs eine einheitliche Bewegung ist, sondern vielmehr im Rahmen von Nationalstaaten –
unabhängig von der jeweiligen Staatsform – agiert und ihre politischen Strategien entsprechend
anpasst.
Sowohl die Salafiya-Bewegung als auch die Muslimbrüder – weder die eine noch die andere bildet
eine in sich geschlossene und homogene Bewegung – übten im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit
einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der unterschiedlichsten islamistischen Ideologien aus. Es
lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sie auch die radikalsten und militantesten Gruppen inspiriert
haben. Beide Strömungen sind ursprünglich als Reaktion auf die Unfähigkeit der eigenen Herrschaft
und die daraus resultierende westliche Vorherrschaft entstanden – der unverminderte Zulauf zu
radikalen Gruppen lässt vermuten, dass sich seither offenbar nur wenig geändert hat.
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Literatur
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Damir-Geilsdorf, Sabine. Herrschaft und Gesellschaft: der islamistische Wegbereiter Sayyid Qut b und
seine Rezeption. Wu rzburg: Ergon, 2003.
Dufner, Ulrike. Islam ist nicht gleich Islam: die tu rkische Wohlfahrtspartei und die a gyptische
Muslimbru derschaft : ein Vergleich ihrer politischen Vorstellungen vor dem gesellschaftspolitischen
Hintergrund. Opladen: Leske + Budrich, 1998.
Ende, Werner, Udo Steinbach (Hrsg.). Der Islam in der Gegenwart. Mu nchen: Beck, 2005.
Grundmann, Johannes. Islamische Internationalisten: Strukturen und Aktivita ten der
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Hourani, Albert. Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939. Cambridge: Cambridge University
Press, 1993.
Kepel, Gilles. Das Schwarzbuch des Dschihad: Aufstieg und Niedergang des Islamus. Mu nchen:
Piper, 2002.
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Extremismus. Mu nchen [etc.]: Piper, 1995.
Kerr, Malcolm H. Islamic Reform; The Political and Legal Theories of Muh ammad Abduh and Rashi¯d
Rid a¯. Berkeley: University of California Press, 1966.
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Laoust, Henri. Le re'formisme orthodoxe des "Salafiya" et les carate`res ge'ne'raux de son orientation
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Meier, Andreas. Der politische Auftrag des Islam: Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus
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Mitchell, Richard Paul, und John Obert Voll (Vorwort). The Society of the Muslim Brothers. New York:
Oxford University Press, 1993.
Qut b, Sayyid, und William E. Shepard (Hrsg. und Übersetzer). Sayyid Qutb and Islamic Activism: A
Translation and Critical Analysis of Social Justice in Islam. Social, economic, and political studies of
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Schulze, Reinhard. Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhundert: Untersuchungen zur
Geschichte der Islamischen Weltliga. Leiden: Brill, 1990.
Internetquelle:
www.crisisgroup.org (http://www.crisisgroup.org)
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Endzeitvisionen als Quelle islamistischer Gewalt?
Von Reinhard Möller
1.8.2011
Reinhard Möller studierte Soziologie, Philosophie und Völkerrecht in Heidelberg. Er ist Herausgeber und Koautor des Sammelbandes
"Islamismus und terroristische Gewalt".
Im radikal-islamischen Milieu gelten Selbstmordattentäter als Märtyrer, denen der unmittelbarte
Weg ins Paradies sicher sein soll. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen eschatologischen
Vorstellungen im Koran und islamistischer Gewalt? Reinhard Möller gibt Antworten.
Eschatologie im Koran
Gerade im Zusammenhang mit Selbstmordanschlägen islamistischer Terroristen in Vergangenheit und
Gegenwart wird die Thematik der Endzeitvorstellungen im Islam immer wieder aktuell. Attentäter
solcher Art gelten im radikal-islamischen Milieu als schätzens- und nachahmenswerte Märtyrer, denen
der unmittelbare Zugang zum himmlischen Paradies sicher sein soll. Nach Koran und
Prophetenüberlieferungen (Hadithe) erwarten sie dort nie endende Wonnen, nicht zuletzt mit
Paradiesjungfrauen, und ewige Seligkeit. Neben der Lehre von dem Einen und allmächtigen
Schöpfergott zählt die Verkündung des Jüngsten Tages und das Leben nach dem Tod zu den
Kernaussagen von Mohammeds Botschaft, die in anschaulicher, teils auch derber Sprache formuliert
ist. Was sind nun die zentralen eschatologischen (Eschatologie = Lehre von den letzten Dingen)
Themen im Koran? Es sind diese:
•
der Weltuntergang als kosmische Katastrophe
•
die Auferstehung bzw. Auferweckung der Toten
•
der Tag des Gerichts – mit Gott als strengem und gerechten Richter
•
Paradies und Hölle.
Der Prophet Mohammed hat zumindest einen Teil seiner eschatologisch-apokalyptischen
Anschauungen und Visionen (Apokalyptik = Schrifttum über das Weltende) aus jüdischen und
christlichen Glaubenstraditionen übernommen und ist sicher auch von der altpersischen Reformreligion
des Zarathustra beeinflusst worden. Für die Mehrheit der heutigen gläubigen Muslime steht die Realität
von Wiederauferstehung der Toten, Jüngstem Gericht, Paradies und Hölle außer Frage. Für manche
radikalen Islamisten sind eschatologische Erwartungen ein Motiv, im Dschihad ("heiliger Krieg") ihr
Leben für die Sache Allahs zu opfern.
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Eschatologische Vorstellungen in nachprophetischer Zeit
Was am Weltende geschieht und zu erwarten ist, haben auch verschiedene Hadith-Sammlungen zum
Thema. Die darin enthaltenen Erzählungen und Berichte, neben dem Koran verbindliche Leitlinien für
die Gläubigen, runden mit vielen Details die Jenseitsvorstellungen des Heiligen Buches ab. Eine
wichtige Rolle spielen in diesen Zusammenhängen drei eschatologische Gestalten, nämlich Daggal,
Mahdi (der durch Gott Rechtgeleitete) und Isa (Jesus). Der Daggal, Äquivalent zum "Antichrist" der
Bibel, soll am Ende der Zeiten auftreten und nach einer Schreckensherrschaft von 40 Jahren vom
Mahdi, nach anderen Darstellungen von Jesus, getötet werden. Der Mahdi ist in islamischen
Eschatologien die Figur, die vor dem Jüngsten Gericht Recht und Gerechtigkeit in der muslimischen
Gemeinschaft (Umma) wiederherstellen wird. Am Jüngsten Tag soll – wie angedeutet – auch Jesus
wiederkommen und als Fürsprecher für die Christen in Erscheinung treten.
Zum Mahditum in der Schia
In der Schia (ursprünglich "Partei" oder "Interessengruppe" innerhalb einer arabischen
Stammesföderation), insbesondere bei den Zwölferschiiten, verbindet sich die Hoffnung auf den Mahdi
mit dem Glauben an den zwölften Imam als den letzten in der Kette der unfehlbaren Imame. Dieser,
auch "Erlöser"-Imam genannt, sei – so wird berichtet – nicht gestorben, sondern lebe seit dem Jahre
873 in einer geheimnisvollen Verborgenheit. Doch eines Tages werde er wieder erscheinen, um die
Tyrannenherrschaft zu beenden und Gottes Reich auf Erden zu errichten. Für Schiiten sind Ali (gest.
661), Vetter und Schwiegersohn Mohammeds wie zugleich Stammvater der Imame, und seine
Nachkommen die einzigen religiösen wie politischen Autoritäten, die bisher das Amt des Imams
ausüben durften. Heute noch gedenken Schiiten in Passionsspielen und Umzügen des Martyriums
ihres dritten Imams Hussein, des Sohnes von Ali, der im Jahre 680 in Kerbela am Euphrat mit fast all
seinen Gefährten im Kampf gegen den Umayyaden-Kalifen Jazid getötet wurde.
In islamischen Ländern schiitischer wie sunnitischer Prägung hat es übrigens im Laufe der Geschichte
immer wieder so genannte Mahdi-Bewegungen gegeben – mit anderen Worten eschatologische
Aufbrüche mit teilweise revolutionärer Zuspitzung.
Eschatologische Vorstellungen und Erwartungen im Islamismus
Seit den 1970er Jahren sind im Islam Strömungen und Bewegungen hervorgetreten, die man als neofundamentalistisch oder korrekter als islamistisch bezeichnen kann. Islamistische Bewegungen wollten
von Anfang an die Ideologien des arabischen Nationalismus und Sozialismus, deren Verheißungen
unerfüllt blieben, ablösen und zur Religion als alleiniger Richtschnur im Leben der Menschen und
Völker zurückkehren. Für die Mehrzahl der Islamisten ist der Islam Religion und Staat (din wa daula)
zugleich, ein vollkommenes System, das alle Bereiche des menschlichen und gesellschaftlichen
Lebens bestmöglich regeln kann. Radikale Ideologen in ihren Reihen erklären die von Mohammed
einige Jahre geleitete muslimische Urgemeinde in Medina als vorbildlich, sind jedoch der Ansicht, dass
die Herrschaft Gottes in der Zeit des Propheten nicht endgültig vollendet worden sei, sondern noch
verwirklicht werden müsse – ein letztendlich "revolutionärer Traum zur Erlösung der Zukunft" (Büttner,
205).
Die Gegenbilder zur insgesamt unheilvoll wahrgenommenen Gegenwart entnehmen die genannten
Ideologen unter anderem den eschatologisch-apokalyptischen Traditionen des Islam. Ihr
"doppelgerichtetes Geschichtsverständnis" (Büttner, 206), also Rückbezug zur muslimischen
Urgemeinde und gleichzeitig starke Ausrichtung auf die erwartete Endzeit, kann unter bestimmten
Bedingungen zu Gewaltausbrüchen und Terror führen. Die Vorbereitung des künftigen idealen Reiches
des Friedens und der Gerechtigkeit ist für die Radikalen durch den Jihad und in vielen Fällen den
bewaffneten "heiligen Krieg" zu realisieren – ein Konzept, das natürlich engstens mit der
eschatologischen Thematik verknüpft ist. Heinz Halm schreibt in Ergänzung dazu: "[...] jeder
Befreiungskampf, jedes Kommandounternehmen, jeder Selbstmordanschlag oder revolutionäre
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Umsturzversuch lässt sich leicht mit dem Etikett jihad´ versehen und so mit einer religiösen Legitimation
ausstatten." (Halm, 88) Nicht selten wird der Kampf gegen äußere und innere Feinde durch religiöse
Deutungen universalisiert und auf eine mythische Ebene übertragen. Es ist dann die Rede von einer
mythisch-kosmischen Konfrontation zwischen Gut und Böse, göttlichen und satanischen Mächten bzw.
deren Agenten.
Eschatologie und extreme Militanz
Nachfolgend Belege für Zusammenhänge zwischen eschatologisch-apokalyptischen Anschauungen
und islamistischer Gewalt anhand dreier Fallbeispiele:
a) Ayatollah Khomeini und die iranische Revolution
Schon Anfang der 1960er Jahre geißelte der Ayatollah (gest. 1989) die autoritäre, prowestliche Politik
des Schahs Reza Pahlevi und forderte die Abschaffung der iranischen Monarchie, was einem Bruch
mit der traditionellen zwölferschiitischen Lehre gleichkam. Zeichnete sich die Schia doch überwiegend
durch politischen Quietismus (Quietismus = religiös begründete Zurückhaltung) und eine
prämillenarische Imamatslehre aus. Danach werde das ersehnte Millennium, das tausendjährige Reich
des Friedens und der Gerechtigkeit, durch den wiederkehrenden, aber noch verborgenen Imam Mahdi,
nicht jedoch von Menschenhand herbeigeführt.
Khomeini vertrat also eine aktivistische Variante der Lehre und steuerte vom Exil aus die zum Teil
gewaltsamen Entwicklungen in Iran. Diese führten bekanntlich zur Abdankung des Schahs und zur
Islamischen Revolution 1978/79. Bereits am 1. April 1979 proklamierte er in Teheran die Islamische
Republik Iran, die er mit der Herrschaft Allahs auf Erden gleichsetzte.
Er nahm für sich in Anspruch, als besonders qualifizierter islamischer Rechtsgelehrter die Regierung
des Landes zu übernehmen und das Reich des Imams Mahdi bis zu dessen Wiederkehr stellvertretend
zu führen. Den Krieg gegen den sunnitischen Erzfeind Irak (1980-88) bezeichnete der
Revolutionsführer und klerikale Diktator als "gottgewollt" und "heilig". Sein Aufruf zum Kampf und
Selbstopfer an der Front wurde von Tausenden junger Iraner freudig begrüßt und befolgt. Diese seien
alle – so Khomeini – "Schützlinge des Imams Mahdi [...] und könnten sich im Fall ihres Todes eines
Platzes im Paradies gewiss sein." (zitiert nach Armstrong, 457)
b) Hamas – die sunnitische Bewegung des palästinensischen Widerstands
Hamas wurde 1987 als Zweig der ägyptischen Muslimbruderschaft von dem charismatischen Scheich
Ahmad Yasin und sechs weiteren Mitstreitern gegründet. Dies geschah in der Zeit der ersten Erhebung
(Intifada) der Palästinenser gegen die israelische Besetzung von Westbank und Gazastreifen.
Die aus politischem und militantem Flügel bestehende Bewegung entwickelte sich rasch zu einer
islamistischen Alternative zur Palästinensischen Befreiungsfront (PLO), deren Anhänger überwiegend
säkular und nationalistisch gesinnt sind. Hamas zeichnet sich auch heute noch – zumindest in Teilen –
durch religiösen Eifer und die "Theologie des Dschihad" aus. Selbstmordattentate, die extremste Form
der Gewalt bei Dschihad-Missionen, setzten die Aktivisten erstmals als Reaktion auf das Massaker
ein, das der jüdische Arzt Baruch Goldstein im Februar 1994 an betenden Muslimen am Patriarchengrab
in Hebron verübt hatte. "Operationen" dieser Art – so die Aktivisten – seien kein Selbstmord im
eigentlichen Sinne, sondern selbst gewähltes Märtyrertum.
Der Terrorismusforscher Walter Laqueur sprach einmal davon, dass Hamas im Unterschied zur PLO
"tiefreligiös" (Laqueur, 179) sei. Ihre Charta aus dem Jahre 1988 zeigt übrigens eindeutig endzeitliche
Züge, wenn es darin heißt, das Land Palästina sei eine fromme islamische Stiftung, die den Muslimen
"bis zum Tag der Auferstehung übergeben worden sei." Und "die letzte Stunde werde erst kommen,
wenn die Juden besiegt und getötet worden seien." (Artikel 11 u. 7 zitiert nach Ahmad, 135-140)
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Auch nach der Machtübernahme 2007 im Gazastreifen lehnt Hamas noch immer die Anerkennung
des Staates Israel ab. Sie zweifelt auch den Sinn der vom Präsidenten Mahmud Abbas befürworteten
Anerkennung Palästinas durch die UNO an.
c) Osama bin Laden und al-Qaida
Für den am 2. Mai 2011 von einer US-Spezialeinheit erschossenen saudischen Terroristenführer
Osama bin Laden stand ebenfalls der Dschihad im Mittelpunkt seiner fundamentalistischen Weltsicht.
Stark beeinflusst war der aus äußerst wohlhabender Familie stammende und selbsternannte
Gottesgelehrte von seinem palästinensischen Lehrmeister Abdallah Azzan, der den Märtyrerkult
verherrlichte.
Beim Vordringen von Ungläubigen in das Gebiet des Islam (z.B. Palästina, Afghanistan, Saudi-Arabien
/ US-Militärstützpunkte auf dem Territorium) werde – so einst bin Laden – der bewaffnete Dschihad
zur Verpflichtung für jeden Muslim.
Am Widerstand der afghanischen Mudschaheddin zusammen mit tausenden von arabischen
Glaubensbrüdern gegen die sowjetischen Truppen (1979-89) beteiligte auch er sich, vor allem in
finanzieller Hinsicht. Anfang der 1990er Jahre baute er unter dem Schutz der Taliban die
Terrororganisation al-Qaida mit zahlreichen Ausbildungslagern am Hindukusch auf. Und 1998 rief er
dort zum Dschihad gegen Juden und Kreuzzügler auf, in erster Linie gegen die zum "großen Satan"
dämonisierten USA und deren Verbündete.
Mit den von al-Qaida serienweise ausgelösten Terroranschlägen - mit den verheerenden Attacken in
New York und Washington als Höhepunkt - versetzte er die ganze Welt in Angst und Schrecken.
Amerika schlug mit seinen Verbündeten in Afghanistan zurück, beendete die Taliban-Herrschaft und
schaltete al-Qaida aus – nicht aber den Drahtzieher hinter den meisten Anschlägen, bin Laden.
Al-Qaida ist allerdings heute noch als dezentralisiertes Terrornetzwerk resp. Leitstelle für extremistische
Ideologie und Know-how für Dschihad-Operationen aktiv. Aufzeichnungen der Todespiloten von New
York und Washington deuten darauf hin, dass diese sich mit radikal-islamistischen Einstellungen wie
dieser identifizierten: "Für niemanden gibt es etwas Besseres, als die Verse des Korans zu lesen, wo
Gott gesagt hat, dass man das, was man im jetzigen Leben hat, für ein anderes, besseres Leben im
Himmel aufgeben solle." (zitiert nach Heine, 140)
Bin Laden selbst dürfte in gewissen Phasen seines Lebens davon überzeugt gewesen sein, dass
gerade im Dschihad zu Tode gekommene muslimische Märtyrer von Allah mit dem unmittelbaren
Zugang zum Paradies belohnt würden.
Fazit
Wie die Fallbeispiele zeigen, kann man davon ausgehen, dass bei einer kleinen Minderheit von
radikalen, religiös geprägten Islamisten Zusammenhänge zwischen deren eschatologischapokalyptischen Anschauungen und den von ihnen ausgeübten oder angeordneten Gewaltakten
bestehen. Endzeitvorstellungen wie die vom Dschihad als "heiligem Krieg", vom unmittelbaren Zugang
islamistischer Märtyrer zum Paradies und dem künftigen Reich des Mahdi sind allerdings nur ein
Element der Erklärung. Darüber hinaus sind weitere gewaltauslösende Faktoren objektiver wie
subjektiver Art in den Blick zu nehmen. So z.B. krisenhafte Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens und die daraus resultierenden individuellen Nöte und
Frustrationen.
Einfache monokausale Erklärungen greifen zu kurz. Es ist des Weiteren auch schwierig, authentischen
Endzeitglauben von bloßer religiöser Rhetorik zu unterscheiden und Instrumentalisierungen von
Eschatologie zu erkennen.
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Wie ernst man auch immer eschatologisch-apokalyptische Aussagen nehmen mag: Die Verwendung
von heilsgeschichtlichem Vokabular ist geeignet, ein Klima von extremer Entschlossenheit und
Radikalität entstehen zu lassen, aus dem heraus sich Gewalt und Terror entwickeln können.
In westlichen Diskursen ist die gesamte Thematik ein wenig in den Hintergrund geraten.
Islamwissenschaftler und Terrorismusexperten wären aber gut beraten, endzeitliche Orientierungen
radikaler Islamisten in ihre Analysen einzubeziehen.
Literatur
Ahmad, Hisham A.: Hamas – From religious salvation to political transformation, the rise of Hamas in
Palestinian Society, Jerusalem 1994.
Armstrong, Karen: Im Kampf für Gott, München 2004.
Büttner, Friedemann: Islamischer Fundamentalismus – Politisierter Traditionalismus oder
revolutionärer Messianismus? In H. Bielefeldt und W. Heitmeyer (Hrsg.): Politisierte Religion, Frankfurt/
Main 1998.
Halm, Heinz: Der Islam, München 2002.
Heine, Peter: Terror in Allahs Namen, Freiburg/Basel/Wien 2001.
Laqueur, Walter: Die globale Bedrohung, München 2001.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Islam und Recht
Von Dr. Nadjma Yassari
4.10.2007
Geb. 1971 in Teheran/Iran, studierte Rechtswissenschaften in Wien und Innsbruck sowie International Business Law an der School
of Oriental and African Studies an der Universität in London. Sie promovierte zum Thema: "The Concept of Freedom of Contract in
Islamic and Western Legal Cultures". Seit Februar 2000 ist sie Referentin für das Recht islamischer Länder am Max-PlanckInstitut.
Immer wieder berufen sich religiöse Fanatiker auf angebliche Gebote, die sie aus dem Koran
ableiten. Dabei ist das islamische Recht durch die Notwendigkeit der Interpretation und
Ableitung vielseitig ausgestaltet und regional sehr verschieden. Was steht hinter Begriffen wie
Fiqh und Scharia?
Der Islam
Im Jahre 610 AD beginnen die Offenbarungen, die Mohammad aus der Sippe der Qureish in Mekka
im heutigen Saudi Arabien erfährt. "Rezitiere im Namen Deines Herrn, Der erschaffen hat" (Sure 96)
sagt Gottes Engel Gabriel - so die Überlieferung - und Mohammad spricht ihm nach. So bedeutet auch
das arabische Wort "Qur'an" Rezitation. Im Laufe der nächsten 22 Jahre verkündet der Prophet
Mohammad zunächst in Mekka und dann in Medina die Lehre von dem einen unsichtbaren Gott. Der
Islam ist keine neue Religion, wie der Koran selber betont, sondern setzt das Judentum und das
Christentum fort. Der Islam erhebt allerdings den Anspruch, die letzte und universale Gestalt der
Religion zu sein, der die reine Form der Religion wieder herstellen soll.
Mohammads Predigten sind revolutionär und erregen den Unmut der Mekkaner. Im Jahre 622 muss
er nach Medina emigrieren. Dort wird Mohammad Richter und Oberhaupt der islamischen Gemeinde,
die aus 75 Personen besteht. Das Recht, das er spricht, besteht nicht aus feststehenden Regeln,
sondern leitet sich aus den Offenbarungen und der Praxis der islamischen Gemeinde ab. Dies stellt
die einzige Zeit in der islamischen Geschichte dar, in der man von der Einheit von Politik, Religion und
Recht sprechen kann. Mohammad ist als einziger in der Lage alle aufkommenden Fragen zum Koran
aufzufangen und ungeklärt gebliebene Probleme zu interpretieren.
Der Islam breitete sich schnell aus. Hundert Jahre nach dem Tod Mohammads reicht das islamische
Reich im Nordwesten bis nach Spanien, im Osten bis Malaysia und Indonesien. Heute bekennen sich
rund 1,5 Milliarden Menschen, also etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung, zum Islam. Diese Menschen
und die Traditionen, denen sie verhaftet sind, haben ihr eigenes Bild des islamischen Glaubens geprägt
und regionale und soziale Faktoren trugen zu einer außergewöhnlichen Vielfalt in der Ausgestaltung
der islamischen Religion bei. Einer dieser Faktoren ist das Recht.
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Das Recht
Das Verhältnis zwischen der Religion und der Rechtsordnung eines Landes hängt insbesondere davon
ab, wie die Staatsform ist. So ist etwa der Iran seit 1979 als theokratischer Gottesstaat konzipiert,
während die Republik Türkei seit ihrer Entstehung laizistisch ist. Nachdem beide Staaten eine
mehrheitlich muslimische Bevölkerung haben, stellt sich die Frage, welchen Anspruch der Islam auf
die Rechtsordnung und ihre Gestaltung erhebt. Der Koran enthält keine präzisen Angaben über die
Verfassung oder sonstige politische Organisation der islamischen Gemeinde. Nach dem Koran ist Gott
das Oberhaupt der Gemeinde, alle Muslime sind gleich vor Gott und die Frömmsten unter ihnen
genießen das höchste Ansehen. Der Koran gebietet den Gläubigen Gehorsam gegenüber Gott, dem
Propheten und jenen, die an der Macht sind (Sure 4 Vers 59). Auch hinterlässt Mohammad bei seinem
Tode im Jahre 632 keinen vollendeten Staat, sondern vielmehr ein Gemeinwesen mit einem hohen
Grad an Zentralisation und einer Vorstellung vom Primat des Gesetzes oder einer höheren Autorität
bei der Beilegung von Konflikten. Die Entwicklung politischer Institutionen, wie das Kalifat oder das
Imamat bei den Schiiten, erfolgte durch die Muslime selbst.
Wie alle monotheistischen Religionen, beinhaltet auch der Islam den Glauben an einen Schöpfer, der
durch das Medium von Offenbarern mit dem Menschen, seinem Geschöpf, kommuniziert, um ihm den
richtigen, zum Heil führenden Weg zu weisen. Die Religion, hier der Islam, nimmt also für sich in
Anspruch, neben den Pflichten der Individuen gegenüber Gott auch das Verhältnis der Menschen
zueinander zu regeln. Diese Verhaltensvorschriften - moralische und ethische sowie alle Gebote und
Verbote, die weltliche Belange berühren und die Glaubenslehre - haben alle ein gemeinsames Ziel:
die Verwirklichung des Willen Gottes auf Erden. Das hat zur Folge, dass idealerweise die Religion den
Rahmen festlegt, in dem sich das geistige, gesellschaftliche und soziale Leben der Gläubigen abspielt.
Alle Bereiche des sozialen Seins sollen sich an den ethischen Grundlagen der Religion orientieren,
um dem Ideal einer moralisch-religiösen, ethischen Gesellschaft so nah wie möglich zu kommen.
Würden alle moralischen Vorschriften der Religion in jedem Aspekt des menschlichen Verhaltens
eingehalten, wäre das Ideal erreicht, und es wäre nicht notwendig, ein Rechtssystem zu entwickeln.
Die heute identifizierbaren sozialen Kategorien von Recht, Moral und Ethik bilden das Ganze der
Religion. Werden sie einzeln und isoliert voneinander betrachtet, so erscheinen sie in einem
verfälschten Licht. Das bedeutet aber nicht, dass es kein Eigenleben des Rechts im Islam gibt. Es
bedeutet nur, dass der Rechtsbegriff aus der Religion besondere Charakteristiken und Funktionen hat,
die ein weltliches, säkulares System nicht hat. Während in säkularen Systemen Veränderungen in der
Gesellschaft, Veränderungen im Recht verlangen, ist es Aufgabe des religiösen Rechts die Gesellschaft
zu verändern, sie zu erziehen, und ihre Verhaltensweisen derart zu lenken, dass sie diesem
unterstellten Willen Gottes entsprechen. Das Recht und die Rechtsordnung sind daher nicht unbedingt
Instrumente im Dienste der Gesellschaft, sondern im Dienste Gottes.
Will man den rein religiösen, theologischen Teil des Glaubens von einem rechtlichen Teil unterscheiden,
so kann man funktional vorgehen. Die Rolle der Theologie wäre dann, das, woran der Mensch glauben
und die Ziele, die er verfolgen soll (etwa Gerechtigkeit, Keuschheit, Bescheidenheit, die fünf Säulen
der Religion), zu definieren; die Rolle des Rechts, dem Menschen den Weg zu zeigen, wie diese Ziele
verwirklicht werden können. In diesem Sinne ist auch das Wort Scharia (arab. aš-šarīca) zu verstehen,
welches in der europäischen Rechtsliteratur oft mit "islamischem Recht" übersetzt wird, im wörtlichen
Sinn jedoch "Weg zur Tränke" bedeutet und mit "religiösem Recht" wiederzugeben ist. Im übertragenen
Sinne bezeichnet Scharia den Weg, den der Mensch gehen muß, damit er wieder zur Quelle (Gott)
kommt.
Unter der Scharia darf man sich kein Gesetzeswerk, vergleichbar dem BGB, vorstellen. Scharia ist
vielmehr ein Oberbegriff für die Gesamtheit der dem Menschen auferlegten Handlungsweisen. Ihre
primären Quellen sind der Koran, und die Überlieferungen über die Taten und Worte Mohammads
(arab. sunna). Daneben gibt es die sekundären Quellen: der Konsens (arab.arab. al-iğmā´) der
Rechtsgelehrten und die Rechtsfindung durch die Juristen mittels Analogie (arab. al-qiyās) und Logik
(arab. al-´aql).
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Die Endredaktion des heute vorliegenden ist unter dem dritten Kalifen Othman (644-656 AD) erfolgt.
Der Koran ist weder wissenschaftliches Werk noch Gesetzestext. Von den rund 6.200 Versen des
Korans werden etwa 500 als Gesetzesverse bezeichnet, wobei sich der größte Teil mit dem rituellen
Recht, wie dem Gebet, den Waschungen oder dem Fasten auseinander setzt. Aus etwa 80 bis 100
Versen können rechtliche Regeln entnommen werden. Diese Verse werden dem Erb-, Straf-, Prozess-,
Ehe- und das Kaufrecht zugeordnet. Es handelt sich dabei um solche Bereiche, bei denen ein
Regelungsbedarf bestand. Das gilt insbesondere für die Einführung eines Vermögens- und Erbrechts
für die Frau, den Schutz der Waisen, die Anordnung von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr und
das Glücksspiel- und Zinsverbot. Da die Verse vor allem ethische Grundsätze setzen sollen, sehen
sie meist von der Anordnung weltlicher Sanktionen ab. Aussagen in der Form "X ist, bei sonstiger
Sanktion, verboten oder geboten" sind im Koran kaum zu finden. Der Zuwiderhandelnde und der
Zurechthandelnde erfahren ihre Strafe oder ihre Belohnung meist erst im Jenseits.
Zur Ergänzung und Interpretation des Korans wurden die Überlieferungen des Propheten
herangezogen. Das sind Sammlungen von Berichten über das Verhalten des Propheten und über das,
was er verkündet oder geduldet hat; es handelt sich dabei um eine Kompilation von Rechtsfällen und
vorbildlichen Verhaltensweisen.
Identifiziert man die Scharia im Wesentlichen mit diesen primären Quellen, so erhält man zunächst
den Eindruck großer Geschlossenheit. Aber schon hier ist mehr Spielraum als gedacht: Koran und die
Überlieferungen sind vielschichtig, nicht leicht zu verstehen und erlauben eine Vielzahl von
Auslegungen. Dementsprechend unterschiedlich sind sie in Vergangenheit und Gegenwart gedeutet
und angewandt worden. Die Anfänge der islamischen Rechtsgeschichte stehen ganz im Zeichen der
Ableitung und der Entdeckung des göttlichen Willens in und aus den Quellen.
Die Aufgabe, die Verhaltensprinzipien zu entdecken bzw. sie aus den primären Quellen abzuleiten,
oblag besonders qualifizierten Spezialisten, die al-muğtahid genannt werden und die Arbeit, die sie
verrichteten, al-iğtihād. Iğtihād bedeutet im Arabischen "das Bemühen"; im juristischen Sinne geht es
darum, eine selbständige Entscheidung zu treffen, um eine Rechtsfrage durch Interpretation der
Quellen zu lösen.
Die von den Rechtsgelehrten erzielten Erkenntnisse konnten jedoch nicht ohne Weiteres allgemeine
Gültigkeit beanspruchen, denn sie waren zunächst lediglich Ausdruck einer "subjektiven Vermutung"
des einzelnen Gelehrten. Wenn in den Quellen die Antwort auf eine Frage eindeutig war, dann musste
man sich nicht um ihr Verständnis bemühen, d.h. iğtihād anwenden, sondern man konnte die Vorschrift
unmittelbar anwenden. Im Gegensatz dazu müssten jene Aussagen, die nicht direkt aus den Texten
hervorgingen und die der Jurist unter Aufwendung seiner eigenen Fähigkeiten herausgearbeitet hatte,
die also lediglich seine persönliche Meinung darstellten, auch als solche gekennzeichnet werden. Kam
eine Mehrheit der Gelehrten zu den gleichen Ergebnissen, oder fanden gewonnene Einsichten die
eindeutige Anerkennung der Mehrheit, steigerte sich die subjektive Vermutung zu sicherem Wissen.
Die durch Konsens getragenen Rechtssätze wurden zur Rechtsquelle erhoben. Durch die Lehre vom
Konsens fanden auch die Ansichten der jeweils herrschenden akademischen Kreise ihren Ausdruck.
Er entwickelte sich zu einem wichtigen Instrument der Anpassung an soziale Veränderungen; der
Konsens bildete in der Tat die Grundlage vieler Rechtsfiguren, die weder aus dem Koran noch aus
den Überlieferungen hervorgehen. Der Konsens war in dem sich rasch ausbreitenden Islam durchaus
ortsgebunden, beschränkt auf den jeweiligen geographischen Einflussbereich der sich langsam
konkretisierenden Rechtsschulen, die es heute noch gibt.
Das als vierte Rechtsquelle genannte selbständige Denken der Juristen ist im Grunde nichts anderes
als die Anwendung von iğtihād. Nach einem westlichen Verständnis ist es als Methode zu qualifizieren,
um Vorschriften abzuleiten, die die Qualität einer Rechtsquelle erlangen. Diese Methode wird bei den
Sunniten al-qiyās (Analogie), bei den Schiiten ´aql (Vernunft oder Logik) genannt. In der Sprache des
islamischen Rechts bedeutet al-qiyās "die Übertragung einer Vorschrift von einem vorgegebenen,
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ausdrücklich formulierten Fall auf einen neuen, nicht im Text genannten." So wurde zum Beispiel das
Verbot des Genusses von Rebwein auf andere berauschende Getränke, etwa Dattelwein, ausgedehnt,
weil sie beide den Verstand trüben und zur Erfüllung der Gebote Gottes unfähig macht.
Das Ergebnis dieser Deduktionsarbeit wird Fiqh genannt. Fiqh bedeutet wörtlich das Verstehen oder
die Einsicht. Die islamische Tradition unterscheidet akribisch zwischen dem abgeleiteten, entdeckten
Fiqh-Recht und der Scharia als solche. Die Scharia ist göttlichen Ursprungs und versteckt sich in der
Offenbarung, ohne eine juristisch präzise Artikulation erfahren zu haben. Der islamische Jurist bildet
das notwendige Bindeglied zwischen Gott und den Menschen, in dem er das Fiqh-Recht formuliert.
Dieses Fiqh-Recht ist daher das Ergebnis menschlicher, daher fehlbarer Analyse. Eine andere Art,
dieses Verhältnis zu umschreiben, ist, Scharia-Recht als Gottesrecht und Fiqh-Recht als Juristenrecht
zu bezeichnen.
Es bleibt somit festzuhalten: Das islamische Recht ist durch die Notwendigkeit der Interpretation und
Ableitung vielseitig ausgestaltet und regional sehr verschieden. Es ist daher besser von den islamischen
Rechten zu sprechen, je nachdem welche konkrete Rechtsschule oder welche Epoche der Geschichte
angesprochen ist. Das islamische Recht ist das Recht der Muslime einer bestimmten Zeit und einer
bestimmten Gesellschaftsordnung. Es spiegelt deren Lebensarten und Bedürfnisse wieder. Es ist ein
von Menschen mitgestaltetes Recht, welches durchaus fehlbar ist und einem menschlichen Eingriff
nicht entzogen werden darf.
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Antisemitismus im Islamismus
Ideengeschichtliche Bedingungsfaktoren und agitatorische
Erscheinungsformen
Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber
5.7.2011
Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten
Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und
Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).
Sie bestreiten das Existenzrecht Israels und fordern seine Auflösung: Der Antisemitismus ist
bei Islamisten ein wichtiges Thema. Sie verbinden dabei judenfeindliche Hetze aus Europa mit
feindseligen Aussagen aus der Frühgeschichte des Islam.
Einleitung und Fragestellung
Antisemitismus ist nicht nur ein bedeutendes Agitationsthema von Rechtsextremisten, sondern auch
von Islamisten. Sie nutzen dabei Stereotype und Vorurteile, die allgemein mit der judenfeindlichen
Hetze in Europa vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig
verknüpft der islamistische Diskurs derartige Unterstellungen mit Aussagen über die Juden, welche
auf die Frühgeschichte des Islam zurückgehen. In der vor allem gegen den Staat Israel gerichteten
antisemitischen Agitation von Islamisten kann man bezüglich der ideengeschichtlichen Perspektive
demnach eine Mischung aus externen und internen Bedingungsfaktoren ausmachen. Wie sich
derartige Auffassungen in den inhaltlichen Diskursen der Islamisten niederschlagen, soll hier anhand
der unterschiedlichsten Gruppen, Netzwerke und Organisationen verdeutlicht werden. Dabei zeigen
sich grundlegende inhaltliche Gemeinsamkeiten unabhängig davon, ob man sich eines gewaltfreien
oder terroristischen Handlungsstils bedient.
Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus in der
Frühgeschichte des Islam
Inhaltliche Bezugspunkte dafür liefert zum einen die Frühgeschichte des Islam: Nach der offiziellen
Überlieferung scheiterten Mohammeds Bemühungen, jüdische Stämme in Medina für seinen Glauben
zu gewinnen. In der Folge kam es offenbar aus machtpolitischen Gründen zu kriegerischen Konflikten,
welche mit der Niederlage dreier dieser Stämme endeten. Deren Angehörige wurden zunächst
enteignet und vertrieben bzw. später versklavt und getötet. Dieser historische Hintergrund erklärt wohl
mit, warum es im Koran überaus abwertende Kommentare zu den Juden gibt. Man wirft ihnen etwa
vor, sie hätten den Bund mit Allah und den Muslimen gebrochen: "Und weil sie ihre Verpflichtung
brachen, haben wir sie verflucht" (Sure 5, 13, vgl. auch u.a. 4, 46; 4, 155). Außerdem gelten die Juden
als betrügerisch, heißt es doch etwa: "... und (weil sie) Zins nahmen, wo es ihnen doch verboten war,
und die Leute in betrügerischer Weise um ihr Vermögen brachten. Für die Ungläubigen von ihnen
haben wir (im Jenseits) eine schmerzhafte Strafe bereitet (Sure 4, 161, vgl. u.a. auch 2,100; 9, 34).
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Diffamierungen von und Massaker an Juden in der Geschichte des Islam
Derartige Auffassungen prägten auch das Bild der Juden in der Geschichte des Islam. So erschien ab
dem 9. Jahrhundert eine Reihe von Schmähschriften, welche an die Aussagen über die Juden im
Koran anknüpften und für ein entsprechendes gesellschaftliches Klima sorgten. Trotz des Fehlens
eines breit verankerten aggressiven Hasses gegen die Angehörigen der religiösen Minderheit kam es
auch in der islamischen Welt zu Massakern an Juden. Einige Beispiele seien zur Veranschaulichung
genannt: Zwischen 1010 und 1013 wurden Hunderte von Juden in den muslimischen Teilen Spaniens
umgebracht; in Fez massakrierte man 1033 mehr als 6.000 Angehörige der religiösen Minderheit; und
bei den muslimischen Unruhen 1066 in Granada kamen um die 4.000 Juden ums Leben. Auch
gewalttätige Vertreibungen mit allerdings teilweiser Rückkehr prägten das Schicksal der Minderheit,
so etwa 1016 in Kairouan, 1145 in Tunis oder 1232 in Marrakesch. Als Ursache lässt sich eine Mischung
aus religiösen und sozialen Ressentiments gegen Andersgläubige und Aufsteiger ausmachen.
Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus im europäischen
Antisemitismus
Inhaltliche Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus bestehen zum anderen aber auch in
den besonderen Stereotypen des jahrhundertealten europäischen Antisemitismus, die ab Mitte des
19. Jahrhunderts im Kontext der Kolonialisierung der arabischen bzw. islamischen Welt ebendort
Verbreitung fanden. So entstanden etwa Ritualmordvorwürfe in der Folge der "Damaskus-Affäre" 1840:
Hier führte man das Verschwinden eines Kapuzinermönchs auf den angeblichen Ritualmord eines
jüdischen Barbiers zurück. In den folgenden Jahrzehenten kam es an zahlreichen Orten - teilweise
mit Ausschreitungen gegen die Juden verbunden - zu einschlägigen Diffamierungen und
Hetzkampagnen. Eine weitere Behauptung, die dem Agitationsarsenal des europäischen
Antisemitismus entstammte, kann im Vorwurf von der "jüdischen Verschwörung" gegen die etablierte
Ordnung gesehen werden. In Reaktion auf die 1908 erfolgte Revolution der "Jungtürken" im
Osmanischen Reich deuteten deren Gegner diesen Schritt als Folge einer jüdischen Konspiration.
Antisemitismus in der Frühgeschichte des Islamismus
Insofern darf es auch nicht verwundern, dass derartige Auffassungen ab Ende der 1920er Jahre auch
im politisch aktiven und organisierten Islamismus zunehmend an Bedeutung gewannen. Es kam sogar
zu einer relativ intensiven Zusammenarbeit islamistischer und nationalistischer Kreise mit Hitler-Partei
und NS-Staat, wobei die Initiative zu den Beziehungen ursprünglich von arabischer Seite ausging. Die
diesbezüglich bedeutendste historische Figur war der Mufti von Jerusalem Muhammad Amin elHusseini (1893-1974), der sich während des Zweiten Weltkriegs ganz offen in den propagandistischen
Dienst der Nationalsozialisten stellte und im Radio Hetzansprachen gegen Juden hielt. Auf Konferenzen
der "Muslimbruderschaft" fanden schon 1938 Übersetzungen der antisemitischen Fälschung der "
Protokolle der Weisen von Zion" Verbreitung. Und der spätere "Chefideologe" der Muslimbruderschaft
Sayyid Qutb (1906-1966) veröffentlichte Anfang der 1950er Jahre seinen Aufsatz "Unser Kampf mit
den Juden", worin sie von Beginn an als Feinde des Islam beschrieben wurden.
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Antisemitismus in Publikationen der türkischen "Milli Görüs"-Bewegung
Spätestens seit Beginn der 1970er Jahre lässt sich bei den meisten islamistischen Organisationen
eine Verstärkung der antisemitischen Agitation ausmachen. Das soll hier exemplarisch anhand von
verschiedenen Strömungen aufgezeigt werden. Am Beginn steht die "Milli Görüs"-Bewegung, die in
der Türkei über parteipolitisches Engagement politischen Einfluss erlangen will. Ihr bedeutendster
Repräsentant, der zeitweilige türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan (1926-2011), hatte etwa
in einer auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Schrift mit dem Titel "Gerechte
Wirtschaftsordnung" (1991) behauptet: Der Zionismus sei ein Glaube und eine Ideologie, dessen
Zentrum sich bei den Banken der Wall Street befinde. Die Zionisten hätten den Imperialismus unter
ihre Kontrolle gebraucht und beuteten mittels der kapitalistischen Zinswirtschaft die gesamte
Menschheit aus. Derartige und andere antisemitische Aussagen findet man auch regelmäßig in der
Presse aus dem Umfeld von "Milli Görüs", wofür vor allem die Zeitung "Milli Gazete" steht.
Antisemitismus in der Charta der palästinensischen "Hamas"
Auch die palästinensische "Hamas" vertritt eine antisemitische Grundposition, was sich aus dem Text
ihrer Charta von 1988 gut ablesen lässt. Darin ist etwa bereits zu Beginn die Rede von einem langen
und gefährlichen Kampf gegen die Juden, welcher die Hingabe von allen Muslimen nötig mache.
Ausdrücklich spricht man von den "Juden", nicht von den "Israelis" oder "Zionisten". Danach findet
sich eine Reihe von Zitaten aus dem Koran, die den islamfeindlichen, korrupten, kriegstreiberischen
und verderblichen Charakter der Juden unter Beweis stellen sollen. Weiter heißt es: Der Feind habe
für eine lange Zeit geplant und setze sein Geld ein, um im Hintergrund seine Interessen zu verwirklichen.
Darüber hinaus stünde er hinter nahezu allen Kriegen und Revolutionen der Vergangenheit und
Gegenwart. Es besteht demnach für die "Hamas" eine seit Jahrhunderten existente Verschwörung
von Juden, die nach einem bestimmten Konzept vorgehen würden. Der Plan dazu finde sich in den "
Protokollen der Weisen von Zion", einer bekannten antisemitischen Fälschung.
Antisemitische Auffassungen im Diskurs der libanesischen "Hizb Allah"
Antisemitische Auffassungen findet man nicht nur bei den sunnitsch, sondern auch bei den schiitisch
geprägten islamistischen Organisationen wie der libanesischen "Hizb Allah". In Bezug auf Israel vertritt
man eine rigorose antizionistische Position. Wie viele islamistische Organisationen in der Region
bestreitet "Hizb Allah" grundsätzlich Israels Existenzrecht. Dabei geht der entfaltete Diskurs zwar nicht
immer so deutlich wie bei der "Hamas", aber häufig genug mit antisemitischen Auffassungen im Sinne
eines Hasses auf alle Juden einher. In der Agitation führender Funktionäre und in den
Publikationsorganen lässt sich ebenfalls eine Verkopplung von Anspielungen auf historische Ereignisse
im Zusammenhang mit Mohammeds Konflikten mit den Juden und der gegenwärtigen Situation im
Nahost-Konflikt ausmachen: Mit Rekursen auf den Koran werden Juden als hinterhältige und
gefährliche Gegner des Islam dargestellt. Zusammen mit den Freimaurern hätten die Juden sich zu
Weltverschwörern entwickelt und trügen die Schuld an vielen Übeln.
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Antisemitismus in den Erklärungen der "Al-Qaida"-Führung
Auch bei den individuellen Einstellungen und im öffentlichen Diskurs von transnational agierenden
islamistischen Terroristen lassen sich antisemitische Positionen ausmachen. Exemplarisch dafür
stehen schon frühe Erklärungen von Osama Bin Laden wie etwa ein Brief an einen Rechtsgelehrten
von 1994. Darin kritisierte er dessen Plädoyer für einen Friedensschluss mit den Juden, denn der
jüdische Feind sei der Verderber des Islam und der Welt. Und in einer Videobotschaft von 2001 sprach
Bin Laden davon, es gebe eine lange Kette der jüdischen Verschwörung mit dem Ziel eines
Vernichtungskriegs gegen den Islam. Auch bei den Todespiloten des 11. September 2001 kursierten
derartige Auffassungen, wofür Dokumente und Zeugenbefragungen zu Mohammed Atta sprechen:
Demnach ging er davon aus, dass die Juden als reiche Strippenzieher hinter den Kriegen der USA
auf dem Balkan und am Golf stünden. Das Zentrum des Weltjudentums sei New York. Von dort aus
müsse der Befreiungskrieg für die Errichtung eines islamischen Gottesstaat beginnen.
Antisemitismus als Staatsideologie in der Islamischen Republik Iran
Und schließlich soll als Beispiel für den islamistischen Antisemitismus noch seine Bedeutung als
Staatsideologie anhand eines Regimes dieser politischen Ausrichtung aufgezeigt werden: der
Islamischen Republik Iran. Bereits deren Begründer Ayatollah Khomeini bezeichnete nicht nur Israel
als "kleinen Satan", er formulierte auch offen eine antizionistische Position, rief er doch zur
Zerschlagung des Staates auf. Israel galt ihm als "Feind des Islam" und "Feind der Menschheit".
Darüber hinaus bediente sich der offizielle politische Diskurs ebenso der bekannten antisemitischen
Stereotype wie etwa der von den "jüdischen Verschwörungen". Selbst die "Protokolle der Weisen von
Zion" fanden über staatliche Stellen Verbreitung. Der gegenwärtige Präsident Mahmud Ahmadinejad
propagiert ähnliche Auffassungen. Bereits kurz nach seiner Wahl forderte er 2005 öffentlich die
Vernichtung des Staates Israel und 2006 leugnete er öffentlich die Massenvernichtung von Juden im
Zweiten Weltkrieg. In Teheran fand gar eine "Holocaust-Konferenz" unter Beteiligung
rechtsextremistischer Referenten statt.
Schlusswort und Zusammenfassung
Wie lassen sich zusammenfassend betrachtet die inhaltlichen Kernpositionen des islamistischen
Antisemitismus bestimmen und einschätzen? Hauptsächlich artikuliert er sich in seiner
antizionistischen Form, also über die grundlegende Ablehnung des Existenzrechts Israels und der
dabei erhobenen Forderung nach Auflösung des Staates. Palästina soll ein rein muslimisch dominiertes
Gebiet der islamischen Welt sein. Dabei bezieht sich der öffentliche Diskurs der Islamisten auf einen
realen politischen Konflikt, welcher seit Jahrzehnten um die politische Kontrolle über eine bestimmte
geographische Region in blutiger Weise geführt wird. Dessen Deutung erfolgt mit Bezug auf
Argumentationsmuster, die als externe Bedingungsfaktoren aus europäischen Ländern und als interne
Bedingungsfaktoren aus der islamischen Welt stammen. Die dabei deutlich werdende
Funktionalisierung dieser Argumentationsmuster im Kontext des Nahostkonflikts spricht nicht gegen
das Vorhandensein des Antisemitismus, veranschaulichen die erwähnten Auffassungen doch nicht
nur eine Ablehnung von Israel, sondern auch einen Hass gegen alle Juden.
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Literatur
Benz, Wolfgang/Wetzel, Juliane (Hrsg.): Antisemitismus und radikaler Islamismus, Essen 2007.
Farschid, Olaf: Antisemitismus im Islamismus. Ideologische Formen des Judenhasses bei
islamistischen Gruppen, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und
Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 435-485.
Kiefer, Michael: Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der
Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002.
Lewis, Bernard: "Treibt die ins Meer!" Die Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt/M. – Berlin 1987.
Lewis, Bernard: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert,
München 1987.
Pfahl-Traughber, Armin: Antisemitismus in der christlich-europäischen und islamisch-arabischen Welt.
Eine vergleichende Betrachtung in ideologietheoretischer Perspektive, in: Wolfgang Benz (Hrsg.),
Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd. 13, Berlin 2004, S. 67-83.
Pfahl-Traughber, Armin: Der Ideologiebildungsprozess beim Judenhass der Islamisten. Zum
ideengeschichtlichen Hintergrund einer Form des "Neuen Antisemitismus", in: Martin H. W. Möllers/
Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.): Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005, Frankfurt/M. 2005, S.
189-208.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Antisemitismus und Antizionismus in der Charta der
Hamas
Eine Fallstudie zur Judenfeindschaft im islamistischen Diskurs
Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber
4.7.2011
Geb. 1963, studierte Politikwissenschaft und Soziologie. Von 1994 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referatsleiter in der
Abteilung Rechtsextremismus des Bundesamtes für Verfassungsschutz, seit 2004 Prof. an der Fachhochschule des Bundes für
öffentliche Verwaltung Brühl und Heimerzheim.
Die Feindschaft gegen Juden prägt auch zahlreiche islamistische Diskurse. Die Charta der
Hamas fordert einen Palästinenserstaat – und ruft zur Erreichung dieses Ziels ganz offen zur
Tötung von Juden auf.
Einleitung und Fragestellung
Die Feindschaft gegenüber den Juden und der Zerstörungswille gegenüber Israel prägen zahlreiche
islamistische Diskurse. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen. Neu hingegen
ist die kritische Aufmerksamkeit in der westlichen Öffentlichkeit für solche Positionen. Anhand der
programmatischen Charta der "Hamas" soll aufgezeigt und untersucht werden, wie sich judenfeindliche
Positionen im islamistischen Diskurs wiederfinden. In dem Text von 1988, der mittlerweile auch in einer
deutschen Übersetzung vorliegt, findet man die grundlegenden Auffassungen und Ziele der
Organisation. Hierzu gehören auch Kommentare zu den Juden und Israel, welche als erklärte Feinde
der "Hamas" gelten. Hier sollen dazu zwei Fragen beantwortet werden: Aus welchen geistigen und
kulturellen Traditionen leiten sie sich ab? Und: Welche Konsequenzen verbinden sich damit bei einer
Umsetzung für die Juden und den Staat Israel?
Die Hamas als islamistische Organisation
"Hamas" steht in der arabischen Sprache für "Eifer" oder "Engagement". Gleichzeitig handelt es sich
um eine Abkürzung für "Harakat al-muqawama al-islamiya" ("Bewegung des islamischen Widerstandes
"). Das Emblem der Organisation zeigt u.a. eine Karte vom heutigen Israel mit dem Gaza-Streifen und
Westjordanland, was vollständig für das zukünftige Palästina beansprucht wird. Damit artikuliert sich
bereits eine politische Grundposition der Organisation, die als palästinensischer Zweig der "
Muslimbruderschaft" erstmals 1987 unter ihrer heutigen Bezeichnung öffentlich auftrat. Zunächst
beschränkte man sich auf soziale Arbeit und religiöse Propaganda. Erst nach der ersten Intifada ging
die "Hamas" zur Gewaltanwendung über, was sich auch in zahlreichen Selbstmord-Anschlägen zeigte.
Bei den Wahlen 2006 erhielt man als Partei die absolute Mehrheit der Mandate im palästinensischen
Legislativrat.
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Der Text der Hamas-Charta als Quelle
Bei der am 18. August 1988 erstmals veröffentlichten Charta der Hamas handelt es sich um einen
Text, der in der hier zitierten deutschsprachigen Übersetzung zwanzig eng bedruckte Seiten umfasst.
Die mit Kapitelhinweisen und Seitenzahlen im Folgenden belegten Zitate entstammen folgender
Übersetzung: Charta der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas (aus dem Arabischen von Lutz
Rogler [Redaktion INAMO, Berlin]), in: Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in Palästina,
München 2006, S. S. 207-226. Zwischen der Präambel und dem Schlusswort finden sich fünf Kapitel
mit 34 einzelnen Artikeln. Dabei entspricht die formale Stringenz der Strukturierung des Textes aber
nicht unbedingt auch einer inhaltlichen Stringenz, d. h. entgegen der Ankündigung in den einzelnen
Überschriften findet man darunter auch Positionen zu ganz anderen politischen Fragen. Der Text der
Charta der Hamas steht unabhängig vom Ausmaß seiner Verbreitung für das politische
Selbstverständnis der Organisation.
Das Bild von Israel und Palästina im Text
Die "Hamas" postuliert, "dass das Land Palästinas ein islamisches Waqf-Land für die Generation der
Muslime bis zum Tag der Auferstehung ist". Dies meint, dass es sich bei Palästina um eine Art fromme
Stiftung, um ein islamisches Land handelt. In dieser Perspektive steht die Region vollständig im Besitz
der Muslime und zwar als Ergebnis einer göttlichen Vorgabe. Dies bedeutet für die "Hamas" denn
auch: "Weder darf es oder ein Teil von ihm aufgegeben werden noch darauf oder auf einem Teil von
ihm verzichtet werden ..." (S. 212, Artikel 11). Dazu seien weder Organisationen, Regierende noch
Staaten berechtigt. Jede Abweichung von diesem Grundprinzip deutet man als Verstoß gegen Gottes
Willen. Dies meint letztendlich auch, dass ein Existenzrecht Israels niemals anerkannt werden kann,
da es in dieser Sicht gegen die diesbezügliche Deutung des Islam spreche. Als tagespolitische
Konsequenz ergibt sich aus dieser Auffassung die Ablehnung jeglicher Friedenslösungen und verhandlungen.
Die gewaltsame Zerschlagung Israels als Ziel
Das beschriebene Bild von Israel und Palästina bedingt aber nicht nur eine Ablehnung von
Friedensgesprächen, sondern auch die Grundposition zur Zerschlagung des Staates Israel. Dies deutet
sich in der Charta bereits bei der Skizzierung des exklusiven Selbstverständnisses an: "Die Islamische
Widerstandsbewegung ist eine einzigartige palästinensische Bewegung, die Gott ihre Treue gibt, den
Islam zur Lebensweise nimmt und dafür wirkt, Gottes Banner auf jedem Fußbreit Palästinas zu hissen
..." (S. 210, Artikel 6). Im Kontext dieser Auffassungen findet man im Text auch immer wieder die
Forderung nach einem "Dschihad", wobei hiermit der Aufruf zum gewalttätigen Kampf gemeint ist. So
heißt es etwa: "Der Patriotismus ist aus Sicht der Islamischen Widerstandsbewegung ein Teil des
religiösen Glaubens, und es gibt im Hinblick auf den Patriotismus nichts Weit- und Tiefgehenderes,
als wenn, nachdem der Feind seinen Fuß auf das Land der Muslime gesetzt hat, der Dschihad gegen
ihn zu führen" (S. 213, Artikel 12) ist.
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Die antisemitische Dimension der antizionistischen Positionen
Die vorgenannten Auffassungen und zitierten Passagen sind keineswegs lediglich antizionistisch
gegen Israel. [vgl. Artikel "Antizionistischer Antisemitismus" im Dossier Antisemitismus; Anm. d.
Redaktion] Sie sind auch antisemitisch gegen die Juden gerichtet. Als ein erstes Indiz dafür kann schon
die Wortwahl gelten, benennt der Text die feindlichen Akteure doch gerade nicht als "Israelis" und nur
selten als "Zionisten". Vorherrschend ist die Formulierung "Jude" für den jeweiligen Feind. Darüber
hinaus heißt es an einer Stelle: "Israel ist mit seinem jüdischen Charakter und seinen Juden eine
Herausforderung für den Islam und die Muslime" (S. 222, Artikel 28). Auch direkte Aufforderungen zur
Gewaltanwendung im Text lassen deren antisemitischen Charakter erkennen: "Der Gesandte Gottes
... sagt: ´Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen.
Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum
dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn´, außer der
Gharqad-Baum, denn er ist ein Baum der Juden" (S. 211, Artikel 7).
Propagierung antisemitischer Verschwörungsvorstellungen
Bestärkt wird die Auffassung, wonach es sich bei der Charta der "Hamas" um einen antisemitischen
Text handelt, noch durch die darin enthaltenen Verschwörungsvorstellungen. Dabei macht die Hamas
das behauptete konspirative Wirken von Juden für viele negative Entwicklungen verantwortlich: "Sie
streben danach, gewalttätige und mächtige materielle Reichtümer anzuhäufen und sich ihrer zur
Verwirklichung ihres Traums zu bedienen. So erlangen sie durch das Vermögen die Kontrolle über die
internationalen Medien ... Durch das Vermögen lösten sie Revolutionen in verschiedenen Teilen der
Welt aus, um ihre Interessen zu verwirklichen und Gewinne zu erzielen. Sie standen hinter der
französischen Revolution, den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen hier und
da, von den wir gehört haben und hören" (S. 218, Artikel 22). Die zitierten Behauptungen entstammen
dem Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus, hatte man doch bereits vor den
Nationalsozialisten von einer "jüdisch-freimaurerischen Verschwörung" gesprochen.
Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion"
Die Auffassungen in der Charta erinnern an die "Protokolle der Weisen von Zion", eine antisemitische
Fälschung, welche die Existenz einer weltweiten jüdischen Konspiration behauptet. Die Hamas beruft
sich auf diese Schrift sogar in aller Deutlichkeit: "Das zionistische Vorhaben ist grenzenlos, und nach
Palästina streben sie nach der Expansion vom Nil bis zum Euphrat. Wenn sie das Gebiet völlig
verschlungen haben, zu dem sie vorgedrungen sind, trachten sie nach einer weiteren Expansion und
so fort. Ihr Vorhaben steht in den 'Protokollen der Weisen von Zion', und ihr gegenwärtiges Handeln
ist der beste Beleg für das, was wir sagen" (S. 224, Artikel 33). Die Hamas unterstellt demnach nicht
nur das jahrhundertelange Bestehen einer jüdischen Verschwörung, sie beruft sich hierbei auch offen
auf die wohl bedeutendste antisemitische Hetzschrift des 20. Jahrhunderts. Obwohl bereits seit Beginn
der 1920er Jahre bekannt war, dass es sich um eine Fälschung handelte, fanden die "Protokolle" auch
nach 1945 vor allem in der arabischen Welt weiter Verbreitung.
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Kontroverse Einschätzungen zur Bedeutung der Charta
Die antisemitischen und antizionistischen Grundpositionen im Text der Charta der "Hamas" sind durch
die vorstehenden Ausführungen und Zitate deutlich geworden. Gleichwohl gibt es bezüglich der
Bewertung und dem Stellenwert des Textes auch andere Stimmen: Danach sei kein Mitglied zu deren
Lektüre verpflichtet und die Charta habe für die palästinensische Gesellschaft nur wenig Relevanz.
Der Hinweis auf den Text diene westlichen Kritikern als Grundlage für eine Dämonisierung der "Hamas
" (Helga Baumgarten). Dieser Hinweis kann aber allenfalls für die Einschätzung der Breitenwirkung
ein Argument sein. Die Bewertung des Inhalts ändert sich dadurch nicht.. Immerhin hat sich die
palästinensische Organisation diesen Text als eigenes Programm im Sinne eines politischen
Selbstverständnisses gegeben. Die Charta ruft ganz offen zur Tötung von Juden als Mittel auf, um
das Ziel eines islamischen Palästinenserstaates zu erreichen. Die Bewertung solcher Forderungen
als Ausdruck eines eliminatorischen Antisemitismus ist deshalb angemessen.
Schlusswort und Zusammenfassung
Bilanzierend können die oben gestellten beiden Fragen wie folgt beantwortet werden: Die
Grundlagenwerke des Islams und Erklärungen der "Muslimbruderschaft" sind für die Hamas die
ideengeschichtlichen Bezugspunkte in der Vergangenheit. Darüber hinaus knüpft die "Hamas" in ihrer
Charta an das Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus an, was sich aus der ausdrücklichen
Berufung auf die "Protokolle der Weisen von Zion" ergibt. Was die konkreten Folgen des Antisemitismus
und Antizionismus im Text angeht, so lässt sich aufgrund der klaren und offenen Wortwahl der "Hamas
" konstatieren: Die Juden und der Staat Israel sollen bis zur Vernichtung und Zerschlagung gewalttätig
bekämpft werden. Die früheren Wellen von Selbstmordattentaten auch und gerade gegen zivile
Einrichtungen und Personen in Israel können als ein direkter Ausdruck dieser grundlegenden Position
gelten. Der Text lässt demnach sowohl am Antisemitismus und Antizionismus wie am Gewaltbezug
und Vernichtungswillen der "Hamas" keinen Zweifel.
Literatur
Baumgarten, Helga: Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006.
Croitoru, Joseph: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina, München 2007.
Misha, Shaul/Sela, Avraham: The Palestinian Hamas. Vision, Violence and Coexistence, New York
2000.
Nüsse, Andrea: Muslim Palestine. The Ideology of Hamas, London 2002.
Pfahl-Traughber, Armin: Antisemitismus und Antizionismus in der Charta der "Hamas". Eine
Textanalyse aus ideengeschichtlicher und menschenrechtlicher Perspektive, in: Martin H. W. Möllers/
Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2010/2011. Erster Halbband, Frankfurt/
M. 2011, S. 197-210.
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Dschihadismus
Von Univ.-Prof. Dr. Rüdiger Lohlker
7.11.2011
Geb. am 7. Juli 1959, ist seit September 2003 Universitätsprofessor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Wien und leitet das Projekt Dschihadismus Online. Es untersucht Onlinepräsenzen der extremistischen
transnationalen Strömung des Dschihadismus dahingehend, welche Überzeugungsstrategien auf theologischer, visueller und
sprachlicher Ebene angewendet werden, um Anhänger zu motivieren und zu rekrutieren. http://www.univie.ac.at/jihadism/(http://
www.univie.ac.at/jihadism/)
Mit dem Begriff Dschihadismus ist nichts so verbunden wie al Qaida. Im Gegensatz zu national
gebundenen Gruppen wie Hamas oder Hisbollah agiert das Netzwerk transnational. Und verfolgt
eine globale Agenda.
Seit dem 11. September 2001 ist unter dem Label al-Qaida die Präsenz eines Netzwerkes und einer
Subkultur des gewaltsamen Dschihad global ins Bewusstsein gerückt. Mit dem Tod Osama bin Ladens
im Mai 2011 wurde der Eindruck aktualisiert. Wegen ihrer Fixierung auf den gewaltsamen Dschihad
können wir diese Strömung als dschihadistisch bezeichnen, was auch Teil ihrer Eigenbezeichnung ist.
Im Gegensatz zu national gebundenen Bewegungen wie der Hamas, der Hisbollah, in Kaschmir oder
indonesischen Organisationen, die ebenfalls eine Dschihad-Rhetorik pflegen, ist al-Qaida ein
transnationales Phänomen, das sich durch eine globale Agenda auszeichnet. Dies gilt trotz lokaler
und regionaler Schwerpunkte der "Franchiseunternehmen" des Labels al-Qaida (z. B. Afghanistan/
Pakistan, Jemen, Somalia, Maghreb).
Entstanden ist das Netzwerk und die daraus entstandenen Subkulturen im Umfeld des Kampfes gegen
die Rote Armee im Afghanistan der 1980er Jahre. Freiwillige aus arabischen Staaten und anderen
Teilen der muslimischen Welt lösten die Grenzen ihrer Herkunftsländer und jeweiligen nationalen
Organisationen auf und verschmolzen in einer transnationalen Orientierung. In diesem
Verschmelzungsprozess, der auf praktischer Ebene in Ausbildungslagern, aber auch in Pakistan u.a.
in Peschawar stattfand, wurden islamische Traditionen neu zusammengesetzt, um als theologische
Rechtfertigung für den gewaltsamen Dschihad zu dienen.
Nach dieser anfänglichen afghanischen Phase und parallel dazu globalisierte sich al-Qaida mit einer
Orientierung gegen arabische Regime und deren westliche Unterstützung, als deren wesentlicher
Repräsentant in der Region Israel identifiziert wurde. Nach 9/11 und dem anbrechenden "War on
Terror” war al-Qaida und die dschihadistische Subkultur gezwungen, sich neu zu orientieren. Eine
Regionalisierung fand statt, die sich in der Bildung regionaler al-Qaida-Sublabel niederschlug (in Irak,
in Saudi-Arabien, im Maghreb). Die arabische Dominanz in den dschihadistischen Subkulturen begann
sich aufzulösen, was sich bereits 2002 im Anschlag in Bali zeigte, der von der indonesischen Jemaah
Islamiyah organisiert wurde.
Al-Qaida selber orientierte sich auf den Aufbau eines strategischen Hinterlandes in Pakistan, nachdem
das Islamischen Emirat Afghanistan zerschlagen war und die Herrschaft der Taliban geendet hatte..
In Pakistan entstanden im Laufe mehrere Jahre eine eigene dschihadistische Landschaft von Basen
und Bewegungen geschaffen. Der pakistanischen Armee und den pakistanischen Geheimdiensten fiel
es zunehmend schwerer, diese zu kontrollieren.. Auch im Jemen und in Somalia entstanden neue
Schwerpunkte für den globalen Dschihad. Andere Regionen wie der Kaukasus mit seiner spezifischen
Mischung aus Dschihadismus, regionaler Gewalttradition und Kriminalität, sind in diesem Kontext eher
zweitrangig. Man kann diese Entwicklung als realisierte Globalisierung des Dschihadismus
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beschreiben, die sich zumindest partiell von der arabischen Dominanz befreit. Deshalb hat der Tod
Osama bin Ladens in diesem Zusammenhang keine überragende Bedeutung mehr.
Die Wege, die zu einer Radikalisierung in Gewalt hinein führen, sind so unterschiedlich wie die
Biografien der Dschihadisten Einfache Erklärungen wie Diskriminierung oder Unterprivilegierung
greifen sicher nicht. Biografien von Dschihadisten zeigen ein komplexes Zusammenwirken von
persönlichen Krisen, dschihadistischen Netzwerken und propagierten Ideen. In den letzten Jahren
sind immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Propaganda via Internet eine Rolle gespielt
hat; Computer-Dschihadisten haben sich immer häufiger in reale Kämpfer gewandelt. In
dschihadistischen Radikalisierungsprozessen sind ein panikartiges Gefühl der Bedrohung durch NichtMuslime und das Gefühl, Muslim zu sein, oft wichtiger als die Kenntnis islamischer religiöser
Vorstellungen. Die dschihadistische Subkultur ist hauptsächlich männlich geprägt, Frauen haben eher
eine unterstützende Funktion.
Geografische Schwerpunkte
Der geografische Schwerpunkt des Dschihadismus liegt noch immer in Afghanistan und Pakistan. AlQaida gelang es, wichtige pakistanische dschihadistische Strömungen und immer wieder Teile des
Nordwestens Pakistans unter ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu bringen. Dabei scheinen auch
usbekische Kämpfer eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Organisatorisch findet dies in den Tahrike Taliban Pakistan seinen Ausdruck. Aber auch andere dschihadistische Organisationen wie die frühere
Lashkar-e Taiba orientieren sich zunehmend international.
Nach ihrer Niederlage in Saudi-Arabien 2004/05 hat sich die "Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel”
(AQAP) 2009 im Jemen neu konstituiert und im Laufe der diesjährigen Revolten auch einige territoriale
Erfolge erzielen können wie die Kontrolle von Häfen oder einen Angriff auf Aden. Zugleich propagiert
sie eine internationale Strategie, die als Abnutzungsstrategie gegen die USA konzipiert wurde. Die
US-Streitkräfte sollen durch ständige Beanspruchung so belastet werden, dass sie auf die vervielfältigte
Bedrohung nicht mehr reagieren können. Zugleich sollen die Kosten für das Militärbudget die USA in
eine Krise stürzen. Inspirator dieser strategischen Neuorientierung dürfte der US-stämmige Ideologe
Anwar al-Awlaki sein.
Die "Al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM) hat über längere Zeit durch Entführungen, kleinere
Anschläge z.B. in Mauretanien, Mali oder größere in Marokko 2003 oder in Algerien auf sich
aufmerksam gemacht. Im Bürgerkrieg in Libyen kommen immer wieder Berichte über dschihadistische
Kämpfer und den Transport von Waffen zu AQIM auf. Die Jemaah Islamiyah ist weiterhin auf
niedrigerem Level aktiv; auch in den Südphilippinen finden weiter Aktionen statt. Der Konflikt in
Südthailand wird häufig als von Dschihadisten beeinflusst gedeutet, was bezweifelt werden kann.
Seit den 1990er Jahren wurde von Vertretern einer weißen Suprematie in den USA, einer
rechtsextremen Strömung, die die Oberherrschaft der 'weißen Rasse' verficht, das Konzept eines "
lone wolf”-Aktivismus propagiert, die Durchführung von Operationen durch Einzelpersonen ohne
Gruppenzugehörigkeit. Solche Operationen wurden von Personen unterschiedlicher Ausrichtung
durchgeführt. In den letzten Jahren kam es auch zu mehreren dschihadistischen Anschlägen dieser
Art (Frankfurt a.M. 2011, Stockholm 2010, Fort Hood 2009). Allerdings zeigen Untersuchungen nach
der Tat, dass die Attentäter in einschlägige Netzwerke eingebunden waren.
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Hausgemachter Terrorismus in Europa
Mit den Anschlägen von Madrid vom 11. März 2004 und London am 7. Juli 2005 ist in europäischen
Gesellschaften das Bewusstsein gewachsen, dass auch in Europa eine reale Gefährdung durch
dschihadistische Anschläge gegeben ist. Trotz der geringen Zahl solcher Anschläge wächst diese
Gefährdung, die aber nicht überschätzt werden sollte. Auch Einzeltäter sind aktiv geworden (s.o.).
"Hausgemachter Terrorismus" bezeichnet eine Form des Terrorismus, die nicht mehr hauptsächlich
von einreisenden (9/11) oder immigrierten (Madrid 2004) Personen getragen wird. Vielmehr sind im
Lande geborene Personen immer mehr in den Vordergrund getreten (London 2005). Dies zeigt sich
auch bei verhinderten Anschlägen wie dem der Sauerland-Gruppe (2007) in Deutschland.
Eine neuere Entwicklung ist die zunehmende reale Globalisierung des Dschihadismus auch in Europa
und in Nordamerika. Dschihadistische Gruppen haben eine mehr und mehr ethnisch diverse
Zusammensetzung, die sich in Europa in einer größeren Rolle türkischstämmiger Dschihadisten zeigt.
Die Rolle arabischer Dschihadisten ist kleiner geworden, dadurch sinkt auch das Niveau der
Arabischkenntnisse, was wiederum eine linguistische Differenzierung der Propaganda auch via Internet
mit sich bringt.
Einzelne Dschihadisten oder kleinere Gruppen reisen immer wieder in die Schwerpunktregionen des
Dschihadismus, um dort eine Ausbildung zu erhalten oder an Operationen teilzunehmen, z. B. gegen
die Bundeswehr in Afghanistan. Die Radikalisierung zur Gewalt findet teilweise in einem hohen Tempo
statt und wird auch immer wieder über das Internet eingeleitet.
Anti-Terror-Strategie
Es sind verschiedene Wege beschritten worden, um dschihadistischen Terrorismus zu bekämpfen.
Von muslimischer Seite hat es zahlreiche Erklärungen gegen Terrorismus gegeben. Einzelne Staaten
wie Saudi-Arabien oder Singapur haben Programme aufgelegt, die eine religiöse Kritik an
dschihadistischen Vorstellungen mit sozialer Eingliederung und Fürsorge für das familiäre Umfeld
verbinden. Andere Projekte gibt es in Indonesien, im Jemen wurde eine Dialog-Initiative beendet.
Eine Publikation aus den USA nennt einige Punkte, die für die Eindämmung dschihadistischer
Bedrohungen nützlich sind: Vertrauen und Engagement der muslimischen Gemeinschaften, Tipps von
Verwandten und Bekannten sich radikalisierender Personen, aufmerksame Bürger und Bürgerinnen
und eine konzentrierte Informationsgewinnung durch die Sicherheitsbehörden. Da Radikalisierung in
die Gewalt hinein jeweils individuell stattfindet, bildet die Informationen durch Menschen eine wichtige
Rolle. Dazu kommt eine unaufgeregte öffentliche Behandlung des Themas und die Entwicklung von
Gegenstrategien, die auch das Internet einschließen.
Für die Radikalisierung in Gewalt hinein spielen leicht feststellbare double standards der westlichen
Welt gegenüber eine große Rolle: Unterstützung von autoritären Regimes oder Skandale wie Abu
Ghraib, das Lager in Guantánamo u.a. In diese Hinsicht sind die jüngsten Revolutionen in der
arabischen Welt bei all ihren Problemen die effektivste antiterroristische Maßnahme seit Jahren
gewesen. Bezeichnend ist, dass von dschihadistischer Seite zu Tunesien und Ägypten erst mit
reichlicher Verspätung Stellungnahmen publiziert wurden; Libyen wurde dagegen ausführlicher und
schneller kommentiert. Eine wirkliche Demokratisierung wäre wohl ein wichtiger Schritt. Dass das
dschihadistische Problem nicht auf al-Qaida beschränkt ist, zeigen positive Einschätzungen von alQaida durch den Attentäter von Oslo und Utøya 2011.
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Literatur
Jenkins (2010), Brian Michael, Would-Be Warriors: Incidents of Jihadist Terrorist Radicalization in the
United States since September 11, 2001 (über http://www.rand.org/)
Lohlker (2009), Rüdiger, Dschihadismus. Materialien, Wien: facultas/wuv
Lohlker (2011), Rüdiger (Hg.), Studying Jihadism, Göttingen: Vienna University Press (i.Dr.)
Marranci (2006), Gabriele, Jihad beyond Islam, Oxford/New York: Berg
Shahzad (2011), Syed Saleem, Inside al-Qaeda and the Taliban. Beyond Bin Laden and 9/11, London:
Pluto Press
Steinberg (2009), Guido, Im Visier von al-Qaida. Deutschland braucht eine Anti-Terror-Strategie,
Hamburg: Edition Körber-Stiftung
http://www.jihadica.com
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Aktuelle Situation, Gruppen und
Strömungen
5.7.2007
Weltweit kämpfen viele islamistische Gruppen ihren "Dschihad". Momentan ist der "Islamische Staat"
(IS) zum Synonym für den islamischen Terror geworden. Die brutale Miliz kämpft aber nicht nur um
Gebiete: Allein aus Deutschland haben sich hunderte Personen auf den Weg nach Syrien gemacht,
um sich der Terrormiliz anzuschließen.
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Die Spaltung des Jihad-Salafismus in Syrien
Von Ghiath Bilal
11.4.2016
ist in Damaskus aufgewachsen, hat in Deutschland studiert und arbeitet im Bereich des Business Developement und als strategischer
Analyst.
Wie hat sich der jihadistische Salafismus in Syrien in den vergangenen zwei Jahren entwickelt?
Welche Hauptströmungen gibt es? Wie stehen sie zueinander? Ghiath Bilal mit einer
Einschätzung.
Mitglieder der salafistischen Ahrar al-Sham in einem Vorort von Damaskus im Juni 2015. (© picture-alliance/AP)
Dieser Artikel befasst sich mit dem Jihad-Salafismus während der letzten beiden Jahre in Syrien. Vor
knapp zwei Jahren ging es bei einem Artikel von mir darum, wie die al-Qaida sich in Syrien spaltete,
und aus ihr direkt die beiden Organisationen IS (Islamischer Staat) und die Nusra Front geboren
wurden. (Bilal, 2014A) Ich habe aufgezeigt, wo es um Konkurrenz um Ressourcen und personellen
Zulauf ging, und den ideologischen Wandel beleuchtet, den al-Qaida-Führer der ersten Generation
durchliefen, etwa Abu-Khaled al-Suri, Zawahiris Delegierter in Syrien. Er war damit beauftragt worden,
die Streitigkeiten zwischen Abu Bakr al-Baghdadis Islamischem Staat (IS) und Abu Mohammed alJulanis Nusra-Front zu beenden. Als er beschloss, der IS solle entweder Syrien verlassen oder sich
den Nusra-Brigaden unterordnen, wies Baghdadi dies zurück. Die Folge waren Liquidierungskriege
zwischen den islamischen Fraktionen wie al-Nusra auf der einen und dem IS auf der anderen Seite.
Meine Analyse endete damals mit der Schlussfolgerung, dass der globale jihadistische Salafismus
eine strukturelle Krise durchlebt – und das, obwohl es in Syrien wohl die Gelegenheit für seine
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Expansion gegeben hätte. Interne, radikale und blutige Differenzen haben diese jedoch verhindert.
Die Überheblichkeit der jihadistischen Salafisten, das islamische Wissen für sich gepachtet zu haben,
gepaart mit der Neigung, jede politische Auseinandersetzung zu einer religiösen zu machen, hat dazu
geführt, dass aus den Freunden von gestern die Feinde von heute wurden.
Der vorliegende Artikel beleuchtet den Wandel des Jihad-Salafismus während der letzten beiden Jahre
in Syrien. Dazu werden wir uns die unterschiedlichen Strömungen und Gruppierungen innerhalb seines
Einflussbereiches und ihre verschiedenen ideologischen Ausprägungen ansehen. Aber zunächst zu
ihrem gemeinsamen historischen Hintergrund.
Die Hauptströmungen der Salafistischen Glaubensrichtung
Muhammad ibn Abd al-Wahhab gilt als Begründer der religiösen Lehre des Salafismus, die als geistige
Quelle für sämtliche salafistische Strömungen in der islamischen und arabischen Welt dient. Politische
Unterstützung erhielt er im Jahre 1744 von Muhammad ibn Saud, dem Emir von Diriyya in Nadschd
(Landschaft im Inneren der arabischen Halbinsel im heutigen Saudi-Arabien). Bei sämtlichen Gebieten,
die heute zum saudischen Königreich zählen, handelte es sich damals entweder um lose Orte, in
denen Nomadenstämme lebten und Stammesführer das Sagen hatten oder um autonome Städte, die
von Emiren beherrscht wurden. Ein gegenseitiges Bekriegen sämtlicher Machthaber stand auf der
Tagesordnung. Ein gegenseitiger Treueeid versetzte Muhammad ibn Abd al-Wahhab und Muhammad
ibn Saud in die Lage, sich eine starke Basis in Nadschd aufzubauen, von der aus sie die salafistische
Lehre mit Waffengewalt auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabien verbreiteten. Die Anhänger dieser
Lehre wurden fortan in- und außerhalb der islamischen Welt als "Wahhabiten" bezeichnet. (M. Abu
Alruman, 2015)
Die salafistische Lehre lehnt es ab, die Aussagen des islamischen Rechts, die sich aus Koran und
Hadith ableiten, fortzuentwickeln und veränderten Zeiten und Umständen anzupassen. Die möglichst
wortgetreue Umsetzung islamischer Quellen aus der Zeit des Propheten Muhammad steht im
Mittelpunkt. Alles, was keine Wurzeln im "goldenen Zeitalter" des Islam hat, wird abgelehnt. Demnach
wird jegliche "Neuerung" nicht gestattet. Diese Lehre kann mit den zahlreichen christlichfundamentalistischen Strömungen in Europa und Amerika verglichen werden, die an die ursprüngliche
heilige Schrift in ihrer Reinform glauben und deren Glaubensgrundsätze starr und unverändert bleiben.
Die salafistische Lehre lässt sich in zwei Hauptströmungen unterteilen:
Der traditionelle Salafismus
Dieser gilt als Fortführung der Lehre des Muhammad ibn Abd al-Wahhab. Einige Wissenschaftler
nennen sie auch "Nadschader Salafismus".
Die Folgen des hier zugrundeliegenden buchstabengetreuen Koranverständnisses ohne jegliche
Anpassungen sind u.a. befremdliche Fatwas (Rechtsprechungen), etwa vom saudischen Großmufti
Abdulaziz Al al-Sheikh, der Anfang dieses Jahres (2016) das Schachspielen als unislamisch und
verboten erklärte, oder diverse andere Fatwas, die den Frauen das Autofahren untersagen. So werden
etliche Moden und Entwicklungen bekämpft, indem man sie einfach für "Neuerungen" erklärt, mit der
Begründung, sie hätten während des goldenen Zeitalters des Islams nicht existiert oder stünden im
Gegensatz zu den Wertvorstellungen des goldenen Zeitalters des Islams.
Auf politischer Ebene nutzen Herrscher diese Ideologie, um ihre Macht zu legitimieren und zu festigen,
etwa in Saudi-Arabien, wo dieses Phänomen evident ist. Dort gilt jeglicher Einspruch nicht als
Opposition, sondern als religiöser Fehltritt, der im Dies- sowie im Jenseits zu bestrafen ist.
In Syrien nahm der Salafismus dagegen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Weg der politischen
Opposition und der religiösen Reform ein. Angeführt wurde diese Opposition von der intellektuellen
Elite in Syrien wie Abd al-Rahman Al Kawakbi, Jamal al-Dien al-Qasmi und Mohamad Rida. Aus deren
Bestrebungen und Aktivitäten, bildeten sich mit der Zeit mehrere Organisationen wie der "Al Ghara’a
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Verein" im Jahr 1924 und im Jahr 1930 "Al Tamdn Verein", die bestrebt waren ihre Reformen
umzusetzen. Hauptanliegen ihrer Reformbewegung war eine Aufklärung und Bekämpfung der
religiösen Missstände, die sich zum Ende des Osmanischen Reiches in der Gesellschaft festgesetzt
hatten. Mitte des letzten Jahrhunderts erschien in Syrien eine neue Salafistische Schule, die von dem
traditionellen Salafsismus in Saudi-Arabien sehr beeinflusst war. Die Quellen für diese neue Schule
basierten auf die Aussagen und Fatawas von Abn Taymiyeh und Mohamad bin abd Al Wahab.
Die berühmtesten Wissenschaftler und geistliche Führer hier waren Sheikh Abdel-Al Qader Arna’ut,
der im Jahre 2004 in Damaskus verstarb und von Dr. Ma’amun Hamash beerbt wurde. Sheikh Nasser
Al-Albani galt dagegen als geistlicher Vater dieser Lehre und ihr Reformator. Seine Berühmtheit ging
über die syrischen Grenzen hinaus und erreichte die gesamte arabische Welt. Man verwehrte ihm
jedoch im Jahre 1980 den Besuch Syriens. Er verstarb 1999 in Jordanien. Die Vertreter der
salafistischen Lehre waren bis zum Beginn der syrischen Revolution Repressionen und Inhaftierungen
ausgesetzt. Ideologisch bekämpfte das Regime sie durch den Sufismus systematisch. Der regimenahe
sufistische Geistliche, Dr. Said Ramadan Al-Buti, publizierte etwa zahlreiche Bücher, deren Inhalt das
Ziel hatte, die salafistische Lehre zu zerlegen. Dies hatte zur Folge, dass die Anhänger des Salafismus
in den Untergrund abtauchten. Ihre Treffen wurde geheim gehalten, die dort herrschende Atmosphäre
hatte einen familiären Charakter. Der Zusammenhalt war dadurch groß.
Heute gilt Saudi-Arabien als "Hirte" der traditionellen Salafisten. Das Königreich sieht Gehorsam
gegenüber dem Machthaber vor. Dadurch wird ersichtlich, warum ihre Anhänger sich zu Beginn der
syrischen Revolution weigerten, diese zu unterstützen. Man erfährt mehr über die Besonderheiten
dieser Bewegung durch ihre verschiedenen Positionen, etwa in Ägypten. Dort ist die Al Nour-Partei
die treibende salafistische Kraft. Sie unterstützte den Putsch des Abdel-Fattah Sissi gegen den
gewählten Muslimbruder-Präsidenten Muhammad Mursi. Da Sissi der "Mächtigere" der Beiden war,
haben die Muslime nach dem Verständnis des traditionellen Salafismus diesem zu folgen bzw. ihm zu
gehorchen.
Wenn wir uns die Rebellengruppen in Syrien ansehen, so haben viele Brigaden einen salafistischen
Hintergrund. Als Beispiel kann die von Zahran Allusch gegründete Jeish al-Islam (Die Armee des Islam)
gelten. Es ist bekannt, dass Jeish Al-Islam mit den Salafisten in Saudi Arabien sehr gut vernetzt ist.
Weiterhin ist er von Saudi-Arabien politisch unterstützt worden. Er wurde zum Beispiel als Vertreter
vom Jeish Al-Islam zu den Riad-Gesprächen im Dezember 2015 eingeladen. Allusch kam Ende 2015
bei einem Luftangriff ums Leben.
Die traditionelle salafistische Schule durchlief in den letzten fünf Jahren einen tiefgreifenden Wandel.
Aus losen politischen Formationen wurden politische Parteien, wie die bereits erwähnte Nour-Partei
in Ägypten und wie ähnliche unangekündigte Gruppierungen in Syrien. Dieser Artikel beleuchtet in
erster Linie den Wandel der jihadistischen salafistischen Schule in den letzten Jahren.
Der jihadistische Salafismus
Diese Lehre glaubt an den Jihad im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung, an den Krieg
gegen den Westen sowie gegen Ungläubige. Dadurch soll der Weg zum Aufbau eines islamischen
Staates geebnet werden. Die jihadistische Ideologie war das Resultat der Kombination aus drei
unterschiedlichen Komponenten:
1.
Der Wahhabi-Salafismus Saudi-Arabiens (Osama bin Laden), gekoppelt an
2.
die Übernahme dynamischer Strukturen der Muslimbruderschaft (Abdullah Azam) und an die
3.
Neo-jihadistische Bewegung aus Ägypten (Aiman az-Zawahiri).
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Basierend auf dieser neuen Ideologie entstand al-Qaida als erste jihadistische Organisation mit
überregionaler Ausprägung. (Bilal, 2014C)
Die al-Qaida gilt als politische Plattform dieser Schule. Eine Besonderheit dieser Lehre ist die simple
und klare Botschaft, ein Schwarz-Weiß-Denken auch bezüglich der Definition von "Islam" und
"Unglaube". Dadurch werden relevante Ideen und Gedanken leichter aufgenommen, vor allem von
Menschen, die neu zur Religion gefunden haben. Während die al-Qaida hier als spiritueller Vater
angesehen wird, gilt der IS als berühmtes Exempel im syrischen Fall. Diese Strömung wurde seinerzeit
vom syrischen Regime gefördert. So wurden im Jahre 2004 manche IS-Anführer offiziell angestellt,
etwa Sheikh Abu Al-Qaa’Qaa‘, der Imam der Iman-Moschee in Aleppo. Auffällig war, dass Abu AlQaa’Qaa‘ viele junge Männer erfolgreich rekrutierte, um sie in den Irak zu schicken, wo sie am Kampf
gegen die Amerikaner teilnahmen. Das Assad Regime hatte die Befürchtung, dass die Amerikaner in
Syrien einmarschieren könnten, wenn die Lage im Irak sich stabilisiert hat. Daher versuchte es auf
diesem Weg, al-Qaida im Irak zu stärken.
Die regionale Zweigstelle al-Qaidas im Irak entwickelte sich indessen in mehreren
aufeinanderfolgenden Stadien, bis daraus die Organisation "Islamischer Staat im Irak und in Syrien"
(ISIS) entstand. Im Sommer 2014 (29.06.2014) rief sie die Wiederbelebung des "islamischen Kalifats"
in den Regionen aus, die unter ihrer Kontrolle standen. Seither stellt der "Islamische Staat" (IS) die
letzte organisatorische Entwicklung dar, der die Ideologie des jihadistischen-Salafismus zu Grunde
liegt. (Bilal, 2014C)
Neue Strömung der Salafismus-Glaubensrichtung
Heute haben wir es aber mit einer dritten Strömung zu tun, die sich nach den Erfahrungen der
Afghanistan- und Irak-Kriege vom Jihad-Salafismus abspaltete. Auffällig ist hier der klare Unterschied
hinsichtlich der Denkweise. Manche arabische Wissenschaftler neigen dazu, diese Strömung dem
Geist des Ägypters Sayyid Qutb bzw. dem Syrer Sheikh Srour Zein Al-Abdeen zuzuordnen, der in den
Achtziger Jahren in Saudi-Arabien lebte. Sie trägt die Bezeichnung "Dynamik-Salafismus" (HarakiSalafismus), da sie den Anspruch erhebt, auf der politischen Bühne mitzumischen. Diese Strömung
hat sich von der Hauptströmung, der al-Qaida, abgespalten, weil sie mit den Erfahrungen hier nicht
einverstanden waren. Zwar existieren Gemeinsamkeiten mit der Schule des Sheikh Srour, dennoch
ist diese neue Bewegung als eigenständig zu betrachten. Einerseits bezieht sich diese junge Strömung,
ideologisch betrachtet, auf den Jihad-Salafismus, andererseits glaubt sie an die Politik als Werkzeug
mit dem Ziel, die Macht zu erreichen. Prominente Vertreter dieser Richtung sind die Anführer der
syrischen Ahrar-Al-Sham-Bewegung. Sie führten tiefgründige Analysen und Neubewertungen am
bestehenden Salafismus durch, was in eine Vermittlerrolle zwischen den salafistischen und anderen
militärischen Gruppierungen mündete, die den unterschiedlichen Schulen zuzurechnen sind.
An dieser Stelle muss zwingend unterschieden werden zwischen dem Jihad-Salafismus und anderen
islamistischen Gruppierungen, die ebenfalls versuchen, der Gesellschaft den Islam mit Waffengewalt
aufzuzwingen, wie etwa "Hizb al-Tahrir". Gemein haben Beide die Idee der Schaffung eines islamischen
Staates, um die Islamisierung voranzubringen. Sowohl "Hizb al-Tahrir" als auch andere, ähnliche
islamistische Gruppierungen, sind schon immer politische Strömungen gewesen, die sich der
Werkzeuge einer politischen Partei bedienen, wobei sie den Islam als geistige Grundlage haben. Beim
Jihad-Salafismus handelt es sich dagegen um eine Strömung und Gruppen, die ein religiöses und
kein politisches Selbstverständnis hatten. Ihre Hauptambition war anfangs darauf beschränkt, den
Islam zu studieren und zu praktizieren. Durch ihr Studium kamen sie zur Interpretation, einen
islamischen Gottesstaat aufbauen zu müssen.
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Die Weiterentwicklung des Jihad-Salafismus in Syrien
Seit der Entstehung des Jihad-Salafismus gab es für Usama Bin Laden keine Konkurrenz um die
Führungsspitze. Auch gab es nicht die üblichen unterschiedlichen Fatwas oder Diskussionen um
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation. In den Organisationen, die den JihadSalafismus vertreten, beobachtet man drei Besonderheiten, mit denen sie sich von anderen
salafistischen Strömungen erheblich unterscheiden.
Politischer Nihilismus
Der Jihad-Salafismus kann als Meutereibewegung bezeichnet werden - gegen eine autoritäre
Staatsform, die dem Willen von Außenmächten unterworfen ist, jedoch die eigene Bevölkerung
unterdrückt. So entstand eine utopische Vorstellung von einem islamischen Staat, der die Muslime
während eines goldenen Zeitalters gerecht regierte und behandelte. Aus diesem Utopismus rührt auch
die Idee des Jihads als Werkzeug, um die Feinde zu bekämpfen und nicht unbedingt, um ein bestimmtes
politisches Ziel zu erreichen. Sein politischer Diskurs kann als nihilistisch beschrieben werden,
insbesondere im Kontext vom politischen System der Nationalstaaten.
Überheblichkeit gegenüber bestehenden gesellschaftlicher Strukturen und islamistischen
Strömungen
Genau wie andere islamistische Bewegungen verfolgt auch der Jihad-Salafismus das Ziel, Menschen
den Islam mit Waffengewalt aufzuzwingen. Im Allgemeinen gilt das Schaffen eines islamischen Staates
als obligatorisch, etwa um den muslimischen Glauben zu verbreiten bzw. die Islamisierung der
Gesellschaften zu vollenden. Doch der Ursprung dieser Bewegung ist ein politischer. Ein ähnlich
denkender Mensch, der dieselben politischen Ziele verfolgt, ist ein "Bruder im Geiste", mit dem eine
Kooperation wohl möglich ist. Andere Menschen werden dagegen unterteilt in:
•
"A‘wam" (von arabisch U‘mum; Gesamtheit), also die muslimische Allgemeinheit, die der
Macht dieses islamischen Staates unterworfen werden sollen, um seine Anweisungen ohne
jeglichen Widerspruch zu befolgen.
•
"Murtadd" (arabisch), also die Abtrünnigen, Muslime, die sich ihm in den Weg stellen, ihm
widersprechen.
•
"Kuffar" (arabisch), also die Ungläubigen. Dies ist der Rest der Menschheit, also die Nichtmuslime.
Diese Unterteilung gibt ihnen ein Gefühl der Überlegenheit, sowohl ihren Mitmenschen gegenüber als
auch den gesamten Gesellschaften, in denen sie beheimatet sind. So wurden aus politischen
Streitereien religiöse Machtkämpfe, bei denen die Beteiligten sich gegenseitig zu "Abtrünnigen" und
"Ungläubigen" erklärten und gegenseitig mit Waffengewalt bekriegten, wie wir es zwischen dem IS
und der Nusra Front gesehen haben.
Der Verlust von menschlichen (humanitären) Eigenschaften
Das oben beschriebene Überlegenheitsgefühl, gepaart mit der buchstabengetreuen, starren
Interpretation von Koran und Hadithen, produzierte eine gnadenlose Gruppierung von Menschen, die
jegliche Menschlichkeit vermissen lassen. Aufgrund der erwähnten Kategorisierung der Mitmenschen
gelten die "Anderen", die keine "Brüder im Geiste" sind, als Nicht-Menschen. Ihnen wird die
Gattungszugehörigkeit abgesprochen, sie sind ungleichwertig, Kreaturen, etwas Böses, das sich den
religiösen Regeln und Gesetzen zu unterwerfen hat. Die Beispiele hierzu sind zahlreich und vielfältig:
Das Köpfen von Geiseln, Massaker an unterworfenen Stämmen (z. B. al-Sha’itat) oder die Versklavung
von jesidischen Frauen. All das sind Verhaltensweisen, die als Folge des Verlusts menschlicher
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Eigenschaften anzusehen sind. Auch wenn die Al Nusra-Front ihre Gefangenen oft gut behandeln soll
(Madar, 2015), geschieht dies nicht deswegen, weil die Gefangenen Menschen sind. Ausgangspunkt
dieses Verhaltens sind eigene Interpretationen über einige Überlieferung zum Thema
"Gefangenschaften" zur Zeit des Propheten, auf die sie sich beziehen.
Man kann sagen, dass bis 2012 diese drei Eigenschaften auf alle jihadistischen Salafisten zutraffen.
Danach entstand eine neue jihadistische Strömung, die diese Eigenschaften ablehnte. Als Beispiel,
wenn nicht als Begründer dieser Strömung, können die Ahrar Al-Sham gelten. Ihre Anführer bewerteten
den jihadistischen Salafismus neu und veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie sich vom Geist
des Jihads loslösten. Die letzte dieser Stellungnahmen war die aufrichtige Entschuldigung des
Chefideologen der Ahrar Al-Sham, Mohamad Abu Yazan Al-Shami (Abu Yazan, 2014B). Darin
distanzierte er sich von jeglichen Praktiken, die im Namen des Jihads ausgeführt wurden und beteuerte
seine Reue und die seiner Bewegung. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er:
"Ja, ich war ein jihadistischer Salafist. Aus diesem Grunde wurde ich in den Kerkern des Regimes
festgehalten. Doch heute bitte ich Gott um Vergebung, wende mich ihm reuevoll zu und entschuldige
mich bei meinem Volk, denn wir haben euch einen Don-Quijote-Krieg gebracht, der euch besser erspart
geblieben wäre. Ich entschuldige mich bei euch dafür, dass wir uns zu sehr von euch entfernt haben.
Als ich mein Gefängnis in meinem Kopf verlassen habe, und euch und euren Herzen beiwohnte,
wiederholte ich die Aussage des Propheten, des Ehrlichen, Friede sei mit ihm: ‚Wenn ihr zulasst, dass
die Menschen in Al-Sham Mangel leiden, so ist keine Güte in euch.‘ Ich bitte euch um Verzeihung!
Verzeihung! So Gott will, werden die kommenden Tage die besseren für unsere Revolution und den
Islam sein."(Abu Yazan, 2014A).
Die Anführer der Ahrar Al-Sham wurden bei einem mysteriösen Attentat am 9. September 2014
ermordet, wodurch die Organisation erheblich geschwächt wurde. Sie konnte sich jedoch schnell
erholen und bestreitet ihren Weg der Reformen, den die ermordeten Anführer begannen hatten, weiter.
Bis März 2015 ließ sich diese Gruppierung von einer Mission leiten, die auf die ganze "Umma" (islam.
Gemeinschaf aller Gläubigen) bezogen war. Dasselbe Ziel verfolgte auch die Al-Jabha Al-Islamiya
(Islamische Front), die im November 2013 gegründet wurde, und in der diverse islamische Brigaden
vereint sind, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Dieses allgemeingültige Ziel drückt vor allem aus,
dass sie den Aufbau eines Staates beabsichtigten, der allen Muslimen offen stehen sollte. Doch seit
der Fusion mit Suqour Al-Sham am 22.3.2015, der Bewegung, die ebenfalls als reformfreundlich gilt,
änderte man das Hauptziel, das nun "Volksrevolution" lautete. Dieser Slogan wurde fortan auf ihren
Flaggen sowie in schriftlichen Stellungnahmen platziert und drückt aus, dass die syrische Revolution
eben syrisch ist, also eine Revolution des ganzen Volkes und nicht einer bestimmten Konfession.
Diese Veränderung ist eine bedeutungsvolle Entwicklung im Diskurs von Organisationen, die eigentlich
ein jihadistisches Selbstverständnis haben. Zur Folge hatte dies, dass die Ahrar Al-Sham nun von
diversen Vertretern traditioneller jihadistischer Strömungen, etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder
Abu Qatada Al-Falastini, angeprangert wurde. (Abazeid, 2015)
Am 24.8.2015 veröffentlichten die Ahrar Al-Sham mehrere Beschlüsse und Dokumente, in denen sie
ihren syrischen Charakter unterstrich, sowohl hinsichtlich der Nationalität ihrer Mitglieder als auch
ihres Leitbilds. Des Weiteren verneinten sie jegliche Bindung zur Nusra-Front. Inhalt dieser Beschlüsse
war u.a. die Suspendierung mehrerer Anführer, die dem radikalen Flügel zugerechnet wurden, etwa
des Richters Abu Shu’aib Al-Masri, der die Publikationen von Labib Al-Nahhas kritisierte. Labib AlNahhas machte 2015 auf sich aufmerksam. Er war Mitglied des Politbüros und Leiter des Büros für
auswärtige Beziehungen der Ahrar Al-Sham. Er wandte sich in Englisch an die westliche Öffentlichkeit
und wichtige Entscheidungsträger dort, beispielsweise in der New York Times und im Daily Telegraph
(Nahhas, 2015A; Nahhas, 2015B; TurkPress, 2015). Darin sehen viele Beobachter einen
pragmatischen Wandel dieser Gruppierung: Statt die Moderne zu verteufeln und den Westen pauschal
für ungläubig zu erklären, beginnt sie, die Grundlagen der politischen Arbeit zu erlernen und deren
Methoden anzuwenden. So hat man am 9. und 10. Dezember 2015 einen Abgeordneten zu den in
Riad abgehaltenen Gesprächen geschickt und die Verhandlungen von Genf nicht kategorisch
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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abgelehnt. Zwar handelt es sich immer noch um eine jihadistische Bewegung, die Bashar Assad mit
Waffengewalt stürzen will, doch sie scheint auch daran zu glauben, dass man Lösungen durch politische
Verhandlungen und einen politischen Konsens erzielen kann – auch, um weiteres Blutvergießen zu
vermeiden. (Abazeid, 2015)
Innenpolitisch haben die Ahrar al-Sham die regionale Verwaltung Zivilisten anvertraut, die ihr Vertrauen
genießen. Im Gegensatz zur Nusra-Front oder zum IS haben sie hier nicht die Macht an sich gerissen.
Dieser geistige und ideologische Wandel befindet sich noch am Anfang, auch wenn die Unterschiede
zum Mainstream des Jihad-Salafismus evident sind. Daher ist es an dieser Stelle überflüssig zu
betonen, dass nicht alle Anführer und Mitglieder diesen Wandel als positive Entwicklung sehen.
Innerhalb der Organisation gibt es Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Lager, gerade
wenn es um Grundsätzliches geht, wie die Konferenzen in Riad bzw. Genf, die Beziehung zum IS oder
aber um Verhandlungen mit dem Assad-Regime.
Manche Beobachter halten diese widersprüchlichen Haltungen für inszeniert. Jedoch kann der
Verfasser dieses Artikels nach diversen Interviews mit einigen Anführern bestätigen, dass es weder
Inszenierungen gibt, noch dass sich Verantwortliche der Ahrar al-Sham gegenseitig Rollen zuschieben,
wie ihnen teilweise vorgeworfen wird. Im Gegenteil: Vielmehr existieren Streitereien, die ein Höchstmaß
an Spannung erzeugen. Dabei geht es um zwei Lager: Das erste ist offen und bereit, sich an die Welt
und die Moderne anzupassen und lehnt es ab, sich aufgrund von Glaubensfragen den Rest der Welt
zum Feind zu machen. Beim zweiten Lager handelt es sich um eine Strömung, die sich bemüht,
sogenannte Konstanten des Jihad zu erhalten. So erklären etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder
Abu Qatada Al-Falastini, beide palästinensischen Ursprungs und wohnhaft in Jordanien, die
Reformwilligen für Ungläubige. Beide sind wichtige Quellen für al-Qaida Anhänger bzw. die Anhänger
der al-Nusra-Front, auf ihre Kommentare und Tweets berufen sie sich und teilen diese.
Trotz aller Rückschläge verfügt die Organisation über einen bestimmten Professionalisierungsgrad,
die ihr die Fortführung ihrer Arbeit erlaubt – auch nach der Ermordung all ihrer Anführer des ersten
und zweiten Grades am 9. September 2014. Ihre Auflösung, etwa wie bei der Tawhid-Brigade nach
dem Tod ihres Anführers Abdel-Kader Saleh, stand nie zur Debatte. So werden bis dato die
Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, ohne große Abspaltungen innerhalb der eigenen Reihen
zu befürchten. Es scheint, dass der Wandel auf die ideologischer Ebene dazu geführt hat, den Raum
der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe zu vergrößern.
Es kann resümiert werden, dass die Erfahrungen mit dem Jihad-Salafismus seine syrischen Anführer
dazu gebracht haben, den bestehenden Salafismus tiefgründig zu analysieren und ihn neu zu bewerten.
Das Ergebnis ist hier eine neue salafistische Richtung, die nicht dem Nihilismus verfallen ist und die
das Ziel hat, sich mit der Gesellschaft zu versöhnen und nationale Konzepte zu verfolgen. Noch
erscheint es zu früh, über die Perspektiven dieser neuen Strömung zu sprechen. Mit Sicherheit lässt
sich jedoch sagen, dass sie den jihadistischen Organisationen wie IS oder Nusra-Front in erbitterter
Feindschaft gegenübersteht. Denn sie konkurriert nicht nur mit ihnen um dieselben Ressourcen und
denselben personellen Zulauf, sondern sie führt grundsätzliche Debatten, die die Legitimität der NusraFront und des ISin Frage stellen. Die Narrative der Ahrar Al-Sham unterscheiden sich von denen der
al-Qaida oder des IS. Außerdem vertreten sie eine klare Botschaft: In ihren Augen haben die al-Qaida
und der IS der Region nur Ruin und Zerstörung gebracht. Man scheint aus den Fehlern der
Vergangenheit lernen zu wollen.
Bei aller Skepsis im Umgang mit den Ahrar Al-Sham ist es wichtig, zu verstehen, dass die Ahrar AlSham eine Art Sicherheitsventil darstellen, denn sie können vielen, die sich vom Salafismus angezogen
fühlen, ein Zuhause bieten und dadurch verhindern, dass sie sich der Nusra-Front oder dem IS
anschließen. Sie stellen für viele Salafisten eine passende oder akzeptable Alternative dar.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Der "Islamische Staat" und die Nusra-Front
Die Nusra-Front ging aus dem Krieg zwischen Februar und Juni 2014 gegen den IS als Verlierer hervor.
Der IS schaffte es, sie aus Deir Al-Zor zu vertreiben, einem Gebiet, das für ihn hinsichtlich natürlicher
Ressourcen und personellen Zulaufs am wichtigsten war. Daraufhin folgten große
Liquidierungsaktionen gegenüber Stämmen, die mit der Nusra-Front verbündet waren. Diese
Niederlage hatte ebenfalls zur Folge, dass Al-Nusra Führer Abu Maria Al-Qahtani (ein Iraker), der als
weniger radikal gilt (Durar, 2015; Sham Times, 2015), abgezogen und nach Dar’a abgeordnet wurde.
Er wurde seines Amtes als oberster Scharia-Richter enthoben und vom Jordanier Sami Al-Aridi beerbt.
Letzterer gilt als Hardliner gegenüber Allen, die dem Jihad-Salafismus widersprechen, wodurch die
Nusra-Front dem IS ein Stück ähnlicher wurde. Seine Mentoren und Lehrer, Abu Muhammad AlMaqdesi und Abu Qatada Al-Falastini, spielten eine bedeutende Rolle bei der Abspaltung der NusraFront von anderen syrischen Jihad-Gruppierungen. Denn ihre Fatwas erklärten jeden, der ihren
Aussagen widersprach, zum Ungläubigen.
Somit lässt sich sagen, dass die Niederlage der Nusra-Front gegen den IS gleichzeitig auch ein Sieg
des radikaleren Zweigs innerhalb der Nusra-Front darstellte, der dem IS in Ideologie und Handlungen
sehr ähnelt. Diese Konflikte spiegelten sich in den Reden und Interviews des Nusra-Front-Anführers,
Al-Julani, zwischen Mai und Dezember 2015 wieder (Safeer, 2015; Nusra, 2013). Des Weiteren kann
festgehalten werden, dass die US-geführten Luftangriffe die Nusra-Front zusätzlich radikalisierten, vor
allem, was ihren Umgang mit anderen Rebellengruppen betraf, insbesondere denjenigen, die von den
USA unterstützt wurden. So wurden sämtliche Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) im
nördlichen Syrien von der Nusra-Front angegriffen, etwa die "Front Syrischer Revolutionäre" mit ihrem
Anführer Jamal Maarouf oder die "Hazem-Bewegung".
Der IS und die Nusra-Front teilen dasselbe Narrativ. Sie gehören dem jihadistischen Salafismus an
und glauben an den Jihad als einzigen Weg, um einen islamischen Staat zu errichten, in dem ihre
Vorstellung von Gottes Gesetzen gelten soll. Sie unterscheiden sich hierbei nur durch Details, etwa
die Festlegung von Prioritäten hinsichtlich zu erreichender Ziele. Während der Islamische Staat seine
buchstabengetreue Interpretation der Religion öffentlich zur Schau stellt und seine Strategien hastig
umsetzt, verhält sich die Nusra Front eher abwartend. Sie hat sich andere Prioritäten gesetzt, legt
Wert darauf, sich wenn möglich mit anderen zu verständigen, und betreibt, wenn nötig, sogar politische
Arbeit. So haben sich die beiden Gruppen zu zwei völlig verschiedenen Organisationen entwickelt,
die sich sogar bekriegen, obwohl sie vom Selbstverständnis her identisch sind. Sie konkurrieren um
dieselben Gelder, Anhänger und Geistlichen, die den Jihad-Salafismus anpreisen. Diese
Konkurrenzbeinhaltet auch bewaffnete Auseinandersetzungen um die Ölfelder oder wichtige
strategische Gebiete in Deir Al-Zor bzw. im Norden Syriens. (Bilal, 2014B) In Gebieten, in denen sie
sich eher unsicher fühlen und jeweils eine Minderheit darstellen, wo sie nicht in Konkurrenz zueinander
leben, kooperieren sie aber miteinander, so z.B. im Umland von Damaskus.
Die Gründe ihrer Spaltung sollen hier nicht näher betrachtet werden, etwas verkürzt lässt sich aber
sagen: Die Mitglieder der Nusra-Front sind mehrheitlich syrisch und waren vor 2011 friedliche Bürger,
die auf Feldern arbeiteten oder anderen einfachen Berufen nachgingen. Die geistlichen Führer sind
größtenteils jordanischer Abstammung. Beim IS ist die Nationalität der Anführer mehrheitlich irakisch
und viele davon waren Offiziere in der irakischen Armee oder in dem irakischen Geheimdienst-Apparat.
Die Geistlichen stammen überwiegend vom arabischen Golf und sind durch Stammeszugehörigkeit
tief mit den irakischen Führern von IS verwurzelt sind. Das hat zu einem Interessenkonflikt geführt,
weil die irakischen Anführer andere politische Ziele verfolgten als die Syrer. Es kommt noch dazu, dass
sich Al-Baghdadi als Kalif versteht und von al-Qaida bzw. Al Zawahri verlangt sich ihm unterzuordnen.
Das hat dazu geführt, dass die Zawahri treuen Jihadisten übergewechselt sind zur al-Nusra-Front.
Das übereinstimmende Selbstverständnis beider Organisationen führt dazu, dass ihre Mitglieder trotz
Spannungen bzw. Kämpfen problemlos die Seiten wechseln können, während ein Beitritt zu einer
anderen Gruppierung mit einem völlig anderen Narrativ schwieriger ist. Mitglieder dagegen, die als
"aufgeschlossen" und lernfähig gelten und die eine Neuinterpretation des jihadistischen Weges für
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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wichtig erachten, sind zu Ahrar Al-Sham übergelaufen. Selbstverständlich sind der IS und die NusraFront Organisationen, die weltweit als terroristisch eingestuft werden, da sie ihre Ideologie auf dem
globalen Level unter Gewaltanwendung durchsetzen. Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass
beide nicht mehr dieselbe al-Qaida sind, die die Anschläge vom 11. September durchgeführt hat. Denn
nach den Attentaten auf US-Boden wurde die al-Qaida-Zentrale durch das Erscheinen einer neuen
Generation von Führungskräften erheblich geschwächt. Als ein Grund sei hier ebenfalls die
fortgeschrittene Globalisierung zu nennen, die die Verbreitung von Nachrichten in Windeseile
ermöglicht.
Al-Qaida ist heute mehr eine Idee als eine Institution. Ihr Geist vom Jihad-Salafismus wurde zudem
mehreren Veränderungen unterzogen, die sich teilweise widersprechen. Während Jihad-Salafismus
des IS sich radikalisierte und zum Synonym der Barbarei wurde, so dass selbst al-Qaida-Chef Zawahiri
ihn als extrem beschrieb, erschien eine neue Strömung, die das Verständnis vom Jihad kritisch
betrachtete und sich anderen politischen islamischen Bewegungen stark annäherte. Dennoch gibt es
immer noch einige weitere Gruppierungen – z.B.: Al Nusra –, die der al-Qaida-Führung folgen.
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Bei den Quellen zum Inhalt dieses Artikels handelt es sich zum Teil um Nachforschungen des Autors.
Aussagen durchgeführter Interviews wurden aufgrund des eigenen Wunsches der Interviewten
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anonymisiert bzw. nicht näher benannt. An einigen Stellen wurden keine Interviews mit den betroffenen
Personen durchgeführt. Hier hat der Autor eigene Recherchen betrieben.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Ghiath Bilal für bpb.de
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Die Dschihad-Subkultur im Westen
Von Dr. Daniela Pisoiu
17.3.2016
ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien und Fellow am Institut für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Radikalisierung, Extremismus,
Vergleichende Regionale Sicherheit, Amerikanische und Europäische Außen- und Sicherheitspolitik.
Daniela Pisoiu sieht in der "IS-Generation" eine politische Subkultur als Widerstand gegen den
politischen Mainstream. Tiefe religiöse oder ideologische Kenntnisse scheinen zweitrangig zu
sein. Die Priorität liegt auf sofortigem Handeln.
Der deutsche Islamist Abu Talha alias Dennis Cuspert. Islamistisch gefährdete Jugendliche sehen in dem früheren
Rapper ein Vorbild. (© picture-alliance/dpa)
Der junge, aber schnellwachsende Bereich der Terrorismusstudien wurde durch mehrere Ereignisse
gekennzeichnet, die zu neuen theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen und
Schwerpunksetzungen geführt haben. Nach 9/11 hat sich die Erforschung des islamistischen
Terrorismus deutlicher profiliert; die Anschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005)
haben dem Westen die Problematik des "hausgemachten" Terrorismus und der "Radikalisierung" vor
Augen geführt.
Der Aufstieg des Islamischen Staates und die Ausrufung des Kalifates, aber vor allem die Flut an aus
Europa stammender Auslandskämpfer haben schließlich nach neuen Konzepten und neuen
Erklärungsansätzen verlangt. So haben nun Subkultur und die Subkulturtheorie die neu entstandene
Lücke erstmal gefüllt. Auch andere, "klassischere" Ansätze wurden fortgesetzt, vor allem deshalb, weil
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noch immer nicht geklärt ist, ob die Radikalisierung der Auslandskämpfer sui generis ist oder lediglich
eine Weiterentwicklung der bisher bekannten Arten von Radikalisierungsprozessen. Auch wurden
spezifische, historische Ansätze oder solche aus der Perspektive der Islamwissenschaften
vorgeschlagen[1]. Wie in diesem Beitrag argumentiert wird, sind Subkultur und Subkulturtheorie besser
geeignet, um die neuen Entwicklungen hinsichtlich der Propaganda, aber auch der "Nachfrage" –
individuelle Motivationen und Radikalisierungsprozesse – zu erfassen. Der Islamische Staat hat die
Nutzung sozialer Medien und Kommunikationstechnologien auf eine neue Ebene gebracht.
Gleichzeitig gehen Rekruten auf das Angebot von audio-visuellen Elementen wie Musik, Fotos, Videos,
Kleidung und schließlich Lebensstil nur allzu gerne ein; darüber hinaus produzieren sie diese auch
selbst und verbreiten sie auf sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Twitter usw.
Bemerkenswerterweise sind die IS-Anhänger teilweise nicht nur jung, sondern sehr jung. Eine
quantitative Auswertung der persönlichen Hintergründe von 677 Personen, die aus Deutschland in
Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, kommt auf einen Altersmittelwert von 25,9 Jahren, wobei
die jüngsten Dschihadisten gerade mal 15 Jahre alt sind. Des Weiteren sei die zahlenmäßig größte
Altersgruppe zwischen 22 und 25 Jahre und die nächstgrößte Altersgruppe zwischen 18 und 21 Jahre
alt[2]. Das Nachbarland Österreich hat 2015 einen 14-Jährigen zu zwei Jahren Haft verurteilt wegen
Unterstützung des Islamischen Staates und Planung eines Anschlags[3].
Verfolgt man die Nachrichten und Selbstdarstellungen in sozialen Medien, ohne den typischen
salafistischen Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass es
sich um eine ganz "normale" Jugendkultur handelt. Auch die Diskussionen in Foren drehen sich nicht
nur um religiöse Gebote oder logistische Fragen, sondern auch um tagtägliche, jugendspezifische
Themen. Liebe spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle und kommt dem heldenhaften männlichen
Selbstbild sehr entgegen. Manche junge Frauen verlieben sich tatsächlich in Dschihadisten oder finden
sie zumindest attraktiv[4]. Die Mehrheit der europäischen und deutschen Auslandskämpfer scheint
eher an "Action", Waffen und daran interessiert zu sein, ihre Männlichkeit auszuleben, als an Ideologie
und Islam. Es geht dabei aber nicht nur um die Implementierung der verschiedenen Prinzipien in das
tagtägliche Leben oder um wildes Herumschießen, sondern auch um das Erkämpfen einer Sache.
Das heißt, der Dschihad der Auslandskämpfer ist zutiefst politisch. Die individuelle Bewegungsgründe
sind unterschiedlich: Menschen helfen, die "Imperialisten" bekämpfen, oder das Kalifat aufbauen.
Gemeinsam ist der Wunsch, eine radikale politische und soziale Veränderung hervorzurufen.
Subkultur ist also nicht gleich Jugendkultur
Die stark politische Natur der Dschihad-Subkultur ist eine wichtige Erkenntnis, die dem möglichen
Vorwurf entgegnet, das Konzept der Subkultur sei verniedlichend. Das hat auch Konsequenzen für
die Art und Weise, wie sich diese Subkultur im individuellen Lebensverlauf entfaltet. Sie kann, muss
aber nicht unbedingt "nur" eine Jugenderscheinung sein. Dementsprechend werden für manche
Mitglieder die Träume von Ruhm, der Teilnahme am Erschaffen einer Utopie oder von Abenteuer
platzen, sobald sie sich gezielt oder zufällig wieder im normalen Leben einfinden. Andere bleiben dabei
und bauen ihren Lebensweg, ihre Karriere darauf auf[5]. Wieder andere kommen nicht mehr zurück.
Die Realität an der Front überleben nur diejenigen, die den Sprung von Dschihad als Jugendkultur
zum Terror als Beruf schaffen.
Was sind die Charakteristika der Dschihad Subkultur im Westen? Wir haben es erstens mit einem
Lebensstil zu tun, bei dem der Fokus darauf liegt "ein guter Muslim" zu sein, was sich aber in keinerlei
Weise darauf bezieht, wie viel Spiritualität man an den Tag legt oder inwiefern man sich in Islam(kunde),
Ideologie (siehe hier Islamismus), oder Politik auskennt. Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit
Pseudokenntnissen keinen Ruf als Prediger oder Anführer aufbauen kann. Allgemein kann man sagen,
dass sich für den Großteil der jungen Anhänger Religiosität daran bemisst, inwiefern gewisse Regeln
befolgt werden, inwiefern die Liste von Handlungsanweisungen abgehakt werden kann. Diese Regeln
sind wiederum relativ klar und einfach: 5 Mal am Tag beten, die Hose über den Knöcheln tragen,
natürlich das Kopftuchgebot für Frauen etc. Darunter befindet sich aber auch die Pflicht,
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Glaubensbrüdern zu helfen und in einem "Islamischen Staat" zu leben. Somit erübrigt sich auch die
Frage, ob man nach Syrien gehen soll oder nicht.
Darüber hinaus spielen auch andere Subkultur-typische Merkmale bei dieser Entscheidung eine Rolle,
wie z.B. die Vorstellung einer Gemeinschaft, eines gemeinschaftlichen Lebens – viele der Männer
reisen samt Ehefrauen; das Ausleben von Maskulinität, vom Martialischen[6] und die Möglichkeit,
videospielartige Kampfszenarien in Echt zu erleben. Die IS-Propagandamaschinerie ist darauf
ausgerichtet, genau diesen Bedürfnissen und Wünschen entgegenzukommen. Ein Nasheed in
deutscher Sprache mit englischen Übersetzungen zeigt wie motivierend die Kombination aus Musik,
Rhythmus, und Bildern von Heldentum, Gemeinschaft und "gerechtem Kampf" sein kann. Da geht es
um das Leiden der Brüder und Schwestern und darum, dass die "Soldaten der Ehre" von überall
kommen und unaufhaltbar sind. Die Bilder projizieren Macht und das Lied wird zu einem Ohrwurm.
Die Kämpfer werden als "Löwen" gefeiert, ebenso die Hinrichtung von wehrlosen Feinden und Spionen.
Sogar die nächste Generation soll in diesen Aktivitäten eingeübt werden[7]. Über die Kampfszenen
und die Grausamkeit des Krieges hinaus wird aber auch ein anderes Bild angeboten, eines von
menschlicher Wärme, Wohlstand und ökologischer Frische. In dieser Utopie geht es nicht hauptsächlich
darum, Ungläubige zu schlachten, sondern darum, eine post-moderne Lösung für die politischen,
sozialen und kulturellen Probleme des Westens zu bieten.
Wer sich um die Umwelt, Demokratie oder soziale Gerechtigkeit Sorgen macht, scheint hier bestens
aufgehoben. Bilder, die entweder vom IS oder von westlichen Jugendlichen selbst verbreitet werden,
zeigen Bio-Obst und Gemüse[8] und einen Staat ohne Nationalismus und falsche Demokratie, einen
Staat, perfekt errichtet durch die "prophetische Methodologie"; ein Propagandavideo mit dem Titel
"Der IS verspottet Amerika und den Westen" endet mit dem Bild eines Afro-Amerikanischen Marines
und dem Aufruf: "bring it on!"[9]. Nicht zu übersehen bei der Bildsprache dieser Subkultur ist die
Mischung aus westlichen und nicht-westlichen Elementen. Die Videos und Bilder, die vom IS produziert
werden, beinhalten ganz bewusst diese westlichen Elemente, Strukturen und Bilder, wie sie typisch
für Hollywood-Filme sind[10]. Auch nicht zu übersehen ist die Zurschaustellung westlichen Wohlstands,
welchen man auch nicht unbedingt hinter sich lassen möchte – siehe z.B. Bilder von Villas mit Pools,
an denen westliche Kämpfer ihre Freizeit luxuriös genießen können, oder Bilder von westlichen
Produkten wie Nutella oder Gummibärchen[11].
Was uns neben der Frage nach den Charakteristika der Dschihad-Subkultur vielleicht am meisten
beschäftigt, ist die Motivation der Ausreisenden, also die Frage: warum sie a) zu Dschihadisten werden
und b) sich entscheiden nach Syrien zu fahren. Hier unterscheiden sich zwei Hauptansätze, sowohl
in der Forschung, als auch in der "Praxis" – d.h. in der Deradikalisierungsarbeit. Einige Autoren haben
den Dschihadismus beschrieben als ein autonomes System von Normen und Werten, das als Reaktion
auf Frustration einen radikalen Gegenentwurf zum Mainstream darstellt[12]. Aus dieser Perspektive
sind junge Dschihadisten Verlierer der Gesellschaft, Versager, die es nach den geläufigen
Erfolgsstandards nicht "geschafft" haben. Beweise für diesen Ansatz sind etwa sozio-demographische
Daten von Ausreisenden, die auf ein niedriges Bildungsniveau, nicht-qualifizierte Beschäftigung oder
kriminelle Hintergründe hinweisen. Andere betonen den Stellenwert, den Ästhetik und (Lebens-) Stil
sowohl für das Selbstverständnis der einzelnen Aktivisten, als auch bei den Rekrutierungsstrategien
der verschiedenen Gruppen einnehmen[13]. Auch wird das Konzept Widerstand in diesem
Zusammenhang als stark akteursbezogen verstanden. Und zwar nicht notwendigerweise vor dem
Hintergrund des Versagens, sondern ausgehend von dem Wunsch, etwas Besonderes haben oder
sein zu wollen.
Der Fall Deso Dogg könnte z.B. auf verschiedene Weise interpretiert werden: als Rapper oder als
ehemaliger Kleinkrimineller. Gemeinsam ist beiden die Betonung subkultureller Elemente, sowohl als
Ausdrucksform, aber auch als Rekrutierungsmittel. Ob sie aus der Not heraus oder aus dem Wunsch
nach Veränderung entsteht, die Motivation der gegenwärtigen jungen Dschihadisten ist stark
subkulturell geprägt. Das hat wiederum Konsequenzen für die Art und Weise, wie man
Radikalisierungsprozesse und Radikalisierungsmechanismen versteht und analysiert. Subkultur
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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relativiert das "rationale" an Radikalisierung. Zum einen ist die bewusste Entscheidung einer Gruppe
beizutreten, ein Foto zu posten oder bestimmte Kleidung zu tragen, von spezifischen, subkulturellen
Merkmalen gekennzeichnet, die nicht immer im engen Sinne bewusst ausgewählt werden – siehe z.
B. die Rolle des "Geschmacks" oder der "Mode". Die Rolle der Klicke als Resonanzboden ist größer
als je zuvor und der Großteil des Radikalisierungsprozesses kann sich in Online-Gemeinschaften
abspielen. Zum anderen bedarf es weniger Kenntnisse, um junge Rekruten zu begeistern. Früher
ergab sich die Autorität des Predigers oder des Anwerbers aus besonderen religiösen oder politischen
Kenntnissen oder der Kampferfahrung. Heute genügt eine imposante, rambo-artige Erscheinung, die
durch Muskeln und provokante Sprüche imponiert: je krasser, desto besser.
In welcher Beziehung zum Mainstream steht letztlich die Dschihad-Subkultur? Im Normalfall ist die
Beziehung zwischen Subkultur und Mainstream komplex und geht über einfache Konzepte von Distanz,
Anderssein und Opposition hinaus. Auf der individuellen Ebene ist Subkultur durch ein Paradox des
Individuellen und des Allgemeinen gekennzeichnet: der Nonkonformismus von Kleidung, Musik, Essen
und Gewohnheiten in Bezug auf den Mainstream wird zum strikten Konformismus innerhalb der
Gemeinschaft. Im ästhetischen Bereich ist diese Beziehung ein Hin und Her zwischen
Individualisierung und Verallgemeinerung. Subkultur ist "Bricolage": eine Mischung aus bereits
bestehenden Elementen, die zu etwas Neuem und Spezifischem werden. Dieses Spezifikum bleibt
wiederum nur solange bestehen, bis der Mainstream es entdeckt und in sich integriert. Auf den ersten
Blick würde das im Fall des Dschihadismus kaum geschehen – zu abstrus und menschenfeindlich
sind die Symbole und die Handlungen, die sie inspirieren; die IS-Fahne wird vermutlich nie Platz auf
einem Button bzw. größeren Zuspruch finden, wie es die Symbole der Friedens- oder Anti-AKWBewegung getan haben. Gleichzeitigt scheinen sich typische dschihadistische Termini in die "normale
subkulturelle" Sprache einzuschleichen. So tauchen Zeilen wie "fick Karma ich bin Monotheist" oder
"Messer ziehen Richtung Paradies" in den Texten aktueller deutscher Rapsongs auf[14]. Das bedeutet,
dass dem Dschihadismus ein langes, aber vielleicht nicht ewiges Leben als Subkultur vorausgesagt
werden kann.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Dr. Daniela Pisoiu für bpb.de
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Hegghammer, T. (2011) "The Rise of Muslim Foreign Fighters: Islam and the Globalization of
Jihad". International Security, 35(3), 53-94.
Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer
Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind Fortschreibung 2015.
Gemeinsame Auswertung durch: Bundeskriminalamt (BKA), Bundesamt für Verfassungsschutz
(BfV), Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE).
Focus.de (2015) Er soll einen Anschlag geplant haben. Österreich verurteilt einen 14-Jährigen zu
zwei Jahren Gefängnis, 26. Mai. (http://www.focus.de/panorama/welt/er-soll-einen-anschlag-inwien-geplant-haben-14-jaehriger-is-unterstuetzer-aus-oesterreich-muss-ins-gefaengnis_id_4706467.
html)
Siehe z.B. Hinz, L. (2015). Heirat mit IS-Kriegern15-Jährige in Syrien: Was junge Europäerinnen
in den Heiligen Krieg lockt, Focus Online, 2 Oktober (http://www.focus.de/politik/ausland/heiratmit-is-kriegern-15-jaehrige-reisst-nach-syrien-aus-was-junge-europaeerinnen-in-den-heiligen-krieglockt_id_4174688.html)
Pisoiu, D. (2011) Islamist Radicalisation in Europe. An Occupational Change Process. London/
New York: Routledge.
Siehe z.B. die hier erwähnten Posen der "Lohberger Gruppe" auf Facebook: Flade, F. (2015)
bpb.de
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7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
75
Dschihad-Rückkehrer Teil 6 – Der Jäger, 18. August (https://ojihad.wordpress.com/2015/08/18/
dschihad-rueckkehrer-teil-6-der-jaeger/)
Vgl.das islamistische Magazin des Islamischen Staates: Dabiq Magazine, 8, S. 20 (https://azelin.
files.wordpress.com/2015/03/the-islamic-state-e2809cdc481biq-magazine-8e280b3.pdf)
Heil, G., Kabisch, V., Spinrath, A. und Baumholt, B. (2015) Bräute für das Kalifat. Wie der IS
deutsche Mädchen anwirbt (http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/
sendung/braeute-fuer-das-kalifat-100.html)
ISIS taunts America and the West in new propaganda video. (https://www.youtube.com/watch?v=
adAJLi0bSe4)
Dauber, C. E. and Robinson, M. (2015) ISIS and the Hollywood Visual Style (http://jihadology.
net/2015/07/06/guest-post-isis-and-the-hollywood-visual-style/)
Roussinos, A. (2013) Jihad Selfies: These British Extremists in Syria Love Social Media, Vice
Magazine, 3. Dezember (http://www.vice.com/read/syrian-jihadist-selfies-tell-us-a-lot-about-theirwar); Zöchling, C. 2016. Der gefährlichste Prediger Österreichs, Profil, 47(8), 14-19, S. 16.
Cottee, S. (2011) Jihadism as a Subcultural Response to Social Strain: Extending Marc Sageman's
‘Bunch of Guys’ Thesis. Terrorism and Political Violence 23(5), 730-751.
Crone, M. (2014) Religion and Violence: Governing Muslim Militancy through Aesthetic
Assemblages. Millennium Journal of International Studies, 43(1), 291-307; Hemmingsen, A-S.
(2015) Viewing jihadism as a counterculture: potential and limitations. Behavioral Sciences of
Terorism and Political Aggression, 7(1), 3-17; Pisoiu, D. (2015). Subcultural theory, jihadi and rightwing radicalization in Germany. Terrorism and Political Violence 27(1), 9-28.
Haftbefehl, Soufian, DOE, Enemy, Diar (2016) Kalash, Youtube, 4. März (https://www.youtube.
com/watch?v=SsU6PL_OVjU); Zuna, Nimo (2016) Hol mir dein Cousin, Youtube, 4. März (https://
www.youtube.com/watch?v=4xRsDnKgHZc)
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Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer
Ein Überblick
Von Marwan Abou-Taam
2.6.2015
Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz.
[email protected]
Rund 680 Personen aus Deutschland zwischen 13 und 63 Jahren haben sich auf den Weg nach
Syrien gemacht, um sich der Terrormiliz IS anzuschließen. Die meisten sind zwischen 16 und
25 Jahre alt. Was motiviert vor allem junge Männer, für den Islamischen Staat zu morden? Wie
sollen wir mit den Rückkehrern umgehen?
Kreshnik B. (M) steht am 15.09.2014 im Hochsicherheitssaal des Oberlandgerichts in Frankfurt am Main (Hessen)
neben seinem Verteidiger Mutlu Günal. Nach einem Aufenthalt in Syrien war der Angeklagte bei seiner Wiedereinreise
nach Deutschland auf dem Flughafen Frankfurt verhaftet worden. Die Bundesanwaltschaft hatte dem jungen Mann
die Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sowie die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden
Gewalttat im Ausland vorgeworfen. Im Dezember 2014 wurde er zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. (©
picture-alliance/dpa)
Lange ging man davon aus, dass islamistischer Radikalismus ein Importgut sei. Die in den letzten
Jahren im Phänomenbereich "Islamistischer Terrorismus" gewonnenen Erkenntnisse belegen aber,
dass Radikalisierungsprozesse auch in europäischen Gesellschaften stattfinden können. Die
geschätzte Zahl der aus der EU nach Syrien und den Irak ausgereisten "ausländischen Kämpfer" liegt
bei 7000 Personen. Diese Zahl ist jedoch relativ, da in den verschiedenen EU-Staaten uneinheitlich
gezählt wird. Die meisten dieser Kämpfer kommen aus westeuropäischen Ländern mit einer großen
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muslimischen Gemeinde und hatten vor ihrer jeweiligen Ausreise regen Kontakt zur jeweiligen
salafistischen[1] Szene. Aus Deutschland haben sich 680 Personen im Alter von 13 bis 63 Jahren auf
dem Weg nach Syrien gemacht, wobei die Gruppe derjenigen zwischen 16-25 bei weitem überwiegt.
Hormonell aufgeladen, revolutionär, auf der Suche nach Gerechtigkeit und Zusammenhalt haben sie
sich sehr stark mit dem Leiden der Opfer des syrischen Krieges solidarisiert und verfolgen das Ziel,
die Systeme in Syrien und Irak zur stürzen, um ein islamisches Gemeinwesen basierend auf den
Vorgaben der Scharia aufzubauen. Die meisten Kämpfer sind sunnitische Muslime der dritten
Generation, Kinder von Einwanderern aus der Region des Vorderen Orients. Andere sind junge
Konvertiten aus der "Ureinwohnerschaft" ohne Migrationshintergrund. Während die meisten
ausländischen Kämpfer alleinstehende Männer sind, nimmt die Zahl der Frauen, die in die Kriegsregion
ziehen, stark zu, auch Kinder werden zunehmend von ihren Eltern mit in den Sog des Jihad
hineingezogen. Die Mehrheit der Betroffenen sind klassische Schulbildungsverlierer. Es lassen sich
unter den Ausreisenden aber auch gebildete junge Männer finden, die ihr Studium aufgegeben haben,
um sich dem IS anzuschließen.
Der Weg zum IS Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Marwan Abou Taam)
Gründe für die Radikalisierung
Es gibt viele Ursachen für Radikalisierung. Sie ist keine Frage des Geschlechts oder der sozialen
Herkunft und kann in allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden, unabhängig von wirtschaftlichen
Gegebenheiten oder Schulabschlüssen. Obwohl Radikalisierung ein individueller Prozess ist, lassen
sich zumindest bei den deutschen Aktivisten Ähnlichkeiten in der Biographie feststellen: Bei den
Ausreisenden handelt es oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach starken
Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft haben, die ihnen oft –
so ihre eigene Wahrnehmung – verwehrt wird. Von ihren Eltern bekommen sie den Vorwurf zu hören
"wie die Deutschen zu sein", von der Gesellschaft werden sie als "Muslime" problematisiert. So brechen
viele im Kontext ihrer Radikalisierung mit ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Die Loslösung von der
Familie und dem bisherigen Freundeskreis im Vorfeld der Ausreise wird meistens von der wachsenden
Einbindung in eine salafistische Gruppe begleitet.[2]
Bei genauer Betrachtung lassen sich die Ausreisenden grob in vier Kategorien typisieren, wobei
Mischmotivationen die Regel sind:
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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•
ideologisch Überzeugte,
•
Abenteurer und Mitläufer,
•
"Neu- und Wiedergeborene", die ihre meist kriminelle Vergangenheit damit abbüßen wollen
•
und diejenigen, die glauben, dass sie ihre Gewalt- und Tötungsphantasien im Bürgerkrieg
unbestraft ausleben können.
Die Betroffenen sehen Gewalt als berechtigtes Instrument im Jihad, um übergeordnete Ziele zu
erreichen.[3] Die dafür notwendige ideologische Indoktrination erfolgt vor allem in Kleingruppen im
Rahmen von sogenannten Islamseminaren sowie in Lese- und Diskussionszirkel der salafistischen
Szene. Hier wird der "Heilige Krieg" gegen alle Arten von "Ungläubigen", muslimische und nichtmuslimische, gelehrt und ein ideologisch geschlossenes, salafistisches Weltbild vermittelt. Dieses
Weltbild bestimmt ein radikales Schwarz-Weiß-Denken: Jeder Konflikt wird auf eine
Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse reduziert. Diese Vereinfachung der Welt schafft eine
Heimat, in der sich die Betroffenen sehr wohl fühlen. Betrachtet man den Diskurs über die Ursachen
der Radikalisierung von Ausreisenden und die damit einhergehenden Debatte über die richtige
staatliche und gesellschaftliche Reaktion darauf, so muss festgestellt werden, dass bei aller
Bemühungen keine schlüssige Theorie existiert, die die Mehrheit der Fälle erklären kann. Vorhandene
Ansätze deuten lediglich bestimmte Aspekte eines Radikalisierungsprozesses, um in der Folge
festzustellen, dass sich der Ansatz für die Analyse anderer Personenkreise nicht eignet.
Radikalisierungsprozesse und die Entscheidung, in die Jihadschauplätze zu ziehen, werden von
verschiedenen sich oft komplementierenden Faktoren begünstigt. Dabei handelt es sich um
ideologische, politische, psychologische und soziologische Dimensionen. Hierbei hängt es von der
jeweiligen betroffenen Person ab, welche dieser Dimensionen auschlaggebend ist.
Radikalisierung in Deutschland Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Marwan Abou Taam)
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Ideologische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Jihadistische Salafisten vertreten eine islamistische Ideologie, die sich an dem Vorbild der Gründerväter
der islamischen Religion orientiert und eine vermeintlich ideale islamische Gesellschaft erschaffen
will. Die grundlegenden Quellen des Islam – der Koran und die Überlieferungen des Propheten
Muhammad (Sunna) – sind ihre unveränderbaren Grundfesten. In Abgrenzung zu der Mehrheit der
Muslime lehnen sie jede Anpassung der Interpretation der autoritativen Quellen an veränderte
gesellschaftliche und politische Gegebenheiten als "unislamische Neuerungen" (arab. bid’a)
kategorisch ab. Diese Neuerungen führen – der salafistischen Vorstellung nach – zwangsläufig zum
"Unglauben". Zudem vertreten sie ein dualistisches Weltbild, das nur noch aus Gläubigen und
Ungläubigen (arab. kuffar) besteht. Zu diesen Ungläubigen zählen neben den "üblichen" Atheisten,
Juden und Christen auch alle nichtsalafistischen Muslime.[4]
Ein Umgang mit diesen ist zu begrenzen und wenn möglich ganz zu vermeiden, da sie die "wahren"
Muslime diskriminieren würden. Eben diese Diskriminierungsgefühle werden geschürt und
instrumentalisiert, um Anhänger anzuwerben. Die jihadistischen Salafisten legitimiert ihre Aktionen
durch die Religion und vertreten die Position, dass der militärische Jihad eine Pflicht für jeden Muslim
ist und im Prinzip keine Beschränkungen in der Wahl der Mittel kennt. Dies gilt bis das Ziel der
universellen Umsetzung islamisch-weltanschaulicher Prinzipien erreicht wurde. Somit ist der
Jihadismus eine klare Kampfdoktrin, die jeden Gläubigen verpflichtet, den Kampf für die Errichtung
und Bewahrung eines islamischen Staates aufzunehmen.
Ideologische Entwicklung Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Marwan Abou Taam)
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Politische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Betrachtet man die Funktionsweise und Rekrutierungsstrategie des IS, so wird man feststellen, dass
die Ideologisierung und die Polarisierung das Hauptelement ihrer Erfolgsstrategie darstellt.[5] Der IS
lässt zunehmend für die Veränderung der Ordnung im Nahen Osten kämpfen. Dabei werden diejenigen
mobilisiert, die dem Westen gegenüber feindlich eingestellt und bereit sind, diese Feindschaft in
Aktionen umzusetzen. Somit richtet sich die Rekrutierungspropaganda an diejenigen, die bereits Wut
empfinden, aber diese Wut nicht politisch artikulieren können. Hauptfeind bzw. konstituierendes
Element ist aus IS-Sicht der dekadente Westen, der die Umma ausblutet und die Muslime ausgrenzt.
Westliche Werte müssen demnach zurückgewiesen, die eigene islamische Identität verteidigt werden.
Die meisten Syrienausreisenden geben an, dass sie in erster Linie von der ungerechten Gewalt gegen
die Sunniten in Syrien motiviert werden und machen die "westlichen" Invasionen in der islamischen
Welt dafür verantwortlich. Der Westen habe die Konflikte in die Nahostregion gebracht und würde nun
zuschauen, wie die Sunniten im Irak und Syrien von den Schiiten "niedergemetzelt" werden.
Des Weiteren wird von ihnen angekreidet, dass sie in den westlichen Gesellschaften aufgrund ihrer
religiösen Identität ausgegrenzt werden.[6] In diesen Kreisen hat sich zudem der Eindruck festgemacht,
dass sich die Politik hierzulande gegen den Islam verschworen habe und ihnen keine Möglichkeit übrig
bleibt, als ihre Identität und Religion mit Gewalt durchzusetzen.[7] Sie fühlen sich von der politischen
Elite nicht vertreten und leugnen die Möglichkeit der politischen Teilhabe ab. Nach außen fühlen sie
sich verpflichtet, sich für die Rechte der sunnitischen Muslime einzusetzen. Dabei wird von ihnen
ausgeblendet, dass die Mehrheit der IS-Opfer sunnitische Muslime sind.
Psychologische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Der IS profitiert von unterschiedlichen sozial-psychologischen Elementen innerhalb der Islamdiaspora.
Viele junge Menschen leben und denken durch die mediale Verbindung zu ihren Herkunftsländern an
und in heimischen Konflikten.[8] Sie solidarisieren sich mit den dortigen Sorgen und definieren ihre
Konflikte durch die Transnationalität der Religion entlang einer ethnisch-religiösen Trennungslinie.
Diese Konflikte werden jedoch mit ihren eigenen in der Diaspora kombiniert und gedeutet. Die Väter
der betroffenen Generation von Syrienausreisenden werden sehr oft als schwach und feige
beschrieben, jedoch ist die Vaterrolle in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft zentral,
insbesondere dann, wenn der Vater in der eigenen Wahrnehmung als die einzige legitime Macht
gesehen wird. Kommt es in solchen komplexen Beziehungssystemen dazu, dass der Vater als
Beschützer der Familie in seiner traditionellen Rolle scheitert, so kann ein Gefühl der Ablehnung
entstehen. Wenn die Familienstruktur mit dem Vater an der Spitze keinen Schutz bieten kann, so kann
bei Kindern in einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft ein Gefühl der Enttäuschung entstehen,
das sich in Formen materieller und existenzieller Ängste ausdrückt.
Solche Erfahrungen prägen Kinder sowie Heranwachsende und machen sie besonders sensibel für
vermeintliche Ungerechtigkeiten. Man kann bei diesem komplexen Vorgang von einem kannibalischen
Narzissmus sprechen, denn es läuft eine kontinuierliche Entwertung der bestehenden
Machtverhältnisse ab.[9] Verhängnisvoll ist bei diesem Automatismus, dass nur durch die Entwertung
anderer – mit welchen Mitteln ist zweitrangig – die eigene "Großartigkeit" gerettet werden kann. An
dieser Stelle setzen die negativen Narrative über die Wahrnehmung des Islam im Westen an. Man ist
nicht mehr Türke/Araber und noch nicht Deutscher. Die Zugehörigkeit zum Islam ist der
Hauptbestandteil der Identität. Die Debatte über den Islam greift diese Identität massiv an. Dabei ist
zu bedenken, dass kollektive Identitäten strategische soziale Konstruktionen[10] sind, die sich durch
eine enge Verflechtung von Ideen, Weltanschauungen, Religionen und Ideologien sowie
soziokulturellen Werten konstituieren. Genau an dieser Stelle liefert der Salafismus die notwendige
Deutung der Welt und konstruiert aktiv eine historische Wirklichkeit.[11] Im salafistischen Dualismus
wird die Differenzierung überflüssig. Je komplexer die Welt, desto einfacher muss ihre Deutung sein.
Dies wird durch die IS-Propaganda komplementiert mit dem Ziel, einen kollektiven Wahn zu
produzieren.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Soziologische Dimensionen des Radikalisierungsprozesses
Salafisten mit einer
Fahne des Islamischen
Staats (IS) bei einer
Veranstaltung des
umstrittenen Vereins
"Helfen in Not" am
3.10.2013. Bei Veranst­
altungen wie diesen
werden junge Menschen
radikalisiert. Laut Verfa­
ssungsschutz NRW liegen
tatsächliche Anhaltspunkte
dafür vor, dass es sich
bei dem Verein um eine
extremistische, salafist­
ische Bestrebung handelt.
(© picture-alliance/dpa)
Radikalisierungsprozesse laufen oft in salafistischen Gruppen ab. Dabei liefert
die Gruppe eine Gruppenidentität, die die individuelle Identität mit all ihren
Schwächen überschattet.[12] Die innere Dynamik und die soziokulturellen
Werte der salafistischen Gruppe erklären nicht nur die Rekrutierungskraft,
sondern auch das Verbleiben und die Treue der Mitglieder. Die salafistische
Gruppe hat eine eigene Gruppenkultur mit spezifischen Traditionen und
Werten, die prinzipiell totalitär sind und vom Einzelnen die absolute Solidarität
mit der Gruppe in ihrer Gesamtheit, nicht unbedingt mit dem einzelnen
Individuum verlangen. Der Kontakt nach außen wird hierbei vehement
abgelehnt und radikal sanktioniert, denn dieser soll nur von speziell dafür
bestimmten Gruppenmitgliedern, die in ihrer Ideologie stark gefestigt sind,
entsprechend strategischer Vorgaben geführt werden. Kein Gruppenmitglied
äußert seine eigene Meinung, denn es gibt nur das Kollektiv. Die Migration in
die Gruppe isoliert den Einzelnen psychisch und sehr oft auch physisch von
seiner "normalen" Umgebung. Vertrauensbeziehungen existieren nur zu
anderen Gruppenmitgliedern.[13]
Die Kräfte, die dadurch entwickelt werden, können auch in Sekten beobachtet
werden. Je stärker sich eine Person in die Gruppe eingliedert, umso weiter
entfernt sie sich von ihrer ursprünglichen Lebenswelt. Eine Integration in die
Gruppe bedeutet die komplette Auflösung des Individuums im Sinne der
Gruppenidentität und der damit verbundenen hierarchisch einbahnigen totalen
Kontrolle durch die Gruppe. Von religiösen Sekten wissen wir, dass nicht nur
soziale Kontakte vorgeschrieben werden, sondern auch, dass Verehelichung
von Gruppenmitgliedern diktiert wird. In salafistischen Gruppen können wir ähnliche Strukturen
beobachten. Zwischen den Gruppenmitgliedern entwickeln sich im Laufe der Zeit existenzielle
Bindungsverhältnisse.[14] Daraus ergibt sich, dass Ansehen und Ruf innerhalb der Gruppe, das
hierarchische Aufsteigen und die Akzeptanz durch die Mitglieder weitaus wichtiger sind als die
Wahrnehmung von außen. Für religiös motivierte Gruppen sind die religiösen Texte von großer
Bedeutung.[15] Sich darin auszukennen, fasziniert und bindet zugleich. Daher ist die religiöse
Indoktrination Ziel und Mittel zugleich.
Umgang mit
Reintegration
Syrienrückkehrern
–
zwischen
Repression
und
Etwa ein Drittel der Ausgereisten ist wieder zurückgekehrt. Für deutsche Behörden stellen vor allem
diejenigen Jihadisten, die vom "Heiligen Krieg" zurückkehren, eine besondere Bedrohung dar, weil sie
Erfahrungen im Kampfeinsatz, in der Schusswaffennutzung, im Bombenbau oder in der Rekrutierung
von neuen Anhängern mitbringen. Einige der Rückkehrer sind traumatisiert und desillusioniert, andere
sind radikalisiert und kommen mit dem Auftrag und dem Willen zurück, den Terror nach Deutschland
zu bringen. Ihre Hemmschwelle zu aktiver Gewalt könnte deutlich gesunken sein. Daher müssen
Syrienrückkehrer gemäß der derzeitigen Rechtsprechung damit rechnen, dass gegen sie
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden
Gewalttat geführt werden. Das hat damit zu tun, dass die Bundesanwaltschaft die Mittel des
Terrorismusstrafrechts möglichst effektiv einsetzen möchte, um die Bevölkerung vor möglichen
Anschlägen zu schützen, denn die Rückkehrer werden als unkalkulierbares Risiko gesehen. In diesem
Kontext wurden die Mittel für Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz erhöht und
750 neue Stellen geschaffen.
Bei vielen Rückkehrern ist es trotz Ermittlungsverfahren oft unbekannt, ob sie tatsächlich militärisch
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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ausgebildet wurden. Und vor allem ist es sehr schwer ihnen rechtstaatlich nachzuweisen, dass und
in welchem Umfang sie an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Zumal die rechtliche Grundlage für eine
Verurteilung dieser nicht unbedingt sicher ist. Somit sind die Gerichte auf die Aussagen von Betroffenen
angewiesen.
In der Stadt Aarhus in Dänemark hat sich eine andere Philosophie durchgesetzt. Dort wird argumentiert,
dass Jihadisten, die in Syrien oder im Irak gekämpft haben, nach der Rückkehr in ihre Heimatländer
eine Gefahr sein können, wenn sie ausgegrenzt werden. Daher wurde dort ein Sonderprogramm
eingeführt, das die Betroffenen, denen man nicht nachweisen kann, dass sie an terroristischen Aktionen
beteiligt waren und die damit nicht verurteilt werden können, in die Gesellschaft eingliedern soll. Die
Reintegration in die Gesellschaft umfasst psychologische und medizinische Hilfe und die Unterstützung
bei der der Job- und Wohnungssuche. Des Weiteren wird den Rückkehrern ein Mentor zur Seite gestellt.
Dieser Ansatz aus Dänemark macht deutlich, dass im Kontext einer rechtsstaatlichen Kultur die
Reintegration dieser Personen unerlässlich ist. Selbst wenn man diesen Personen Gesetzesverstöße
nachweisen kann, stellt sich unmittelbar nach der Verurteilung die Frage, wie verhindert werden kann,
dass diese Personen in der Haft radikalisierend auf andere Insassen einwirken bzw. wie eine
Deradikalisierung der betroffenen Personen erfolgen kann. Hierbei muss immer bedacht werden, dass
die Resozialisierung, also die Wiedereingliederung von Verurteilten in das soziale Gefüge der
Gesellschaft, eines der Ziele einer Haftstrafe ist. Die Abkehr von Radikalität und extremistischen
Neigungen ist ein langwieriger Lernprozess und bedarf der intensiven Sozialarbeit. Trotz der vielen
Fälle und der steigenden Anzahl von Verurteilungen haben wir in Deutschland keine flächendeckenden
Projekte der Resozialisierung.
Diejenigen, die nach Rückkehr mangels Beweise nicht verurteilt werden, sind eine besondere
Herausforderung sowohl für die sicherheitspolitisch relevanten Akteure als auch die Präventionsarbeit.
Für Polizei und Verfassungsschutz sind sie gewissermaßen eine deutliche Überforderung, die die
Kapazität überdehnt. Eine 24-Stunden-Überwachung ist derart personal- und ressourcenintensiv, dass
sie illusorisch wirkt. Auf der anderen Seite ist die Präventionsarbeit auf die freiwillige Teilnahme der
Personen angewiesen. Es gibt keine gesetzliche Handhabe sie in die Maßnahme zu zwingen. Die
Präventions- und Deradikalisierungsarbeit mit diesen Personenkreisen ist zeitintensiv und langwierig.
Und es fehlt momentan an Projekten und qualifiziertem Personal.
Die Erkenntnisse und die darauf basierenden Einteilung der Motivationen basieren auf biographischen
Analysen, Interviews mit Betroffenen und der Auswertung von Experteninterviews. Hierbei wurden
Personen befragt, die in der praktischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit aktiv sind. Ferner
wurden Gerichtsurteile, Eigendarstellungen von Jihadisten in den Sozialen Foren und
propagandistische Verlautbarungen ausgewertet. Dieser Artikel ist ein Extrakt aus einer noch nicht
veröffentlichten Studie des Autors.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Marwan Abou-Taam für bpb.de
Fußnoten
1.
Siehe zum Thema Salafismus in Deutschland Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.) (2014):
Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen
Bewegung, Bielefeld. Darin insbesondere El-Mafaalani, Aladin: Salafismus als jugendkulturelle
Provokation. Zwischen dem Bedürfnis nach Abgrenzung und der Suche nach habitueller
Übereinstimmung, S. 355 ff.
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
83
Vgl. Wiedl, Nina (2012): The Making of a German Salafiyya: The Emergence, Developement and
Missionary Work of Salafi Movement in Germany, Aarhus, S.32 ff, sowie Steinberg, Guido (2012):
Wer sind die Salafisten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und sich politisierenden
Bewegung, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 2012/A 28, Mai 2012, S. 6ff.
Vgl. Wagemakers (2012): A Quietist Jihadi: The Ideology and Influence of Abu Muhammad alMaqdisi, 2012, S. 29 ff.
Vgl. Abou Taam, Marwan (2014): Salafismus in Deutschland – Eine Herausforderung für die
Demokratie, in: ZIS 9/2014, S. 442 ff.
Vgl. hierzu die kommentierte Ausgabe der Reden von Usama Bin Laden, Abou-Taam, M./ Bigalke,
Ruth (2006): Die Reden des Osama Ben Laden, München, insbesondere darin: Die
Wegweisungen.
Über Islamfeindlichkeit siehe Heitmeyer, Wilhelm (2011): Deutsche Zustände. Das entsicherte
Jahrzehnt: Folge 10, Bielefeld.
Vgl. hierzu die Studie von Peters, Till Hagen (2012): Islamismus bei Jugendlichen in empirischen
Studien: Ein narratives Review, Veröffentlichungen des Instituts für Religionswissenschaft und
Religionspädagogik 2, Bremen.
Über Identität und Krise siehe Erikson, E.H. (1968): Identity: Youth and Crisis, New York.
Vgl. Schmidbauer, Wolfgang: Der pharisäische und der kannibalische Narzissmus, in: Ders.: Der
Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus, Reinbek 2003, S. 64 ff.
Finnemore, Martha; Kathryn Sikkink (1998): International Norm Dynamics and Political Change,
in: International Organization 52: Nr. 4, S. 887-917.
Vgl. Straub, Jürgen (1998): Geschichten erzählen, Geschichten bilden, Grundzüge einer narrativen
Psychologie historischer Sinnbildung, in Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und
historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Erinnerun,
Geschichte, Identität, Frankfurt am Main, S. 81 ff.
Waldmann, Peter (2009): Radikalisierung in der Diaspora. Wie Islamisten im Westen zu Terroristen
werden, Hamburg, S. 111 ff.
Vgl. Fuhse, Jan A. (2001): Unser »wir« - ein systemtheoretisches Modell von Gruppenidentitäten,
in SISS: Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart: Nr. 1 / 200,
S. 18. Hier stellt Fuhse mit Bezug auf Coser fest, dass der Konflikt mit anderen Gruppen zur
Schaffung und zur Festigung der Gruppenidentität beiträgt und die Grenzen gegenüber der
sozialen Umwelt erhält. Damit kann eine Gruppe "im Laufe des Konflikts mit negativen
Referenzgruppen […] ihre Systemgrenze konstruieren und immer wieder rekonstruieren".
Vgl. Schwonke, Martin (1999): Die Gruppe als Paradigma der Vergesellschaftung. in: Schäfers,
Bernhard (Hrsg.): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen.
Wiesbaden, S.37-53.
Zur alternativen Umgang mit Korantexten siehe Kermani, Navid (2009), "'Und tötet sie, wo immer
ihr sie findet': Zur Missachtung des textuellen und historischen Kontexts bei der Verwendung von
Koranzitaten". In: Islamfeindlichkeit. Hrsg. von Thorsten Gerald Schneiders.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 201–207.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Der "Islamische Staat": Interne Struktur und
Strategie
Von Ghiath Bilal
23.4.2015
ist in Damaskus aufgewachsen, hat in Deutschland studiert und arbeitet im Bereich des Business Developement und als strategischer
Analyst.
Der Islamische Staat hat sich über Jahre hinweg entwickelt. Anders als al-Qaida strebt er eine
lokale Herrschaft an. Und hat für die Verfestigung seiner Macht entsprechende Strukturen
ausgebildet.
Der Kalif des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, am 2.12.2014. (© picture-alliance/AP)
Die Ursprünge und Entwicklungen der gegenwärtigen jihadistischen Organisationen im Nahen Osten
lassen sich schematisch über drei aufeinander bezogene Prozesse nachzeichnen. Die extremste
Erscheinungsform, der "Islamische Staat", ist in Reaktion auf die von den USA angeführten Angriffe
auf den Irak und infolge der nachfolgenden Besatzung entstanden. Unter despotischen RegimeCliquen, den um sich greifenden anarchischen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen konnten
bewaffnete Kampfgruppen mit ihrer islamisch grundierten Befreiungs- oder Vergeltungsrhetorik
entstehen, gedeihen und über ihren lokalen Kontext hinaus an Anhängerschaft gewinnen. In den
verschiedenen Entwicklungsstufen sind bestimmte Führer an unterschiedlichen Orten in Erscheinung
getreten, die zugleich jeweils eigene Generationen an jihadistischen Kämpfern hervorbrachten und
eigene ideologische Akzente, Strategien und Taktiken setzten. Zu den Anführern der ersten Generation
zählen Abdullah Azzam und Osama bin Laden, die zu Beginn die al-Qaida-Organisation gegründet
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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haben. Diese war damals das Resultat der Kombination aus drei unterschiedlichen Komponenten:
1.
Der Wahhabi-Salafismus Saudi-Arabiens (Osama bin Laden), gekoppelt an
2.
die Übernahme dynamischer Strukturen der Muslimbruderschaft (Abdullah Azam) und an die
3.
Neo-Jihadistische Bewegung aus Ägypten (Aiman az-Zawahiri).
Das Resultat war die Entstehung der ersten Organisation von Jihadisten mit überregionaler
Ausprägung. Abu Musab az-Zarqawi steht für die zweite Generation von Jihadisten und trat seit 2003
im Irak als al-Qaida-Vertreter in Erscheinung.
Die regionale Zweigstelle al-Qaidas im Irak entwickelte sich indessen in mehreren
aufeinanderfolgenden Stadien, bis daraus die Organisation "Islamischer Staat im Irak und in Syrien"
entstand. Im Sommer 2014 (29.06.2014) rief sie die Wiederbelebung des "islamischen Kalifats" in den
Regionen aus, die unter ihrer Kontrolle standen. Somit repräsentiert die IS bzw. ISIS die dritte
Generation der sogenannten jihadistischen Gruppen.
Wie haben sich diese Organisationen im Laufe der Zeit entwickelt? Welche Strategie haben die
jeweiligen Führungs-Generationen verfolgt und welche Strukturen hervorgebracht?
[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht
ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http://
www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/202373/der-islamische-staat-interne-struktur-und-strategie]
Entwicklung der Strategie und der Ziele
Erste Generation
Der ehemalige Chef und Begründer von al-Qaida, Osama bin Laden, erklärte kurzerhand: "Wir führen
einen Jihad gegen die Kreuzfahrer und Juden". Er meinte damit den in weiten Teilen ehemals
kolonialisierter Länder des Nahen und Mittleren Ostens sogenannten "westlichen und zionistischen
Imperialismus" und nicht die Religionen als solche. Al-Qaida traf damit einen empfindlichen Nerv, der
in einer weit verbreiteten Unzufriedenheit über die dortigen Regimes und die Eingriffe von außen
umgeschlagen war.
Dazu entwickelten die al-Qaida und ihre Tochterorganisationen eine klare Strategie des dynamischen
Angriffs nach dem Prinzip der gegenseitigen Abschreckung, indem sie netzartige und zugleich flexible
Strukturen aufspannten, durch die sie den Gegner an jedem Ort der Welt schmerzhaft angreifen und
sich anschließend wieder schnell zurückzuziehen konnten. Besonders deutlich ist dies an den
folgenden Angriffen und Anschlägen geworden, die von al-Qaida verübt wurden:
•
World Trade Center in New York im Jahre 1993
•
Khobar Towers in Saudi-Arabien im Jahre 1996
•
US-amerikanische Botschaften in Kenia und Tansania 1998
•
US-Schiff Cole in Aden in Yemen, im Jahre 2000
Die Art von Angriffen waren zur damaligen Zeit als unmittelbare Reaktion auf die Präsenz der
amerikanischen Streitkräfte in der Golfregion unternommen worden, außerdem wegen fortdauernder
Tyrannei und undemokratischer Staatsordnungen in der arabischen Region. Diese
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Rahmenbedingungen führten in den darauf folgenden Jahren dazu, dass die jihadistischen
Organisationen kontinuierlich durch neue Mitglieder erstarken konnte, die deren Angriffe zunächst
als – aus ihrer Warte – legitime Akte der Verteidigung und Vergeltung unterstützen wollten.
Zweite Generation
Im Jahr 2003 griff az-Zarqawi auf sein altes Netzwerk aus Herat/Afghanistan zurück und gründete eine
neue Gruppe, die später "al-Tawheed wa al-Jihad" genannt wurde. Am 8. Oktober 2004 hat sich diese
Gruppe al-Qaida angeschlossen. Sie wurde dann in "Qaida al-Jihad in Bilad al-Rafedeen" umbenannt,
zu Deutsch "der Stützpunkt des Jihad im Zweistromland". Seitdem hat sich diese Gruppe als eine Art
Zweigstelle der al-Qaida im Irak verstanden.
Zarqawis Zielsetzung hat sich mit der Zeit sukzessive fortentwickelt: Von der ursprünglich anvisierten
Befreiung des Iraks von der amerikanischen Besatzung hin zum Sturz der dortigen schiitischen
Regierung. Schließlich ist daraus ein weit angelegter Kampf zur "Errichtung eines Islamischen Staates"
erwachsen. Die skrupellose und ungezügelte Natur des von ihnen geführten Kampfes ist zu einem
großen Teil in Gefechte mit anderen islamischen Gruppierungen umgeschlagen, zunächst in Gefechte
zwischen sunnitischen und schiitischen Lagern und schließlich in einen umfassenden Kampf zwischen
verschiedenen sunnitischen und schiitischen Fraktionen.
Im Laufe der Zeit wurde deshalb immer fraglicher, ob die Gruppe um az- Zarqawi herum sich selbst
noch als Untereinheit der al-Qaida verstand oder von ihr so geführt und betrachtet wurde. Die
Auswertung von Informationen aus dem von bin Laden genutzten PC nach seinem Tod haben nämlich
zahlreiche Hinweise auf die gespannten Beziehungen unter den Führern der al-Qaida und der
Bewegung mit der Selbstbezeichnung "al-Tawhid wa-l-Jihad" geliefert. Die Spaltung blieb zunächst
auf ideologischer Ebene bestehen, wurde überwiegend hinter den Kulissen geführt und trat somit nur
selten in die Öffentlichkeit.
Dennoch wurde über die Gefechte unter verschiedenen muslimischen Gruppierungen der ursprünglich
proklamierte "Kampf gegen die Kreuzfahrer und die Juden" verwässert und davon überlagert, dass er
faktisch zu einem blutigen Kampf unter verschiedenen muslimischen Gruppierungen geworden war.
Durch interne ideologische Konflikte wurde zudem der Zusammenhalt unter den im Rahmen der
Bewegung agierenden radikal-islamistischen Parteien geschwächt. Über diese Innere Spaltung der
einzelnen jihadistischen Gruppierungen haben sich wiederum zwei weitere Strömungen in den Jahren
2012 und 2013 entwickelt, die uns gegenwärtig unter den Namen "Jebhet al-Nusra" und "Islamischer
Staat" geläufig sind.
Zarqawi war jedoch schon im Juni 2006 getötet worden und hatte zunächst eine stabile und agile
Organisation hinterlassen. Im Oktober 2006 kündigte sein Nachfolger (Abu Omar al-Baghdadi)
programmatisch die Etablierung "des Islamischen Staates im Irak" an. Damit war als strategische
Ausrichtung unter seiner Führung die Gründung eines sunnitischen Staates auf irakischem Boden
benannt, um weitere Anhänger unter der seit 2003 stark benachteiligten sunnitischen Bevölkerung zu
gewinnen.
Dritte Generation
Abu Bakr al-Baghdadi übernahm die Führung, nachdem sein Bruder Abu Omar im April 2010 von
amerikanischen Streitkräften getötet worden war. In dieser Phase lag das Augenmerk der Kämpfer in
erster Linie darauf, Bodengewinne zu erzielen. Der Bewegung ging es zunehmend um die Erlangung
von Macht, um den Gewinn von Einfluss und um lokale Ressourcen. Damit richteten sie sich gegen
alle anderen Gruppierungen, die sich in den entsprechenden Gebieten betätigten. Längst konzentrierte
man sich nicht mehr auf das irakische Territorium, sondern ging darüber hinaus, so dass Kämpfe auf
syrischem Boden auf die Eroberung erstens von Gebieten mit größeren Öl- beziehungsweise
Nahrungsressourcen abzielten oder aber zweitens auf Städte mit strategischer Bedeutung
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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(Verwaltungszentren oder Nähe zu Grenzübergängen), sowie drittens auf Ortschaften, die einer
künftigen Expansion den Weg ebnen konnten. Al-Baghdadi erklärte schließlich den Krieg gegen all
jene jihadistischen Kämpfer, die nicht die eigenen Vorstellungen teilten. Die Folge dieser Haltung war,
dass man dem Zusammenhalt mit anderen islamischen Strömungen zur Bekämpfung des auswärtigen
Feindes keine Bedeutung mehr beimessen wollte.
Entwicklungsgeschichte des IS
Gegenwärtig sind der IS und seine Unterstützer flexibel organisiert. Sie verstecken sich nicht mehr in
den Bergen und Höhlen von Afghanistan und des Jemen, sondern bedienen sich genau genommen
Strukturen, die sich aus Elementen moderner Staatsführung und ideologischer Mafiagruppen und Bewegungen zusammensetzen.
Wie zuvor dargelegt ist das Phänomen der sogenannten "Islamischen Staats" die aktuellste
Entwicklung innerhalb der jihadistischen Gruppierungen im Nahen Osten. Ihre Wurzeln gehen auf die
im Jahre 2003 begründete Gruppe von "al-Tawheed wa al-Jihad" von Abu Musab az-Zarqawi zurück.
Um die gegenwärtigen Strukturen des sogenannten "Islamischen Staates" hinreichend darzulegen,
werden im folgenden Abschnitt die Entwicklungslinien der Gruppe um az-Zarqawi dargelegt.
Überblick: Islamischer Staat (© bpb)
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Die Herat-Struktur des "Tawheed wa-l-Jihad"
Wie bereits erwähnt hat az-Zarqawi sich seiner alten Netzwerke aus Herat/Afghanistan bedient, um
eine neue Gruppe zu gründen, die in ihrer weiteren Genese in "al-Tawheed wa al-Jihad” umbenannt
wurde. Der ideologisch-religiöse Ideengeber für dieser Gruppe war "Abu Abdullah al-Muhajer", der als
Lehrer von az-Zarqawi in Afghanistan bekannt war. Die Zarqawi Gruppe hatte damals eine einfache
Struktur ausgebildet mit einem sogenannten Schura-Rat, der quasi die Leitungs- und Weisungsfunktion
des Verbunds inne hatte und fünf Komitees vorstand, dem für Militär, Medien, Sicherheit, Finanzen,
und dem Fatwa-Gremium.
Am 8. Oktober 2004 schloss sich diese Gruppe schließlich offiziell der al-Qaida an, was sich in der
Selbstbezeichnung "Qaida al-Jihad in Bilad al-Rafedeen" widerspiegeln sollte. Um die Führung seiner
Organisation von seiner Person unabhängig zu machen und im Falle seiner Tötung ihre Struktur zu
erhalten, setzte Zarqawi seinen Gefährten Abu Abd al-Rahman al-Iraqi als Stellvertreter ein. Die
wichtigsten Posten waren überwiegend von Nicht-Irakern, den sogenannten (immigrierten) alMuhajireen besetzt.
Über militärische Einsätze und weitere Operationen vor Ort wurde in der Regel selbstständig von der
Gruppenleitung entschieden, ohne Abstimmung mit der übergreifenden al-Qaida Zentrale. Über die
so gewährleistete Agilität konnte der militärische Apparat schnell wachsen und sich um verschiedene
Brigaden und sogenannte Fachgruppen erweitern, etwa die sogenannte Strategiegruppe, die
Informationen über Personen und Ziele sammeln und verarbeiten konnte.
Obwohl Zarqawi zwei Jahre später, nämlich im Juni 2006 getötet wurde, war die so erstarkte
Organisation nicht in ihrer Stabilität gefährdet. Ganz im Gegenteil: Seine Gefolgschaft nahm unter
Führung seines Nachfolgers Abu Omar al-Baghdadi größere Ziele in Angriff, indem im Oktober 2006
von ihnen der sogenannte "Islamische Staat im Irak" ausgerufen wurde, in dem sie sich selbst als die
erste Regierung ausrief. Im Jahre 2009 verkündete die Gruppe die zweite Regierung. Hinter diesen
großspurigen Verkündigungen und Selbstbezeichnungen verbergen sich bei näherem Hinsehen
Arbeitsgruppen, wobei es kaum nähere Informationen über die tatsächliche Konstruktion dieser
sogenannten Regierungen gibt. Im April 2010 wurde schließlich Abu Omar al-Baghdadi von USAmerikanischen Streitkräften getötet, so dass ein Monat später sein Bruder Abu Bakr al-Baghdadi als
Nachfolger benannt wurde. Er war dafür bekannt, eine geschickte Personalstrategie zu verfolgen.
Darüber trieb er die Professionalisierung weiter Teile der Bewegung voran. Zudem erwies er sich als
pragmatischer Führer und nannte die einst als Ministerien deklarierten Gruppen in Councils (Räte) um.
Unter seiner Führung wurden die wichtigsten Leitungsposten innerhalb der Organisation von Irakern
besetzt, die ihnen zuarbeitenden Stellen von den sogenannten al-Muhajireen. Auf diese Weise kamen
zahlreiche alte irakische Baath-Offiziere des umgestürzten Saddam-Regimes an die Spitze der
Organisation, wie beispielsweise Haji Bakr und Abd al-Rahman Bilawi, was schließlich in der
allgemeinen Handlungsweise der Bewegung Niederschlag fand. Dadurch, dass der damals von der
US-Regierung eingesetzte Verwalter Paul Bremer die irakische Armee und den Geheimdienstapparat
auf einem Schlag aufgelöst hatte, verloren Hunderttausende dort beschäftigte Regierungsanhänger
ihre Posten. Bei den jihadistischen Bewegungen fanden nicht nur einfache Soldaten, sondern auch
wichtige Offiziere und Strategen Zuflucht und neue Zukunftsaussichten, vor allem im ISIS. Abu Bakr
al-Baghdadi gab sehr vielen ehemaligen Baath-Offizieren Spitzenposten, so dass sie nunmehr dort
ihre Erfahrungen einsetzen und auch Rache für ihre Degradierung nehmen konnten.
Die Muhajereen aus dem arabischen Golf wurden indessen im Scharia-Gremium untergebracht, die
meisten Jihadisten aus dem Westen finden sich in den Mediensektionen der Organisation. Daraus
konnte sich die folgende komplexe Struktur entwickeln:
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Kalif (© bpb)
Al-Khalifa
Der sogenannte Kalif ist die entscheidende Leitungsfigur der Organisation mit weitreichenden
Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen. Er leitet den Rat an und führt seine verschiedenen
Gremien zusammen, die die wichtigsten Glieder im Rahmen der IS darstellen und die Leitung seiner
Arbeit in den verschiedenen Handlungsfeldern innehaben. Baghdadi entscheidet somit als derzeitiger "
Kalif" in letzter Instanz über die Ernennung und Absetzung der Leiter einzelner Gremien, nachdem er
sich den Rat der Schura einholt, der allerdings nicht bindend zu sein scheint.
Schura-Rat Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Der Schura-Rat
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
90
Der Rat umfasst zwischen neun und elf Mitglieder, die von al-Baghdadi ernannt werden. Geleitet wird
der Schura-Rat im Moment wiederum von Abu Arkan al-Ammery, der zugleich den Kalifen allgemein
berät. Theoretisch kann der Schura-Rat den Kalifen absetzen. Zu den Gremien des Schura-Rates
gehört ein Scharia-Komitee. Letzteres konstituiert sich über sechs Mitglieder, die al-Baghdadi wiederum
anleitet. Dieses Komitee kann theoretisch einen Kalifen als Nachfolger vorschlagen, sofern dieser
nicht mehr fähig ist, zu regieren, und beobachtet die Arbeit der anderen Gremien im Rat.
Rat der Weisen Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Der Rat der Weisen
Dieser Rat repräsentiert ein von klassischen Gelehrten eingeführtes Konzept innerhalb der islamischen
Tradition. Mitglieder sind Stammesführer, große Gelehrte, bekannte Führungspersönlichkeiten und
weitere einflussreiche Leute aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Der Rat spielt eine
wichtige Rolle in der Kommunikation zwischen dem IS und dem Volk. Seine Leute verschaffen dem
IS die nötige Legitimation und Anerkennung innerhalb verschiedener Kreise der Bevölkerung und
tragen seine Politik in die Mitte der Bevölkerung.
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Scharia-Kommission Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Die Scharia-Kommission
Die Scharia-Kommission ist zuständig für die Erhaltung des religiös angebundenen ideologischen
Rahmens, auf dem die Legitimität des Staates basiert. Im Einzelnen wird über ihre Mitglieder
•
die Arbeit von Gerichten reguliert, indem Richter nominiert werden und sie selbst als eine Art
Obergericht in wichtigen Konflikten fungiert
•
die Arbeit von sogenannten Scharia-Wächtern überwacht
•
der mediale Bereich überwacht und die Verbreitung ihrer extremistisch-islamischen Ideologie
gesteuert
.
Ihr derzeitiger Leiter heißt Abu Mohamed al-Anie. Die meisten Schlüsselfiguren stammen aus
benachbarten Ländern des arabischen Golfs.
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Medien-Kommission Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Die Medien-Kommission
Die Medien-Kommission muss die Entscheidungen des IS nach innen und nach außen kommunizieren.
Über ihre Überzeugungsarbeit stellt sie den ständigen Nachschub an Mujahideen-Kämpfern und an
finanziellen Unterstützern sicher. Sie fungiert darüber hinaus als Ansprechinstanz, u.a. für westliche
Regierungen und verschiedenen internationalen Akteure.
Ihre weit verzweigte Arbeit umfasst über 30 Untereinheiten, wovon die wichtigsten Kanäle al-Furqan,
al-Itissam und al-Hayat sind. Über diese sind in den letzten zwei Jahren mehrere Filme in Englisch
produziert worden mit sehr hoher Qualität, was auf eine professionalisierte Arbeit schließen lässt.
•
In der Medien-Kommission sind die meisten Anhänger aus der westlichen Welt beschäftigt.
•
Sie veröffentlicht regelmäßig Online-Magazine wie zum Beispiel al-Dabiq, die weit über ihre
Anhängerschaft hinaus reichen.
•
Über sie werden mehrere Radio-Stationen betrieben, wie etwa "al-Bayan" in Mossul und al-Raqqa.
•
Sie pflegt zahlreiche Online-Blogs, über die ihre Botschaften weltweit in mehreren Sprachen
übersetzt werden.
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Haushaltskommission Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Die Haushaltskommission
Diese Kommission verwaltet unter der derzeitigen Leitung von Mustafa Mohammad Karmush die
Einkünfte und überwacht die Ausgaben der Organisation für die Geldeinnahmen. Die Einnahmen der
IS stammen aus unterschiedlichen Geldquellen:
•
Steuern und Gebühren
•
Spenden
•
Verwaltung von eroberten noch intakten Wirtschaftsbetrieben
•
Ölressourcen: IS eroberte mehrere Öl- und Gasfelder in al-Raqqa, al-Hassaka und Deir-A‘Zor.
•
Getreide und Baumwolle
•
Fabriken: In Sheikh Najjar und Aleppo nahm der IS mehrere Fabriken ein.
•
Lösegelder und Schutzgelderpressung
•
Kunsthandel: IS stahl u.a. antike Statuen vom Nationalmuseum in al-Nabak und verkaufte sie.
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Militärrat Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Der Militärrat
Der Militärrat besteht aus 9 bis 13 Mitgliedern und wird vom zweiten Stellvertreter von al-Baghdadi,
seit Juni 2014 von Abu Muslim al-Terkmani (Fadel al-Hayali) geleitet. Er hat den von Januar-Juni 2014
eingesetzten Abu Abd Alrahman al-Bilawi (Adnan al-Bilawi), vorher Haji Baker (Samir al-Khliefawi)
abgelöst, die beide in Syrien im Kampf gegen die Rebellen getötet wurden.
•
Der Rat besteht aus sogenannten Kateh-Führern ( ). Jede der 9-13 Kateh umfasst drei Brigaden.
Zu jeder Brigade gehören 300 bis 350 Kämpfer.
•
Der Rat umfasst darüber hinaus mehrere Fach- und Spezialgruppen, die etwa für die Bereiche
strategische Planung, Selbstmordattentate, Frauen und Waffenproduktion zuständig sind.
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Sicherheitsrat Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Sicherheitsrat
Die meisten Mitglieder des Sicherheitsrats sind ehemalige Offiziere des irakischen Geheimdienstes.
Der Chef dieses Apparats ist heute Abu Ali al-Anbari und weist mehre Fachgruppen an, die sich um
folgende Aufgaben kümmern:
•
Schutz des Kalifats
•
Schutz der Organisation vor Infiltration
•
Beobachtung der Handlungen von Leitungspersonen des IS
•
Postdienste
•
Eine spezielle Einheit für Entführungen und gezielte Mordanschläge
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Ziviler Verwaltungsrat Lizenz: cc by-nd/3.0/de (CC)
Der Zivile Verwaltungsrat
Derzeit umfasst das von der IS eroberte und verwaltete Territorium einen weiten Bereich, der von ihm
in 16 sogenannten "Wilaya" im Sinne von Verwaltungseinheiten aufgeteilt wurden. Jede Wilaya wurde
wiederum in mehrere "Katehs" (Kreise) aufgeteilt. Jede Kateh verwaltet mehrere Städte und Vororte.
Zu jeder Wilaya gibt es
1.
einen Wali, der als eine Art Gouverneur zu verstehen ist
2.
einen sogenannten Militär-Amir, als militärischen Anführer
3.
ein Sicherheits-Amir
4.
einen Scharia-Amir
5.
ein Medien-Büro.
Dieselbe Struktur findet sich auch für die jeweiligen Katehs und in den Städten, sodass sie sich nach
unten hin immer weiter auffächert. Für die Zivilverwaltung gibt es eine Vertretung des Kalifen.
Dieser Apparat verwaltet die bürokratischen Angelegenheiten des täglichen Lebens der
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97
Zivilbevölkerung. Er hat zuletzt sogar moderne Ausweise für die Organisations-Angestellten erstellt.
Dort werden die Eheschließung dokumentiert, neue Geburten eingetragen und die Preise und die
Lieferung der Nahrungsmittel kontrolliert.
Der IS versucht moderne Systeme zu etablieren. So hat er z.B. einen Experten auf diesem Bereich
kontaktiert, der in dem Syrischen Oppositions-Regierung arbeitet, und ihm das ca. Dreifache seines
Gehaltes geboten plus mehrere Privellegien, damit er ihnen als Berater fungiert.
Schlussfolgerungen
Insgesamt lässt sich aus der näheren Betrachtung der derzeitigen Organisationsweise des IS und
seiner Leitfiguren schließen, dass es sich hierbei um eine irakische Organisation handelt, die im Irak
ihren territorialen Anker geschlagen hat und sich von dort aus sukzessive weiterentwickelt und ihre
Herrschaft über verschiedene Länder hinweg ausbreiten konnte. Die optimalen Rahmenbedingungen
für ihre Expansion haben sich für die IS erst mit der wachsenden Instabilität und den blutigen Kämpfen
in Syrien ergeben.
Die maßgeblichen Anführer des heutigen IS werden von der Vorstellung geleitet, eine "islamische
Herrschaft" wieder einführen zu müssen. Mit dieser Vorstellung geht die Überzeugung einher, dass
sich dies einzig über den Rückgriff auf ein über 1000 Jahre altes Strafrecht mitsamt dem zu seiner
Zeit verhängten drastischen Vollstreckungen bewerkstelligen lässt. Zugleich bedienen sie sich solcher
Instrumente moderner Nationalstaaten, die das Individuum einer vollkommenen Kontrolle unterwerfen
und in seinen Freiheitrechten einschränken. Über entsprechende machterhaltende Werkzeuge
schaffen sie sich die Möglichkeiten und die Kapazitäten, das Wertesystem der zu regierenden
Gesellschaften zu kontrollieren bzw. auch mit den vorhandenen modernen Tools zu manipulieren. Der
IS verwendet dazu in äußerst effektiver Weise die Medien, das Bildungssystem und die vor Ort
herrschende zentrale Gesetzgebung, um den von ihm regierten Bevölkerungsgruppen seine Ideen
einzuimpfen.
In seiner gegenwärtigen Form vereint der sogenannte Islamische Staat organisationsstrukurelle
Elemente der bürokratisierten und professionalisierten Aufgabenteilung moderner Staatssysteme
einerseits mit mafiaähnlichen Strukturen bzw. einem Patronage-und Klientel-System auf der anderen
Seite, das gut mit bestehenden Stammeskulturen der Region korrespondiert. Dennoch ist der IS kein
regionales Phänomen, sondern als Ausgeburt dortiger Instabilität und Despotismus als ein Produkt
der Globalisierung zu werten, das sich wiederum stark auf modernen Kommunikationstechnologien
und überregionale Netzwerke stützt.
Literatur/Quellen
Die Information in diesem Artikel stammen aus unterschiedlichen Quellen und entsprechen dem Stand
von Ende 2014. Unten sind die Hauptquellen aufgeführt:
Entwicklung der Strategie und der Ziele:
1.
"Das Wikileaks Phänomen bei Jihadistischen Gruppen", Ghiath Bilal’s Blog, 29. Septemper 2014
2.
"Al-Qaida war gestern", Zenith-Online, 31. August 2014.
3.
"Wie Al-Qaida sich in Syrien spaltet", Zenith-Online, 11. April 2014.
4.
Aus den Sozialnetzwerke durchgesickerten Informationen zu ISIS wie z.B.: http://justpaste.it/
wikibaghdady
bpb.de
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98
Entwicklungsgeschichte des IS:
1.
"Die Struktur von IS", AL Jazeera center for studies, Hasan Abu Hanieh, November 2014
2.
"Das tägliche Leben eines Jihadist”, Das Tagesbuch von Abu Anas AL Shami
3.
"Die Struktur von ISIS", AL Mada Zeitung, 15.Juni 2014
4.
Informationen aus Interviews mit vertraulichen anonymen Quellen, die nicht veröffentlicht werden
könnten.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-sa/3.0/
(http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncsa/3.0/ Autor: Ghiath Bilal für bpb.de
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99
Der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS)
Von Guido Steinberg
26.8.2014
Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis
2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
Kaum eine andere islamistische Gruppe steht derzeit so stark im Fokus der internationalen
Aufmerksamkeit wie die ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien). Woher kommt die militante
Gruppe? Welche Rolle spielt sie im Syrien-Krieg? Und wie hängt sie mit al Qaida zusammen?
Kämpfer der islamistischen ISIS im Januar 2014 in der Provinz Anbar im Irak. (© picture-alliance/AP)
Im Juni 2014 nahm der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) weite Teile des West- und
Nordwestirak einschließlich der Millionenstadt Mosul ein. Kurz darauf erklärte sich ihr Anführer Abu
Bakr al-Baghdadi zum Kalifen aller Muslime und nannte seine Organisation kurzerhand in "Islamischer
Staat" (IS) um. Die großspurige Rhetorik konnte aber nicht verdecken, dass es sich bei dem ISIS nur
um eine militante Organisation handelte, die unter häufig geänderten Namen erst seit dem Jahr 2000
bestand und vor Mitte 2014 nie über mehr als 10.-20.000 Kämpfer verfügte. Ihr Gründer war der
jordanische Terrorist Abu Musab az-Zarqawi (1966-2006), der seine Anhänger 2003 in den Irak führte,
wo er und seine Nachfolger die amerikanischen Besatzungstruppen und den neuen irakischen Staat
bekämpften. Trotz zahlreicher Rückschläge gelang es der Organisation, nach dem Rückzug der USA
Ende 2011 wieder zu erstarken, ihre Aktivitäten auf Syrien auszuweiten und 2014 auch im Irak in die
Offensive zu gehen.
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Abu Musab az-Zarqawi und die Genese des ISIS
Die Ideologie und Strategie des ersten Anführers Abu Musab az-Zarqawi prägt die Geschichte von
ISIS bis heute. Der Jordanier gründete im Jahr 2000 die Organisation "Tauhid" (= Bekenntnis zur
Einheit Gottes) als Sammelbecken für Jihadisten aus Jordanien, Palästina, Syrien und dem Libanon.
Obwohl er sein Hauptquartier in Afghanistan aufschlug und enge Kontakte zur Führung der al-Qaida
unterhielt, vermied er es, sich der Organisation anzuschließen. Vielmehr erteilten ihm die damals in
Afghanistan herrschenden Taliban die Erlaubnis, ein Trainingslager nahe der Stadt Herat einzurichten.
Zarqawis Ziele waren zunächst begrenzt und spiegelten die stark jordanische und palästinensische
Zusammensetzung seiner Gruppierung wider: Er wollte das Königshaus in seinem Heimatland
Jordanien stürzen und anschließend "Jerusalem befreien".
Ende 2001 flohen Zarqawi und seine Anhänger aus Afghanistan. Sie reisten über den Iran in den
Nordirak, wo Zarqawi die amerikanisch-britische Invasion abwartete, die im Frühjahr 2003 zum Sturz
Saddam Husseins führte. Ab Sommer 2003 brach ein Aufstand gegen die fortgesetzte amerikanische
Präsenz aus, der von zahlreichen sunnitischen Gruppen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung
getragen wurde. Eine der größten wurde von Zarqawi angeführt, dem es gelang, zahlreiche Iraker in
seine Organisation zu integrieren, die er nun "at-Tauhid wa-l-Jihad" (Einheitsbekenntnis und Heiliger
Krieg) nannte. Im Oktober 2004 schon folgte die nächste Umbenennung, als Zarqawi einen
Gefolgschaftseid auf den al-Qaida-Führer Usama Bin Laden leistete und fortan als Emir von "al-Qaida
im Zweistromland" (al-Qaida fi Bilad ar-Rafidain) fungierte. Die Integration vieler Iraker in die
Gruppierung führte auch zu einer Ausweitung der Ziele der irakischen al-Qaida. Zunächst sollten die
amerikanischen Truppen aus dem Irak vertrieben und ein islamischer Staat aufgebaut werden.
Anschließend würden die Jihadisten den bewaffneten Kampf in die Nachbarländer Syrien, Libanon
und Jordanien tragen, um anschließend Israel zu bekämpfen und Jerusalem zu erobern.
Zarqawis Strategie im Irak war ebenso simpel wie gewagt und letzten Endes selbstzerstörerisch. Durch
möglichst Aufsehen erregende, brutale und opferreiche Anschläge auf schiitische Würdenträger,
Heiligtümer, Sicherheitskräfte und Zivilisten wollte er Gegenschläge gegen die sunnitische Bevölkerung
provozieren und sich in dem folgenden Bürgerkrieg zum wichtigsten Verteidiger der Sunniten
aufschwingen. Der Bürgerkrieg brach tatsächlich aus, nachdem die irakische al-Qaida im Februar
2006 die den Schiiten besonders geheiligte Askariya-Moschee in Samarra bei einem Bombenanschlag
zerstörte. Es zeigte sich schnell, dass al-Qaida entgegen ihrer Ankündigungen nicht in der Lage war,
die Sunniten vor den schiitischen Milizen zu schützen – schon allein deshalb, weil Schiiten rund 60%
und arabische Sunniten weniger als 20% der irakischen Bevölkerung stellen. Viele sunnitische
Gruppierungen gaben ab September 2006 den bewaffneten Kampf auf, machten Frieden mit den
amerikanischen Besatzern und wandten sich gegen al-Qaida. Zarqawi selbst erlebte den Niedergang
seiner Schöpfung nicht mehr, denn im Juni 2006 wurde er bei einem amerikanischen Luftangriff getötet.
Zwei jihadistische Denkschulen
Der öffentliche Anschluss an al-Qaida 2004 konnte nie verdecken, dass es sich bei Zarqawis Gruppe
(und später auch bei ISIS) um eine unabhängige Organisation handelte, die eine grundsätzlich andere
jihadistische Denkschule vertrat als die al-Qaida-Zentrale in Pakistan. Beide Gruppierungen teilten
zwar wichtige Ziele wie die Bekämpfung der US-Präsenz im Mittleren Osten, doch konnten sie sich
nie auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen. Streitpunkte waren vor allem Zarqawis
antischiitische Strategie, sein kompromissloser Führungsanspruch gegenüber anderen sunnitischen
Gruppen und seine brutalen Gewalttaten allgemein.
Dass Zarqawi sich überhaupt al-Qaida anschloss, dürfte ganz profane Gründe gehabt haben. al-Qaida
verfügte über Finanzierungs- und Rekrutierungsnetzwerke in den arabischen Golfstaaten, zu denen
Zarqawi mit der Umbenennung Zugang erhielt. Es zeigte sich jedoch schon 2005, dass die Beziehungen
zwischen der irakischen al-Qaida und der Zentrale gespannt waren. Zwar hielten auch Usama Bin
Laden und seine Anhänger die Schiiten für Ungläubige. Dennoch lehnten sie direkte Angriffe auf die
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Schiiten ab, weil sie in erster Linie die USA bekämpfen und nicht unnötig einen weiteren Gegner
provozieren wollten. Der Bin Laden-Stellvertreter Aiman az-Zawahiri machte dies in einem Brief an
Zarqawi aus dem Jahr 2005 deutlich, als er den Jordanier ermahnte, dass seine antischiitische Strategie
und die enthemmte Gewalt gegen Zivilisten al-Qaida die öffentliche Unterstützung raubten. Als sich
Zarqawi jedoch weigerte, dem Rat aus Pakistan zu folgen, sah die al-Qaida-Zentrale keine Möglichkeit,
sich durchzusetzen und fand sich stillschweigend mit der Strategie ihrer "Filiale" im Irak ab.
Die Aktivitäten der irakischen Organisation vermittelten der Weltöffentlichkeit den Eindruck, dass sie
es bei al-Qaida mit einem globalen Netzwerk zu tun hatte, das in der Lage war, die amerikanische
Supermacht im Irak an den Rand einer Niederlage zu bringen. Außerdem hatte der Anschluss der
Zarqawi-Gruppe den Vorteil, dass diese neben den Irakern vor allem Jordanier, Palästinenser, Syrer
und Libanesen an al-Qaida band. Die Organisation hatte unter diesen Nationalitäten vor 2004 kaum
Rekruten gewinnen können, weil sie ihr vorwarfen, sich nicht für ihre Anliegen wie vor allem den Kampf
gegen Israel zu einzusetzen. Dies war insofern richtig, als al-Qaida in erster Linie die USA bekämpfte,
um deren Rückzug aus der arabischen Welt zu erzwingen und anschließend die Regime in ihren
Heimatländern Saudi-Arabien und Ägypten zu stürzen. Dem entsprechend wurde al-Qaida vor 2004
häufig als eine ägyptisch-golfarabische Organisation angesehen, die sie ausweislich ihrer
Personalstruktur auch war. Sie bestand mehrheitlich aus Saudi-Arabern, Jemeniten, Kuwaitis und
Ägyptern. Der durch Zarqawi erschlossene neue Rekrutierungspool schien der al-Qaida-Führung eine
attraktive Kompensation für die fehlende Kontrolle über Zarqawis Aktivitäten zu sein, so dass sie ihn
gewähren ließ.
Zum Bruch kam es erst 2013/14, als die bis dahin latente Konkurrenz zwischen der al-Qaida-Zentrale
und der irakischen al-Qaida (ISIS) über die Frage, wer in Syrien das Kommando haben solle, zu einem
offenen Konflikt wurde. ISIS beharrte in der Tradition Zarqawis auch dort auf einem unbedingten
Alleinvertretungsanspruch und bekämpfte alle anderen Aufständischen. Der neue al-Qaida-Führer
Zawahiri stand hingegen für die konkurrierende Denkschule, der zufolge die Jihadisten auf allen
Kriegsschauplätzen Verbündete suchen und pragmatisch mit denen zusammenarbeiten sollten.
Niederlage und Wiedererstarken im Irak
Nach Zarqawis Tod 2006 konnte die Organisation ihren charismatischen Führer zunächst nicht adäquat
ersetzen. Sein Nachfolger wurde der weithin unbekannte Ägypter Abu Ayyub al-Masri (alias Abu Hamza
al-Muhajir), der die Organisation bis zu seinem Tode im April 2010 faktisch führte. Ihm wurde jedoch
mit Abu Umar al-Baghdadi (ursprünglich Hamid az-Zawi) ein Iraker zur Seite gestellt. Als die irakische
al-Qaida im Oktober 2006 die Gründung des "Islamischen Staates Irak” (ISI) verkündete, wurde
Baghdadi Emir und al-Masri nur Kriegsminister. Hier ging es vor allem darum, gegenüber der
einheimischen Bevölkerung den irakischen Charakter des ISI hervorzuheben, der im Ruf stand, von
ausländischen Jihadisten dominiert zu sein. Baghdadi war jedoch nicht viel mehr als das
Aushängeschild, während die tatsächliche Kommandogewalt bei Masri lag.
Gleichzeitig geriet die Organisation in die Defensive. Mit dem Beginn des Bürgerkrieges zeigte sich
schnell, dass ISI zwar in der Lage war, einen Bürgerkrieg zu provozieren, nicht aber, die sunnitische
Bevölkerung vor den Gegenschlägen schiitischer Milizen zu schützen. Hinzu kam, dass ISI gewaltsam
gegen andere sunnitische Aufständische vorging, die sich seinem Führungsanspruch nicht beugen
wollten. Viele nichtjihadistische Aufständische entschlossen sich deshalb ab September 2006, in
Verhandlungen mit den US-Truppen zu treten. Die ehemaligen Aufständischen verpflichteten sich,
Angriffe auf US- und irakische Truppen einzustellen und fortan gegen den ISI zu kämpfen. Im Gegenzug
versorgten die US-Truppen ihre neuen Verbündeten mit Geld und Waffen. Ende 2007 zählten die
Mitglieder der auf diese Weise auch in Bagdad und Umgebung entstandenen Milizen, die sich "Räte
des Erwachens" (sahawat) nannten, bereits mehr als 70 000 Angehörige. Gemeinsam mit diesen
Hilfstruppen gingen auch die amerikanischen Truppen immer effektiver gegen den ISI vor.
Im Laufe des Jahres 2007 wurde allzu deutlich, dass der ISI immer schwächer wurde; die sunnitische
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Aufstandsbewegung löste sich auf. Seit spätestens 2008 zeichnete sich ab, dass der ISI trotz einer
weiterhin hohen Zahl von Anschlägen nicht mehr in der Lage sein würde, die Stabilität des irakischen
Staates zu gefährden. Eine weitere Schwächung bedeutete der Tod der beiden Anführer, Masri und
Abu Umar al-Baghdadi, in einem Gefecht mit irakischen und amerikanischen Truppen im April 2010.
Im Bürgerkrieg in Syrien
Im Nachbarland Syrien setzte 2011 zunächst ein Aufstand gegen das Regime des Präsidenten Bashar
al-Assad ein, der schnell in einen Bürgerkrieg mündete. Abu Bakr al-Baghdadi (ursprünglich Ibrahim
al-Badri) schickte im Sommer 2011 eine Gruppe syrischer Kämpfer in ihr Heimatland, die im Auftrag
des ISI dort die Hilfsfront für die Menschen Syriens (Jabhat an-Nusra li-Ahl ash-Sham) gründeten.
Unter der Führung des Syrers Abu Muhammad al-Jaulani wurde die Nusra-Front im Laufe des Jahres
2012 zu der mit Abstand wichtigsten jihadistischen und auch zu einer der stärksten aufständischen
Gruppierungen. Die Organisation profitierte davon, dass Syrer im Aufstand im Irak ab 2003 eines der
größten ausländischen Kontingente gestellt hatten und fast alle ausländischen Kämpfer über Syrien
anreisten. Die Nusra-Front konnte sich auf die damals aufgebauten Logistiknetzwerke im Norden und
Osten Syriens stützen.
Je stärker die Nusra-Front wurde, desto schlechter wurde das Verhältnis zwischen Baghdadi und
Jaulani, weil der Syrer versuchte, sich der Kontrolle durch den ISI zu entziehen. Der Konflikt hatte
auch eine ideologische Dimension, denn die Nusra-Front folgte so gar nicht dem Vorbild ihrer irakischen
Mutterorganisation. Vielmehr orientierte sie sich an den Vorgaben der al-Qaida-Führung und baute
auf enge Kontakte zu den nichtdschihadistischen Aufständischen, um so Assad möglichst rasch zu
stürzen. Als sich abzeichnete, dass Baghdadi die Kontrolle über Jaulani vollends verlieren würde,
erklärte er in einer Audiobotschaft vom 8. April 2013, dass die Nusra-Front lediglich der verlängerte
Arm des ISI und ein integraler Bestandteil desselben sei. Die Bezeichnungen "Nusra-Front" und "
Islamischer Staat Irak", so Baghdadi, würden zugunsten des neuen gemeinsamen Namens "
Islamischer Staat im Irak und Syrien" abgeschafft.
Auf die Erklärung Baghdadis folgte eine virtuelle Auseinandersetzung zwischen der Nusra-Front und
ISIS, in die im Juni auch al-Qaida-Führer Aiman az-Zawahiri eingriff. Zunächst weigerte sich Jaulani
in einer am 10. April veröffentlichten Audiobotschaft, die Nusra-Front Baghdadi zu unterstellen.
Vielmehr suchte er Unterstützung bei Zawahiri, indem er ihm Gefolgschaft schwor. Der al-Qaida-Führer
sah sich nun auch genötigt, in den Konflikt zwischen den beiden al-Qaida-"Filialen" einzugreifen. Er
stützte die Position Jaulanis, indem er dekretierte, dass der ISIS aufzulösen sei und der ISI und die
Nusra-Front unabhängig voneinander und unter dem Oberbefehl der al-Qaida-Zentrale in ihrem
jeweiligen Heimatland operieren sollten. Baghdadi weigerte sich aber, dem Folge zu leisten, so dass
Zawahiri ihn im Januar 2014 später aus dem al-Qaida-Verbund ausschloss.
Parallel zu diesen Auseinandersetzungen übernahmen ISIS-Einheiten ab Frühsommer 2013
schrittweise Stützpunkte der Nusra-Front im Osten und Norden des Landes. Sie profitierten davon,
dass viele Nusra-Führer und Mitglieder zu ihnen überliefen. ISIS kämpfte zwar gelegentlich gegen
Regimetruppen, konzentrierte sich aber darauf, seinen Einfluss in dem bereits von Rebellen gehaltenen
Gebiet auszuweiten. Ab Sommer nahmen die Konflikte zu, weil ISIS immer häufiger Gewalt anwandte
und zahlreiche Kommandeure konkurrierender Gruppen ermordete. Im Dezember eskalierten die
Spannungen vor allem zwischen ISIS und der Islamischen Front – einem Bündnis islamistischer und
salafistischer Gruppierungen unter der Führung der Freien Männer von Syrien (Ahrar ash-Sham) –
und mündeten in heftige Kämpfe. ISIS musste sich daraufhin aus Aleppo und seiner Umgebung
Richtung Osten zurückziehen.
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Von der Terrororganisation zum Islamischen Staat?
Dass die irakische Al-Qaida die Führung der dschihadistischen Bewegung übernehmen wollte, wurde
schon im Oktober 2006 klar, als sie sich in "Islamischer Staat im Irak" (ISI) umbenannte. Der neue
nominelle Anführer, Abu Umar al-Baghdadi, nahm den Titel "Befehlshaber der Gläubigen" (Amir alMu’minin) an – was einen Führungsanspruch für die gesamte Gemeinschaft der (sunnitischen) Muslime
impliziert. Dieser latente Konflikt brach jedoch erst auf, als der stark geschwächte ISI nach dem
amerikanischen Abzug aus dem Irak Ende 2011 unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi wieder
erstarkte. Schon Ende 2013 eroberten ISI/ISIS-Kämpfer ihre alte Hochburg Falluja und auch Teile von
Ramadi westlich von Bagdad; im Sommer 2014 folgte dann der Siegeszug in Mossul. Anschließend
ging ISIS zweigleisig vor: Zum einen kämpfte er im benachbarten Syrien, wo es ISIS im Juni und Juli
gelang, die Nusra-Front aus ihren verbliebenen Stellungen im Osten des Landes zu vertreiben und
wo es immer häufiger zu schweren Gefechte zwischen ISIS und Regimetruppen kam. Zum anderen
griff ISIS im Norden und Westen von Mossul stationierte Truppen der Kurdischen Regionalregierung
an – woraufhin die US-Regierung Luftangriffe aus ISIS-Einheiten anordnete.
Durch die Erfolge im Irak und in Syrien wurde Baghdadi zu einer ernsthaften Konkurrenz für den alQaida-Führer Zawahiri. Dies zeigte sich vor allem an der großen Zahl der ausländischen SyrienKämpfer, die sich von anderen Gruppen abgewandt und ISIS angeschlossen haben. Unter ihnen sind
besonders Saudi-Araber, Marokkaner und Tunesier stark vertreten, doch auch Libyer, Jordanier und
Türken stellen starke Kontingente. Hinzu kommen zahlreiche Tschetschenen, Aserbaidschaner und
auch Europäer. Für sie scheinen Baghdadis Schiitenhass, die hemmungslose Brutalität und die
Fixierung auf die "Befreiung" Jerusalems eher dem Wesenskern der salafistisch-dschihadistischen
Ideologie zu entsprechen als Zawahiris politischer Pragmatismus.
Hinzu kommt die sehr gute finanzielle Ausstattung der Gruppierung. Sie erhält zwar keine staatliche
Unterstützung, doch hat sie auf ihrem Siegeszug im Irak hunderte Millionen Dollar erbeutet. Hinzu
kommen Spenden reicher Privatleute aus den Golfstaaten, Einnahmen aus Steuern und Zöllen und
Einkünfte aus dem Verkauf von Gas und Öl, die es ISIS sogar erlauben, seinen Kämpfern Gehälter
zu zahlen und zahlreiche neue Rekruten auszuheben, so dass die Zahl seiner Kämpfer vor allem ab
Sommer 2014 wuchs.
Es wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen, ob die jihadistische Denkschule von Zarqawi und
Baghdadi sich gegen die von Zawahiri und al-Qaida durchsetzen wird. Viel wird davon abhängen, ob
ISIS wirklich über längere Zeit ein größeres Territorium halten und dort ein staatsähnliches Gebilde
aufbauen kann. Gegen ISIS spricht seine Neigung, alle seine zahlreichen Feinde zur gleichen Zeit zu
bekämpfen, was im Irak schon 2007/2008 zur Niederlage führte. Für ihn spricht die offenkundige
Schwäche der Staaten im Irak und in Syrien, die auf Jahre hinaus instabil bleiben werden. Von der
könnten aber auch die Nusra-Front und Zawahiri profitieren, deren Kompromissbereitschaft politisch
klüger und langfristig erfolgversprechender ist. In jedem Fall wird ISIS im Irak und Syrien noch lange
präsent bleiben, so dass brutale Gewalttaten gegen Schiiten, Alawiten, Christen und andere
Minderheiten und Konflikte unter Rebellenorganisationen in den beiden Ländern an der Tagesordnung
bleiben werden.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Guido Steinberg für bpb.de
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Dschihadistische Nachwuchswerbung 2.0
Das Inspire-Magazin al-Qaidas auf der arabischen Halbinsel
Von Christoph Schwarz
2.10.2012
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Strategische Studien am Institut für
Politische Wissenschaft RWTH Aachen.
Im Inspire-Magazin aus dem Umfeld al-Qaidas vermischen sich islamistischer Hass und der
poppige Look eines modernen Magazins. Für die Leser bietet es klare Freund-Feind-Schemata,
will mit Texten und Bildern radikalisieren und liefert sogar Anleitungen zum Bombenbau in der
heimischen Küche. Das Ziel: kampfbereite Extremisten in der muslimischen Diaspora zu
Anschlägen anstacheln.
Als "War of Ideas", Krieg der Ideen, wird die Auseinandersetzung mit dem transnationalen Terrorismus
im englischen Sprachraum häufig bezeichnet. Die Medien sind ein integraler Schauplatz dieses
Konflikts. Das hat auch die al-Qaida-Führung frühzeitig erkannt: Bereits im Jahr 2005 verwies Ayman
Al-Zawahiri, Nachfolger des 2011 getöteten Osama Bin Laden an der Spitze des Terrornetzwerks
darauf, dass "mehr als die Hälfte der Schlacht auf dem Schlachtfeld der Medien ausgetragen werde
". Man befinde sich, so Al-Zawahiri weiter, geradezu in einer “Schlacht um die Herzen und Köpfe” der
Umma, der islamischen Gemeinschaft der Gläubigen.
Im Rahmen dieser Auseinandersetzung wendet sich die Zeitschrift Inspire gezielt an die muslimische
Diaspora, um aus deren Mitte Sympathisanten, Unterstützer und Kämpfer für die Sache al-Qaidas zu
gewinnen. Seit 2010 in bisher neun Ausgaben von der Al-Malahem Media Production, dem
Medienzentrum der Filiale al-Qaidas auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) in englischer Sprache
veröffentlicht, verbindet das Magazin die Vorteile des Internet mit denen klassischer
Publikationsformate. Die einzelnen Ausgaben von Inspire können aus dem Netz herunter geladen
werden. Der interessierte Leser muss die gewünschten Informationen nicht auf einer oder mehreren
Webseiten zusammensuchen, sondern kann das professionell gestaltete Magazin durchstöbern oder
im Inhaltsverzeichnis gleich gezielt nach einzelnen Beiträgen suchen. Auch zur Weitergabe an
interessierte Dritte, zum Beispiel zu Rekrutierungszwecken, eignet sich die in einzelnen Ausgaben
mehr als 70 Seiten starke und mit reichlich Bildmaterial ausgestattete Zeitschrift. Als Instrument der
Radikalisierung ist sie deshalb wohl deutlich besser geeignet als der Verweis auf einschlägige
Websites.
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Vermittlung technischer Fertigkeiten, ideologischer Rechtfertigungen
und strategischer Leitlinien
Inspire ist nicht das erste englischsprachige Magazin aus dem Umfeld al-Qaidas. In den Jahren zuvor
waren bereits in ähnlich professioneller Form die so genannten Jihad Recollections erschienen. Das
neue Format steht nicht nur in Bezug auf seine optische Gestaltung, sondern auch den inhaltlichen
Aufbau in Kontinuität zu seinem Vorgänger. Allenfalls der relativ gesehen höhere Anteil von Texten
aus dem unmittelbaren Umkreis der AQAP-Führung fällt hier auf. Besondere Bedeutung kommt den
Texten des in den USA geborenen und aufgewachsenen Predigers Anwar Al-Awlaki zu, der im
September 2011 im Jemen durch einen amerikanischen Drohnenangriff getötet wurde. Die Aufrufe
und Predigten Al-Awlakis werden als bedeutsam im Zusammenhang mit verschiedenen
Radikalisierungsprozessen im Vorfeld von Anschlägen durch Einzeltäter angesehen, so zum Beispiel
im Fall des amerikanischen Majors Nidal Malik Hasan, der im November 2009 auf dem amerikanischen
Militärstützpunkt Fort Hood 13 Menschen erschoss. Hasan stand im regen Mailaustausch mit AlAwlaki.[1]
Insgesamt vermittelt Inspire den Eindruck eines dschihadistischen “Multifunktionswerkzeugs”: Die
einzelnen Sektionen der jeweils ähnlich aufgebauten Ausgaben dienen spezifischen Zwecken.
Ausnahmen sind nur die Sonderausgaben zum Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001
und den vereitelten Anschlägen auf Frachtflugzeuge der Firmen FedEx und UPS im Jahr 2010. Die
einführende Zusammenstellung von Zitaten unterschiedlichster Persönlichkeiten ebenso wie die
Sektion “Fragen, die wir alle stellen sollten” (“Questions we all should be asking”) fordert den Leser
zu einer klaren Freund-Feind-Unterscheidung auf. Durch Zustimmung zu den wenig subtil formulierten
Fragen soll der Radikalisierungsprozess befördert werden und schließlich zur Parteinahme im Sinne
der Dschihadisten führen. Damit soll der Boden für die Aufnahme der nachfolgenden Reden,
Botschaften und Interviews von Bin Laden, Al-Zawahiri, Al-Awlaki und anderen bereitet werden.
Nachfolgende Sektionen zielen darauf ab, dieses Radikalisierungspotenzial in Aktivität zu überführen.
Mit Fotos unterlegte Erlebnisberichte aus dem Dschihad klären den potenziellen Kämpfer darüber auf,
wie der vermeintliche Alltag im Trainingslager aussieht und was ihn im Kampf erwartet. Insgesamt ist
die Stoßrichtung Inspires jedoch nicht primär, Angehörige der Diaspora zur Reise in Ausbildungslager
in Afghanistan oder dem Jemen zu motivieren. Vielmehr sollen die neu gewonnenen Kämpfer vor Ort,
an ihren jeweiligen Aufenthaltsorten, in weitgehender Eigenregie Anschläge verüben.
Als Anhaltspunkt für mögliche Anschlagsziele liefert die Zeitschrift Listen möglicher Zielpersonen.
Darüber hinaus vermittelt sie in der Rubrik “Open Source Jihad” technisches Know-how in Form einer
schrittweisen Bauanleitungen für die Herstellung von Bomben aus frei verfügbaren Haushaltsmitteln
und alltäglichen Gebrauchsgegenständen, informiert über Verschlüsselungstechniken und beschreibt
anschaulich das Vorgehen beim Ausspähen von Anschlagszielen. Der hier vertretene Primat des
dezentralen, weltweiten Dschihad weitgehend unverbundener Zellen und Einzelpersonen wird durch
den auszugsweisen Neuabdruck der Schriften Abu Musab al-Suris theoretisch untermauert. Von
seinem Biographen Brynjar Lia treffend als “Architekt des globalen Dschihad” bezeichnet, plädiert AlSuri angesichts der gravierenden technologischen Überlegenheit des amerikanischen Militärs für den
Übergang zum individuellen Dschihad, für den weltweit jede sich bietende Möglichkeit zur Durchführung
von Anschlägen nutzt.
Die Auszüge aus den Schriften Al-Suris sind ebenso wenig neu wie die Inhalte der überwiegenden
Mehrzahl der abgedruckten Texte. Im Gegenteil: Die vorgestellten Begründungsmuster und
Legitimationsfiguren für den Dschihad und die in ihm anzuwendenden Taktiken sind weitestgehend
deckungsgleich mit den bekannten dschihadistischen Argumentationslinien. Auch in Inspire wird der
defensive Dschihad gegen die Quelle allen Übels, die USA und ihre Verbündeten nah und fern, als
individuelle Pflicht für jeden Muslim herausgestellt. Das Endziel des Kampfes gegen diese Gruppe
von Feinden ist die (Wieder-)Errichtung des Kalifats auf Grundlage der Schariah. Wiederholt wird
betont, dass der Bereitschaft zum Märtyrertod zentrale Bedeutung zukommt, um diesen Sieg
tatsächlich zu erringen. Ein Beitrag unter dem Titel “Was ist besser: Märtyrertod oder Sieg?” erklärt
die Selbstaufgabe im Zeichen des Heiligen Krieges gar zur eigentlichen Voraussetzung für den Erfolg.
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Entsprechend dieser Argumentation stellen sich die Mujahedin durch Glauben und Selbstaufopferung
in den Dienst einer Sache, die größer ist als sie selbst. Das auf diese Weise errungene Wohlgefallen
Gottes wird diesen in den Augen des Autors dazu bewegen, den Kämpfern den Sieg zu schenken.
4.200 $ für gescheiterte Anschläge – und einen propagandistischen
Erfolg
Das größte Echo in der Aufnahme des Magazins durch die internationale Presse und Forschung hat
eine Sonderausgabe zur so genannten “Operation Blutsturz (Operation Hemorrhage)” gefunden. Im
Oktober 2010 waren mit Sprengstoff gefüllte Druckerkartuschen an Bord von Fracht- und
Passagierflugzeugen auf die Reise vom Jemen in die USA geschickt worden. Einer der Sprengsätze
wurde am Flughafen Köln/Bonn umgeladen, bevor er an Bord einer weiteren Frachtmaschine nach
Großbritannien befördert und dort nach Hinweisen des saudi-arabischen Geheimdienstes schließlich
entdeckt wurde. Neben diesen beiden gescheiterten Anschlagsversuchen behauptete AQAP ferner,
für den Absturz einer Boeing 747-400 der Firma UPS im September 2010 verantwortlich zu sein.
Die entsprechende Inspire-Sonderausgabe präsentiert neben technischen Details zu den verwendeten
Bomben samt exklusivem Bildmaterial auch die zu Grunde liegende “Strategie der 1000 Schnitte”. In
dieser geht es nicht mehr primär darum, Anschläge verheerenden Ausmaßes wie am 11. September
2001 zu verüben. Angesichts weltweit verschärfter Sicherheitsmaßnahmen, die in den Augen der
Autoren gerade im Fall der USA Ausdruck eines regelrechten “Sicherheitswahns” sind, schreiben sie
im Magazin, dass es sinnvoller und gleichzeitig praktikabler sei, kleinere Anschläge mit weniger
Attentätern und geringerer Vorbereitungszeit bei gleichzeitiger steigender Häufigkeit der Angriffe
durchzuführen.
Im Fall der “Operation Blutsturz” werden bereits die Anschlagsversuche unabhängig von der
Entdeckung der Sprengsätze als Erfolg gewertet, da die Pakete nicht bei den Sicherheitskontrollen,
sondern nur durch Geheimdienstinformationen entdeckt worden sind. Die Zielstaaten würden damit
vor die Alternative gestellt, weitere gigantische Summen in Sicherheitsmaßnahmen zu investieren oder
nichts zu tun und darauf zu vertrauen, dass die unvermeidlich folgenden Anschlagsversuche ebenfalls
scheitern – eine aus Sicht der Inspire-Autoren undenkbare Alternative. Entschieden sich die politischen
Entscheidungsträger zu neuerlichen, massiven Investitionen in die Flug- und Flughafensicherheit,
unterstützten sie damit nur das terroristische Kalkül. Ihre ökonomische Leistungsfähigkeit werde durch
diese Ausgabenpolitik in der ohnehin angespannten Lage der Weltwirtschaft noch weiter geschwächt.
Insgesamt folgt diese Argumentation der Autoren der klassischen Logik der Ermattungsstrategie: Der
Feind soll durch anhaltende Kosten und Verluste soweit in seiner Widerstandskraft geschwächt werden,
bis er zusammenbricht.
Ob die "Strategie der 1000 Schnitte" die westlichen Staaten tatsächlich in die Knie zwingen kann,
bleibt abzuwarten. Autoren wie Ulrich Schäfer und Daveed Gartenstein-Ross haben dem zu Grunde
liegenden Kalkül allerdings ein erhebliches Erfolgspotenzial attestiert.[2] Weitgehend unbeachtet in
diesem Zusammenhang ist jedoch der Umstand geblieben, dass es sich bei den Ausführungen in der
Inspire-Sonderausgabe um eine Rechtfertigung handelt, die nach dem Scheitern der
Anschlagsversuche veröffentlicht wurde. Folglich könnte man hier mit einiger Berechtigung auch vom
Versuch einer professionell und medienwirksam in Szene gesetzten Schadensbegrenzung unter einem
strategischen Deckmantel ausgehen. Zudem handelt es sich bei Inspire lediglich um das Organ einer
der Filialen al-Qaidas. Ob deren strategische Ausrichtung als repräsentativ für die verschiedenen Teile
des Terrornetzwerks angesehen werden kann, darf bezweifelt werden. In der Forschung ist die Frage
umstritten, ob al-Qaida überhaupt als strategisch handelnder Akteur begriffen werden kann. Und selbst
unter Autoren, die diese Frage bejahen, herrscht Uneinigkeit in Bezug auf die Frage, ob eine
Ermattungsstrategie hierbei das leitende Paradigma darstellt. Angesichts der zentralen Bedeutung,
die dem Faktor Mobilisierung in zahlreichen Aussagen Bin Ladens und seines Nachfolgers Zawahiri
und eben auch durch die Herausgeber von Inspire explizit attestiert wird, wird die Strategie häufig
auch als Mobilisierungsstrategie charakterisiert.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Besorgnis erregender Trend, aber nichts grundsätzlich Neues
Bei dem bereits angesprochenen Drohnenangriff im September 2011 wurde neben Al-Awlaki auch
Samir Khan getötet. Khan, wie Al-Awlaki amerikanischer Staatsbürger, steuerte zahlreiche Beiträge
zu Inspire bei und wurde verschiedentlich als Chefredakteur des Magazins genannt. Die in
Medienberichten geäußerte Hoffnung, dass mit dem Tod Al-Awlakis und Khans auch das Ende von
Inspire gekommen sein würde, hat sich nicht bewahrheitet. Eine Ausgabe ist 2012 bereits erschienen,
weitere sind angekündigt.
Insgesamt stellt die durch Inspire und andere Zeitschriften gezielt betriebene Mobilisierung der
muslimischen Diaspora im Sinne der radikalen Ziele al-Qaidas eine Besorgnis erregende Entwicklung
dar. Inspire schafft eine niedrige Eintrittsschwelle für interessierte und der Ideologie des
Terrornetzwerks aufgeschlossene potenzielle Rekruten. Gleichzeitig darf bei aller berechtigen Sorge
jedoch nicht übersehen werden, dass Al Qaida bisher weit hinter den selbst gesteckten
Rekrutierungszielen zurück geblieben ist. Zudem ist zu bezweifeln, dass die bloße Lektüre
gleichermaßen willige und fähige Terroristen hervorbringt. Besorgt darf man wegen Inspire also
durchaus sein – Alarmismus ist hingegen fehl am Platz.
Weiterführende Literatur
Gartenstein-Ross, Daveed, Bin Laden’s Legacy. Why We‘re Still Losing The War on Terror, Hoboken
2011.
Jane’s Terrorism & Security Monitor, AQAP after Awlaqi, October 2011, 16-18.
Kurzman, Charles, The Missing Martyrs. Why There are So Few Muslim Terrorists, Oxford/New York
2011.
Schäfer, Ulrich, Der Angriff. Wie der islamistische Terror unseren Wohlstand sprengt, Frankfurt am
Main 2011.
Wiktorowicz, Quintan, A Genealogy of Radical Islam, Studies in Conflict & Terrorism, 28/2005, 75-97.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Fußnoten
1.
2.
vgl. Huffington Post (http://www.huffingtonpost.com/2012/07/19/fort-hood-shooting-fbi-nidalhasan-political-correctness_n_1685653.html)
vgl. Gartenstein-Ross, Daveed, Bin Laden’s Legacy. Why We‘re Still Losing The War on Terror,
Hoboken 2011, S. 165-178 und Schäfer, Ulrich, Der Angriff. Wie der islamistische Terror unseren
Wohlstand sprengt, Frankfurt am Main 2011, S. 45ff.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Die Salafiyya – eine kritische Betrachtung
Von Marwan Abou-Taam
14.6.2012
Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz.
[email protected]
Schon im neunten Jahrhundert formulierte Ahmad Ibn Hanbal die zentrale Forderung der
Salafiyya: Der Koran sei wörtlich und uninterpretiert zu verstehen, im Zweifel so, wie ihn die
Altvorderen (Salaf) verstanden haben. Marwan Abou Taam beleuchtet die extremistische
Bewegung, die eine Gesellschaft göttlichen Willens etablieren will.
Ein Teilnehmer der Kundgebung "1. Islamischer Friedenskongress" (09.06.2012, Köln) der Salafisten schwenkt eine
schwarze Fahne des Jihad. (© picture-alliance, /BREUEL-BILD )
Salafiyya ist kein neues Phänomen des Islams. Bereits im neunten Jahrhundert trat Ahmad Ibn Hanbal
mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen. Dort, wo die Texte
nicht offensichtlich genug sind, sollen sie nach dem Verständnis der Salaf/Altvorderen ausgelegt
werden. Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und
Verstand. So argumentierte er: "Ich bin keine Person der Diskussion/Philosophie und Kalam/Theologie.
Ich bin nur eine Person der Überlieferungen und Berichte."[1] Damit wollte er sich in aller Deutlichkeit
von der Mu'tazila distanzieren. Dabei handelt es sich um diejenigen Muslime, die Verstand und Vernunft
als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung nutzten und den Islam lange Zeit prägten.
Die Salafiyya wirft der Mu'tazila vor, sie würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben.
Die Ideenwelt Ibn Hanbals war Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welt. Das
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Kalifat war von internen Machtkämpfen durchsetzt, die islamischen Eroberungen stockten oder waren
nicht mehr Teil des Machtkalküls der herrschenden Elite am Kalifenhof in Bagdad. Diesem Zustand
erklärte Ibn Hanbal damit, dass sich die damaligen Muslime durch Philosophie, Auslegung und
Interpretation der Korantexte zu sehr von Gott entfernt hätten. Erst eine Rückorientierung und die
direkte Anknüpfung an die ersten Gläubigen könnten demnach die Muslime aus ihrer Krise führen.
Hier wird ein utopisches goldenes Zeitalter in den Gründergenerationen des Islams konstruiert und
als Quelle jeglicher islamischer Praxis definiert. Der Weg in dieses utopische Zeitalter führt nach Ibn
Hanbal nur über den Koran in seiner uninterpretierten, wörtlichen Fassung und über die Aussagen der
Sunna bzw. die Tradition der Altvorderen.
Diese Vernunftfeindlichkeit im Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend
unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das salafistische Denken und die
salafistische religiöse Praxis. Ibn Hanbal lehnte die "Kultur der Ambiguität"[2], der Mehrdeutigkeit, ab.
Sie führte im Islam zu Ausdifferenzierungsprozessen und Variationen der Gottesvorstellungen bis hin
zu Abweichungen in sozialer Organisation, Ritual und Textbezug. Diese Vielfalt prägte und prägt den
Islam. Für die Salafisten ist diese Vielfalt eine Gefahr, die den Islam schwächt. Bei der Salafiyya
handelt es sich um eine Ausrichtung des sunnitischen Islams hanbalitischer Ausprägung.
Die religiöse Grundlage der Salafiyya
Anhänger der Salafiyya sind Muslime, die für sich in Anspruch nehmen, den Weg ins Paradies zu
kennen. Allen anderen Muslimen, die den Lehren der Salafiyya nicht folgen, erkennen sie das
Muslimsein ab. Diese dualistische Weltanschauung prägt ihr Denken und Verhalten in allen
Lebenslagen. Die Grundlage ihres Glaubens ist neben dem Koran die Wegweisung des Propheten
Mohammed, wie sie in der Sunna/Prophetentradition überliefert ist. Die unveränderliche Befolgung
der Tradition und ihre ständige Nachahmung ist ihre zentrale Forderung. Daher bezeichnen sie sich
auch als ahl al-hadith/Anhänger der Prophetenaussagen oder ahl-al-salaf/Anhänger der Altvorderen.
Sie betonen damit, dass sie stets die Handlungen, Aussagen, ja die gesamte Epoche des Propheten
Mohammed in die Gegenwart projizieren und in der Praxis ausleben. Sie sind überzeugt, dass nur
durch die Nachahmung des Verhaltens Mohammeds und seiner Gefährten in allen Lebensumständen
die religiösen Gebote des Korans eingehalten werden können. Dabei gilt die Vermischung von
göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken als Sünde. Somit ist alles, was nicht in der Sunna
des Propheten verankert ist, als eine verbotene Innovation/ bid´a zu betrachten. Die Salafiyya fordert
die wörtliche Auslegung des Korans, jegliche allegorische Deutung ist für sie ein Missbrauch. Vertreter
anderer Glaubensauffassungen innerhalb des Islams, die dies tun, gelten damit als Ungläubige, die
mittels des Jihads bekämpft werden müssen.
Die Idealisierung der islamischen Urgemeinschaft in Medina und die Betonung der göttlichen
Vorherbestimmung bieten der Salafiyya die Möglichkeit, die Konflikte nach dem Tode des Propheten
auszublenden. Tatsächlich war die von der Salafiyya als Ideal definierte Zeit voller innerislamischer
Machtkonflikte: Drei der ersten vier Kalifen wurden ermordet, es kam zu heftigen Kriegen und schließlich
wurde die Familie des Propheten regelrecht ausgelöscht. Die Salafiyya blendet diese Ereignisse aus
und idealisiert die Personen dieser Epoche. Mörder und Ermordete sind im gleichen Maße Vorbild,
denn die Salafiyya weigert sich, über die beteiligten Kontrahenten zu richten und erklärt die Ereignisse,
die zur Ermordung der Familie des Propheten führten, zum göttlichen Willen. Ihren Kritikern begegnet
die Salafiyya mit dem Argument, dass es in dieser Zeit die größten militärischen Erfolge der islamischen
Eroberung gab.
Die Vitalität dieser ersten Eroberergenerationen sei das Produkt ihres besonderen
Islamverständnisses. Aus dieser Argumentation wird die politische Mission der Salafiyya deutlich. Sie
urteilt nicht moralisch, sondern machtpolitisch. Mit der Überbetonung der Tradition und dem Verbot
des innovativen Denkens in religiösen Fragen wächst die Notwendigkeit, möglichst viele Aussagen
des Propheten zusammenzutragen. Diese Prophetentradition ist für alle Muslime von zentraler
Bedeutung. Jedoch lehnt die Salafiyya auch hier die Vielfalt der Auslegung dieser Traditionen ab. Damit
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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werden andere islamische Konfessionen, die die Worte des Propheten anders verstehen und ausleben,
als unislamisch zurückgewiesen und wenn die Möglichkeit besteht, offen bekämpft. Innerhalb der
Salafiyya kommt es zur "Vergesetzlichung" der Lehren des Islam. Der Koran mutiert zu einer
Bedienungsanleitung. Einer Bedienungsanleitung, die nicht die Bedürfnisse heutiger Gesellschaften
regelt, sondern dem Verständnis einer beduinischen Tradition des siebten Jahrhunderts entspricht.
Heutige Lebenswirklichkeiten werden über abenteuerliche Analogien unter der Vorgabe, dass Verstand
und Vernunft nicht zur Anwendung kommen dürfen, mit damaligen Situationen gleichgesetzt.
Entscheidungen und Ratschläge werden aus ihrem zeitlichen bzw. historischen Kontext gerissen und
in die Gegenwart katapultiert. Die Idealisierung der frühislamischen Zeit produziert eine rückwärts
orientierte Utopie, die durch die strikte Einhaltung des Gesetzes erreicht werden soll.
In der Praxis reduziert die Salafiyya die Lehren des Islams auf das äußere Erscheinungsbild der
Gläubigen. Aussehen, Kleiderordnung und Verhaltensvorschriften werden vorgegeben und als zentrale
Merkmale eines Muslims deklariert. Wer diese Vorschriften nicht im Detail umsetzt, wird der Apostasie
(Abfall vom Glauben) bezichtigt. Auch hierin unterscheidet sich die Salafiyya selbst vom orthodoxen
sunnitischen Islam diametral. Diese Diskrepanz kann man u.a. damit erklären, dass viele Vertreter
der Salafiyya im Unterschied zur traditionellen religiösen Geistlichkeit ('ulama') nicht über eine fundierte
religiöse Ausbildung verfügen. Es sind vielmehr theologische Laien und Freizeitprediger.
Die Salafiyya hat sich zum Ziel gesetzt, den Ur-Islam und seine damaligen Kulturzustände
wiederherzustellen. Sie lehnt es ab, die Aussagen der Scharia fortzuentwickeln und will den Islam von
allen Zusätzen und Erweiterungen reinigen. Dabei sind sie theologisch betrachtet selbst eine Neuerung,
eine Anmaßung, die weder im Koran noch in der Prophetentradition Erwähnung findet.
Salafiyya – die Politisierung des Sakralen
Die Salafiyya ist das islamische Projekt der Politisierung des Sakralen. In vielen islamischen Staaten
ist sie eine aufsteigende politische Kraft, eine Gegenelite, die für sich beansprucht, eine Gesellschaft
göttlichen Willens zu etablieren. Dabei handelt es sich bei der Salafiyya nicht um eine lokalisierbare
Organisation. Vielmehr ist sie eine weltumspannende Geisteshaltung, eine Idee, die von losen
netzwerkartigen Strukturen und flachen Hierarchien geprägt wird.
Der gemeinsame Nenner aller Salifiyya-Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des
Islam und der Anspruch, das einzig wahre Verständnis vom Islam zu besitzen. Ihr Islamverständnis
verbindet die Salafiyya, gleichzeitig grenzt es sie politisch und religiös von anderen Muslimen innerhalb
und außerhalb islamisch geprägter Gesellschaften ab. Dabei sind Salafisten nicht die einzige politische
Bewegung, die sich auf die Lehren des Islams beruft. In vielen Ländern existiert eine Vielzahl von
Bewegungen, die sich alle auf den Islam begründen, aber zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig
der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen.[3] Kultursoziologisch ist die Salafiyya
Ausdruck einer defensiv-kulturellen Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne. Sie artikuliert
sich ideologisch aggressiv, denn ihr Ziel ist es, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen
Design islamisch zu gestalten.
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Der fundamentalistische Islamprediger Pierre Vogel am 09.07.11 in Hamburg. (© picture-alliance/dpa)
Daher ist die Salafiyya in ihrer aktuellen Gestalt ein Reaktionsmechanismus auf die Krisen islamischer
Gesellschaften. Sie agiert auf der Grundlage einer totalitären Weltanschauung, die sowohl das
öffentliche wie das private Leben der Menschen zu kontrollieren sucht.[4] Geleitet werden die Salafisten
von einer Weltanschauung, nach der der Islam eine absolut gültige Wahrheit darstellt, die durch Gottes
Wort im Koran offenbart und dokumentiert wurde. Eine Annahme, die alle monotheistischen Religionen
bezüglich ihrer jeweiligen Glaubensinhalte gemeinsam haben, wenn da nicht ein entscheidender
Unterschied wäre: Durch die Politisierung dieser Überzeugungen stellen die Salafisten ein
Herrschaftskonzept auf, das den Islam als al-hall al-Islami/die islamische Lösung für alle sozialen,
wirtschaftlichen und organisatorischen Bereiche der Umma/islamischen Gemeinde sieht.
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften für alle Dinge
des Alltags. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch
nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei
zentrale Charakteristika salafistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen
vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der
Gesellschaft und bedeutet auch die Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre.
Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen
Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatlichen Grenzen anerkennt und den
Staatsbürgerbegriff negiert. Nach ihrer islamischen Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl
zur khair Umma/besten Gemeinschaft (Koran 3/110) alle Muslime. Daraus leitet die Salafiyya ab, dass
alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl des Islams orientieren muss,
denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott zu verstehen.
Damit steht die islamische Offenbarung uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses und das
Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Die Salafiyya erhebt für ihr Islamverständnis
einen Universalitätsanspruch.
Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte
Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt
es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Die Salafisten
politisieren diesen Anspruch und bestehen darauf, den von ihnen interpretierten Befehl Gottes, die
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Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Die Autorität des religiösen und gleichermaßen politischen
Führers gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Führer leitet die Umma/
Gemeinschaft der Gläubigen und setzt den göttlichen Willen durch. Da´wa/Einladung zum Islam ist
nach salafistischer Leseart die Hauptaufgabe des islamischen Staates. Eine Aufgabe, die notfalls auch
mit dem Jihad kriegerisch erfüllt werden muss.
Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/die Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff,
der Gott als den absolut Einen beschreibt.[5] Neben Gott soll keine weitere Autorität akzeptiert werden.
Damit ist für die Salaffiyya-Anhänger jede Gesetzgebung, die nicht auf den göttlichen Willen fußt, nicht
gültig. Sie ist sogar eine Idolatrie (Götzenverehrung), die zur Apostasie führt. Damit ist das politische
Projekt der Salaffiyya zutiefst demokratiefeindlich. Salafisten in Ägypten rechtfertigen ihre Teilnahme
an den Parlamentswahlen damit, dass sie hierdurch die Da´wa/ Einladung zum Islam effizienter über
die staatlichen Strukturen umsetzen können.
Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten ist durch Machtausübung und Unterordnung
charakterisiert. Machtausübung und Unterordnung sind religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott
näher kommt.[6] Anhänger der Salafiyya sehen im Koran eine politische Ordnung, gar eine Verfassung.
Aus der Koranstelle "Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht
besitzen"(4/59) leiten sie für die Gläubigen eine Pflicht zur Unterwerfung gegenüber dem Führer. Somit
hat der weltliche Herrscher göttlichen Glanz, ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten. Ein
starker Führer ist der Garant für die Durchsetzung der Schari´a. Die Schari´a ist das islamische Recht,
also alle Gesetze, die in einer islamischen Gesellschaft zu beachten sind. Sie ist aber keine feste
Gesetzessammlung. Die Schari´a ist für die Salafisten Quelle und Ziel des Politischen und hat einen
totalen Geltungsanspruch. Hierdurch entsteht ein deutlicher Widerspruch zu den Grundlagen des
modernen pluralistischen Verfassungsstaates, der sich nicht religiös legitimieren lassen kann.
Die Jugend in den Umbruchstaaten Ägypten, Tunesien und Libyen ist auf die Straße gegangen, um
bessere Lebensbedingungen, Demokratie, Freiheit und Schutz der Menschenwürde zu erlangen. Die
Salafiyya hingegen mit ihrer dualistischen und menschenfeindlichen Weltanschauung zelebriert gar
ihr Unvermögen, eine konstrutkive Rolle zu spielen bei der Lösung sozialer, ökonomischer und
politischer Konflikte der Gesellschaften, in denen sie agiert. Salafisten glauben, sie könnten durch die
Organisation und Mobilisierung auf Grundlage einer vergangenen Utopie eine andere, bessere
Gesellschaft formen. Ihre ideologisch begründete Realitätsverweigerung zeigt sich in der aggressiven
Beschneidung der Freiheit Andersdenkender ebenso wie in ihrer Unfähigkeit zur Selbstkritik. Die
Salafiyya schafft tiefe Gräben zwischen den Muslimen, spaltet Nationen entlang konfessioneller Linien
und provoziert globale Konflikte. In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen
nachgeordneten Status mit der Begründung, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Und das
bedeutet, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden
kann. Die Salafiyya ist Geisel einer selbstkonstruierten Tradition und nimmt ihrerseits den Islam in
Geiselhaft.
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Die Salafiyya und der globale Jihad
Die Salafisten interpretieren Geschichte dualistisch als ewigen Kampf zwischen Glaube und Unglaube.
Die logische Konsequenz dieser damit einhergehenden Politisierung des Sakralen ist für sie der Jihad.
Der militante Jihad ist ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustands vom islamisch-salafistischen
Frieden. Dabei muss bedacht werden, dass in der Denkstruktur der Salafiyya die Universalität des
Islam und der Unglaube Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können.[7] Gott als Schöpfer
aller Menschen soll von allen Menschen verehrt werden. Seine Gesetze müssen befolgt werden, damit
ein Zustand seelischer Befriedung erreicht werden kann. Nur dadurch kann der Mensch in der
Wahrnehmung der Salafiyya seinen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung wiedererlangen. Die
Universalität des Islam und die damit verbundene Da`wa seien eine Rettungsaktion für die Menschheit,
denn der Islam sei die Religion aller, die Recht, Gerechtigkeit und Freiheit wollen. Ein dichotomes
Denkmuster entsteht: Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach
den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen
menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden. Diese Gesetze müssen
notfalls mittels des Jihads verhindert werden, da alle Gläubigen vor ihnen geschützt werden müssen.
Die Salafiyya will die Gläubigen zusammenschweißen und klare Rollenmuster, Handlungsweisen und
Ziele prägen. Ihre Anhänger sollen sich zusammengehörig fühlen und zwischen sich und den anderen
unterscheiden, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen Gläubigen und Ungläubigen.
Unter den Anderen versteht die Salafiyya alle Ungläubige wie Christen oder Juden, aber auch liberale
Muslime. Es kann sich auch um Regime, Systeme, Kollektive und Einzelpersonen handeln, die die
Gedanken der Salafiyya nicht teilen.
Die Salafiyya will letztendlich die Umma herbeiführen, die Gemeinschaft aller Islamgläubigen. Um
dieses Ziel zu erreichen, ist Gewalt auch gegen Zivilisten ein legitimes Mittel. Die salafistische
Weltanschauung erlaubt und fordert gar Gewalt gegen den tagut/ Tyrannen. Sie einigt dadurch alle,
die sich als Opfer betrachten und reduziert deren mögliche Schuldgefühle, indem sie die eigene
Aggression als Verteidigungshandlung, als Reaktion auf eine vom Gegner ausgehende Verschwörung,
Aggression und Unterdrückung darstellt. Jeder Terroranschlag festigt somit die Identität der Kämpfer.
Betrachtet man die Führungselite der Jihad-Salafiyya, so handelt es sich keineswegs um ein reines
Armutsphänomen. Jihadisten verstehen sich als Avantgarde des Islams. Die Argumentationslogik der
Jihad-Salafiyya beschreibt den eigenen Kampf als Defensivkampf gegen Aggressoren, die islamisches
Gebiet besetzen, die Schätze der Muslime plündern und die Bewohner demütigen. Des Weiteren wird
die Besatzung und die damit verbundene Unterdrückung in Palästina instrumentalisiert. Damit
emotionalisiert die Salafiyya ihre Anhängerschaft und polarisiert gegen die politischen Machthaber
innerhalb der islamischen Welt, die unfähig waren, die Palästinenser zu schützen. Dieser Logik folgend
haben die Feinde der Salafiyya eine Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und alle Muslime
gerichtet. Und da nichts heiliger ist als das Vertreiben eines Feindes, der die Religion und das Leben
bedroht, argumentiert die Salafiyya, dass "das Töten von Amerikanern und deren Verbündeten, ob
Zivilisten oder Soldaten, die Pflicht eines jeden Muslims ist, der dazu fähig ist, egal, in welchem Land
er die Möglichkeit dazu hat, um ihre Armeen aus allen Gebieten des Islam zu vertreiben, besiegt und
unfähig, einen einzigen Muslim zu bedrohen".[8]
Die Salafiyya und ihr Jihad verdeutlichen das Unvermögen einer ganzen Generation, am
gesellschaftlichen Geschehen teilzunehmen. Der von der Salafiyya proklamierte Jihad entspringt einer
Weltanschauung, die keineswegs mit dem Problem der Armut erklärt werden kann. Die Hauptakteure
salafistischer Bewegungen vertreten einen machtpolitischen Anspruch. Ihre Strategien sind vielfältiger
Natur. Die Bewegung teilt sich in Eliteformationen, die aus den "wahren“ Gläubigen bestehen, und
Sympathisanten. Die Eliten sind die Träger und Verbreiter der Ideologie. Meist verstehen diese sich
als Avantgarde, die die Muslime in das goldene Zeitalter des Islam zurückführen wird. Dabei geht es
ihnen stets darum, sich als Erlöser zu präsentieren. Der gemeinsame Nenner vieler Sympathisanten
der Salafiyya ist die Tatsache, dass es sich bei ihnen oft um gesellschaftliche Verlierer handelt.
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Die Salafisten schaffen es, mit ihrer religiös-totalitären Weltanschauung desorientierte Jugendliche zu
mobilisieren. Die Salafiyya prosperiert unter den Bedingungen einer fortschreitenden "Vermassung
der Gesellschaft"[9]: Junge Menschen, die unter dem Verlust sozialer Zuordnung leiden und nach
Identität und Geborgenheit suchen, fühlen sich in den totalitären Gedanken der Salafiyya beheimatet.
Sie steht für Rückzug, Identitätssuche, das Beharren und die Angst vor vermeintlichen Sünden. Sie
definiert Gut und Böse, indem sie einen vermeintlich "reinen" Islam predigt. Ihr Erfolg resultiert daraus,
dass die Salafiyya sich als sinngebende gesellschaftliche Formation darstellt, die Widerstand leistet
gegen eine zunehmende Entzauberung des Göttlichen.[10] Das beinhaltet gleichermaßen eine
revolutionäre Gedankenwelt gegen die Moderne und all diejenigen, die für die Schwäche des Islams
verantwortlich gezeichnet werden und ist eine sich konservativ gebende Ideologie, die die goldene
Zeit des Islams beschwört. Diese Gleichzeitigkeit von revolutionärem Chaos und religiös-kultureller
Kontrolle übt eine Faszination aus, die viele junge Menschen erreicht. Das salafistische Projekt
vermittelt ihnen das Gefühl, Zeitgeschichte zu schreiben, da sie sich aus Sicht der Salafiyya nicht nur
gegen die vorherrschenden Autoritäten auflehnen, sondern sich auch auf Gottes Seite positionieren.
In ihren Kritikern und Gegnern sehen sie Anhänger des Teufels. Die Mitglieder und Sympathisanten
der Salafiyya steigen somit auf zu Gotteskämpfern.
Hannah Arendt beschreibt totalitäre Bewegungen als Träger von Weltanschauungen, die die politische
Ortlosigkeit der Massen durch die Artikulation übermenschlicher Gesetze von Geschichte und Natur
aufzuheben suchen.[11] Die Salafiyya erfüllt diese Beschreibung hinreichend.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Fußnoten
1.
2.
3.
Hanbal b. Ishaq (1977): Dhikr mihnat al-imam Ahtnad b.Hanbal, Cairo, 1977, S. 54.
Thomas Bauer (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin
Al-Harmassi, Abd-Al-Mağid stellt fest, dass die Zersplitterung islamistischer Organisationen ein
verheerendes Ausmaß erreicht hat und beschreibt die Situation im arabischen Maghreb, wo er
alleine in Marokko dreiundzwanzig offizielle und mehr als hundertundfünfzig inoffizielle
Abspaltungen zählt, die sich nur in kleinen Nuancen voneinander unterscheiden. Vgl. hierzu alHarmassi, Abd-Al-Mağid (2001): Al-Harakat al-islamiyya fi al- Maghreb al-arabi (die islamischen
Bewegungen im arabischen Maghreb), in: Hamad, Mağdi (2001): Al-harakat al-islamiya wa-aldimuqratiya, dirasat fi al-fikr wa-l-mumarasa (die islamischen Bewegungen und die Demokratie,
Studien über Ideen und Praxis), 2. Auflage, Beirut, S. 297
4. Arendt, Hannah (1968): Totalitarianism. Part Three of The Origins of Totalitarianism. San Diego,
New York, London.
5. vgl. Mooren, Thomas (1991): Macht und Einsamkeit Gottes. Dialog mit dem islamischen RadikalMonotheismus. Altenberge
6. Hourani, Albert (1962): Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, London, S. 1-24.
7. Vgl. Btaji, Mohamad (Hrsg) (o.D.): Die Schriften von Mohamad Bin abd-al wahab, Riad.
8. Abou Taam, Marwan, Bigalke, Ruth (Hrsg.) (2006): Die Reden des Usama Bin Ladens, München
S.76f.
9. Vgl. Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, S. 505.
10. Vgl. Weber, Max (1917/19): Wissenschaft als Beruf. Politik als Beruf, herausgegeben von:
Mommsen, Wolfgang J. /Schluchter, Wolfgang, Tubingen 1992, S. 100f.
11. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 607 ff.
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Die Salafiyya-Bewegung in Deutschland
Von Marwan Abou-Taam
21.5.2012
Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz.
[email protected]
Am 5. Mai 2012 eskaliert in Bonn eine Demonstration gegen eine Pro-NRW-Kundgebung
gewaltsam. Im Verlauf der Auseinandersetzungen verletzt der Salafist Murat K. mit gezielten
Stichen mehrere Polizisten, zum Teil schwer. Kurz zuvor hatten Salafisten mit einer
Koranverteilaktion in deutschen Städten auf sich aufmerksam gemacht. Wer sind die
Extremisten, welche Ziele verfolgen sie?
Gegendemonstranten am 5. Mai 2012 in Bonn. Hunderte junge Muslime, viele davon Anhänger des
fundamentalistischen Salafismus, waren im Stadtteil Bad Godesberg zusammengekommen, um gegen eine
Kundgebung von pro NRW zu demonstrieren. (© picture-alliance/dpa)
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Die Salafiyya-Bewegung in Deutschland
Salafisten verstehen sich als eine Erneuerungsbewegung, die es sich zum Ziel setzt, den Ur-Islam
und seine damaligen Kulturzustände wiederherzustellen. Es handelt sich bei den Anhängern der
Salafiyya um sunnitische Muslime, die für sich in Anspruch nehmen, den wahren Islam zu vertreten.
Die Selbstbezeichnung ahl-al-salaf (Anhänger der Altvorderen) drückt eine Überzeugung aus, wonach
nur die Vertreter der ersten drei islamischen Generationen den Islam richtig lebten.[1] Sie lehnen es
ab, die Aussagen des Islam fortzuentwickeln und den zeitlichen Umständen anzupassen. Demnach
soll der Islam von allen Zusätzen (Bida´) und Erweiterungen gereinigt werden und in seinem Ursprung
gemäß der Vorgaben der Salaf gelebt werden. Hierfür müsse die Lebenswelt der Gläubigen nach den
Vorgaben der Schari´a gestaltet und am Vorbild der ersten drei islamischen Generationen orientiert
werden.[2] So verlangt die Salafiyya von ihren Anhängern die strikte Einhaltung des muslimischen
Rechts und der traditionellen Einzelvorschriften des islamischen Lebensstiles bezüglich des Auftretens,
der Kleidung, der Segregation, der Geschlechter etc.
Ein Kennzeichen der Salafiyya ist die Forderung nach einer wörtlichen Auslegung des Korans, die
jegliche allegorische Deutung zu einem Missbrauch werden lässt. Damit gelten Vertreter anderer
Konfessionen innerhalb des Islams wie z.B. die Schiiten als Ungläubige, die mittels des Djihads
bekämpft werden müssen.
Die Salafiyya-Ideologie ist von einer dualistischen Einteilung der Menschen in Gläubige und
Ungläubige geprägt. Als gläubig gilt nicht der gewöhnliche Muslim, sondern nur derjenige, der die
Verhaltensvorschriften der Salafiyya minutiös befolgt und ihre theologischen Ansichten vorbehaltlos
übernimmt. Salafisten exkommunizieren nichtsalafistische Muslime und erklären sie zu Ungläubigen.
Diese Methode ist eine ihrer schärfsten Waffen und wird als takfir bezeichnet. Prinzipiell kann man
das Denken des Salafismus als dualistisch charakterisieren. Man ist für oder gegen Gott, gut oder
böse bzw. gläubig oder ungläubig.
Politische Ambitionen der Salafiyya
Oft wird das Verhalten von Salafisten als Aufbegehren gegen die Zerstörung der islamischen Kulturen
interpretiert. Ein Blick in die Gedankenwelt der Salafisten verdeutlicht jedoch, dass sie Philosophie,
Musik, Literatur und Poesie der islamischen Zivilisation als "Werk des Teufels" bekämpfen und jede
Form von Volksreligiosität als Unglaube ablehnen. Ihre Auffassung des Islams entspricht damit nicht
der islamischen Tradition, vielmehr ist sie eine aktuelle Konstruktion mit einer klar definierten politischen
Agenda.
Salafisten verfolgen das Ziel der totalen Transformation der Gesellschaft. Dabei wird das westliche
Konzept von Demokratie und Menschenrechten als unislamisch abgelehnt. Diese Feindschaft basiert
auf dem Grundgedanken, dass der westliche Staat als Aggressor das salafistische Projekt einer
islamischen Neuordnung verhindert. Die von ihnen mittelfristig angestrebte Islamisierung soll sowohl
den privaten als auch den öffentlichen Bereich dominieren. Damit verfolgen sie eine radikale Ideologie,
die durchaus als Antithese zur liberalen Demokratie verstanden werden kann. Sie handeln entlang
einer radikalen Interpretation der islamischen Vorstellung von Da´wa, dem Missionieren zum Islam.
In diesem Kontext muss auch die Koranverteilaktion in Deutschland im Frühjahr 2012 interpretiert
werden.
Die Tatsache, dass nur ein Teil der Salafiyya-Anhänger Gewalt als legitimes Mittel für diese
Transformation betrachtet, macht diese Gruppen nicht minder gefährlich. Sie agieren entlang einer
polarisierenden Mischung aus traditionellen Vorstellungen und politischen Ambitionen. Die der
Salafiyya innewohnenden Weltanschauungen liefern das notwendige Rüstzeug für militante Jihadisten.
Anders formuliert, nicht jeder Salafiyya-Anhänger ist ein Gewalttäter, allerdings legitimiert die Salafiyya
und fordert in letzter Konsequenz den gewaltsamen Jihad. Von den Denkern der Bewegung werden
so Mission und militanter Kampf als zwei Seiten einer Medaille, als Jihad, gelehrt. Dabei profitiert die
Gruppe – ob kampforientiert oder missionarisch – von mitunter legalen Strukturen, die sie in
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Deutschland unterhält.
Aufgrund ihrer eindeutigen Demokratiefeindlichkeit und der von ihnen angestrebten Überwindung der
Verfassung werden salafistische Bestrebungen in Deutschland von den Sicherheitsbehörden als
ernstzunehmende Bedrohung eingestuft und entsprechend beobachtet.
Salafismus in Deutschland - eine Jugendprotestbewegung
Als transnationale religiöse Bewegung entfaltet sich die Salafiyya in Deutschland innerhalb der
muslimischen Diaspora-Community und entwickelt sich zu einer beachtlichen Größe.
Nicht zuletzt seit dem 11. September 2001 tauchen vor allem muslimische Jugendliche immer wieder
als Problem in deutschen Debatten auf. Die Integrationsdebatte verengte sich auf den Islam, der
Diskurs wurde in Richtung Sicherheitspoltik gewendet. Durch den salafistischen Terror weltweit
entstand gleichzeitig ein islamfeindliches Klima. Wilhelm Heitmeyer konstatiert in seiner Studie
"Deutsche Zustände" hierzu: "Islamfeindlichkeit ist konsensfähig, auch bei jenen, bei denen es bisher
nicht zu erwarten war."[3]
Die auf diese Weise verstärkten Identitätskrisen bringen Jugendliche dazu, in eine "negative Identität"
[4] zu flüchten, so dass das Gefühl sozialer Minderwertigkeit zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht
wird. Merkmal der negativen Identität ist das fehlende Vertrauen in die Umgebung. Negative Identitäten
sind sozial unerwünschte oder vom Individuum als Abweichung von der Norm bewertete
Verhaltensmuster. Negative Identität äußert sich hauptsächlich als Trotz und Ablehnung gegen
gesellschaftliche Vorgaben. Auf dieser Ebene können keine normalen sozialen Beziehungen aufgebaut
werden, denn in einer instabilen und widerspruchsvollen Kultur ist es Menschen kaum möglich, eine
stabile Persönlichkeit zu bilden. Reflexartig reagiert ein Teil dieser Jugend darauf mit der Idealisierung
der eigenen islamischen Identität. Die Probleme werden auf den "verschwörerischen Westen" projiziert,
der den Islam bzw. das Fremde schlecht mache. Diese Reaktion ist Ausdruck einer tiefempfundenen
Ohnmacht, welche ihrerseits die Folge massiver gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ist. Im Ergebnis
lässt sie sich auf schwache soziale und familiäre Strukturen zurückführen. Eine solche ethisch labile
Zwischenwelt spüren junge Menschen besonders. Sie orientieren sich an kulturellen Bewegungen und
suchen nach neuen Formen der Identität und des sinnstiftenden Selbstverständnisses ihrer
Lebensverhältnisse. Eine Identitätskrise macht Jugendliche anfällig dafür, sich autoritären Gruppen
und Bewegungen anzuschließen, die ihnen feste Normen und Werte vorschreiben. Dies erklärt unter
anderem die Tatsache, dass viele junge Menschen in salafistischen Gruppen aktiv sind.
Salafistische Gruppen vermitteln diesen jungen Menschen eine positiv konnotierte Gruppenidentität
und das Gefühl, ihnen aus ihrer Krise herauszuhelfen. Dabei ist immer zu bedenken, dass kollektive
Identitäten strategische soziale Konstruktionen[5] sind, die sich durch eine enge Verflechtung von
Ideen, Weltanschauungen, Religionen und Ideologien sowie soziokulturellen Werten konstituieren.
Die Interaktionen innerhalb der Salafiyya-Gruppe bewirken, ähnlich wie in anderen
Gruppenbildungsprozessen, dass über einen längeren Zeitraum hinweg Rollenmuster,
Interaktionsketten und Gruppenstrukturen entstehen und bestimmte Gruppenziele, Werte und
schließlich ein Kollektivbewusstsein entwickelt werden, nach dem die Mitglieder ihr Verhalten
ausrichten. Die Entstehung des Zusammengehörigkeitsgefühls einer Gruppe hat automatisch zur
Folge, dass sie zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen "uns" und den anderen, zwischen
"wir" und "ihr" unterscheidet. Das bedeutet, dass in dem Moment, wo sich eine Gruppe gebildet hat,
deren Angehörige sich naturgemäß von anderen Menschen abgrenzen, welche nicht zu dieser Gruppe
gehören. Dies wäre nicht besonders problematisch, wenn der Diskurs der Salafiyya in Deutschland
nicht derart polarisierend und hasserfüllt wäre. Dieser Hass nährt sich aus einer salafistischen
Weltanschauung, die totalitäre Kategorien vorgibt. Die dualistische Weltsicht und die fehlende Fähigkeit
zur Reflexion sind zentrale Eigenschaften der Salafiyya. Der von ihren Anhängern gepflegte Hass auf
das Fremde ist eine fanatische Überkompensation, also eine psychologische Bewältigungsstrategie,
die auf persönlichem Scheitern und empfundener Benachteiligung beruhen.[6]
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Die Diskussion über die Bildung von Identität und die angebotene salafistische Weltanschauung als
Alternativprojekt innerhalb der islamischen Jugendszene[7] ist daher von besonderer Bedeutung für
die demokratische Grundordnung und mit der Debatte über Neonazismus vergleichbar. Die
Durchsetzung einer solchen negativen Defensividentität, wie wir sie im salafistischen Diskurs
beobachten können, radikalisiert junge Menschen und gefährdet den gesellschaftlichen Frieden.
Wichtige Vertreter der Salafiyya in Deutschland wie Pierre Vogel, Reda Seyam oder Hassan Dabbagh
profitieren davon, sie pflegen und katalysieren zugleich diese Fehlentwicklung.
Die Salafiyya in Deutschland - Diskurs und Strukturen
Die Prediger der Salafiyya in Deutschland inszenieren stets die eigene Biographie, um zu belegen,
dass die salafistische Weltanschauung den richtigen Weg im wahren Glauben darstellt. So beschreibt
der ehemalige Rapper Deso Dogg[8] sein Leben als erfolgreicher Rapper in der Zeit vor seiner
Konversion als "leer", "ohne Sinn". Ähnlich argumentieren Reda Seyam und Pierre Vogel.[9] Mit der
Konversion und vor allem der Entdeckung des "wahren Islam" sei ihr Leben erst lebenswert geworden,
sie hätten ihren Frieden und ihr Heil gefunden und wollten diese Erfahrung nun weitergeben.
Im Weiteren ist der salafistische Diskurs in Deutschland von jugendrelevanten Themen geprägt.
Insbesondere identitätsrelevante Themen, die junge Menschen mit islamischen Migrationshintergrund
betreffen, sind Gegenstand von Predigten und Seminaren. Hier werden der Islam und die religiösen
Pflichten der Muslime, die aus der Perspektive der Salafisten oft Gegenstand öffentlicher Kritik sind,
verteidigt. Politische Ambitionen der Salafiyya spielen dabei nur am Rande eine Rolle.
Salafistische Gruppierungen verbinden reale Erfahrungen, die Jugendliche mit Diskriminierungen und
Islamfeindlichkeit machen, mit diversen internationalen Konflikten wie den Kriegen im Irak und
Afghanistan oder dem Nahostkonflikt. Zentral wird die islamische Erweckung als Chance für
muslimische, aber auch für am Islam interessierte Jugendliche propagiert. Die Salafiyya identifiziert
sich mit den Belangen junger Menschen, die sich gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen und gibt
ihnen eine Proteststimme.
Ein wichtiger Bestandteil des salafistischen Diskurses bildet das äußere Erscheinungsbild seiner
Mitglieder. Die Salafisten wollen sich damit bewusst von den Ungläubigen, aber auch von anderen
Muslimen abheben. Während für Frauen die Vollverschleierung vorgesehen ist, tragen die Männer
lange Bärte, wobei ihr Oberlippenbart gestutzt wird und lange Kleider, die oberhalb des Knöchels enden.
Unter der Formel al wala´wal bara/ Freundschaft und Meidung wird ein Grundsatz gepredigt, wonach
es gelte, sich von Nichtsalafisten fernzuhalten und die Nähe zu Salafisten zu suchen. Der
freundschaftliche Umgang mit Nicht-Muslimen ist nur dann zulässig, wenn dadurch die entsprechenden
Personen zum Islam bekehrt werden sollen. Anderseits sei es die Pflicht eines "wahren Gläubigen",
Andersgläubige zu hassen.[10] Dadurch wird der innere Zusammenhalt salafistischer Gruppierungen
gestärkt, die ihrerseits wie religiöse Sekten funktionieren.
Die Anhänger der Salafiyya in Deutschland pflegen einen regelrechten Personenkult um wenige
Personen, was eigentlich nach salafistischer Deutung unislamisch ist. Diese Personen pflegen
untereinander eine flache Hierarchie und unterhalten eine enge Beziehung, die in erster Linie durch
sogenannte Islamseminare gepflegt wird. Die Islamseminare wiederum sind die wichtigste salafistische
Institution der deutschen Salafiyya-Bewegung, wenn auch nur informell. Sonst lassen sich nur wenige
formale Strukturen finden. Die salafistische Szene zeichnet sich durch dynamische Netzwerkbildungen
und Personenzusammenschlüsse aus, die auf Prediger-Jünger-Beziehungen basieren. Die
prominentesten Träger dieser Netzwerke sind Muhamed Ciftci, Pierre Vogel, Hassan Dabbagh, Reda
Seyam, Ibrahim Abou-Nagie und Abu Dujana. Diese nutzen neben den oben genannten
Islamseminaren das Internet in allen möglichen Formaten, um ihre Botschaft auszubreiten. Dabei
scheint es den Protagonisten besonders wichtig zu sein, die Friedfertigkeit ihrer Mission zu betonen.
Jedoch rezipieren sie die Ideen derselben Autoritäten und Vordenker, auf die sich jihadistische
Salafisten beziehen. Die angestrebten politischen und gesellschaftlichen Ziele sind gleich. Daher ist
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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es kaum verwunderlich, dass alle Kämpfer, die aus Deutschland in den Jihad gezogen sind, Jünger
oder zumindest Besucher der Islamseminare waren.
Anhänger der Salafiyya prangern die "westliche" Lebensart als zutiefst dekadent an und möchten sich
vor ihren gesellschaftlichen Einflüssen schützen. Dabei vermitteln die Protagonisten der Salafiyya in
Deutschland eine exklusive göttliche Wahrheit. Ihre strikte Einhaltung bietet einen Ausweg aus dieser
"verdorbenen" Gesellschaft. Physisch lebt man in Deutschland, mental jedoch wird die eigene erhabene
Gemeinschaft der "wahren Gläubigen" zelebriert. Jede Handlung und jede Aussage des salafistischen
Diskurses wird entsprechend mit religiösen Formeln ummantelt und als göttlicher Wille propagiert.
Gott ist ihr Verbündeter, seine Allmacht rechtfertigt ihre Handlungen, die wiederum die himmlische
Vorsehung vom Sieg des Islam greifbar nah machen. Die Salafiyya ist somit die Einladung Gottes ins
Paradies. Ein Zustand des vollkommenen Glaubens, in dem Kompromisse nicht denkbar sind. Diese
Einladung, so die Vorstellung der Salafisten, ist allen Menschen durch Da´wa/Mission zugänglich zu
machen. Die Nichtannahme der Einladung gilt als Aggression gegen Gott. Diese Aggression rechtfertigt
in den Augen der Salafisten alle Formen der Abwehr - auch die Militanten.
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de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Fußnoten
1.
Vgl. Ali-Jum´a, Mohammad (2010): Der Begriff und das Problem seiner Umsetzung (arabisch), 2.
Auflage, Beirut.
2. Vgl. Dallal, Ahmad (2000): Appropriating the Past: Twentieth-Century Reconstruction of PreModern Islamic Thought, in: Islamic Law and Society 7, no. 1 (Leiden, 2000): 347.
3. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2010): Deutsche Zustände: Folge 9. Berlin, S. 69.
4. Foroutan, Naika / Schäfer, Isabel (2009): Hybride Identitäten – muslimische Migrantinnen und
Migranten in Deutschland und Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr 5, 2009, S. 12f.
5. Finnemore, Martha / Kathryn Sikkink: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 1998 52: Nr. 4, S. 887-917.
6. Hole, G.: Fanatismus. Der Drang zum Extrem und seine psychischen Wurzeln, Gießen 2004, S. 26.
7. Cavuldak, Ahmet (2011): Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus, in
Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen & Argumente, Ausgabe 97 Oktober 2011, Berlin. Darin
werden die Debatte über die Vielfalt innerhalb der islamischen Jugendszenen und die Bedeutung
dieser Vielfalt im Identitätsbildungsprozess muslimischer Jugendlicher deutlich.
8. Bürgerlicher Name Denis Mamadou Cuspert, ehemaliger "Gangsta-Rapper" (daher heute auch
"Ex-Deso Dogg"), der für gewalttätige und sexistische Texte bekannt ist. Ende 2010 gab das Ende
seiner Musikkarierre bekannt, da diese nicht länger mit seinen salafistischen Ansichten vereinbar
seien. Seit dem ist er als islamischer Prediger unter dem Namen Abou Maleeq aktiv. Insbesondere
seine Biographie gilt als Positivbeispiel der Islamisten, da sein Leben zuvor von Gewalt, Drogen
und Gefängnisaufenthalten geprägt war.
9. Auf seiner Homepage www.pierrevogel.de wendet sich Vogel mit einem Themenreiter gezielt an
Nichtmuslime, denen er in mehreren Videobotschaften genau von diesen Erfahrungen berichtet
und ihnen den Glauben insbesondere durch Aufzeigen der aktuellen schlechten Lebensweisen
ohne den islamischen Glauben näher bringen will, vgl. www.pierrevogel.co/index.php?option=
com_hwdvideoshare&task=viewcategory&Itemid=63&cat_id=24.
10. Der in Deutschland von vielen Salafisten gelesene Salih ibn Fawzan ibn 'Abdullah al-Fawzan ist
Mitglied des saudischen Komitees für Rechtfragen vertritt diese Position, die im salafistischen
Diskurs große Akzeptanz findet.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Islamistische Bewegungen im Arabischen Frühling
Von Peter Philipp
5.9.2011
Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche
Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung,
dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und
Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.
Es waren nicht die Islamisten, die in Ägypten und Tunesien die Despoten stürzten. Werden sie
dennoch die Zukunft dieser Länder beeinflussen können? Und wie sieht es in anderen Teilen
der arabischen Welt aus?
Die im Frühjahr gestürzten Herrscher Tunesiens und Ägyptens, Zine el-Abidine Ben Ali und Husni
Mubarak, hatten es während ihrer jahrzehntelangen Herrschaft immer wieder meisterlich verstanden,
sich dem Westen als verlässliche Partner im Kampf gegen radikale islamistische Gruppierungen und
Bewegungen anzudienen. In beiden Ländern wurden Islamisten unterdrückt und verfolgt, ins Gefängnis
geworfen oder ins Exil getrieben. Und dennoch waren nicht sie es, die den Protest der Massen auslösten
oder anführten. Nicht sie können den Sturz der beiden Despoten für sich reklamieren und es ist noch
offen, in welchem Umfang die Islamisten in der Lage sein werden, die Zukunft Tunesiens und Ägyptens
aktiv mitzugestalten und zu beeinflussen.
In beiden Ländern sind die Islamisten von den Ereignissen ebenso überrascht und überrollt worden
wie die Regime Ben Alis und Mubaraks. Während die Staatschefs der Meinung waren, die Dinge fest
im Griff zu haben, hatten die Islamisten sich offenbar längst damit abgefunden, keine oder nur eine
drittrangige politische Rolle zu spielen. Je repressiver und korrupter Staatsführung und Staatsapparat
wurden, desto größer wurde zwar die Anhängerschaft der – allgemein als korrekt und hilfsbereit
betrachteten – Islamisten der "Nahda" ("Erwachen") Partei in Tunesien oder der Muslimbruderschaft
in Ägypten. Beide schienen sich aber weitgehend damit abgefunden zu haben, dass sie auf absehbare
Zeit keine Chance haben würden, an die Macht zu kommen oder auch nur an ihr teilzuhaben.
Es begann alles schon lange vor dem 11. September, der für den Westen zum Auftakte des Konflikts
mit radikalen Muslimen geworden ist. Es begann vielmehr mit dem Einmarsch der Sowjets in
Afghanistan 1979. Unterstützt von den USA und von konservativen arabischen Staaten (besonders
Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten) zogen junge Araber in den Krieg, um
Afghanistan gegen die "Ungläubigen" zu verteidigen. Wer noch nicht als Islamist an den Hindukusch
gezogen war, der kehrte als solcher in seine Heimat zurück – nachdem die Sowjets 1989 Afghanistan
verlassen hatten.
Die Heimat bot den Rückkehrern wenig. Keine Arbeit, vor allem aber keine Freiheit. Ben Alis
"Schlüsselerlebnis" dürften die Wahlen im Nachbarland Algerien 1991 und ihre Folgen gewesen sein:
Die islamistische "FIS" gewann diese Wahlen überraschend, die dann aber prompt vom Militär – der
bis heute eigentlichen Macht im Land – annulliert wurden. Ein blutiger Bürgerkrieg brach aus, der nie
offiziell beendet wurde und bis zu 150.000 Menschen das Leben kostete.
Der ehemalige Geheimdienstoffizier Ben Ali (der unter anderem bei der CIA in den USA ausgebildet
worden war), nahm Algerien als warnendes Beispiel und begann, systematisch die Opposition
auszuschalten. Vor allem die "Nahda", deren Führer, Raschid Ghannouchi, ins britische Exil ging und
erst am 30. Januar 2011 zurückkehrte.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Auch Ägypten litt zunächst unter den Gewalttaten der Afghanistan-Heimkehrer und ihrer
Gesinnungsgenossen, auf deren Konto über die Jahre zahlreiche Terrorakte gingen wie der auf eine
Touristengruppe in Luxor 1997, bei dem 68 Menschen umkamen. Die Sicherheitskräfte gingen massiv
gegen Islamisten vor und schlossen dabei auch die ideologischen Ziehväter der Bewegung mit ein:
Die "Muslimbrüder" wurden auf Dauer vom politischen Prozess ausgeschlossen und konnten sich
glücklich schätzen, wenn "unabhängige" Kandidaten ihrer Couleur gewählt wurden – dann aber ohne
jeden Einfluss blieben.
In Tunesien wie auch in Ägypten haben "Nahda" und "Muslimbrüder" inzwischen verstanden, dass die
von anderen betriebene Revolution des "Arabischen Frühlings" ihre vielleicht letzte Chance ist, politisch
an Einfluss zu gewinnen. Sie haben offenbar auch verstanden, dass radikale Forderungen der
Vergangenheit nicht mehr in die heutige Zeit passen. So spricht man nicht mehr davon, die seit Mitte
des 20. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten abzuschaffen und einen arabisch-muslimischen
Groß-Staat anzustreben, sondern man beteiligt sich am Demokratisierungsprozess: Die Muslimbrüder
stimmten dem Referendum zur Verfassung zu, sie haben eine eigene Partei ("Freiheit und
Gerechtigkeit") gegründet und wollen mit dieser bei den Wahlen antreten. So, wie die "Nahda" ebenfalls
bei den Wahlen im Herbst kandidieren will. Was die politisch-ideologische Ausrichtung beider Gruppen
betrifft, so dürfte diese sich eher am Vorbild von Erdogans AKP in der Türkei orientieren. Man zeigt
sich – bisher zumindest – sogar noch bescheidener: Beide betonen, im Grunde nur an einer
"Machtbeteiligung" interessiert zu sein und auch keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen zu
wollen.
In anderen Teilen der arabischen Welt spielen religiös motivierte und radikale islamistische Gruppen
zwar auch eine Rolle, in keinem dieser Länder sind die Entwicklungen aber so weit vorangeschritten
wie in Tunesien und Ägypten. Und wenn Prognosen für diese beiden Länder schon schwer genug
sind, dann sind sie im Fall der anderen nahezu unmöglich: In Libyen gehören "Muslimbrüder" zu den
Rebellen und eine islamistische Gruppe soll verantwortlich sein für die Ermordung des übergelaufenen
ehemaligen Innenministers Younes, über eine künftige Machtverteilung ist aber jede Spekulation zu
früh.
In Jordanien und in Marokko gehören islamistische Gruppen mit zur Protestbewegung, in beiden Fällen
aber wird das Königshaus dabei weitgehend von der Kritik ausgespart. Anders in Bahrain: Dort geht
der Protest von einer schiitischen Mehrheit aus und das sunnitische Königshaus fühlt sich dadurch
bedroht. Was wiederum sunnitische Radikale auf den Plan ruft, die die Schiiten als Gottlose oder
Abtrünnige verunglimpfen sowie als Werkzeug des Iran. Ein explosives Gemisch von Ressentiments
und Gefühlen, das nur mit Mühe unter Kontrolle gehalten wird.
In Syrien allerdings ist dieser Sprengstoff gerade dabei, sich zu entladen, wenngleich wieder unter
umgekehrten Vorzeichen: Hier ist es die schiitisch-alawitische Minderheit unter Führung des AssadClans, die – obwohl nur knapp 10 % der Bevölkerung – nicht von der Macht lassen will. In der syrischen
Geschichte war es wiederholt zu – meist lokalen – Machtkämpfen zwischen Alawiten und der
sunnitischen Mehrheit gekommen, unvergessen ist vielen aber: Hafez el Assad, der Vater des heutigen
Präsidenten Bashar, hatte 1982 in der Stadt Hama ein Blutbad unter der dortigen Bevölkerung
angerichtet, die sich angeblich an einem Aufstand der Muslimbrüder beteiligt hatte. Bis zu 30 000 Tote
soll dieses Massaker gefordert haben. Die neuen Kämpfe sind noch weit davon entfernt. Aber es deutet
sich immer klarer ab, dass Syrien unaufhaltsam auf ein Chaos zusteuert, in dem nicht mehr
Bürgerprotest und staatliche Repression im Vordergrund stehen, sondern religiös verbrämter
Radikalismus. Auf beiden Seiten.
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Die Rolle Irans als Unterstützer islamistischer
Gruppen
Von Peter Philipp
5.9.2011
Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche
Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung,
dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und
Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.
Seit Jahren sind die islamistischen Gruppen Hamas und Hisbollah die wichtigsten Verbündeten
des Iran im Nahen Osten. Beide sollen dem Gottesstaat helfen, seinen Einfluss in der Region
zu vergrößern. Mit Erfolg?
In Ägypten herrschte noch der inzwischen gestürzte Husni Mubarak und Khaled Mashal, Vorsitzender
des Politbüros der palästinensisch-islamistischen "Hamas", war gar nicht gut auf diesen zu sprechen:
Zu Besuch in Teheran schimpfte er im Dezember 2009 in einer Moschee: Es sei doch eine Schande,
dass es (arabische) Staaten gebe, die von den USA Hilfe und Unterstützung bekommen oder die mit
Israel in Sicherheitsfragen kooperieren. Es sei die Pflicht der Muslime, zusammenzuarbeiten und es
sei unnatürlich, wenn ein arabisches oder islamisches Land auf der Seite Israels stehe. Was den Iran
betreffe, so stehe dieser klar auf Seiten der Palästinenser, von Gaza und der Hamas. "Einige Leute
werfen uns vor, dass wir vom Iran unterstützt werden. Es ist uns eine Ehre, die Unterstützung des Iran
zu bekommen..."
So offen und verblümt ist selten zu hören gewesen, dass der Iran "Hamas" unterstützt. Khaled Mashal,
der seit Jahren in Damaskus residiert und eigentlicher Führer der "Hamas" ist, sprach zwar nicht von
Waffen, Munition und anderer Technologie. Dass die von ihm angesprochene "Unterstützung" sich
nicht auf schöne Worte der Solidarität begrenzt, gilt vielen aber seit langem als sicher.
In erster Linie natürlich Israelis und Amerikanern, inzwischen auch Türken: Wiederholt wurden bereits
Waffen abgefangen, die sich auf dem Weg in den Gazastreifen befanden: Einmal auf dem östlichen
Mittelmeer, ein anderes Mal auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel, die an den Gazastreifen angrenzt.
Israelische Flugzeuge haben auch schon Waffenschmuggler im Sudan bombardiert, die angeblich
iranische Waffen von einem sudanesischen Hafen nach Ägypten und dann in den Gazastreifen
transportieren wollten.
Die Türkei wiederum hat einmal ein iranisches Flugzeug zur Landung gezwungen und iranische LKWs
beschlagnahmt, mit denen unerlaubt – weil nicht deklariert - Waffen transportiert wurden. Es ist unklar,
für wen diese Waffen bestimmt waren, aber der Empfänger war mit Sicherheit kein Staat, sondern
eine dem Iran nahestehende Organisation. Wenn nicht die palästinensische "Hamas", dann die
libanesische "Hisbollah".
Beide Organisationen sind seit Jahren die wichtigsten Verbündeten des Iran im Nahen Osten. Obwohl
sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Hamas ist ein Zweig der sunnitischen Muslimbruderschaft,
die ihrerseits eher ablehnend und feindselig dem Iran und den Schiiten gegenübersteht. Der Zweck
aber heiligt die Mittel: Hamas war in den letzten Jahren immer mehr von seinen traditionellen Freunden
auf der Arabischen Halbinsel abgeschnitten und Ägypten behinderte unter Präsident Mubarak auch
mehr oder weniger entschlossen den Schmuggel von Waffen und Munition in den Hamas-beherrschten
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
123
Gazastreifen.
Anders bei Hisbollah: Seine schiitische Bevölkerungsmehrheit machte den Libanon schon bald nach
der Revolution 1979 attraktiv für Teheran. Der Traum, dass der Libanon eine islamische Republik
nach iranischem Vorbild werden könnte, war in Teheran aber bereits dem Trost gewichen, dass man
in der Hisbollah doch wenigstens einen treuen Verbündeten direkt an der Grenze zum verhassten
Israel habe. Da begannen die Unruhen des "Arabischen Frühling": Die Teheraner Führung schöpfte
neue Hoffnung, dass nun doch die ganze Region dem politischen Islam zuwenden und damit die
Vorhersagen von Revolutionsführer Khomeini sich bewahrheiten werden.
Eine Fehleinschätzung, wie der Verlauf der Unruhen verdeutlichen sollte. Nicht nur, dass sich in
Nordafrika keine Machtübernahme durch die Islamisten abzeichnete: Von einigen pro-iranischen
Erklärungen abgesehen war dort wenig Interesse an einer Intensivierung der Beziehungen zu Teheran
zu spüren.
Und in Syrien geriet die bisherige iranische Strategie ganz besonders ins Wanken: Syrien ist das
einzige arabische Land, das seit Jahren mit dem Iran liiert ist. Der Grund hierfür ist die Isolation der
alawitischen Führungsminorität in Damaskus und das Interesse des Iran, Syrien als Durchgangsland
zur libanesischen Hisbollah zu nutzen. Mit dem Ausbruch der Unruhen, vor allem aber der heftigen
Reaktion der Regierung in Syrien geriet genau dies in Gefahr: Syrische Oppositionelle – wie der
ehemalige Außenminister und Vizepräsident Abdul Halim Khaddam – behaupten aus dem Exil, dass
der Iran und Hisbollah Damaskus offen bei der Niederschlagung der Proteste helfen. Selbst wenn es
dafür keine Beweise gibt, so steht doch fest, dass beide nur zu gut wissen, dass ein Sturz des Regimes
in Damaskus zu ihrem Nachteil wäre. Sollte es einen Machtwechsel in Damaskus geben, dann nur zu
einem sunnitisch beherrschten Regime, das die engen Beziehungen zu Teheran sicher nicht fortsetzen
würde. Schon allein deswegen nicht, weil es enger verbunden wäre mit Saudi-Arabien und anderen
arabischen Staaten am Persischen Golf – die sich bereits verärgert von Assad abgewandt haben und
deren Beziehungen zum Iran sich in den Monate des "Arabischen Frühling" rapide verschlechtert
haben.
Ein Grund für diese Verschlechterung sind die Entwicklungen in Bahrain: Der Iran unterstützt die dort
lebende schiitische Bevölkerungsmehrheit zwar in ihrer Forderung nach mehr Freiheit und
Bürgerrechten. Für ihren Vorwurf, der Iran betreibe die gezielte Übernahme des (einst zu Persien
gehörenden) Königreiches, sind Saudis und Emiratis aber jeden Beweis schuldig geblieben. Und
Teheran unterließ es vernünftigerweise, mit Kriegsschiffen vor die Küste Bahrains zu fahren, um die
Demonstranten dort wenigstens symbolisch zu unterstützen.
Der "Arabische Frühling" hat dem Iran deswegen nicht die zunächst erhofften Vorteile erbracht. Nicht
nur, weil die islamischen Gruppen dort - zunächst zumindest - nicht willens oder in der Lage waren,
nun die lange reklamierte Führungsrolle zu übernehmen. Sondern auch, weil der in den letzten Jahren
weithin überwunden geglaubte Zwist zwischen Sunniten und Schiiten über Konfliktpunkte wie Bahrain
und Syrien wieder ausgebrochen ist und dem Iran beim Versuch schadet, Einfluss auf den Gang der
Dinge zu nehmen.
Wenn es darum ging, Amerikanern und Israelis die Stirn zu bieten, dann konnte Teheran sich mit den
markigen Sprüchen seiner Führung durchaus die Anerkennung der arabischen Massen erwerben,
sobald aber der alte religiöse Streit zwischen Sunniten und Schiiten ins Spiel kommt, dann bricht das
alte Misstrauen und die alte Ablehnung der Araber gegenüber dem Iran wieder aus, die Mubaraks
Außenminister, Ahmad Abu El Gheit, einst zusammenfasste: Die Iran sei nun einmal kein arabisches
Land und er verfolge andere Ziele in der Region als die Araber.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Dschihadismus im Internet
Von Univ.-Prof. Dr. Rüdiger Lohlker
7.11.2011
Geb. am 7. Juli 1959, ist seit September 2003 Universitätsprofessor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Wien und leitet das Projekt Dschihadismus Online. Es untersucht Onlinepräsenzen der extremistischen
transnationalen Strömung des Dschihadismus dahingehend, welche Überzeugungsstrategien auf theologischer, visueller und
sprachlicher Ebene angewendet werden, um Anhänger zu motivieren und zu rekrutieren. http://www.univie.ac.at/jihadism/(http://
www.univie.ac.at/jihadism/)
Radikalisierung via Internet bis hin zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes: seit einigen Jahren
lassen sich solche Fälle immer wieder beobachten. Für die Verbreitung dschihadistischer
Inhalte ist mehr und mehr eine Subkultur verantwortlich, die nicht direkt in die
dschihadistischen Organisationen eingebunden ist.
Bereits in Afghanistan wurde von dschihadistischen Theoretikern wie Abu Mus'ab al-Suri über eine
Strategie zur Internetnutzung nachgedacht. Während vor dem 11. September 2001 nur eine geringe
Zahl dschihadistischer Internetpräsenzen zu finden war, blühten danach viele auf – in unterschiedlichen
Formen.
Doch im Laufe der Zeit hat sich ein Wandel vollzogen: Anfangs verfügten viele dschihadistische
Organisationen über eigene Internetpräsenzen. Mittlerweile sorgt eine Subkultur für die Verbreitung
dschihadistischer Positionen, die nicht direkt in die Organisationen eingebunden ist.
Vom Computer zum Kampf
Seit einigen Jahren lassen sich immer wieder Fälle beobachten, in denen eine Entwicklung zu verfolgen
ist von der Beschäftigung mit dschihadistischen Inhalten im Internet hin zur Aufnahme des bewaffneten
Kampfes. Das Muster liefert der 2004 in Großbritannien festgenommene Babar Ahmad, der seit 1997
eine Webseite mit Namen Azzam Publications unterhielt, die als Spendensammlungs- und
Rekrutierungsmedium diente. Durch Kreditkartenbetrug und Online-Geldwäsche konnte ein anderer
Online-Aktivist, der unter dem Namen "Irhabi 007" (Terrorist 007) auftrat, einige Millionen Dollar
sammeln.
Aber der Internet-Aktivismus führt auch direkt zu gewaltsamen Aktionen. 2011 sind mindestens drei
Fälle bekannt geworden, bei denen online aktive Dschihadisten beteiligt waren. Es gibt etliche Fälle
mehr, in denen gezeigt werden kann, dass das dschihadistische Internet als Rekrutierungsmedium
dienen kann.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
126
Internetmedien
Viele Jahre waren die zentralen Medien der dschihadistischen Subkultur diverse OnlineDiskussionsforen. Diese Foren waren häufig einem Zyklus von Schließung, Verlagerung auf andere
Server und Wiedereröffnung unterworfen. Etliche recht häufig benutzte Foren sind inzwischen offline.
Aktuell sind noch drei Foren, die in einer engeren Verbindung zum Kern von al-Qaida stehen, wirklich
aktiv. In diesen Foren werden Erklärungen, Texte, Videos, Audiodateien u.ä. publiziert und
ausgetauscht. Links führen zu externen Upload-Diensten. Auch technische Fragen, insbesondere der
Internetsicherheit, werden häufig angesprochen, oft auf etwas amateurhaften Niveau. Verschiedene
Internetinitiativen wie z. B. "Internet Haganah" arbeiten daran, dass solche Foren vom Netz genommen
werden.
Foren und andere Internetmedien dienen als eine Art virtueller Organisator, durch den dschihadistische
Aktivitäten angeleitet werden. Parallel dazu hat sich eine dschihadistische Internetsubkultur entwickelt,
die ihren eigenen Ritualen folgt – neuerdings bevorzugt im Web 2.0. So wurden in spanischsprachigen
Drohungen gegen diesjährige Osterprozessionen in Ceuta und Melilla immer auf eine Facebook-Seite
verlinkt. Diverse Attentäter wie der von Stockholm im Dezember 2010 waren intensiv über Facebook
vernetzt. Als Präsentationsplattform für Videos wird unter anderem YouTube genutzt. Zudem betreiben
dschihadistische Gruppen und Personen etliche Blogs; darunter gibt es allerdings auch viele tote
Seiten, die seit Jahren nicht mehr aktualisiert werden.
Daneben gibt es eigene Online-Magazine. Das Vorbild lieferten Zeitschriften der saudischen al-Qaida,
besonders die "Stimme des Dschihad", die auch Jahre nach der letzten Nummer noch online zu
erreichen ist. Ein großes mediales Interesse hat das englischsprachige Magazin "Inspire" erregt, in
erster Linie wegen der leichten sprachlichen Zugänglichkeit für Journalisten.
Sprachliche Diversität
Im Internet findet seit einiger Zeit eine Transformation der ethnisch/linguistischen Struktur im Hinblick
auf den dschihadistischen Diskurs statt. Waren zu Anfang des Online-Dschihad die arabischsprachigen
Internetpräsenzen dominant, gibt es mittlerweile auch sprachlich eine zunehmende Regionalisierung.
Es gibt inzwischen eine Vielzahl europäischsprachiger, turksprachiger, somalischer Webseiten und
Webpräsenzen in Urdu, Bahasa Indonesia u. a. m. Für den deutschsprachigen Raum war das an den
deutschsprachigen Videos und Onlinedokumenten der Globalen Islamischen Medienfront erkennbar.
Es gibt etliche weitere deutschsprachige Beispiele. Die besondere Rolle, die das Magazin "Inspire"
spielt, ist sicherlich zum Teil Ausdruck der mangelnden sprachlichen Kompetenz unter vielen Dschihadi
in Europa und Nordamerika, zum Teil aber auch dafür, dass die dschihadistische Subkultur ein globales
Phänomen geworden ist.
Infobox
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Anwar al-Awlaki († 30.09.2011)
Dschihadistischer Prediger und ehemaliger Imam in den USA. Er galt als einer der ideologischen Köpfe
der "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" im Jemen und war im Internet sehr aktiv. Al-Awlaki wendete
sich besonders an Muslime in den USA.
Abu Yahya al-Libi
Libyscher Herkunft. Er hat sich in den letzten Jahren zunehmend als ideologisch-theologischer Kopf
der Kerngruppe von al-Qaida präsentiert. Er soll in Mauretanien u.s. Islamisches Recht studiert haben.
Es gibt eine ganze Reihe von Videos mit seinen Erklärungen.
Abu Mus'ab al-Suri
Syrischer Herkunft. War zuerst in einer extremistischen Abspaltung der syrischen Muslimbrüder aktiv.
1980 musste er fliehen und ging nach Afghanistan, wo er als Trainer in Ausbildungslagern tätig war
und gegen die Rote Armee kämpfte. Er ging dann nach Europa, wo er sich hauptsächlich in Spanien
und Großbritannien aufhielt, bevor er nach Afghanistan zurückkehrte. Er ist ein produktiver Autor,
dessen 1600seitiger "Aufruf zum globalen islamischen Widerstand" besonders bekannt ist.
Propaganda
Ein wesentlicher Teil der dschihadistischen Internetpräsenzen dient der Propaganda. Dies geschieht
z.B. mit Videos, in denen Greueltaten gegen Muslime dokumentiert werden, um zum gewaltsamen
Kampf zu motivieren. Andere Videos zeigen Operationen von Mörserbeschuss feindlicher Stellungen
bis hin zu Selbstmordattentaten und Tötungen von Gefangenen. Die Videotestamente von
Selbstmordattentätern, ein im Libanon entstandenes Format, werden häufig verbreitet, auch weiterhin
die der Attentäter des 11. September.
Dazu kommen Aufnahmen, die das Leben in Ausbildungslagern und in sicheren Verstecken zeigen,
die zum Teil gezielt mit einer Art Lagerfeuerromantik spielen. All diese Videoformate dienen der
Mobilisierung von Gefühlen. Die sprachliche Globalisierung des Dschihadismus zeigt sich in einer
zunehmenden Untertitelung arabischsprachiger Videos in Urdu, Englisch etc. Unterlegt werden Videos
oft mit islamischen a cappella Gesängen, von denen die häufig recht heterogenen Videos
zusammengehalten werden.
Auch Audiodateien unterschiedlichsten Inhaltes werden weiterhin online verbreitet. Stärker
ideologisch-theologisch ausgerichtet sind Videobotschaften bekannter Sprecher von al-Qaida wie
Osama bin Laden, Ayman az-Zawahiri oder Abu Yahya al-Libi. Aber auch Sprecher, deren
Muttersprache nicht Arabisch ist, werden für spezielle Adressaten verwendet, so z.B. Adam Yahya,
alias "Azzam, der Amerikaner" für ein US-Publikum (jetzt mehr Anwar al-Awlaki) oder auch
verschiedene deutsche Sprecher in jüngerer Zeit. All dies ist Ausdruck der Diversifizierung und
Globalisierung der dschihadistischen Subkultur.
Neben den nicht zu unterschätzenden Videos sind Texte von großer Bedeutung. Es gibt ein Spektrum,
das von Erklärungen zu dschihadistischen Operationen, kurzen politischen Texten, längeren religiösen
Texten bis hin zu umfangreichen strategischen Studien mit mehreren hundert Seiten und Gedichten
reicht.Die dschihadistische Internetsubkultur zeichnet sich durch eine eigene Bildsprache aus, durch
die dschihadistische Internetpräsenzen auf einen Blick zu erkennen sind. Oft wird dabei auf
populärkulturelle Elemente zurückgegriffen.
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Virtuelles Trainingscamp
Schon recht früh wurde darüber nachgedacht, in welcher Form das Internet als Trainingsmedium
dienen kann. Inzwischen sind eine Vielzahl von waffenkundlichen Texten und Videos online. Es finden
sich auch Texte, die Fragen der militärischen Taktik behandeln, häufig Übersetzungen von
englischsprachigen Originalen. So werden u.a. technische Fragen wie die Nutzung von
Modellflugzeugen oder der Gebrauch von unsichtbarer Tinte besprochen. Der Bau von Bomben
verschiedenster Art ist Gegenstand zahlreicher Videos und illustrierter Texte. Das Niveau der
chemischen, biologischen und IT-bezogenen Publikationen ist allerdings oft nicht sehr hoch. Von einem
effektiv geführten elektronischen Dschihad kann daher momentan nicht gesprochen werden.
Verbreitung
Dschihadistische Inhalte werden mit den üblichen Mitteln des Internets verbreitet: Individuelle Nutzer
posten, re-posten, uploaden einen im Internet publizierten Inhalt je nach technischen Möglichkeiten.
Das kann das Posten von Links sein, von Texten oder Bildern auf Facebook-Profilen, das Gründen
von Facebook-Gruppen oder individuellen YouTube-Channels, Beteiligung an Foren, seien es
dschihadistische oder nicht, Bloggen u. v. a. m. Genutzt werden daneben andere Formen der
elektronischen Kommunikationen wie orivate Chat-Rooms, elektronische tote Briefkästen, aber auch
E-Mail. Die elektronischen Formen der Kommunikation werden von der Sorge der Dschihadis
beherrscht, dass Sicherheit und Anonymität nicht gewahrt werden können.
Probleme
Ein jüngeres dschihadistischer Text beklagt die PR-Probleme der Dschihadisten. Die erste Generation
habe dabei versagt, nicht gewaltbereite salafistische Muslime für ihre Sache zu gewinnen.
Dschihadisten müssten einfachen Leuten Videos mit Leiden der Muslime zeigen, um sie dazu zu
bringen, etwas dagegen zu tun. Salafistische Gläubige sollten nicht durch Streitigkeiten abgeschreckt
werden. Auch seien unnötige Grausamkeiten zu vermeiden – wie Videos von Köpfungen von
Gefangenen. Generell wird eine Kriegsführung angemahnt, die ethischer sein soll als die der Feinde
der Dschihadisten. Zudem werden das mangelnde religiöse Wissen der Dschihadisten beklagt, das
sie zum leichten Opfer nicht dschihadistischer Argumentation mache. Es gibt also einige Probleme
mit Online- und Offline-Strategien im dschihadistischen Lager.
Literatur
Lohlker (2009), Rüdiger, Dschihadismus. Materialien, Wien: facultas/wuv
Lohlker (2011), Rüdiger (Hg.), Studying Jihadism, Göttingen: Vienna University Press (i.Dr.)
Prucha (2010), Nico, Die Stimme des Dschihad, Hamburg: Kovacs
http://www.jihadica.com
http://www.online-jihad.com
http://www.internet-haganah.com
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Islamistische Gruppen in Deutschland
Darstellung und Einschätzung zu Bedeutung und Gefahrenpotential
Von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber
18.7.2011
Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten
Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und
Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).
Laut Verfassungsschutzbericht 2010 sind in Deutschland 37.470 Personen in 29 islamistischen
Gruppen organisiert. Es gibt gewaltgeneigte, vor allem aber legalistische Gruppen, die durch
Politik und Sozialarbeit Einfluss nehmen wollen. Ein Überblick.
Einleitung und Fragestellung
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 richtete sich das öffentliche Interesse auch in
Deutschland auf die islamistischen Bestrebungen im eigenen Land. Dabei konzentrierte man sich auf
die gewalttätige Dimension, ohne andere Erscheinungsformen des Islamismus in den muslimisch
geprägten Teilen der Gesellschaft näher zu untersuchen. Für die Islam- und Sozialwissenschaften
lässt sich diese Einschätzung durch das Fehlen einschlägiger Bücher und Studien belegen, sieht man
einmal von den wenigen Ausnahmen in diesem Bereich ab. Kontinuierlich und systematisch fand das
Agieren islamistischer Bestrebungen lediglich durch die Sicherheitsbehörden und hier wiederum die
Verfassungsschutzbehörden kritische Aufmerksamkeit. Letztere veröffentlichen über die ihnen
vorgeordneten Ministerien bzw. Senate jährlich Berichte, worin aktuelle Daten und Entwicklungen
präsentiert wurden. Sie dienen auch hier dazu, die Bedeutung und das Gefahrenpotential islamistischer
Organisationen in Deutschland darzustellen und einzuschätzen.
Islamismus – Definition und Typologie
"Islamismus" steht als Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Handlungen, die im
Name des Islam eine religiös begründete Gesellschafts- und Staatsordnung im erklärten Gegensatz
zu den Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates durchsetzen wollen. Dies
bedeutet die Aufhebung einer Trennung von Religion und Staat und die nationale oder weltweite
Etablierung eines islamischen Staates. Idealtypisch lassen sich einschlägige Organisationen über den
genutzten Handlungsstil folgenden Richtungen zuordnen: erstens den gewaltgeneigten und zweitens
den legalistischen Formen. Letztere können wiederum in Bestrebungen auf dem Feld der "Politik" mit
einschlägigen Parteien und dem Feld der "Sozialarbeit" mit entsprechenden Organisationen
unterschieden werden. Bei den gewaltgeneigten Gruppen lassen sich "regional" begrenzte und
"transnational" orientierte Strömungen, also auf Anschläge lediglich in ihren Herkunftsländern oder
auch in anderen Ländern ausgerichtete Tendenzen ausmachen.
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Entwicklung und Zusammensetzung des islamistischen Personenpotentials
Nach den Angaben der Verfassungsschutzbehörden bestehen gegenwärtig (Stand: Ende 2010) 29
bundesweit aktive islamistische Gruppen mit 37.470 Mitgliedern bzw. Anhängern, womit man es mit
einer leichten Steigung im Vergleich zum Vorjahr (2009: 36.270 Personen) zu tun hat. Demnach würde
bei einem Anteil von drei bis vier Millionen Muslimen in Deutschland um ein Prozent von ihnen derartigen
Organisationen angehören. Dies klingt zunächst einmal nach "wenig". Stellt man sich gleichwohl vor,
ein Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung würde im Links- oder Rechtsextremismus organisiert
sein, so hätte man es durchaus mit einer überaus bedeutenden politischen Kraft zu tun. Der Großteil
der erwähnten 37.470 Personen gehört legalistisch ausgerichteten Bestrebungen an. Darüber hinaus
ist er stark türkischen Ursprungs, was sich mit den hohen Anteilen von Muslimen aus der Türkei erklärt.
Der dortige Islamismus ist aufgrund seiner parteipolitischen Orientierung im Unterschied zum
arabischen Islamismus mehr legalistisch und weniger gewaltgeneigt ausgerichtet.
Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs": Entstehung und Ideologie
Die mit Abstand bedeutsamste islamistische Organisation diesen Typs ist die "Islamische Gemeinschaft
Milli Görüs" (IGMG), die als Ableger der "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei und deren
parteipolitischen Organisationen anzusehen ist. Deren Begründer Necmettin Erbakan (1926-2011)
wandte sich mit den Schlagworten "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung") und "Milli Görüs" ("Nationale
Sicht") gegen das kemalistisch-laizistisch geprägte politische System in der Türkei und strebte dessen
Überwindung zugunsten einer islamisch geprägten staatlichen Ordnung an. Dazu engagierte Erbakan
sich einerseits parteipolitisch in seinem Heimatland (zuletzt in der "Saadet Partisi" [SP] ["Partei der
Glückseligkeit"]) und forderte andererseits eine Islamisierung Europas durch muslimische
Einwanderung. Im letztgenannten Kontext kamen seine Anhänger auch nach Deutschland, wo sie sich
1985 in der "Avrupa Milli Görüs Teskilati" (AMGT) ("Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa") und
ab 1995 in der daraus hervorgegangenen IGMG organisierten.
Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs": Handlungen und Strukturen
Nicht Parteipolitik, sondern Sozialarbeit stand und steht im Zentrum ihrer Aktivitäten. Dazu dienen
weitverzweigte Strukturen: Neben den Organisationen auf Bundes-, Regional- und Ortsebene existiert
eine Reihe von zielgruppenorientierten Einrichtungen für Akademiker, Frauen, Jugendliche oder
Studenten. Hinzu kommen zahlreiche Bildungs- und Sozialeinrichtungen, die fachliche wie religiöse
Schulungen abhalten und Beratungs- wie Unterstützungsdienste bei Alltagsproblemen organisieren.
Den Unterhalt dieser Arbeit bestreitet die IGMG aus ihren erheblichen Finanzmitteln. Deren Einsatz
in der beschriebenen Form erfolgt nicht ohne politische Hintergedanken, geht es dabei doch um die
Integration und Politisierung der Anhänger und Mitglieder im beschriebenen Sinne. Die sozialen
Aktivitäten bewirken dabei häufig eine Abschottung gerade auch von jüngeren Muslimen gegenüber
der Mehrheitsgesellschaft, gelten doch deren tragende Prinzipien wie Individualität, Pluralismus und
Säkularität als Ausdruck eines unislamischen und verwerflichen Denkens.
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Kontroverse Einschätzungen der "Islamischen Gemeinschaft Milli
Görüs"
Bis Mitte der 1990er Jahre plädierte die IGMG offen für ein islamistisches Gesellschafts- und
Staatsverständnis: Es könne nur eine Partei Allahs und nicht mehrere Parteien geben. Herrschaft sei
göttlichen Ursprungs und nicht vom Volk legitimiert. Seit Mitte der 1990er Jahre lassen sich derart
scharfe Töne in den Erklärungen der IGMG nur noch selten ausmachen. Offiziell distanzierte man sich
von früheren antisemitischen Haltungen oder theokratischen Positionen. Ob dies für das Ergebnis
eines politischen Lernprozesses oder das Resultat strategischer Rücksichtnahmen steht, wird
unterschiedlich bewertet. Während eine apologetische Auffassung von einem "Postislamismus"
(Schiffauer) spricht, geht eine kritische Sicht vom Fortbestehen islamistischer Prägungen (Kandel)
aus. Angesichts des Fehlens einer selbstkritischen Auseinandersetzung der IGMG mit ihren
Grundpositionen spricht vieles noch für die letztgenannte Auffassung, ist ein wirklicher Bruch mit der
islamistischen "Mutterorganisation" in der Türkei doch nicht erkennbar.
Die "Muslimbruderschaft" und der "Islamischen Gemeinschaft in
Deutschland"
Bezogen auf die Anhängerzahl kann die "Muslimbruderschaft" mit der ihr nahestehenden "Islamischen
Gemeinschaft in Deutschland" (IGD) als zweitgrößte islamistische Bestrebung gelten, gehören ihr
doch um die 1.300 Muslime meist aus dem arabischen Raum an. Aus der "Muslimbruderschaft" ging
der Islamismus als politische Bewegung ab 1928 hervor. Im Laufe ihrer Existenz breiteten sich ähnliche
Gruppen zunächst im Nahen Osten, dann aber auch in Westeuropa aus. Bereits in den 1950er Jahren
entstanden in vielen Städten "Islamische Zentren", wovon das "Islamische Zentrum München" (IZM)
die in Deutschland bedeutsamste Einrichtung wurde. Über derartige Einrichtungen bildete sich durch
persönliche Verbindungen ein Netzwerk von Instituten, Moscheen und Verbänden. Mitunter treten in
ihnen Gast-Imane mit eindeutig antisemitischen und islamistischen Positionen auf. Solche und andere
Aktivitäten der IGD dienen der Politisierung von Muslimen, um einschlägige Auffassungen eine größere
Breitenwirkung zu ermöglichen.
Einfluss auf und in islamischen bzw. muslimischen Dachverbänden
Dafür ist es aus Sicht derartiger Organisationen auch wichtig, dass man sowohl innerhalb der
muslimischen Gemeinde als auch gegenüber der breiten Mehrheitsgesellschaft als Interessenvertreter
der Gläubigen wahrgenommen wird. Über personelle Präsenz und Verbindungen spielt die IGMG im
"Islamrat" und die "Muslimbruderschaft" im "Zentralrat der Muslime" eine wichtige Rolle. Zwar sind
beide Dachverbände weder bei den Anhängern des Islam in Deutschland mehrheitlich verankert noch
von ihnen demokratisch legitimiert. Gleichwohl treten sie angesichts des Fehlens liberaler
Organisationen zur Interessenvertretung für Muslime öffentlich als deren angebliche Repräsentanten
auf. Dadurch können die IGMG und die "Muslimbruderschaft" unter Berufung auf die Religionsfreiheit
für ihre eigenen politischen Interessen werben: Es geht dabei jeweils um eine angebliche Bewahrung
islamischer Identität, die aber in der Alltagspraxis in die Etablierung von "islamistischen Parallelwelten"
mit Vorgaben für die Kleidung bis zum Sozialverhalten münden würde.
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Aktivitäten der Anhänger der "Hamas" und der "Hizb Allah" in
Deutschland
Während Angehörige der vorgenannten beiden islamistischen Gruppen gegenwärtig Gewalt als
Handlungsstil sowohl bezogen auf Deutschland wie auf ihre Heimatländer ablehnen, gilt dies nicht für
die Anhänger der palästinensischen "Hamas" ("Harakat al-Muqawama al-Islamiya", "Islamische
Widerstandsbewegung") und der libanesischen "Hizb Allah" ("Partei Gottes"). Für die
Auseinandersetzung mit Israel treten Beide nicht nur für Gewalt, sondern auch für Selbstmordattentate
ein. Die 300 Anhänger der "Hamas" und die 900 Anhänger der "Hizb Allah" neigen aber in Deutschland
nicht zu einschlägigen Handlungen. Vielmehr wollen sie die "Mutterorganisationen" in ihren
Heimatländern finanziell und propagandistisch unterstützen. Hierzu gehören die Gewinnung neuer
Anhänger, die Sammlung von Spendengeldern oder die Teilnahme an Demonstrationen. Für Letzteres
steht etwa die Mobilisierung zum alljährlichen "al-Quds-Tag" ("Jerusalem Tag"), wo mit antisemitischen
und israelfeindlichen Parolen zur "Befreiung" Jerusalems aufgerufen wird.
Salafistische Bestrebungen in Deutschland mit unterschiedlichen
Handlungsstilen
Besondere Aufmerksamkeit fanden in letzter Zeit salafistische Bestrebungen in Deutschland, ein
keineswegs organisatorisch homogenes Phänomen. Die Bezeichnung "Salafismus" steht für eine
Interpretation des Islam, die sich in Glaube wie Lebensführung ausschließlich und rigoros an den
angeblichen Vorgaben der Frühzeit der Religion ausrichten will. Bei einem gewissen Teil der Salafisten
beschränkt sich diese Auffassung auf eine entsprechende Deutung des Islam ohne politisches
Engagement. Ein größerer Teil tritt für die Etablierung eines islamischen Staates ein, worin das Leben
der Menschen sich ganzheitlich an den angeblich gottgegebenen Normen auszurichten hätte. Dafür
werben etwa die Aktivisten des Vereins "Einladung zum Paradies" (EZP) oder das Umfeld der
Internetplattform "Die Wahre Religion" (DWR) durch Infostände, Interneteinstellungen, Kundgebungen
oder Seminare. Offiziell distanziert man sich von Gewaltanwendung und Terroristen, liefert aber mit
der propagierten Ideologie vielen Jihadisten eine politische und religiöse Legitimation.
Verbotene islamistische Organisationen "Hizb ut-Tahrir" und
"Kalifatsstaat"
Gegen einzelne islamistische Organisationen ergingen seit 2001 auch Betätigungsverbote, meist, weil
sich deren hetzerische Agitation gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Dabei handelt
es sich beispielsweise um den "Kalifatsstaat" (Hilafet Devieti"), eine frühere Abspaltung der IGMG, die
den gemäßigteren Kurs ihrer "Mutterorganisation" nicht mittragen wollte. 2001 und 2002 kam es zu
Vereinsverboten gegen insgesamt 36 Teilorganisationen des "Kalifatsstaates". Ebenfalls von solchem
staatlichen Vorgehen betroffen war 2003 die "Hizb ut-Tahrir" (HuT, "Partei der Befreiung"), die sich als
panislamisch ausgerichtete politische Partei definiert und einen weltweiten islamischen Staat unter
Führung eines Kalifen anstrebt. Begründet wurde das Verbot vom Bundesministerium des Innern u.
a. mit dem Verweis darauf, dass die HuT Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele befürwortet.
Obwohl die ehemaligen Mitglieder (750 des "Kalifatsstaats", 300 der HuT) sich öffentlich zurückhalten,
wirken viele Aktivisten weiterhin propagandistisch.
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Aktivitäten von Anhängern der al-Qaida in Deutschland
Im Unterschied zu den vorgenannten Gruppen geben sich Anhänger eines international operierenden
islamistischen Terrorismus aufgrund ihres Handlungsstils keine festeren Organisationsstrukturen.
Vielmehr hat man es mit lockeren Personenzusammenschlüssen im Sinne von Netzwerken zu tun.
Es kann sogar Einzeltäter ohne Gruppenkontext geben, üblicher sind aber eher eigenständige
Kleingruppen oder Zellenstrukturen mit einer Anbindung an islamistische Organisationen im Ausland.
Letzteres gilt etwa für die Anhänger von "al-Qaida" ("Die Basis") in Deutschland. Betrachtet man die
Festnahmen und Verurteilungen von deren Aktivisten, so konzentriert sich ihre Tätigkeit vor allem auf
die Anwerbung neuer Anhänger und die Unterstützung im finanziellen und logistischen Sinne. Im
erstgenannten Bereich geht es vor allem um die Rekrutierung von Personen, die in Ausbildungslagern
von "al-Qaida" im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ideologisch und militärisch zur Vorbereitung
potentieller Gewaltakte geschult werden.
Aktivitäten von
Deutschland
Anhängern
der
"Islamischen
Jihad-Union"
in
Besondere Bedeutung erlangten in den letzten Jahren Aktivitäten der "Islamischen Jihad-Union" (IJU)
in Deutschland. Die 2002 entstandene Gruppierung hatte sich mit ihren Forderungen zunächst auf die
Errichtung eines islamischen Staates in Usbekistan beschränkt, dann aber ihre Zielsetzung in Richtung
eines globalen "Jihad" ausgeweitet. Auch die vier Aktivisten der "Sauerland-Gruppe", die 2006 in
pakistanischen Lagern ausgebildet wurden und 2007 Sprengstoffanschläge größerer Intensität in
Deutschland planten, gehörten zur IJU. Für sie warben auch andere Islamisten in Deutschland, um
Mitglieder und Unterstützter zu gewinnen. In diesem Kontext spielen auch die "Deutschen Taliban
Mujahideen" eine Rolle: Hierbei handelt es sich um eine kleine Gruppe, die sich insbesondere aus
deutschen Konvertiten und türkischstämmigen Deutschen zusammensetzt. Zu ihren bekanntesten
Angehörigen zählte der Konvertit Eric Breininger, der in deren Internet-Einstellungen für den "Jihad
" warb und 2010 im Kampf mit pakistanischen Truppen getötet wurde.
Einschätzung des Gefahrenpotentials der gewaltgeneigten Islamisten
Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass rund 220 Personen mit DeutschlandBezug über einen terroristischen Hintergrund verfügen und seit Beginn der 1990er Jahre eine
einschlägige Ausbildung in Lagern im Grenzgebiet Afghanistan/Pakistan erhielten. Der damit
angesprochene Personenkreis stellt ein besonderes Sicherheitsrisiko dar, wurden dessen Angehörigen
doch für mögliche Anschläge geschult. Darüber hinaus entstanden in Deutschland und anderen
Ländern "Homegrown"-Netzwerke mit Aktivisten, die in den jeweiligen Ländern entweder als
Angehörige muslimischer Einwanderer aufwuchsen oder als Einheimische zum Islam mit islamistischer
Ausrichtung konvertierten. Solche Personen können sich hinsichtlich ihrer Bereitschaft zur
Gewaltanwendung relativ eigenständig radikalisieren, ohne unbedingt im Kontext jihadistisch
ausgerichteter Netzwerke aufgefallen zu sein. Exemplarisch dafür stehen die gescheiterten "KofferBomber" von Köln von 2006. Aus all diesen Personenkreisen kann es zu terroristischen Anschlägen
kommen.
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Einschätzung des Gefahrenpotentials der legalistischen Islamisten
Das Gefahrenpotential des legalistischen Islamismus muss demgegenüber auf einer ganz anderen
Ebene ausgemacht werden: Die damit gemeinten Gruppen und Organisationen sehen zumindest
gegenwärtig in der Gewaltanwendung keine akzeptable Handlungsform. Mitunter gingen islamistische
Terroristen in ihrer "politischen Biographie" anfänglich einen kurzen Weg in solchen Strukturen. Sie
mögen dabei bezüglich der Politisierung in Richtung des Islamismus, nicht aber hinsichtlich der Neigung
zur Gewaltanwendung eine Rolle gespielt haben. Das Gefahrenpotential besteht mehr in der
langfristigen Folgewirkung der von legalistischen Islamisten angestrebten Politisierung, die zu einer
Störung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und religiöser
Orientierung führen würde. Die islamistische Ausrichtung verhindert die Integration in die Gesellschaft
und lässt eine abgeschottete Gegen-Gegesellschaft entstehen. In ihr hätten sich individuelle Freiheiten
und Rechte der als einzig wahr geltenden Religion unterzuordnen.
Schlusswort und Zusammenfassung
Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive besteht hierin das größere Gefahrenpotential:
Anschläge von islamistischen Terroristen haben mitunter viele Menschen das Leben gekostet.
Gleichwohl beeinflussten derartige Handlungen nicht den Kern des sozialen Zusammenhalts. Finden
islamistische Positionen aber in Form von Einstellungen, Mentalitäten und Orientierungen immer
stärkeren Rückhalt unter der anwachsenden Minderheit der Muslime, so stünde damit ein
innergesellschaftlicher Konflikt mit hohen destruktiven Potentialen auf der Tagesordnung. Gegenüber
Ansprüchen und Segregation auf der einen Seite dürfte es zu Abwehrhaltungen und Ressentiments
auf der anderen Seite kommen. Eine derartige Auseinandersetzung würde den Bestand von
Kernprinzipien einer offenen Gesellschaft gefährden. Insofern bedarf es bei der Auseinandersetzung
mit dem Islamismus nicht nur der einseitigen Fixierung auf seine gewalttätige Dimension, sondern
auch der stärkeren Beachtung seiner gesellschaftlichen Wirkung.
Literatur
Bundesministerium des Innen (Hrsg.): Islamismus, Berlin 2003.
Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2011.
Clement, Rolf/Paul Elmar Jöris: Die Terroristen von nebenan. Gotteskrieger aus Deutschland, München
2010.
Kandel, Johannes: Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität, Freiburg 2011.
Pfahl-Traughber, Armin: Vom Aufbau von Parallelgesellschaften bis zur Durchführung von
Terroranschlägen. Das Gefahren- und Konfliktpotenzial des Islamismus in Deutschland, in:
Mathias Hildebrandt/Manfred Brocker (Hrsg.): Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und
Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005, S. 153-177.
Ramelsberger, Annette: Der deutsche Dschihad. Islamistische Terroristen planen den Anschlag, Berlin
2008.
Schiffauer, Werner: Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli
Görüs, Berlin 2010.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Al-Qaida
Von Guido Steinberg
20.9.2011
Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis
2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
Was als loser Zusammenschluss ohne genaue Ziele begann, entwickelte sich in den 1990er
Jahren zur gefährlichsten Terror-Organisation von Islamisten: al-Qaida.
Der Name al-Qaida (deutsch "die Basis") wurde erstmals gegen Ende des Afghanistankrieges 1988
verwendet. Ein prominenter saudi-arabischer Freiwilliger namens Osama Bin Laden (1957-2011)
plante damals, diejenigen arabischen jungen Männer, die am Kampf gegen die Sowjetunion
teilgenommen hatten, in einer neuen Organisation dieses Namens aufzufangen. Bin Laden hoffte so,
den "Heiligen Krieg" (Jihad) gegebenenfalls in anderen Ländern fortsetzen zu können.
Al-Qaida wurde im August 1988 gegründet, doch handelte es sich damals um einen losen
Zusammenschluss ohne genau definierte Ziele, so dass die Gruppe zunächst unbedeutend blieb. Als
Organisation in der Form, in der sie die Anschläge des 11. September 2001 in New York und Washington
ausführte, entstand al-Qaida erst Mitte der 1990er Jahre, als sich Bin Laden und seine Gefolgsleute
mit der ägyptischen Jihad-Organisation unter dem heutigen al-Qaida-Chef Aiman az-Zawahiri (geb.
1951) verbündeten. Seit 2001 spiegelt sich diese Vereinigung auch in ihrem neuen Namen "Qaida alJihad" wieder.
1. Eine saudi-arabisch-ägyptische Gründung
Die Gründer der al-Qaida, Osama Bin Laden und Aiman az-Zawahiri, kannten sich bereits seit Mitte
der 1980er Jahre, beschlossen aber erst 1995/96, eine gemeinsame Organisation zu gründen. Diese
setzte sich zunächst mehrheitlich aus Saudi-Arabern und Ägyptern zusammen.
Saudi-Araber hatten während des Afghanistankrieges eine verhältnismäßig große Zahl von Kämpfern
gestellt. Sie radikalisierten sich jedoch erst infolge des Zweiten Golfkrieges (1990/91). Auslösendes
Moment war die Präsenz nicht-muslimischer Truppen auf saudi-arabischem Territorium. Damals bildete
sich eine stark antiamerikanische islamistische Oppositionsbewegung, deren militanter Flügel von Bin
Laden angeführt wurde und der schließlich in der al-Qaida aufging. Bin Laden musste sein Heimatland
1991 verlassen und hielt sich bis 1996 im Sudan und anschließend in Afghanistan auf. Die
Entscheidung, den Kampf gegen die USA und das Regime der Familie Saud aufzunehmen, scheint
jedoch frühestens Ende 1993 gefallen zu sein, als die saudi-arabische Regierung Bin Laden nahe
stehende Oppositionelle verhaftete. Eine genauere Festlegung seiner Ziele und Strategien erfolgte
erst aufgrund des Bündnisses mit der ägyptischen Jihad-Gruppe.
Die ägyptischen Gruppierungen zielten schon seit den 1970er Jahren auf den Sturz ihrer eigenen
Regierung ab. Der erhöhte Verfolgungsdruck nach dem Attentat auf Präsident Anwar al-Sadat 1981
zwang viele von ihnen ins Exil nach Afghanistan und in den Sudan, von wo aus sie sich jedoch weiter
auf künftige Auseinandersetzungen in ihrem Heimatland vorbereiteten. Zu einem Umdenken führte
erst das Scheitern des Aufstandes in Ägypten zwischen 1992 und 1997. Ein Flügel der Organisation
unter der Führung von Zawahiri änderte seine Strategie: Statt ausschließlich gegen das Regime des
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Präsidenten Mubarak vorzugehen, sollten die militanten Islamisten die USA angreifen, um sie dazu
zu bewegen, ihre Unterstützung für Kairo aufzugeben. Nur dann würde sich gegebenenfalls die
Möglichkeit ergeben, die Macht in Ägypten zu übernehmen. Zawahiri wurde ab 1996 zum Vordenker
des Strategiewechsels vom "nahen Feind" (d.h. den Regimen der Heimatländer) gegen den "fernen
Feind" (d.h. die USA und den Westen).
Ab 1996/97 begannen Bin Laden und Zawahiri den Aufbau der gemeinsamen Organisation in
Afghanistan. Die Gelegenheit dazu bot ihnen der Aufstieg der Taliban, die weite Teile des Landes unter
ihre Kontrolle brachten und der Qaida erlaubten, ihr Hauptquartier und ihre Trainingslager auf
afghanischem Staatsgebiet einzurichten.
2. Autoritäre Führung und rudimentäre Organisation
al-Qaida war im Jahr 2001 keine homogene Organisation, sondern vor allem die Summe von
Einzelgruppierungen, die meist landsmannschaftlich organisiert waren und eine innere Homogenität
bewahrten, die Qaida als Gesamtorganisation fehlte. Die Ägypter waren eine dieser Einheiten; die
saudi-arabischen Gefolgsleute Usama Bin Ladens stellten eine weitere Landsmannschaft, Rekruten
aus Nordafrika stießen vor allem ab 1998 hinzu. Obwohl Qaida versuchte, die Differenzen zwischen
den einzelnen Nationalitäten abzubauen, blieb ihr Integrationsgrad niedrig, und die Zusammenarbeit
zwischen den Teilgruppen verlief keineswegs spannungsfrei. So kritisierten viele Mitglieder der alQaida noch bis 2010 die Dominanz der Ägypter in der Organisation.
Letztere spielten in der Führungsspitze von Qaida tatsächlich eine zentrale Rolle. Usama Bin Laden
war zwischen 1998 und 2011 der unbestrittene Führer der Qaida, doch sein Stellvertreter und spätere
Nachfolger Zawahiri nahm immer eine sehr prominente Position ein. Dem unmittelbaren Führungskreis
gehörte mit dem "Militärchef" Muhammad Atif (Abu Hafs al-Masri) bis zu dessen Tode 2001 ein weiterer
Ägypter an. Um diese drei Hauptfiguren, die die Organisation autoritär führten, bildete sich ein
informelles Beratungsgremium, genannt Schura(=Konsultations)-Rat, in dem der erweiterte
Führungszirkel der al-Qaida in Gestalt der Leiter einzelner "Fachausschüsse" vertreten war.
Bei diesen handelte es sich zunächst nur um die Zuständigkeitsbereiche führender Persönlichkeiten
der Organisation, weniger um fest gefügte Institutionen. Für die Leitung der "Fachausschüsse" und
der Trainingslager sowie für die Planung von terroristischen Operationen verfügte Qaida über eine
etwas größere Zahl von mittleren Führungskadern. Der prominenteste unter ihnen war der Kuwaiti
Khalid Shaikh Muhammad, der Chefplaner des 11. September. Das Fußvolk der Qaida bestand aus
wenigen tausend Rekruten aus der gesamten arabischen Welt. Nur in Ausnahmefällen schlossen sich
Nichtaraber der Organisation an.
3. Kampf gegen den Nahen und den Fernen Feind
Die Ideologie der Qaida ist eine eigentümliche Verbindung des revolutionären Denkens des Ägypters
Sayyid Qutbs (1906-1966) und seiner militanten Adepten im Ägypten der 1960er und 1970er Jahre
mit der Gedankenwelt der saudi-arabischen Wahhabiya. Ihre Ziele hat die al-Qaida bisher nicht genau
und umfassend definiert, vermutlich, um für möglichst viele Jihadisten weltweit attraktiv zu sein.
Entsprechend ihrer landsmannschaftlichen Struktur betreibt sie zunächst den Sturz der Regierungen
aller arabischen Länder – bis 2001 vor allem in Ägypten und Saudi-Arabien. Mit der Internationalisierung
ihrer Strategie ab 1996/97 beschlossen Bin Laden und Zawahiri zusätzlich, den gemeinsamen "fernen
Feind", die USA, anzugreifen, um die Amerikaner zum Rückzug aus Saudi-Arabien sowie zum
Einstellen ihrer Finanzhilfen an Ägypten zu zwingen und auf diese Weise die Regime ihrer Heimatländer
zu schwächen.
Seit 2001 propagiert die Organisation auch die Vernichtung Israels als ein wichtiges Ziel. In den
daraufhin "befreiten" Staaten der arabischen und islamischen Welt will die al-Qaida einen
übernationalen islamischen Staat begründen, der von einem Kalifen geführt werden soll. Darüber
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hinausgehende politische Ordnungsvorstellungen hat al-Qaida bisher noch nicht publik gemacht. Es
ist aufgrund der wahhabitischen Prägung vieler al-Qaida-Mitglieder allerdings davon auszugehen,
dass ihr das wahhabitische Saudi-Arabien im 18. Jahrhundert und möglicherweise auch der Staat der
Taliban in Afghanistan 1996-2001 als Modelle dienen. Kurzfristig ging es Qaida zwischen 2003 und
2006 insbesondere um das Ende der amerikanischen Besatzung des Irak und die Destabilisierung
des neuen irakischen Staates. Von dort plante sie eine Ausweitung des Jihad auf dessen unmittelbare
Nachbarstaaten und Ägypten. Seit 2006 konzentrierte sich al-Qaida in erster Linie auf den Kampf in
Afghanistan und Pakistan. In der arabischen Welt gelten heute (2011) neben dem Irak vor allem Algerien
und der Jemen als wichtige Einsatzgebiete der Organisation.
Über die "Befreiung" der arabischen und islamischen Welt hinaus zielt Qaida darauf ab, all diejenigen
Territorien zu erobern, in denen zwar Muslime leben, die gegenwärtig jedoch von Nichtmuslimen
beherrscht werden. Hierzu gehören neben Israel vor allem Tschetschenien, Kaschmir, Ost-Timor, die
südlichen Philippinen, Südthailand, Nordnigeria und einige weitere Länder. Bin Laden und Zawahiri
haben keine Grenzen der Expansion benannt. Dasselbe gilt für ihre Intentionen jenseits der islamischen
Welt. al-Qaida geht es um den Rückzug der USA nicht nur aus der arabischen und islamischen Welt,
sondern aus der Weltpolitik insgesamt. Es ist anzunehmen, dass sie auch nach Erreichen ihrer
unmittelbaren Ziele den Kampf gegen den Westen fortzusetzen plant.
4. Antiamerikanische Strategie und erweiterte Zielauswahl
Die Strategie der Qaida ist darauf ausgerichtet, durch spektakuläre terroristische Anschläge die USA
zum Rückzug aus der arabischen Welt zu bewegen. Sie beschränkt sich dabei ausdrücklich nicht auf
militärische Ziele, sondern hat im Februar 1998 offen erklärt, dass sie Militär und Zivilisten
gleichermaßen bekämpft. Dem ersten nachweislich der al-Qaida zuzuschreibenden Anschlag auf die
amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 folgten ein Attentat auf den
Zerstörer USS Cole im Hafen von Aden im Oktober 2000 und schließlich die Anschläge vom 11.
September 2001. Gleichzeitig (und wahrscheinlich auch schon vor 1998) förderte sie finanziell und
logistisch weitere Anschlagsplanungen, die von Gruppen und Einzelpersonen durchgeführt wurden,
die nicht zum Kernbereich der al-Qaida gehörten, ihr aber dennoch eng verbunden waren.
Nach 2001 erweiterte al-Qaida ihre Zielauswahl und griff vermehrt jüdische und israelische Ziele an.
Hierzu gehörten israelische Touristen in Kenia im November 2002 und eine Synagoge in Istanbul im
November 2003. Auch in Europa wurde al-Qaida aktiv. Nach der Besetzung des Irak durch
amerikanische und britische Truppen im Frühjahr 2003 bemühte sich die al-Qaida-Führung, junge
Muslime weltweit zu terroristischen Anschlägen gegen diejenigen Staaten zu bewegen, die Truppen
im Irak stationiert haben. Eine Folge waren beispielsweise die Anschläge pakistanischstämmiger Briten
auf den öffentlichen Nahverkehr in London im Juli 2005. Parallel ging al-Qaida dazu über, in Kooperation
mit lokalen militanten Gruppierungen Anschläge auf westliche und einheimische Ziele in Pakistan zu
verüben.
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5. al-Qaida heute
Unter dem Druck weltweiter Bekämpfungsmaßnahmen verlor al-Qaidaab 2002 immer mehr den
Kontakt zu ihren Anhängern und wurde immer mehr zu einer ideologischen Leitstelle für Jihadisten
weltweit. Zwar bestand die Kernorganisation in Pakistan fort, doch verbreiteten ab 2003 ihre regionalen
Ableger in Saudi-Arabien, im Irak, in Algerien und im Jemen den Eindruck, dass es sich bei al-Qaida
tatsächlich um ein weltumspannendes Netzwerk handele. Bin Laden und seine Gefolgsleute profitierten
außerdem von einer wachsenden jihadistischen Szene in Europa, wo die Ideologie der al-Qaida heute
sehr viel weiter verbreitet ist als noch 2001.
Die al-Qaida-Zentrale befindet sich seit 2002 in den paschtunischen Stammesgebieten auf der
pakistanischen Seite der pakistanisch-afghanischen Grenzregion, in erster Linie in Nord Waziristan
unter dem Schutz des afghanischen Kriegsfürsten Jalaluddin Haqqani. Die Organisation in Pakistan
ist stark geschwächt, da sie seit 2008 mehr als zwei Dutzend wichtige Führungspersönlichkeiten
verloren hat, die infolge amerikanischer Drohnenangriffe getötet wurden. Außerdem liquidierten
amerikanische Spezialkräfte im Mai 2011 den charismatischen Anführer der al-Qaida, Osama Bin
Laden, in seinem Versteck im pakistanischen Abbottabad. Es ist fraglich, ob die Gruppe diese Verluste
tatsächlich kompensieren und mittelfristig fortbestehen kann.
Al-Qaida profitierte jedoch seit 2003 davon, dass sich ihr regionale Gruppierungen in der arabischen
Welt anschlossen und nach ihr benannten. Dies waren die 2003 gegründete "al-Qaida auf der
Arabischen Halbinsel" in Saudi-Arabien, "al-Qaida in Mesopotamien" im Irak (2004), "al-Qaida im
Islamischen Maghreb" in Algerien (2007) und wiederum "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" im
Jemen, die 2009 ihre gleichnamige Vorgängerorganisation in Saudi-Arabien ersetzte. Diese
Gruppierungen gewannen aufgrund der Schwäche der al-Qaida-Zentrale in Pakistan an eigenständiger
Bedeutung und profitierten dabei zusätzlich von den Unruhen in der arabischen Welt, die Anfang 2011
ausbrachen. Der Sturz der Regime in Ägypten, Libyen und Tunesien und ihre Schwächung in Syrien
und im Jemen verschafften den Jihadisten neue Operationsmöglichkeiten.
Da die al-Qaida-Führung seit dem Winter 2001/2002 weitgehend isoliert in Pakistan lebte, konnte sie
nur noch eingeschränkt mit anderen Teilen der Organisation kommunizieren. Stattdessen verbreiteten
Bin Laden und Zawahiri seit Oktober 2001 vermehrt Audio- und Videobotschaften über arabische
Fernsehsender und das Internet. So versuchten sie, ihre Anhänger weltweit anzuleiten: Neben
Propaganda verbreiteten sie ideologische, strategische und taktische Informationen (wie z.B. konkrete
Zielvorgaben), so dass sich die al-Qaida immer mehr von einer Organisation zu einer ideologischstrategischen Leitstelle entwickelte. Der Einfluss der al-Qaida-Ideologie weitete sich vor allem unter
jungen Muslimen in Europa aus, die nach 2001 vermehrt rekrutiert wurden und die mehrere Aufsehen
erregende Anschläge verübten. Seit 2007 reisten auch vermehrt Jihadisten aus Deutschland nach
Pakistan, um sich dort al-Qaida und ähnlich gesinnten Organisationen anzuschließen.
Literatur
Gerges, Fawaz A.: The Rise and Fall of Al-Qaeda, Oxford: University Press 2011
Musharbash, Yassin: Die neue Al-Qaida. Innenansichten eines lernenden Terrornetzwerks, Köln:
Kiepenheuer & Witsch 2006
Sageman, Marc: Leaderless Jihad. Terror Networks in the Twenty-First Century, Philadelphia:
University of Pennsylvania Press 2008
Steinberg, Guido: Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus,
München: Beck 2005
Wright, Lawrence: The looming Tower. Al-Qaeda and the road to 9/11, New York: Knopf 2006.
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Taliban
Von Guido Steinberg
20.9.2011
Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis
2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.
Die Taliban-Bewegung entstand in den frühen 1990er Jahren als Organisation paschtunischafghanischer Flüchtlinge in Pakistan. 1994 eroberte sie weite Teile Afghanistans. Seit ihrem
Sturz agieren die Islamisten von Pakistan aus.
Afghanische Islamisten gründeten die Taliban-Bewegung in den frühen 1990er Jahren. Ab Herbst 1994
eroberten sie weite Teile Afghanistans. Sie gewährten Jihadisten aus aller Welt Zuflucht, unter ihnen
Osama Bin Ladens al-Qaida und zahlreichen zentralasiatischen und pakistanischen Gruppierungen.
Als die Taliban sich auch nach den Anschlägen des 11. September 2001 weigerten, Bin Laden
auszuliefern, griffen die USA Afghanistan an und stürzten sie. Seit 2002 bekämpfen die Taliban von
Pakistan aus die neue afghanische Regierung und die in Afghanistan stationierten multinationalen
Truppen.
1. Die Entstehung der Taliban-Bewegung
Die Bewegung der Taliban (Paschtu und Dari für "Studenten") entstand in den frühen 1990er Jahren
als Organisation aus Pakistan zurückgekehrter paschtunisch-afghanischer Flüchtlinge und Veteranen
des Krieges gegen die Sowjetunion. Ihre pakistanische Mutterorganisation war die Gemeinschaft der
Gelehrten des Islam (Jam iyat-i Ulama´-i Islam, JUI). Die JUI ist Teil der Gelehrtenbewegung von
Deoband (benannt nach ihrem nordindischen Gründungsort), die seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in Britisch- Indien entstand und ein Netzwerk von religiösen Schulen auf dem gesamten
Subkontinent etablierte.
Als sich der muslimische Staat Pakistan 1947 von der Indischen Union abspaltete, lehnte die Mehrheit
der Deobandis seine Gründung ab. Die JUI hingegen unterstützte den Separatismus des
Staatsgründers Ali Jinnah. Ende der 1960er Jahre spaltete sich die nunmehr pakistanische
Organisation. Der bis heute bedeutendere Flügel konzentrierte seine Aktivitäten auf die paschtunischen
Gebiete der Nordwestlichen Grenzprovinz (seit April 2010 Khyber Pakhtunkhwa) und Belutschistans.
Die JUI ist eine einflussreiche Kraft in den Paschtunengebieten entlang der pakistanisch-afghanischen
Grenze und hat besonders dort ein dichtes Netz religiöser Bildungsstätten aufgebaut. Nach der
sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 flüchteten sich viele Afghanen in die Gebiete jenseits der
pakistanischen Grenze. Die Schulen der JUI nahmen vor allem paschtunische Flüchtlinge auf und
wurden nach dem sowjetischen Truppenabzug 1989 zur Kaderschmiede für die Taliban.
In Afghanistan selbst brach schon kurz nach dem Abzug der Sowjets ein Bürgerkrieg zwischen
rivalisierenden Mujahedin-Gruppierungen aus. Pakistan hatte diese Organisationen unterstützt, um
Einfluss auf die künftige Politik des Nachbarlandes nehmen zu können. Idealerweise sollte in Kabul
eine pro-pakistanische Regierung an die Macht kommen. Als der Ausbruch des Bürgerkrieges
verdeutlichte, dass die Mujahedin-Gruppen kein geeigneter Partner waren, benötigte die pakistanische
Armee einen neuen Verbündeten. Zu diesem Zweck rekrutierte ihr militärischer Geheimdienst ISI (InterServices Intelligence) paschtunische Flüchtlinge aus den Schulen der JUI und baute eine schlagkräftige
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Miliz auf. So wurden die Taliban zu einem Instrument pakistanischer Außenpolitik.
In einem beispiellosen Siegeszug eroberten die Taliban Afghanistan. Nachdem sie im Herbst 1994
erstmals in der Provinz Kandahar in Südafghanistan aufgetaucht waren, nahmen sie rasch die
paschtunischen Gebiete im Süden und Osten des Landes ein. 1995 bereits standen sie kurz vor Kabul
und nahmen die westafghanische Metropole Herat ein. Die verfeindeten Mujahedin in Kabul schlossen
sich unter dem Druck der Taliban zusammen. Trotzdem konnten sie Kabul nicht halten und zogen sich
1996 in den Norden zurück. Unter der Führung von Ahmed Shah Masud (1953-2001) hielten sie sich
als "Nordallianz" bis zur amerikanisch-britischen Invasion 2001.
2. Das Islamische Emirat Afghanistan (1996-2001)
Die Taliban boten der kriegsmüden afghanischen Bevölkerung nach fast 17 Jahren Krieg die Aussicht
auf Ruhe und Ordnung. Dies erklärt ihren schnellen Siegeszug gegen die Allianz der
Bürgerkriegsparteien, die das Land nach 1989 in den vollständigen Ruin getrieben hatten. Die Taliban
traten mit der Forderung nach Einführung und Durchsetzung des Islamischen Rechts, der Scharia,
an – entsprechend den Vorstellungen der Deobandi-Gelehrten. In der Praxis verband sich die
puristische Deobandi-Gelehrsamkeit mit dem Paschtunwali genannten Rechts- und Ehrenkodex der
Paschtunenstämme.
In den von ihnen beherrschten Gebieten setzten die Taliban unerbittlich ihre Verhaltensvorschriften
durch. Männer mussten Bärte tragen, Musik und Fernsehen waren ebenso wie die meisten Sportarten
verboten. Eine nach saudi-arabischem Vorbild eingerichtete Religionspolizei überwachte die
Einhaltung dieser Ge- und Verbote. Bei Zuwiderhandlung drohten, je nach Schwere des Delikts,
Prügelstrafen, Auspeitschung oder Gefängnis. Die schlimmsten Einschränkungen trafen jedoch die
Frauen, die weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt wurden. Die Taliban schlossen alle
Mädchenschulen und verboten Frauen zu arbeiten.
Nach der Einnahme Kabuls riefen die Taliban im September 1996 das "Islamische Emirat Afghanistan
" aus. Im selben Jahr gab sich ihr charismatischer Führer Mulla Mohammed Omar (geb. ca. 1959) den
Titel "Beherrscher der Gläubigen" (Amir al-Mu´minin). Der in Kandahar residierende Mulla Omar war
damals bereits die unumstrittene Führungsfigur der Taliban, und regierte gemeinsam mit einem kleinen
Führungszirkel einflussreicher Funktionäre, dem sogenannten Schura(=Konsultations)-Rat. Jegliche
Opposition wurde brutal unterdrückt; die Regierungsführung der Taliban war autoritär mit totalitären
Zügen – wobei die staatliche Verwaltung durchaus chaotische Züge trug.
Das Emirat der Taliban wurde lediglich von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen
Emiraten anerkannt. Die deutlichen Sympathien vieler konservativer Golfaraber gingen auf die
Ähnlichkeit der religionspolitischen Vorstellungen der Taliban mit denen der saudi-arabischen
Wahhabiya zurück. Die teils staatliche und teils private Unterstützung aus den Golfstaaten für die
Taliban erwies sich jedoch als schwerer Fehler, da die Taliban es neben zentralasiastischen und
pakistanischen auch arabischen Jihadisten gestatteten, ihre Hauptquartiere und Trainingslager auf
afghanischem Territorium aufzuschlagen. Eine dieser Gruppen war die al-Qaida Osama Bin Ladens.
Nur die staatliche Unterstützung durch die Taliban ermöglichte es al-Qaida, zu der internationalen
Terrororganisation zu werden, die am 11. September 2001 sogar im Herzen der USA zuschlug.
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3. Pakistanisches Exil und Aufstand in Afghanistan (2001-2009)
Die Taliban waren auf die amerikanische Gegenreaktion nicht vorbereitet. Innerhalb weniger Wochen
gelang es den USA mithilfe der Nordallianz, den Taliban-Staat zu zerschlagen und die verbliebenen
Angehörigen der Organisation zur Flucht zu zwingen. Die Führung der Taliban um Mulla Omar fand
Zuflucht im pakistanischen Quetta und organisierte von dort den Widerstand gegen die Amerikaner
und ihre Verbündeten.
Ab 2005 gewann der Aufstand der Taliban an Stärke. Dies hatte drei Gründe: Erstens machte sich
2005 die schlechte Regierungsführung der neuen Regierung in Kabul bemerkbar. Weit davon entfernt
zur Lösung der Probleme im Land beizutragen, zeichnete sie sich durch Untätigkeit, Inkompetenz und
eine ausufernde Korruption aus. Sie scheiterte insbesondere beim Aufbau effektiv agierender
einheimischer Sicherheitskräfte. Die Unzufriedenheit nicht nur in den paschtunischen Landesteilen
wuchs stetig. Zweitens war der Konflikt in Afghanistan für die Administration des amerikanischen
Präsidenten George W. Bush (2001-2008) weniger wichtig als der 2003 begonnene Krieg im Irak, so
dass für die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan nur unzureichende Ressourcen zur Verfügung
standen. Drittens hatte auch die pakistanische Armeeführung ihre alte Politik wieder aufgenommen.
Pakistan wurde zum sicheren Rückzugsgebiet der Taliban und der ISI unterstützte den Aufstand. Zwar
arbeitete die pakistanische Führung in der Verfolgung von al-Qaida mit den USA zusammen und
leistete logistische Unterstützung für die westliche Präsenz in Afghanistan.
Mit großer Sorge beobachtete sie jedoch, wie statt der eigenen Klienten wichtige Verbündete des
großen Rivalen Indien an der Macht in Kabul beteiligt waren. Die Nordallianz hatte bereits vor 2001
indische Unterstützung erhalten und auch nach dem Machtwechsel in Kabul unterhielt die Regierung
Karzai enge Beziehungen nach Delhi. Deshalb gab Pakistan seine Unterstützung für die Taliban nicht
auf und duldete, dass diese sich über die Grenze nach Pakistan zurückzogen und dort reorganisierten.
So hoffte die pakistanische Führung, ein Druckmittel in der Hand zu haben, um ihre Interessen in
Afghanistan gegebenenfalls durchzusetzen. Auch heftige Proteste der USA führten immer nur zu
kurzfristigen Änderungen pakistanischer Politik.
Ab 2005/2006 gingen die Taliban immer häufiger zu komplexeren militärischen Aktionen über, an denen
sich größere Formationen beteiligten. Gleichzeitig verfeinerten sie ihre Taktik, legten Sprengfallen am
Straßenrand, mit denen sie Militärfahrzeuge angriffen und verübten Selbstmordattentate, die sich
häufig auch gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und gegen Zivilisten richteten. Die Taliban folgten
hier dem Vorbild der Aufständischen im Irak, so dass seit 2005 immer häufiger die Rede von einer "
Irakisierung" der afghanischen Aufstandsbewegung war. Der Taliban-Kommandeur Mulla Dadullah
(1966-2007) wurde gewissermaßen zur Verkörperung dieser neuen Strategie. Bis zu seinem Tod im
Mai 2007 leitete er die militärischen Aktionen der Taliban im Süden. Er verband den neuartigen Einsatz
der Selbstmordattentäter mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit.
Mit dem Frühjahr 2006 gerieten die im Süden und Südosten des Landes – den Hauptsiedlungsgebieten
der Paschtunen – stationierten Amerikaner, Briten, Kanadier und Niederländer unter enormen Druck.
Die Selbstmordattentate verfünffachten sich gegenüber 2005. Seit 2006 verloren die Koalitionstruppen
die Kontrolle über große Teile dieser Gebiete. Die Taliban hingegen weiteten ihre Angriffe auf Kabul
und seine Umgebung und vereinzelt auch auf den bis dahin verhältnismäßig sicheren Norden aus.
Die ursprünglich angestrebte Stabilisierung Afghanistans rückte in weite Ferne.
Die gemeinhin unter dem Sammelbegriff "Taliban" zusammengefassten Gruppierungen sind allerdings
kein monolithischer Block. Vielmehr werden die drei großen Frontabschnitte entlang der Süd- und
Südostgrenze Afghanistans von verschiedenen Gruppierungen dominiert, die zwar nominell dem
Oberbefehl Mulla Omars unterstehen, faktisch jedoch weitgehend eigenständig sind. Im nördlichen
Frontabschnitt scheint die Islamische Partei (Hizb-i Islami) des schon aus dem Afghanistankrieg
berüchtigten Gulbuddin Hekmatjar (geb. 1947) die stärkste Gruppierung. Im mittleren Teil der Front
dominiert das Haqqani-Netzwerk. Diese Organisation wurde nach ihrem Führer, Jalaluddin Haqqani
(geb. zwischen 1930 und 1938), benannt, der schon in den 1980er Jahren ein bekannter Kommandeur
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der Mujahedin war. Im Süden kämpfen die eigentlichen Taliban unter der Führung Mulla Omars und
der sogenannten Quetta-Schura.
4. Taliban und al-Qaida nach 2001
Die Beziehungen zwischen den Taliban und al-Qaida waren Ende 2001 schlecht. Viele Taliban warfen
Bin Laden und seinen Anhängern vor, durch die Attentate des 11. September die amerikanische
Invasion Afghanistans provoziert zu haben. Trotzdem kam es zu keinem offenen Bruch und in den
folgenden Jahren näherten sich die beiden Organisationen – im Kampf gegen den gemeinsamen
Feind – einander wieder an. Dennoch hat al-Qaida beim Kampf in Afghanistan lediglich unterstützende
Funktion, indem sie terroristisches Know-how an die Aufständischen weitergibt und möglicherweise
Selbstmordattentäter ausbildet und zur Verfügung stellt. Die militärische Bedeutung ihrer Kämpfer ist
sehr gering.
Es gibt kaum Belege für eine Zusammenarbeit zwischen den Quetta-Schura-Taliban und al-Qaida.
Deren wichtigster Verbündeter unter den afghanischen Aufständischen ist vielmehr das HaqqaniNetzwerk, das sein Rückzugsgebiet im pakistanischen Nord Waziristan in den paschtunischen
Stammesgebieten (Federally-Administered Tribal Areas, FATA) hat. Dort befindet sich das
pakistanische Hauptquartier der al-Qaida. Das Haqqani-Netzwerk selbst unterstützt die ausländischen
Gruppierungen zwar seit Jahren, vertritt selbst aber in erster Linie eine regionale Agenda. Der HaqqaniFamilie scheint es vor allem um die Kontrolle der Loya Paktiya genannten Provinzen Paktia, Paktika
und Khost zu gehen, doch äußern Führer der Organisation immer wieder Sympathie für die
weitergehenden Ziele von al-Qaida und anderen Organisationen.
Da sich Waziristan nach 2001 zum Epizentrum des internationalen Terrorismus entwickelt hat, wurde
das Gebiet ab 2008 zum Ziel von intensivierten amerikanischen Drohnenangriffen. Diese trafen jedoch
vor allem Personal der ausländischen Organisationen und der pakistanischen Taliban, nicht das
Haqqani-Netzwerk.
5. Die pakistanischen Taliban
Das Erstarken der afghanischen Aufständischen hatte dramatische Auswirkungen auf ihre
pakistanischen Rückzugsgebiete. Seit 2006 ist vermehrt die Rede von einer "Talibanisierung" von
Khyber Pakhtunkhwa und der Stammesgebiete. Hier setzte sich eine neue Generation von
Stammesführern durch, die nicht mehr in Afghanistan kämpften, sondern auch den pakistanischen
Staat zum Ziel ihrer Aktivitäten erkoren. Im Dezember 2007 gründeten sie eine Dachorganisation, die
Pakistanische Taliban-Bewegung (Tehrik-e Taliban Pakistan). Ihr Führer wurde Baitullah Mehsud (ca.
1972-2009) aus Süd-Waziristan. Sein Nachfolger wurde sein Verwandter Hakimullah Mehsud.
Gemeinsam mit jihadistischen Gruppierungen starteten die pakistanischen Taliban eine regelrechte
Terrorkampagne gegen ihre Gegner. Die pakistanische und die amerikanische Regierung machten
Mehsud beispielsweise für die Ermordung der ehemaligen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto im
Dezember 2007 verantwortlich. Die paschtunischen Stammesgebiete – nunmehr das weltweite
Epizentrum des Jihadismus – und viele angrenzende Gebiete waren im Frühjahr 2009 pakistanischer
Kontrolle entglitten. Die Taliban weiteten ihren Einfluss insbesondere in der Nordwestlichen
Grenzprovinz aus. In mehreren Offensiven im Swat-Tal im Mai und in Süd-Waziristan ab Oktober 2009
drängte das pakistanische Militär sie zurück, ohne damit die von ihnen ausgehende Bedrohung für die
Stabilität des Landes beseitigen zu können.
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Literatur
Crews, Robert D./Amin Tarzi (eds.): The Taliban and the Crisis of Afghanistan, Cambridge (Mass.)/
London: Harvard University Press 2008
Giustozzi, Antonio: Koran, Kalashnikov, and Laptop. The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan, New
York: Columbia University Press 2008
Hartung, Jan-Peter /Guido Steinberg: Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Ende, Werner/
Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München5: Beck 2005, S. 681-695
Metcalf, Barbara D.: "Traditionalist" Islamic activism: Deoband, Tablighis and Talibs, Leiden : ISIM, 2002
Rashid, Ahmed: Descent into Chaos. The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan,
Afghanistan, and Central Asia, New York (u.a.): Viking 2008
Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München: Droemer 2001
Don Rassler and Vahid Brown, The Haqqani Nexus and the Evolution of al-Qa´ida, The Combating
Terrorism Center at West Point Harmony Program, July 14, 2011
Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin: Reimer 2003
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de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad
Von Peter Philipp
17.7.2011
Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche
Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung,
dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und
Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.
Seit Juni 2007 herrscht die militante Hamas im Gaza-Streifen. Sie ist kompromisslos
antiisraelisch und betrachtet ganz Israel als "besetztes Gebiet". Ende 2008 eskaliert der Konflikt
mit Israel, es kommt zum Gazakrieg. Wer sind Hamas und islamischer Jihad, wo liegen ihre
ideologischen Wurzeln?
Der Ägypter Hassan al Banna stammte aus ärmlichen Verhältnissen, er wurde zu Hause streng religiös
erzogen und auf ein religiöses Lehrerseminar geschickt. Kurz nach Antritt seiner ersten Lehrerstelle
in Ismailia tat er sich dort 1928 mit sechs Arbeitern der Suezkanal-Gesellschaft zusammen und gründete
die "Gesellschaft der Muslimbrüder" ("Jamiyat al-ikhwan al-muslimin"). Ihr gemeinsames Motiv: Gegen
den Einfluss der Briten anzutreten, die zwar nicht mehr Protektoratsmacht waren, das neue Königreich
Ägypten (seit 1922) aber dennoch kontrollierten. Nach Überzeugung der ersten "Muslimbrüder" führte
dieser westliche Einfluss dazu, dass die - ägyptische und arabische - Gesellschaft sich immer mehr
verweltlichte und von den Grundsätzen des Islam entfernte. Die "Muslimbrüder" begannen, die
Rückkehr zum Islam als Gegengewicht zu setzen und mit sozialer und wohltätiger Arbeit Anhänger zu
gewinnen. Die Bewegung wuchs rasch an, verbreitete sich fast über die gesamte arabische Welt und
wurde bald zum Vorreiter der Auflehnung gegen deren traditionelle Regime.
Beim Versuch, die wichtigsten islamistischen Gruppen in der Region heute zu verstehen, wird man
deswegen immer wieder auf diese Anfänge in Ägypten stoßen. Hieraus leiten sich die Grundthesen
der verschiedensten islamistischen Gruppen ab und es spielt kaum noch eine Rolle, ob diese – wie "
Islamischer Jihad" und "Hamas" - direkt aus der sunnitischen "Muslimbruderschaft" hervorgegangen
sind oder ob es sich bei ihnen um eine schiitische Gruppe handelt – wie im Fall der libanesischen "
Hisbollah".
Palästinensischer Islamischer Jihad
Der Gazastreifen stand von 1948 bis 1967 (mit kurzer Unterbrechung während des Sinaikrieges 1956)
unter ägyptischer Verwaltung und der ägyptische Einfluss war deswegen hier besonders stark. Ideen
wie die der "Muslimbrüder" fielen sofort auf fruchtbaren Boden und vermengten sich mit militanten
Widerstands- und Rückeroberungs-Ideologien gegen den Staat Israel, die ihre Wurzeln meist auch im
Gazastreifen hatten.
Die eher säkulare PLO unter ihrem langjährigen Führer Yasser Arafat enttäuschte mit der Zeit viele
Palästinenser, weil sie seit dem Sechstagekrieg 1967 (und damit der Eroberung des Gazastreifens
wie auch der Westbank durch Israel) zwar weltweite Anerkennung gewann, die Situation der
Palästinenser sich dadurch aber nicht verbesserte. Die Enttäuschung darüber trieb besonders im
Gazastreifen immer mehr Palästinenser in die Arme der Islamisten und führte auch zu deren
Radikalisierung. Die "Muslimbrüder" waren in den Siebziger Jahren auf dem Weg, im Gazastreifen
ein den israelischen Besatzern zwar nicht willkommener, von ihnen aber tolerierter Faktor zu sein.
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Zum Teil, weil Israel ein Gegengewicht zur PLO aufweisen wollte, die damals noch wenigstens offiziell
das Ziel der Rückeroberung Palästinas verfolgte.
Die Lage änderte sich mit der Revolution im Iran: Der Sturz des Schahs 1979 und die Errichtung eines
islamischen Gottesstaates im Iran sollten Signalwirkung auch auf Palästina haben: Bald spaltete sich
ein militanter Flügel der "Muslimbrüder" ab, um dem Beispiel des Iran nachzueifern: Der "
Palästinensische Islamische Jihad" wurde 1979 von Fathi Shaqaqi und gleichgesinnten
palästinensischen Studenten gegründet. Die "Muslimbrüder" waren ihnen zu gemäßigt, ebenso die
PLO. Die Anhänger Shaqaqis wollten den aktiven Kampf gegen Israel aufnehmen und hofften, dass
als Ergebnis ein großer islamischer Staat für alle Muslime entstehen würde – und das nicht nur in der
Arabischen Welt. Anhänger des "Islamischen Jihad" sollen Kontakte zu den Mördern des ägyptischen
Präsidenten Sadat (ermordet 1981) unterhalten haben. Ihre ersten Überfälle und Terroranschläge auf
israelische Ziele nahm die Gruppe in den achtziger Jahren auf, noch bevor in den besetzten Gebieten
die erste "Intifada" ausbrach, der erste Aufstand der Palästinenser.
Obwohl sie als gewaltloser Widerstand geplant war, bot die "Intifada" den Militanten einen idealen
Ansatzpunkt. Israel erkannte die Gefahr erst spät: Es deportierte Shaqaqi in den Libanon, wo er
Beziehungen zu der gerade entstandenen "Hisbollah" und iranischen wie syrischen Stellen anknüpfte
und der "Islamische Jihad" gewann dadurch an Radikalität. Als es nach Abebben der "Intifada" 1993
zum Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO kam, übernahm der "Jihad" die Führungsrolle in
der militanten Ablehnungsfront. Shaqaqi fiel 1995 in Malta einem Mordanschlag des israelischen
Geheimdienstes zum Opfer und sein Nachfolger als Generalsekretär des "Jihad", Dr. Ramadan
Abdallah Shalah, ein Mitbegründer Bewegung, residiert seitdem in Damaskus und unterhält enge
Kontakten zum syrischen Regime, zum Iran, der libanesischen Hisbollah und auch dem Leiter des "
Hamas"-Politbüros, Khaled Masha´al. Mit diesem teilt der "Islamische Jihad" bis heute die
unversöhnliche und kompromisslose Ablehnung einer Anerkennung Israels. Sonst gibt es aber
durchaus Unterschiede in der Geschichte von "Hamas" und "Jihad". So entbehrt es nicht einer gewissen
Ironie, dass die Gründer von "Hamas" zunächst von Israel unterstützt worden waren.
Hamas
"Hamas" (Abkürzung für "Harakat Al-Muqawama Al-Islamia" - "Islamische Widerstandsbewegung")
wurde Ende 1987 bei Ausbruch der ersten "Intifada" bekannt, als die Gruppe plötzlich im Gazastreifen
und in der Westbank öffentlich auftrat und der weltlichen PLO das Terrain strittig machte. Für Israel
erschwerte dies die Reaktion auf den Palästinenseraufstand, da es sich plötzlich mit zwei
konkurrierenden, sonst aber gleichermaßen militanten Gruppen konfrontiert sah. Genau die
Konkurrenz zur PLO war freilich einmal Ziel der Unterstützung gewesen, die Israel den Leuten und
Gruppen gegeben hatte, die nun plötzlich als "Hamas" auftraten:
Bereits 1978 meldete der damals 49-jährige Sheikh Ahmed Yassin, ein seit seiner Jugend gelähmter
muslimischer Führer in Gaza, bei den israelischen Besatzungsbehörden eine "Islamische Vereinigung
" ("Al-Mujamma Al Islami") an, die sich um bedürftige Palästinenser kümmern wollte. Israel stimmte
zu: Seine Strategie war, den Alleinvertretungsanspruch der PLO zu entkräften und zu zeigen, dass es
in den besetzten Gebieten selbst Kräfte gibt, die die Palästinenser besser vertreten als die – damals
noch in Tunis residierende – PLO Yasser Arafats. In Jerusalem hoffte man vor der "Intifada" und vor
Oslo, dass eine religiös gefärbte Bewegung, die bisher vor allem karitativ und humanitär tätig gewesen
war, ein geeignetes Gegengewicht sein würde gegen den – damals noch – als Erzterroristen und
Todfeind verschrienen Yasser Arafat.
Schon einmal hatte Israel den Führungsanspruch der PLO untergraben wollen, indem es in der
Westbank die Gründung so genannter "Dorfligen" unterstützte. Der Versuch scheiterte ebenso wie
das Projekt "Hamas": Während der Intifada ergriff diese rasch die Initiative und rief ihren eigenen
Aufstand aus: Mit eigenen Streiktagen, vor allem aber mit eigenen Anschlägen versuchte "Hamas",
die Führungsrolle des Aufstands zu übernehmen. Hierbei kam ihre radikale Ideologie zum Tragen:
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1988 verabschiedete "Hamas" ihre Charta, den "Islamischen Pakt". Darin steht unter anderem – bis
heute unverändert – dass man die "Flagge Allahs über jedem Quadratmeter Palästinas hissen" wolle.
Juden müssten umgebracht werden und man solle "nicht seine Zeit mit Initiativen, Vorschlägen und
internationalen Konferenzen verschwenden": Palästina sei ein islamisches Land.
Immer wieder beteuern Palästinenser, dass diese Sätze längst nicht mehr Programm von "Hamas
" seien, aber bisher ist die Charta unverändert geblieben und wenn gelegentlich konziliante Töne aus "
Hamas"-Führungskreisen zu hören sind, dann dauert es nie lange, bis dies "zurechtgerückt" und die
vermeintliche Kehrtwende zur Kompromiss-Bereitschaft zunichte gemacht wird. (So betont einer der
Führer von "Hamas", Mahmoud A-Zahhar, erst Ende Juni 2011 in einem Fernsehinterview: "Wir sagen,
dass wir einem Staat auch jedem Stück unseres Landes etablieren sollten, ohne aber auch nur auf
einen Zentimeter zu verzichten. Das ist der Kern unserer Ideologie". Die PLO hingegen erklärt sich
grundsätzlich bereit zu einem palästinensischen Staat neben Israel.)
Als Israel und die PLO Yasser Arafats 1993 in Norwegen das Oslo-Abkommen aushandeln, da ist
sich "Hamas" mit dem "Jihad" einig, diese Politik als Verrat zu verurteilen, im Gegensatz zum "Jihad
" aber operiert "Hamas" bald mit einem "politischen" und einem "militärischen" Flügel. Der politische
Flügel versucht, an Einfluss zu gewinnen, ohne jedoch die neuen Realitäten anzuerkennen: So ist "
Hamas" 1996 nicht bereit, bei den Wahlen anzutreten, weil dies einer Anerkennung von Oslo – und
damit Israels - gleichkäme. Der militärische Flügel führt weiter Anschläge gegen Israel durch.
Diese Anschläge nehmen an Zahl und Intensität während der zweiten Intifada ("Al Aqsa-Intifada") zu,
die nach dem Scheitern von Verhandlungen zwischen Ehud Barak und Yasser Arafat in Camp David
im Herbst 2000 ausbricht. "Hamas" und "Islamischer Jihad" sind dabei mindestens ebenso an der
Durchführung von Anschlägen und Terrorakten beteiligt wie Anhänger von PLO-Chef Arafat.
Zur Teilnahme an Wahlen ist "Hamas" erst Anfang 2006 bereit – zwei Jahre nach Arafats Tod. Inzwischen
ist viel geschehen: Die israelische Armee hat nicht nur Sheikh Yassin in Gaza ermordet, sondern auch
einen Monat später seinen Nachfolger Abdel Aziz a-Rantisi. Die Führung von "Hamas" wird immer
mehr von Khaled Masha´al von Damaskus aus übernommen, Mitbegründer der Organisation und seit
1996 Leiter des Politbüros.
Die Wahlen 2006 werden für Hamas ein voller Erfolg: Begünstigt durch ein regionales Wahlsystem,
vor allem aber durch den wachsenden Unmut der Bevölkerung über Korruption und Vetternwirtschaft
der alten PLO-Führung, gewinnt "Hamas" 74 der 132 Parlamentssitze und löst damit die bislang
führende "Fatah" ab, die ihren Sieg für selbstverständlich gehalten hatte. Größer noch aber ist der
Schock im Ausland: Obwohl man immer demokratische Wahlen gefordert und gefördert hat, ist man
doch nicht bereit, dieses Ergebnis hinzunehmen. Es sei denn, "Hamas" verabschiede sich von ihrer
radikalen Anti-Israel-Haltung und erkenne Oslo wie den dort begonnenen Friedensprozess an. Solange
dies nicht geschehe, werde der Westen – allen voran EU und USA – die gewählte Regierung nicht
unterstützen.
"Hamas" unter ihrem Regierungschef Ismail Haniyeh ist dazu nicht bereit. Der ehemalige Berater von "
Hamas"-Gründer Yassin kann es sich offenbar nicht erlauben, mit der radikalen Ideologie der
Vergangenheit zu brechen. Statt von Frieden beginnt "Hamas" deswegen von jahrzehntelanger
Waffenruhe zu sprechen und sie hält sich bis nach den Wahlen an eine im Jahre 2005 verkündete
zeitweilige Einstellung der Angriffe auf Israel.
Andere Gruppen – darunter der "Jihad" – setzen ihre Angriffe jedoch fort, darunter Raketenangriffe
von Gaza auf Israel, und Israel reagiert massiv. "Hamas" kündigt die Waffenruhe schließlich auf und
die Situation im Gazastreifen eskaliert, bis sie im Frühsommer 2007 in einen offenen Bruderkampf
zwischen "Hamas" und der "Fatah" von Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas mündet. Saudische
und andere arabische Vermittlungsbemühungen (darunter die Bildung einer Koalitionsregierung
zwischen "Hamas" und "Fatah") scheitern und nach kurzen, heftigen Kämpfen übernimmt "Hamas" im
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Juni 2007 die alleinige Kontrolle über den Gazastreifen. In der Westbank bleibt es zunächst ruhig. Dort
ruft Abbas eine Notstandsregierung aus und beginnt unter anderem, mit dieser wieder an einem
Friedensprozess zu arbeiten.
Bei einer eintägigen Nahostkonferenz im amerikanischen Annapolis sagen Abbas und der damalige
israelische Premier Ehud Olmert im November 2007 zu, bis Ende 2008 eine Friedensregelung
auszuhandeln. Nichts dergleichen geschieht. Stattdessen bringt das Ende 2008 eine neue und ebenso
gefährliche wie folgenschwere Eskalation:
Seit dem 19. Juni herrscht im Gazastreifen wieder einmal eine von "Hamas" erklärte einseitige
Waffenruhe, die auf sechs Monate begrenzt ist. Gelegentliche Zwischenfälle werden selbst von Israel
verharmlost und nicht "Hamas" angelastet, sondern radikaleren Gruppierungen. Gleichwohl greift
Israel – das Gaza im Herbst 2005 verlassen hat – immer wieder im Gazastreifen ein: Es führt "gezielte
Tötungen" radikaler Palästinenser durch und versucht, den Nachschub von Waffen und Munition über
die ägyptische Grenze zu unterbrechen. Versuche von "Hamas", den seit Sommer 2006 entführten
israelischen Soldaten Gilad Shalit gegen 1000 palästinensische Häftlinge auszutauschen, schlagen
fehl und "Hamas" beschließt, die Waffenruhe nicht über den 19. Dezember hinaus zu verlängern und
mit massivem Raketenbeschuss auf israelische Nachbarorte zu beginnen.
Ein verhängnisvoller Beschluss: 22 Tage lang greift Israel massiv aus der Luft und mit Bodentruppen
in Gaza an, die Zahl der Todesopfer wird auf 1500 geschätzt, die der Verletzten auf ein Vielfaches.
Israel gerät international in die Kritik, unter anderem, weil es – so z.B. nach Berichten von 'Human
Rights Watch' - Phosphorgranaten in dicht besiedeltem Gebiet eingesetzt und damit möglicherweise
Kriegsverbrechen begangen hat. (Ein ähnlich kritischer Bericht der UNO wird später von seinem
Verfasser – dem südafrikanischen Richter Richard Goldstone – bedauert und teilweise korrigiert).
Mit ägyptischer Vermittlung kommt es zur erneuten Waffenruhe und erneuten Versuchen von "Hamas
" und "Fatah", eine Einheitsregierung zu bilden. Wut, Zorn und Verzweiflung unter den Palästinensern
sind aber gestiegen. Wie auch das Gefühl in Israel, dass ein Frieden unmöglich sei: Was mit dazu
geführt haben dürfte, dass Anfang Februar 2009 bei den Wahlen zur Knesset das rechte Lager gestärkt
wird und "Likud"-Chef Benjamin Netanyahu - obwohl selbst nicht Wahlsieger – am 1. April eine Koalition
mit dem Rechtsaußen Avigdor Lieberman ("Unser Haus Israel"), drei orthodoxen Parteien und der
Arbeiterpartei vorstellen kann.
International gerät Israel wegen des Krieges und der Blockade des Gazastreifens unter heftige Kritik.
Jerusalem ist aber nicht bereit, diese Politik zu ändern. Ein Versuch von Aktivisten aus verschiedenen
Ländern, mit gecharterten Schiffen nach Gaza zu fahren, endet 2010 in einem Fiasko: Die israelische
Marine greift am 31. Mai die türkische Mavi Marmara an und an Bord werden neun Aktivisten getötet
und elf andere verletzt.
In der Arabischen Welt löst der Gazakrieg breite Solidarisierung der Massen mit "Hamas" aus: Man
verurteilt Israel, mehr aber noch Ägypten, das sich scheinbar auf die Seite Israels gegen "Hamas
" gestellt hat: Ägypten hält die Grenze nach Gaza geschlossen und es versucht, den Schmuggel von
Waffen dorthin zu unterbinden. Monate nach dem Gaza-Krieg nehmen die Ägypter auf der SinaiHalbinsel Anhänger der libanesischen "Hisbollah" fest, die angeblich zusammen mit Beduinen und
Palästinensern den Waffenschmuggel betrieben. In Beirut gibt "Hisbollah"-Chef Hassan Nasrallah die
Festnahme wenig später zu. Zum ersten Mal gibt es mehr als nur Verdächtigungen über die
Zusammenarbeit zwischen Hamas, Hisbollah und – wahrscheinlich – im Hintergrund dem Iran.
Erst nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak im Frühjahr 2011 ändert sich die
Lage: Der amtierende Militärrat in Kairo beschließt, die Grenze bei El Arish wieder zu öffnen und
erleichtert damit ein wenig das Leben der Einwohner von Gaza. Auch nimmt er den Initiatoren einer
neuen Gaza-Flotille die Rechtfertigung, es handle sich um eine Hilfsaktion. Der Versuch wird
aufgegeben, allerdings erst nachdem Israel einige Schiffe sabotiert hat und in Durchgangsländern
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vorstellig geworden ist.
"Hamas" ist weiterhin an der Macht im Gazastreifen. Eine demonstrative Aussöhnung zwischen "
Hamas" und "PLO" im April 2011 in Kairo führt zunächst zu nichts: Eine Einheitsregierung kommt nicht
zustande, weil "Hamas" den Westbank-Premier von Präsident Abbas, Salam Fayyad, ablehnt. Israel
lehnt die Aussöhnung ohnehin ab, droht aber auch, die Pläne von Abbas zu durchkreuzen, die UNO
zur Anerkennung eines palästinensischen Staates aufzurufen. Neuwahlen in den
Palästinensergebieten rücken ebenso in weite Ferne. Wobei Abbas dies wohl am wenigsten bedauert,
denn "Hamas" könnte hierbei einen noch größeren Sieg erringen als beim letzten Mal.
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Hisbollah
Von Peter Philipp
17.7.2011
Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche
Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung,
dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und
Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.
Die Hisbollah, die "Partei Gottes", ist eine schiitische Bewegung im Libanon. Die Stärke der
Islamisten resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Schiiten mit rund 30 Prozent der Bevölkerung
die größte muslimische Gruppe darstellen.
Nur entfernt vergleichbar mit der Situation unter den Palästinensern ist die Entwicklung des Islamismus
im Libanon. "Hisbollah" (die "Partei Gottes") ist eine schiitische Bewegung, die ihre Stärke daraus
ableitet, dass die Schiiten mit rund 30 Prozent der Bevölkerung die größte muslimische Gruppe
darstellen. Die traditionell arme Landbevölkerung ist vor allem im Südlibanon und in der Beqa-Tiefebene
im Osten des Landes ansässig. Politisch haben die Schiiten lange keine Rolle gespielt. Diejenigen
aber, die aus wirtschaftlicher Not nach Beirut gehen, radikalisieren sich langsam gegen die in jeder
Hinsicht privilegierten Christen und Sunniten. Ende der 60er Jahre beginnen die Schiiten sich zu
organisieren. Ihr Führer ist der aus dem Iran entsandte Mufti Moussa a-Sadr. 1974 gründet dieser "
Amal" ("Hoffnung") – eine schiitische Miliz, die die Interessen der Schiiten wahrnehmen und schützen
soll. Vier Jahre später verschwindet Sadr spurlos. Angeblich ist er auf dem Flug nach Libyen entführt
und dort umgebracht worden, Beweise gibt es hierfür aber nicht. Aus "Amal" wird schrittweise eine
politische Partei, die freilich unter der Führung von Nabih Berri ihrem Namen als Hoffnungsträger nicht
mehr gerecht wird, auch nicht in den Jahren des libanesischen Bürgerkrieges, der 1975 ausbricht.
Als Israel im Juni 1982 im Libanon einmarschiert, ist die Geburtsstunde von "Hisbollah" gekommen:
Auf Betreiben des Iran wird diese neue Miliz gegründet, die bei Baalbek in der Beqa-Ebene
Ausbildungslager aufbaut und die vom Iran auf dem Weg über Syrien großzügig mit Waffen und Geld
unterstützt wird. Die Ausbildung wird zumindest am Anfang von Angehörigen der iranischen "
Revolutions-Garden" ("Pasdaran") betrieben. Aufgabe der "Partei Gottes" ist nicht nur der Schutz der
schiitischen Bevölkerung, sondern auch aktiver Einsatz für die strategischen Ziele ihrer Geldgeber:
Kein Jahr nach ihrer Gründung greifen "Hisbollah"-Selbstmord-Attentäter die US-Botschaft in Beirut
(16 Tote) und Monate später das Hauptquartier der US-Marines am Flughafen an – hierbei kommen
241 Amerikaner um.
Andere blutige Anschläge folgen und "Hisbollah" begründet hieraus seinen Anspruch, die einzig wirklich
ernst zu nehmende Widerstandsbewegung im Libanon zu sein. Besonders prekär wird die Lage an
der libanesisch-israelischen Grenze: Hatte Israel einst die PLO von dort vertrieben, um nicht deren
grenzüberschreitenden Überfällen ausgesetzt zu sein, so ist es nun zunehmend konfrontiert mit "
Hisbollah", die sich aus der örtlichen Bevölkerung rekrutiert und der es angesichts der guten finanziellen
Ausstattung durch ihre Sponsoren in Damaskus und Teheran nicht an Zulauf fehlt. Hisbollah weitet
mit der Zeit ihr ideologisches Ziel aus, zumindest propagandistisch: Vom "Widerstand gegen fremde
Besatzung" auf die "Befreiung Jerusalems".
Im Laufe der Jahre wird die Präsenz israelischer Truppen im Südlibanon (seit 1978) zusehends zur
Bürde für Israel. Auch trotz der Unterstützung durch die israelisch ausgebildete und ausgerüstete "
Südlibanesischen Armee" (SLA). Im Wahlkampf kündigt Ehud Barak 1999 an, die Truppen bis Juli
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2000 abzuziehen und Ende Mai 2000 verließen die letzten israelischen Einheiten den Libanon. "
Hisbollah" hat Israel die Präsenz dort erschwert, von einer "Vertreibung" kann aber keine Rede sein.
Genau dies aber feiert "Hisbollah" bis heute und hat ihr Ansehen als Widerstandsgruppe dadurch
weiter gefestigt.
Gleichzeitig hat der israelische Rückzug "Hisbollah" aber auch ihrer 'raison d´être' beraubt: Ohne
Besatzung kein Widerstand. Man klammert sich deswegen daran, dass Israel noch die Kontrolle über
die "Shebaa-Farmen" ausübt – Ländereien im syrisch-libanesischen Grenzgebiet, die selbst nach
Ansicht der UNO zu Syrien gehören und nicht zum Libanon. "Hisbollah" braucht solche Rechtfertigung
aus doppeltem Grund: Einmal, um die Fortsetzung der Unterstützung von außen zu garantieren, zum
zweiten, um seine innenpolitische Stellung zu festigen: Man tritt längst als politische Partei auf und
war wiederholt an Regierungen beteiligt.
Solange "Hisbollah" sich als Widerstandsgruppe präsentiert, kann sie der UN-Resolution 1559 von
2004 entgehen, nach der alle Milizen ihre Waffen aufgeben sollen. Ihre militärische Stärke lässt "
Hisbollah" auch politisch übermütig werden: Nicht lange nach den Wahlen von 2005 verlässt die "
Partei Gottes" die Regierungskoalition von Ministerpräsident Fuad Siniora und fordert für ihre Rückkehr
eine – durch die Wahlen nicht gerechtfertigte – Beteiligung, die es ihr ermöglichen soll, die westlich
orientierte Politik Sinioras zu blockieren. Siniora bleibt hart und für "Hisbollah" beginnt ein langes
Ringen um die politische Rolle im Staat.
Bevor diese Frage geklärt wird, begeht "Hisbollah" im Frühsommer 2006 einen fatalen Fehler: An der
Grenze zu Israel überfallen Anhänger der Bewegung eine israelische Patrouille, töten einige Soldaten
und entführen zwei andere. Der Libanonkrieg von 2006 bricht aus. Eine offizielle israelische
Untersuchungs-Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Oberrichters Eliyahu Winograd
bescheinigt der Regierung Olmert später, den Krieg überstürzt und mit mangelnder Umsicht und ohne
klares Konzept begonnen und geführt zu haben. Über 1000 Libanesen kommen dabei um, die Schäden
in allen Teilen des Landes belaufen sich in die Milliarden, das Hauptziel aber erreicht Israel nicht: Es
gelingt ihm nicht, "Hisbollah" zu zerschlagen oder unschädlich zu machen.
Im Gegenteil: Waren zunächst viele Libanesen verärgert über die folgenschwere Provokation von "
Hisbollah" an der israelischen Grenze, so schlägt mit wachsender Opferzahl und immer mehr Schäden
durch die israelischen Angriffe die Stimmung um und die Stellung der "Hisbollah" festigt sich rasch –
durch neue Waffenlieferungen und durch politische Vermittlung, die schließlich im Juli 2008 zur
Rückkehr der "Hisbollah" in die Regierung Siniora führt.
Bei den Wahlen 2009 gewinnt die Gruppe um Saad Hariri – den Sohn des 2005 ermordeten früheren
Premiers Rafiq Hariri – dieser versucht aber, "Hisbollah" zu beteiligen und scheitert nach zehn
Wochen. "Hisbollah" will die libanesische Zustimmung zu einer Untersuchung des Hariri-Mordes vor
einem UN-Gericht verhindern, weil ihr eine Mittäterschaft nachgesagt wird. Fuad Siniora kann erneut
eine Regierung bilden, in der "Hisbollah" aber weitreichende Vetorechte eingeräumt werden.
Anderthalb Jahre später, im Frühjahr 2011, verlässt "Hisbollah" erneut die Koalition und zwingt die
Regierung zum Rücktritt. Nur, um sich wenig später zusammen mit einigen Anhängern des Drusen
Walid Junblat und denen des christlichen Expräsidenten Michel Aoun als größter Partner an der
Regierung des Milliardärs Najib Mikati zu beteiligen.
Der Westen hat seine besonderen Probleme mit "Hisbollah": Von ihrer Ideologie und ihrem Verhalten
nach entspricht die Organisation dem Muster einer Terrororganisation und wird von den USA, Kanada
und Großbritannien auch als solche eingestuft. Die EU weigert sich hingegen, diesem Vorbild zu folgen.
Washington unterhält zwar Kontakte mit der libanesischen Regierung, aber nicht mit Ministern der "
Hisbollah". Die Europäer sind unentschlossener, es gab vereinzelte Kontakte mit "Hisbollah", aber
keine Änderung der bisherigen Linie.
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Selbstmordattentäter
Von Volker Trusheim
27.8.2007
Volker Trusheim studierte Islamwissenschaften und Judaistik an der Freien Universität Berlin. Er hat sich in seiner Magisterarbeit
mit dem Phänomen Selbstmordattentäter beschäftigt. Seit 2005 ist er Kulturmanager in Assiut Ägypten.
Tel Aviv bis London, von Islamabad bis New York – Selbstmordattentate sind zu einem Synonym
für islamistischen Terror geworden. Wo liegen die Wurzeln dieses Phänomens, wer sind die
Attentäter? Wie ist das Verhältnis der islamischen Religion zu dieser Form von Gewalt?
Plakate von Selbstmordattentätern in Nablus. (© picture-alliance/AP)
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Was sind Selbstmordattentate?
Selbstmordattentate sind ein modernes Phänomen, schließlich wird zu ihrer Durchführung ein
neuzeitliches Mittel – Sprengstoff –benötigt, mitunter auch ein Fahr-, Flugzeug oder anderes Vehikel.
Die mediale Wirkung und Verwertung spielt eine sehr wichtige Rolle.
Der israelische Terrorismusforscher Yoram Schweitzer hat im Kontext der Selbstmordattentate im
arabisch-israelischen Konflikt folgende Definition aufgestellt: "Ein Selbstmordattentat ist ein politisch
motivierter, gewaltsamer Akt, der durch ein oder mehrere sich selbst bewusster Individuen durchgeführt
wird, die aktiv und absichtlich ihren eigenen Tod verursachen, indem sie sich mit ihrem ausgewählten
Ziel in die Luft sprengen. Der Tod des Ausführenden ist die Voraussetzung für den Erfolg der Mission
" (Yoram Schweitzer, 2001). Im Gegensatz zum "herkömmlichen" Attentat besitzt das
Selbstmordmordattentat einen höheren Symbolwert.
Ein Blick in die Geschichte
Das Selbstmordattentat ist ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Terrorismus-Forschung
versucht, eine Genealogie von Märtyreraktionen zu entwickeln und so zu erklären, wie das heutige
Phänomen der Selbstmordattentate zu verstehen ist. Dabei wird deutlich: Das Selbstmordattentat ist
keineswegs eine rein islamische Erscheinung.
Die Assassinen
Die Assassinen waren eine schiitische Sekte des 12. und 13. Jahrhundert im heutigen Iran. Junge
Männer dieser Sekte sollen Persönlichkeiten der sunnitischen und christlichen Elite im Nahen Osten
mit vergifteten Dolchen ermordet haben, wobei die Attentäter den eigenen Tod nach der Tat bereitwillig
in Kauf nahmen. Aus ihrem Namen rührt das englische Wort "assassin" = Attentäter her. Wie viel
Wahrheit in den geschichtlichen Überlieferungen steckt, ist schwer auszumachen.
Südost-Asien
Im 18. und 19. Jahrhundert taucht das Phänomen von "selbstmörderischen" Attentaten unter Muslimen
in Südost-Asien wieder auf. Es wird von jungen fanatisierten Männern berichtet, die sich mit Messern,
Macheten oder Gewehren auf Truppen der spanischen und amerikanischen kolonialen
Besatzungstruppen stürzten. Ihren eigenen Tod haben sie bei solchen Aktionen eingeplant. Der
militärische Nutzen war gering – die Wirkung auf die Moral der Kolonialtruppen jedoch verheerend.
Japan
Im Jahr 1944, als sich die Niederlage des Japanischen Kaiserreiches im Zweiten Weltkrieg
abzuzeichnen begann, setzte die japanische Armeeführung Geschwader von fliegenden
Selbstmördern ein, die ihre Maschinen in amerikanische Kriegsschiffe stürzten. Die lebendige
Rückkehr eines Piloten galt als unehrenhaft. Es kann von einer systematischen Institutionalisierung
des Selbstmordes als Kriegswaffe gesprochen werden. Obwohl der Einsatz von "Kamikaze-Fliegern
" den Vormarsch der amerikanischen Truppen nicht effektiv stoppen konnte, hatte er großen Einfluss
auf deren Kampfmoral.
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Israel/Palästina
In den 1970er Jahren begannen palästinensische Freischärler ("Fedayyin") mit Angriffen auf israelische
Truppen und die Zivilbevölkerung. Ausgerüstet mit Pistolen, Maschinengewehren und Handgranaten
drangen Fedayyin-Gruppen tief in israelisches Territorium ein. Eine heile Rückkehr war meist
ausgeschlossen, die Kämpfer nahmen den Tod bereitwillig in Kauf. In den Augen der palästinensischen
Bevölkerung wurden sie dadurch zu Märtyrern.
Iran/Irak
Eine besonders auto-destruktive Form von selbstmörderischen Attacken fand im ersten Golfkrieg
(1980 – 88) zwischen Iran und Irak statt, als seitens der Iraner ganze Heerscharen von "Freiwilligen
" durch irakische Minenfelder geschickt wurden. Durch die Explosion der Minen wurde der Weg für
die reguläre Armee frei geräumt. Vielen dieser Märtyrer, darunter auch Kindern, wurden kleine Schlüssel
mit auf den Weg gegeben, die ihren direkten Aufstieg in den Himmel symbolisieren sollten.
Libanon
Im Jahr 1983 zündete ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen LKW auf dem Gelände der
amerikanischen Botschaft in Beirut. Im selben Jahr erfolgte auf gleiche Weise ein Attentat auf einen
französischen Militärstützpunkt. Später bekannte sich die schiitische Hisbollah zu den Anschlägen.
Die Opferzahlen gingen in die Hunderte. Direkte Folge waren der französische und amerikanische
Abzug aus dem Libanon.
Sri Lanka
Das Beispiel Sri Lanka macht klar, dass Selbstmordattentate kein rein islamisches Phänomen sind.
Die "Tamilischen Tiger", eine nationale Befreiungsarmee der tamilischen Bevölkerungsminderheit,
kämpft auf der Insel um die Unabhängigkeit von der indisch-dominierten Zentralregierung. Seit den
1990er Jahren führte die Gruppe über 100 Selbstmordattentate durch. Ein verhältnismäßig großer Teil
davon wurde von Frauen begangen.
Selbstmordattentate heute
Israel/Palästinensergebiete
Von 1993 bis 1996 und schließlich in der zweiten palästinensischen "Intifada" ab 2000 wurde das
Selbstmordattentat zur bevorzugten Waffe verschiedener palästinensischer Organisationen, darunter
auch säkulare Gruppierungen. Während sich die Angriffe der Selbstmordattentäter zuerst weitgehend
auf militärische Ziele erstreckten, wurden später auch Märkte, Restaurants, Einkaufszentren und
öffentliche Verkehrsmittel in Israel zu Zielen. Die Verluste unter der israelischen Zivilbevölkerung waren
verheerend und haben dem Ansehen der Palästinenser, zumindest in den westlichen Medien, schwer
geschadet.
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Ausweitung der Anschlagsgebiete
Zum Symbol für Selbstmordattentate schlechthin wurden die Angriffe vom 11. September 2001, als
19 Attentäter vier Flugzeuge entführten und samt Passagieren als Waffe missbrauchten. Damit läutete
die islamistische Formation al-Qaida unter Führung Usama Bin Ladens einen Großangriff auf den
Westen ein. Es folgten viele weitere Attentate, sowohl im Nahen Osten als auch in anderen Teilen der
Welt. Nicht alle davon waren Selbstmordattentate.
Irak
Die Lage im heutigen Irak ist unübersichtlich. Ein Großteil der Aufständischen scheint der sunnitischen
Bevölkerung in den mittleren Provinzen Iraks anzugehören. Daneben bedroht ein Bürgerkrieg zwischen
sunnitischer und schiitischer Bevölkerung das Land. Jedoch scheint ein überwiegender Teil der
Selbstmordattentäter ausländischer Herkunft zu sein, vor allem aus dem arabischen Raum. Ähnlich
wie Afghanistan in den 1980er Jahren entwickelt sich der Irak zu einem internationalen Schlachtfeld.
Fazit
Selbstmordattentate scheinen Teil einer asymmetrischen Kriegsführung zu sein. Sie kommen immer
dann zum Einsatz, wenn keine andere erfolgversprechende militärische Option offen steht. Dabei
sollen verschiedene Ziele erreicht werden: Die Bekämpfung eines Gegners, der mit anderen Mitteln
nicht zu treffen ist, eine größtmögliche Opferanzahl unter der Zivilbevölkerung und eine hohe
Medienwirksamkeit.
Wie sich in verschiedenen Konfliktfeldern (Israel-Palästinensergebiete, Libanon, Sri Lanka) gezeigt
hat, kann das Phänomen aber auch wieder verschwinden, wenn es innerhalb der Gruppen zu einer
Demoralisierung kommt, der Rückhalt unter der eigenen Zivilbevölkerung verloren geht, die politischen
Ziele erreicht worden sind oder ein anderes Mittel probater erscheint, um die angestrebten Ziele zu
erreichen.
Eine Typologie der Attentäter
Eine genaue Typologie von Selbstmordattentätern ist schwierig. Während die Attentäter des 11.
September mit Namen und sozialem Hintergrund bekannt sind, sterben andere wie z.B. im Irak oftmals
unbekannt. Aus Untersuchungen über Selbstmordattentäter im israelisch-palästinensischen Konflikt
hat sich jedoch folgendes Bild ergeben: Der typische Selbstmordattentäter ist jung, männlich,
überdurchschnittlich gebildet und unverheiratet. Auch wenn es vereinzelt ältere oder weibliche
Selbstmordattentäter gibt, so scheint sich diese Charakterisierung doch bestätigt zu haben. Als
mögliche Motive lassen sich Hoffnungslosigkeit, Glaube, Nationalismus, Streben nach Anerkennung,
Rache oder auch Geld nennen – schließlich wird Hinterbliebenen oftmals eine Summe aus Fonds
ausgezahlt, die extra zu diesem Zweck eingerichtet worden sind.
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Islamische Positionen zu Selbstmordattentaten
Selbstmordattentäter oder Märtyrer? Dies ist eine der brisantesten Fragen im gegenwärtigen
islamischen Diskurs über dieses Phänomen. Schon aus religiöser Sicht kommt dieser Unterscheidung
große Bedeutung zu, denn grundsätzlich ist der Selbstmord im Islam verboten. Dies wird aus zwei
Suren des Korans hergeleitet. So heißt es in Sure 2, 195: "... und stürzt euch nicht mit eigner Hand
ins Verderben..." und in Sure 4, 29: "... und begeht nicht Selbstmord...". Ein Selbstmörder (arab.
intihari) wird nach islamischer Tradition mit ewiger Verdammnis in der Hölle bestraft.
Dagegen ist der Märtyrer (arab. schahid oder mustaschhid) eine verehrte und respektierte Figur. Der
bedeutendste Märtyrer ist derjenige, der für Gott (arab. fi sabil Allah) auf dem Schlachtfeld stirbt. Ihm
wird direkter Zugang zum Paradies noch vor dem Tag des Jüngsten Gerichts gewährt. Ob ihm dort 72
Jungfrauen zur Seite stehen und daher ein sexuelles Motiv eine Rolle spielt, ist in der islamischen
Tradition umstritten. Daneben existieren noch andere Märtyrer, z.B. die Opfer von Naturkatastrophen.
Während auch diesen das Paradies versprochen ist, müssen sie noch bis zum Tag des Jüngsten
Gerichts warten. Selbstmordattentäter werden oftmals als Märtyrer verehrt. Sie drehen
Abschiedsvideos, tauchen auf Plakaten und einschlägigen Internetseiten auf. Um den
Selbstmordattentäter herum hat sich eine Medienmaschine gruppiert, die das Ereignis mit allen
modernen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit ausschlachtet. Der Märtyrer soll nicht vergessen werden,
seine Tat dient als Vorbild für die Lebenden.
Weder unter muslimischen Rechtsgelehrten noch in der islamischen Öffentlichkeit gibt es eine
einhellige Meinung zu Selbstmordattentaten. Betrachtet man das arabische Meinungsbild – in
Zeitungen, Internet und Fernsehen – so kann eher von einer generellen Zustimmung zu
Selbstmordattentaten gesprochen werden, die jedoch stark kontextabhängig ist.
In der theologischen Diskussion über Selbstmordattentate kursieren verschiedene Meinungen. Einige
muslimische Rechtsgelehrte haben aus oben genannten Koranversen das absolute Verbot des
Selbstmords abgeleitet. Ihrer Ansicht nach ist jeder, der mit der festen Absicht in den Kampf zieht zu
sterben, ein Sünder.
Andere Rechtsgelehrte meinen, dass die Absicht differenziert bewertet werden muss. Falls die Absicht
die Selbsttötung ist, so handelt es sich um Selbstmord. Ist die primäre Absicht jedoch die Tötung des
Feindes, so ist es eine erlaubte Tat. Diese Erlaubnis wird aus der Pflicht zum Jihad abgeleitet. "Jihad
", wörtlich übersetzt "Bemühung" oder "Streben", taucht im Islam als doppeldeutiges Konzept auf.
Der "große Jihad" bezeichnet das Streben eines jeden Muslims nach einem guten und gottgefälligen
Leben. Der "kleine Jihad" ist hingegen als Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Eindringlinge
zu verstehen. In der klassischen Rechtstheorie wurde daraus ein komplexes Regelwerk von erlaubten
und verbotenen Kriegshandlungen und –zielen entworfen. In der Tradition islamistischer Denker hat
sich der Jihad als Pflicht zum Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus und schließlich das
gewaltsame Vorgehen gegen alles "Unislamische" durchgesetzt.
Neben den Interpretationen von Rechtsgelehrten spielen auch die öffentliche Meinung und staatliche
Positionen eine wichtige Rolle. Während die Anschläge vom 11. September 2001 in der islamischen
öffentlichen Meinung und seitens der meisten staatlichen Führungen, zumindest bis zum
amerikanischen Einmarsch im Irak, weitgehend auf Ablehnung gestoßen sind, werden Anschläge –
ob konventionell oder als Selbstmord – im israelisch-palästinensischen Konflikt und im Irak zumeist
gutgeheißen. Aus islamischer Sicht handelt es sich bei diesen Konflikten um Abwehrkämpfe - Jihad
im Sinne einer Verteidigung von muslimischen Gebieten - in denen das Selbstmordattentat angesichts
der militärischen Überlegenheit des Gegners erlaubt ist.
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Ausblick
Es ist zu befürchten, dass uns das Phänomen der Selbstmordattentate auch in den kommenden Jahren
weiter begleiten wird. Während sich lokale Konflikte wie in den Palästinensergebieten und im Irak
durch Friedenslösungen regeln ließen, die auf den Rückhalt der Zivilbevölkerung stoßen und damit
terroristischen Gruppen den Rückzugsraum nehmen, lässt sich gegen den internationalen Terrorismus
nur mit polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln vorgehen. Es ist davon auszugehen, dass
Selbstmordattentate in der islamischen Öffentlichkeit so lange Unterstützung finden werden, wie dort
das Gefühl vorherrscht, einer generellen Attacke durch den Westen ausgeliefert zu sein. Aufgrund der
schweren sozialen und politischen Verwerfungen in fast allen arabischen und vielen islamischen
Ländern, die oftmals dem Westen in die Schuhe geschoben werden, und der tatsächlich existierenden
westlichen Intervention – wie in Afghanistan und im Irak - ist nicht von einer schnellen Änderung dieses
Meinungsbildes auszugehen.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Islam an der Macht
Gottesstaat Iran
Von Peter Philipp
25.7.2011
Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche
Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung,
dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und
Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.
Iran unterstützt seit vielen Jahren anti-israelische Terrorgruppen. Vor allem Hisbollah gilt als
der "verlängerte Arm" Teherans im Libanon. Peter Philipp mit einem Überblick von der "
islamischen Revolution" 1979 unter Khomeini bis heute zu Mahmud Ahmadinejad.
Wenn Ebrahim Yazdi nicht gerade wieder einmal im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis einsitzt,
dann steht der (1931 geborene) ehemalige iranische Außenminister der ersten nach-revolutionären
Regierung weitgehend unter politischer Isolation. Der Führer der verbotenen "Iranischen
Freiheitsbewegung" lässt sich durch solche Willkür aber nicht beeindrucken. Obwohl selbst ein "Mann
der ersten Stunde", pflegt er das Haupt-Übel der Entwicklung seines Landes sehr plastisch
darzustellen: Man müsse sich den iranischen Staat wie das Gebälk eines Tempels vorstellen, das auf
zwei Säulen ruhte – die eine sei die weltliche Macht des Schahs gewesen, die andere die Geistlichkeit.
Mit der "Islamischen Revolution" sei eine der beiden Säulen entfernt worden und das Bauwerk habe
dadurch natürlich an Stabilität verloren. Es sind solche Aussagen, die Yazdi in den letzten Jahrzehnten
daran gehindert haben, wieder eine politische Rolle in seinem Land zu spielen. In den Augen der
führenden Geistlichkeit kommen solch ketzerische Ansichten Verrat gleich, weil sie an den Grundfesten
der "Islamischen Republik" rütteln.
Bereits 36 Jahre vor der Revolution schreibt deren späterer Führer, Ruhollah Khomeini, 1943, dass
die von ihm erträumte islamische Regierung auf göttlichem Recht basiere und ihre Gesetze deswegen
nicht angezweifelt oder geändert werden dürften. Obwohl Khomeinis Ideen auch damals schon unter
anderen religiösen Führern durchaus Anhänger finden, sind sie keineswegs die bestimmende DenkRichtung. Diese wird eher vorgegeben von Hossein Borudscherdi, dem bisher letzten "Marja-el-taqlid
", eine absolute religiöse Autorität, die von allen Schiiten anerkannt und respektiert wird. Ähnlich wie
es später im Irak Großayatollah Ali Sistani tut, lehnt Borudscherdi die aktive Beteiligung der Geistlichkeit
an der Politik ab. Ein islamischer Staat werde erst mit dem Wiederauftauchen des 12. Imam entstehen –
des verschwundenen oder "verborgenen Imam", auf dessen Rückkehr die Schiiten in einer Art
messianischem Glauben warten. (Der 12. Imam werde diesen Staat dann führen und die Rolle der
Geistlichkeit bis zu seiner Rückkehr sei eher die von Stellvertretern – so ist es auch in der Verfassung
der Islamischen Republik festgelegt.)
Khomeini hingegen tritt entschieden für eine aktive politische Rolle des Klerus ein. 1963 ruft er
wiederholt offen zur Revolution und zum Sturz des Schahs auf, er wird daraufhin festgenommen, unter
Hausarrest gestellt und schließlich 1964 in die Türkei verbannt. Ein Jahr später wechselt er in die
Heilige Stadt der Schiiten, Najaf, im Irak, wo er bis 1978 bleibt und von wo er dann in die Nähe von
Paris gelangt. Am 1. Februar 1979 kehrt Khomeini in den Iran zurück und übernimmt die Führung der
neuen "Islamischen Republik".
Wie solch ein Staat ("Hokumat-e eslami") aussehen soll, hat Khomeini bereits während seines
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Aufenthaltes im irakischen Najaf dargelegt: Der islamische Staat müsse ein Staat des Gesetzes sein,
wobei Gottes Wort Gesetz sei. Um Gottes Wort klar und eindeutig zu definieren, ist zunächst geplant,
einen Rat der Rechts- und Religionsgelehrten zu schaffen, unter Khomeini wird daraus aber sehr rasch
die Institution des "Obersten Rechtsgelehrten", der die unangefochtene Autorität in sämtlichen Fragen
hat ("velayat-e faqih" – die "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten"). Niemand ist überrascht, dass
Khomeini als erster dieses Amt des "Obersten Rechtsgelehrten" übernimmt, gefolgt nach seinem Tod
durch Ayatollah Ali Khamenei.
Das Wort des obersten Führers wiegt mehr als alles andere in der Islamischen Republik. Widerspruch
kommt dem Tatbestand der Gotteslästerung nahe. Ein Zustand, der in krassem Widerspruch steht zur
Tatsache, dass regelmäßig Wahlen stattfinden – auf regionaler Ebene, für das nationale Parlament ("
Madschlis") und für das Amt des Präsidenten. Dieses zunächst sehr demokratisch wirkende Verfahren
wird eingeschränkt durch die Vollmachten, die über dem Parlament und dem Präsidenten angesiedelt
und die nicht Ergebnis freier Abstimmung sind. Außer der Position des "Obersten Führers" gilt dies
vor allem für den "Wächterrat".
Der Wächterrat
Die zwölf Mitglieder dieses Wächterrates werden zur einen (geistlichen) Hälfte vom "Obersten Führer
", zur anderen (juristischen) vom Parlament ernannt. Und am Wächterrat kommt man nicht vorbei: Ob
es darum geht, Kandidaten für bevorstehende Wahlen zu genehmigen oder im Parlament
angenommene Gesetze wie auch andere wichtige Beschlüsse zu bestätigen: Der Wächterrat hat
immer das letzte Wort. Und er setzt immer die Befolgung einer erzkonservativen Linie durch. Selbst
wenn – wie in den Jahren unter Präsident Mohamad Khatami (1997 bis 2005) – reformorientierte Kräfte
die Mehrheit im Parlament stellen.
Was nicht vor den Wächterrat kommt, wird vom "Obersten Führer" eigenmächtig entschieden: So
mahnte Ayatollah Khamenei 1997 den gerade gewählten Präsidenten Khatami, nie zu vergessen, dass
es noch "eine Autorität über ihm" gebe. Khamenei meinte sich selbst. Wie er seine Machtposition
einsetzt, demonstrierte er beim Versuch des – damals von Reformern beherrschten – Parlaments, ein
Gesetz für mehr Meinungs- und Pressefreiheit zu verabschieden: Khamenei "riet" davon "ab" und der
Plan wurde fallen gelassen. Man wusste nur zu gut, dass der "Oberste Führer" das Oberkommando
über die Sicherheitsdienste hat – hier besonders die ihm ergebenen "Revolutions-Garden" ("Pasdaran
") – dass er die staatlichen Medien kontrolliert und dass er sich so – wie mit Hilfe des Wächterrates –
auch direkt in die Politik des Präsidenten einmischen kann: So verlor Khatami im Laufe seiner Amtszeit
die wichtigsten Minister und Weggefährten, die sämtlich auf oberstes Geheiß zum Rücktritt gezwungen
und zum Teil sogar vor Gericht gestellt wurden.
Khatamis Amtsnachfolger, Mahmoud Ahmadinejad, hat es zunächst etwas leichter: Der konservative
ehemalige Bürgermeister von Teheran genießt in seiner ersten Amtszeit weitgehend Vertrauen und
Unterstützung des "Obersten Führers" und das stärkt ihm den Rücken im Atomstreit mit dem Westen
wie auch gegenüber der wachsenden Kritik im Iran, besonders an seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Die zweite Amtszeit beginnt mit den umstrittenen Wahlen 2009: Die Anhänger der oppositionellen "
Grünen Bewegung" glauben nicht, dass Ahmadinejad die Mehrheit der Stimmen erhalten hat – wie es
aus dem Innenministerium heißt. Proteste und Unruhen werden niedergeschlagen, es gibt Tote,
Verletzte und Verhaftungen. Khamenei steht noch hinter Ahmadinejad, mit der Zeit aber kommen
Meinungsverschiedenheiten auf und der "Oberste Führer" greift wiederholt in Ahmadinejads
Personalpolitik ein. Der Präsident ist darüber so verärgert, dass er tagelang den Regierungssitzungen
fernbleibt. Erst als konservative Abgeordnete warnen, hierdurch disqualifiziere er sich für sein Amt,
macht Ahmadinejad grollend einen Rückzieher. Das einst so gute Verhältnis zwischen beiden aber
ist gestört: Ahmadinejad wird nachgesagt, er wolle den Klerus entmachten und statt dessen die alten
Freunde und Weggefährten aus den Reihen der "Pasdaran" (Revolutionsgarden) in wichtige Staatsund Regierungsämter bringen. Vor allem soll offenbar einer vor ihnen Ahmadinejads Nachfolger
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werden, wenn dieser 2013 nicht mehr für eine dritte Amtszeit kandidieren darf.
Von Teheran zur Weltrevolution
Schon früh nach der Islamischen Revolution beginnt die Führung in Teheran darüber nachzudenken,
wie die Revolution über die Grenzen des Iran hinweg vorangetrieben und auf andere islamische Länder
übertragen werden könnte. Man hat auch in Teheran verstanden, dass die Revolution religiösen und
islamistischen Kreisen anderswo Hoffnung gemacht hat, dass auch bei ihnen der Sturz repressiver
Regime und deren Ersatz durch ein klerikales Staatssystem möglich werden könnte.
Ein wichtiges Hindernis stellt freilich die Tatsache dar, dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit
der Muslime um Sunniten handelt und nicht – wie im Iran – um Schiiten. Und dass diese Sunniten
zwar gerne "die Anregung" einer islamischen Revolution übernehmen, sonst aber nichts oder nur wenig
mit dem Iran zu tun haben wollen. Verschärft wird dieses Gefühl durch den langen Krieg mit dem Irak
(1980 bis 1988), bei dem sich viele Araber mit Bagdad solidarisieren. Mit der Ausnahme Syriens,
dessen schiitisch-alawitische Führung damals noch mit dem Bagdader Baath-Regime konkurriert und
sich deswegen auf die Seite des Iran schlägt. Es beginnt eine Allianz, die bis heute andauert und sich
besonders folgenschwer im und für den Libanon auswirkt: 1982 wird im Beisein des iranischen
Botschafters in Beirut die "Hisbollah" gegründet, eine bewaffnete Schiiten-Miliz, die bis heute ihre
Rückendeckung und ihre Unterstützung aus Syrien und dem Iran erhält. (mehr dazu siehe Artikel "
Hisbollah" in diesem Dossier). Der Libanon ist wegen seines großen schiitischen Bevölkerungsanteils
denn auch ein ideales Betätigungsgebiet für den Iran und die "Hisbollah" wird in vielerlei Hinsicht zum "
verlängerten Arm" Teherans im Libanon: Gegen den Einfluss der USA und Frankreichs dort, vor allem
aber im Konflikt mit Israel. Denn so tief verwurzelt Ablehnung und Hass gegenüber dem Westen bei
den Machthabern der Islamischen Republik auch zu sein scheinen: Gegenüber Israel gibt man sich
völlig kompromisslos:
Ist der Iran unter dem Schah noch eng verbündet mit Israel, so kommt es mit der Revolution zum
völligen Bruch und Teheran macht sich zum Vorreiter der Anti-Israel-Front. Zwar behauptet man, den
Palästinensern nichts vorzuschreiben und sie auch nicht an Verhandlungen mit Israel hindern zu wollen,
Israel wird aber offiziell zumindest als "illegal" bezeichnet. Staatspräsident Ahmadinejad hat schon
wiederholt von der "Notwendigkeit" gesprochen, Israel zu zerstören, und er prophezeit Israel, dass es
selbst zugrunde gehe. Teheran scheint darauf aber nicht warten zu wollen: Es unterstützt seit vielen
Jahren antiisraelische Gruppen - die "Ablehnungsfront" der Palästinenser in Damaskus, "Hamas",
den "Islamischen Jihad" und "Hisbollah". Andere schiitische Zielgruppen, mit deren Hilfe man die
Revolution – und den iranischen Einfluss – verbreiten könnte, gibt es auf dem Westufer des Persischen
Golfes: In Bahrain machen die Schiiten 65 % der Bevölkerung aus, in den Emiraten und in SaudiArabien wie auch im Jemen sind sie eine Minderheit. Diese Bevölkerungsgruppen könnten als "Fünfte
Kolonne" benutzt werden und es gab deswegen auch immer wieder Spannungen mit dem Iran.
So zu Beginn 2009, als Akbar Nateq-Nouri, ein enger Berater des "Obersten Führers", das Königreich
im Persischen Golf im Februar als "14. Provinz des Iran" bezeichnete, auf die der Schah leichtfertig
zu Gunsten der Briten verzichtet habe. Marokko brach daraufhin die Beziehungen zum Iran ab und
nur mit Mühe konnte Teheran weitere Folgen verhindern, indem es versicherte, die Äußerung sei
während der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Revolution gemacht worden und habe nur
historischen Bezug. Teheran zieht es vor, seine Verbindungen zu den schiitischen Bewohnern der
arabischen Golfanrainer hintanzustellen und lieber mit deren Regierungen in panislamischen Projekten
(wie der "Organisation Islamische Konferenz") zu kooperieren. Was freilich das Misstrauen in diesen
Staaten gegenüber dem mächtigen Nachbarn kaum schmälert, auch - und gerade – nicht in der Frage
des Atomstreits mit dem Iran.
Erneute Nahrung erhält dieses Misstrauen durch die Proteste – und ihre Niederschlagung – in Bahrain
2011. Besonders die Medien der Arabischen Halbinsel zeigen rasch auf den Iran, den sie als treibende
Kraft hinter den Demonstrationen ausmachen. Die Beziehungen zwischen dem Iran und den Staaten
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des "Golf-Kooperationsrates" (GCC) verschlechtern sich rapide. Besonders nachdem GCC-Staaten –
allen voran Saudi-Arabien – Truppen nach Bahrain geschickt haben, um die Proteste zu beenden.
Teheran steht kurz vor der Entsendung einer "Hilfsflottille" nach Bahrain, besinnt sich in letzter Minute
aber eines Besseren. Wie schon im Fall Gazas hätte eine solche Demonstration der Zivilbevölkerung
nicht geholfen, statt dessen aber die Spannung in der Region verstärkt.
Eine Sonderrolle nimmt der Irak ein: Hier gibt es eine schiitische Mehrheit von rund 60 Prozent, die
bis zum Sturz des Saddam-Regimes von diesem benachteiligt, unterdrückt und verfolgt wurde.
Wichtige Führer der irakischen Schiiten verbrachten Jahre des Exils im Iran und unterhalten weiterhin
enge Beziehungen zu Teheran. Der Iran ist wiederum auch daran interessiert, dass ihm nahestehende
Kräfte im Irak die Macht ausüben, von einem "Export der Revolution" kann hier aber nicht die Rede
sein. Zumindest nicht von einem "offenen" Export: Die meisten schiitischen Führer – vor allem (der
aus dem Iran stammende) Großayatollah Ali Sistani – lehnen es ab, im Irak eine Islamische Republik
zu etablieren und in Teheran führen wohl eher strategisch-politische und auch wirtschaftliche als
religiöse Gründe zu der engen Zusammenarbeit mit den Schiiten im Irak.
Eine ähnliche Realpolitik verfolgt Teheran auch in Afghanistan und befindet sich damit ungewollt in
einer Interessengemeinschaft mit den USA und dem Westen: Der Iran lehnt die (überwiegend
paschtunisch-sunnitischen) Taliban ab und setzt sich für eine Beruhigung und Normalisierung des
Nachbarlandes im Osten ein.
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Islamismus in Südostasien
Von Prof. Dr. Christoph Schuck
5.8.2009
lehrt Politikwissenschaft am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Seine
Forschungsschwerpunkte sind erweiterte Sicherheitsaspekte, transnationaler Terrorismus und theoretische Aspekte politischer
Herrschaft.
Die Jemaah Islamiyah ist seit den Anschlägen auf Bali 2002 der Öffentlichkeit bekannt. Neben
ihr sind in Südostasien viele islamistische Gruppierungen aktiv. Sie unterscheiden sich in ihrer
Struktur, ihren Zielen und ihren Mitteln. Wie sind die Organisationen entstanden und welche
Rolle spielen sie in der Region?
Allgemeine Verortung
Islamismus ist in Südostasien kein gesellschaftlich dominierendes Phänomen. Selbst in Ländern mit
einem hohen muslimischen Anteil der Bevölkerung (z.B. Indonesien und Malaysia) überwiegt ein
Islamverständnis, das keine Züge von Islamismus aufweist. Robert Hefner (2000) hat daher die
Verwendung des Begriffs "civil Islam" vorgeschlagen. In Indonesien beispielsweise, dem größten
überwiegend von Muslimen bewohnten Land der Welt, findet seit 1998 ein insgesamt erfolgreicher
Demokratisierungsprozess statt. Dies verdeutlicht, dass die von Samuel P. Huntington (1996, 29)
postulierte Allgemeinthese, die islamische Kultur sei für die problematische Demokratieetablierung in
großen Teilen der muslimischen verantwortlich, nicht aufrecht erhalten werden kann.
Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass islamistische Gruppierungen in vielen Staaten
Südostasiens über eine lange Tradition verfügen, die sich mitunter bis in die Kolonialzeit
zurückverfolgen lässt. So gab es beispielsweise in Indonesien zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine
Tendenz zur Islamisierung. Die Muslime wollten sich hiermit, etwa durch Gründung der Organisation
Sarekat Islam, ökonomisch wie kulturell von den nicht-muslimischen Händlern und Kolonialherren
abgrenzen (vgl. Schwarz 2000, 167). Der Islamismus nahm während der Kolonialzeit auch die Funktion
wahr, die verschiedenen muslimischen Bevölkerungsgruppen des zukünftigen Indonesiens zu einen.
Dies brach erst mit Beginn der Phase auseinander, in der Überlegungen konkreter wurden, wie ein
unabhängiges Indonesien ordnungspolitisch ausgerichtet werden sollte. Dabei konnten sich die
Anhänger eines auf den Gesetzen des Islams basierten Staates nicht durchsetzen. Dennoch
opponierten diese seit der Unabhängigkeit – mit unterschiedlicher Intensität – kontinuierlich gegen
das nach ihrer Vorstellung zu säkulare Staatssystem.
Mit dem Wissen, dass sich in Südostasien historisch gewachsene Islamismusstrukturen mit neueren
Entwicklungen verbinden, werden im Folgenden in exemplarischer Auswahl islamistische Akteure der
Region besprochen. In Anlehnung an das an anderer Stelle vorgelegte Islamismuskonzept (Schuck
2008, 30-57) wird auch hier eine Islamismusdefinition zugrunde gelegt, die sich nicht über die
eingesetzten Mittel, sondern über Ziele erfassen lässt – konkret: das spezifische Verständnis der
gottbasierten Herrschaftslegitimation (vgl. Schuck 2007). Deshalb werden auch solche Akteure
berücksichtigt, die Gewalt ablehnen aber trotzdem die Einführung der Shari´ah propagieren – anders
als bei Riexingers Begriffsbestimmung sind zudem auch traditionalistische oder apolitische
Gruppierungen eingeschlossen.
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Islamistische Gruppierungen in Südostasien
Gegenwärtig gibt es eine kaum überschaubare Anzahl von verschiedenen islamistischen
Gruppierungen in Südostasien. Manche von ihnen sind bereits längere Zeit aktiv, andere Gründungen
in jüngerer Zeit. Einige sind gut organisiert und international vernetzt, andere dagegen verfügen über
einen kaum nennenswerten Einfluss. Alle Gruppierungen verfolgen jedoch das Ziel, den Islam in
Gesellschaft und Politik zu stärken und legislativ zu verankern – zumindest auf lange Sicht. Dennoch
gilt für die verschiedenen islamistischen Gruppierungen in Südostasien das, was Stepan und Robertson
(2003, 40) zu Recht auch mit Blick auf den Islam festgestellt haben – nämlich, dass dieser "multivocal
" sei: Zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppierungen gibt es zwar (per definitonem) einen
Konsens zur erwünschten Rolle des Islams allgemein. Im Grad der Organisation, den kurzfristigen
Zielen, der internationalen Vernetzung und vor allem in der Mittelwahl unterscheiden sie sich jedoch
erheblich. Aus diesem Grund kann im Folgenden nur ein Ausschnitt der in der Region aktiven
islamistischen Gruppierungen besprochen werden.
Militanter, landesübergreifender Islamismus
Hier ist insbesondere die Jemaah Islamiyah (Islamische Gemeinschaft, JI) zu nennen. Bei der JI
handelt es sich um eine militante islamistische Organisation, die das Ziel verfolgt, einen islamischen
Staat in Südostasien (mit Teilen Australiens) zu etablieren. Sie ist daher nicht einem einzelnen Staat
der Region zuzuordnen, auch weil innerhalb wahhabitischer Konzepte Erscheinungsformen wie
Staaten, Nationalismus oder Patriotismus als "anti-Islamic" abgelehnt werden (vgl. Lewis 2004, 119).
Die Wurzeln der JI entsprechen den eingangs beschriebenen Kontinuitätsstrukturen; die International
Crisis Group (ICG) hat unlängst dokumentiert, wie stark sich der Zusammenhang zwischen dem
indonesischen Darul Islam (Haus des Islams, DI) und der JI gestaltet (vgl. ICG 2005). Ausgangspunkt
der Organisation ist ein pesantren (islamisches Internat) in dem Ort Ngruki in der Nähe von Solo in
Zentraljava. Gegründet wurde es unter der Bezeichnung Pondok Ngruki 1973 von Abu Bakar Ba´ashir
und dem mittlerweile verstorbenen Abdullah Sungkar. Handlungsspezifisch trat die JI vor allem im
Anschluss an den Fall des indonesischen Suharto-Regimes im Jahr 1998 in Erscheinung – das dadurch
zunächst entstandene Machtvakuum begünstigte die (Wieder-)Ansiedlung der Führungskader und
den Aufbau von Strukturen (vgl. Abuza 2007, 5). Das klar militante Profil der JI besitzt verhaltens- wie
kommunikationsstrategisch Ähnlichkeiten zum Al-Qaida Netzwerk (vgl. Schuck 2008, 171-184), was
in den beiden Bombenanschlägen (2002, 2005) auf der Ferieninsel Bali gipfelte. Bei diesen wurden
mehrere hundert Menschen getötet. Insbesondere hinsichtlich des Trainings hat JI auch mit anderen
Islamistengruppen wie z.B. der philippinischen Abu Sayyaf Group (ASG) zusammengearbeitet
(Gunaratna 2003, 19). Bemerkenswert sind die Erfolge, die Sicherheitskräfte gegen die JI in letzter
Zeit haben verbuchen können. So wurden viele der Drahtzieher der Bali-Attentate mittlerweile verhaftet,
darunter Riduan Isamuddin ("Hambali").
Militanter, landesfokussierter Islamismus
In mehreren Staaten der Region operieren militante islamistische Gruppierungen, bei denen davon
ausgegangen werden kann, dass sie – anderes als JI – primär geographisch eng begrenzte Ziele
verfolgen.
Mit langjähriger Kontinuität kämpfen im Süden Thailands verschiedene islamistische Bewegungen –
wahlweise für mehr Autonomie von Bangkok, vollständige Unabhängigkeit oder einen Anschluss an
Malaysia. Aufgrund des starken Fokus auf Selbstbestimmung bzw. Unabhängigkeit wird zu Recht die
Frage aufgeworfen, ob es sich dabei nicht mehr um einen ethnisch geprägten Konflikt handelt, bei
dem der Islam vor allem eine identitätsstiftende Abgrenzungsrolle spielt (vgl. Islam 2006). Die ICG
geht dementsprechend davon aus, dass islamistische Gruppierungen in Südthailand, wie etwa die
Barisan Revolusi Nasional-Coordinate (National Revolutionary Front-Coordinate, BRN-C), keine
nennenswerten Netzwerksverbindungen zu Al-Qaida oder JI unterhalten (ICG 2009: i).
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In den muslimisch geprägten südlichen Landesteilen der Philippinen operieren Islamisten, die das Ziel
verfolgen, sich vom überwiegend katholischen Restland abzuspalten. Dabei sind insbesondere drei
Gruppierungen zu nennen, die sich zum Teil in erheblicher Konkurrenz zueinander bewegen: Zum
einen ist dies die bereits genannte ASG, die nicht zuletzt durch die Entführung einer deutschen Familie
auf sich aufmerksam gemacht hat. Vor allem nach dem Tod ihres damaligen Anführers Abdurajik
Janjalani (1998) ist sie verstärkt in eine von Religionsfragen unabhängige Sphäre des organisierten
Verbrechens abgeglitten (Gunaratna 2003, 167). Daneben beansprucht die Moro Islamic Liberaton
Front (MILF) Aufmerksamkeit. Bei der MILF handelt es sich um eine Abspaltung der zunehmend
marginalisierten Moro National Liberaton Front (MNLF), die sich zur Konfliktbeilegung für eine
Verhandlungslösung mit der philippinischen Regierung einsetzte. Peter Kreuzer (2005) hat in seinen
Studien nachgewiesen, dass sich neben dem Islam vor allem auch die Zugehörigkeit spezieller
Clanstrukturen als maßgeblich für die Bildung einer Abgrenzungsidentität erweist. Der Islam fungiert
damit also nicht als die alleinige Handlungsmotivation zur Rebellion der MILF und assoziierter Gruppen.
Entsprechend schwierig gestalten sich bis heute Versuche der Konfliktbefriedung.
In Indonesien sind zwei islamistische Gruppierungen erwähnenswert, die sich im Kontext des
Demokratisierungsprozesses formierten. Bei dem von Ja´far Umar Thalib angeführten Laskar Jihad
(Kämpfer des Heiligen Krieges, LJ) handelt es sich um einen im Jahr 2000 gegründeten
paramilitärischen Verband, der insbesondere auf den Molukken in Kämpfe gegen christliche
Bevölkerungsgruppen eingriff. Hefner (2005b, 290) geht davon aus, dass der Aufbau des LJ von Teilen
des indonesischen Militärs protegiert wurde und dass der Entzug dieser Unterstützung zur (temporären)
Auflösung der Gruppe führte. Die Front Pembela Islam (Islamische Verteidigungsfront, FPI) dagegen,
die sich als moralische Instanz definiert und zur Selbstjustiz neigt, vertritt die Auffassung, gegen alles "
Unislamische" vorgehen zu müssen (Glücksspiele, Alkoholausschank in Restaurants, Essensverkauf
während des Fastenmonats Ramadan, westliche Touristen, Menschenrechtsgruppen usw.). Dies, so
die FPI, sei notwendig, da der indonesische Staat dazu nicht willens oder in der Lage sei (vgl. Hadiwinata
2007). Obwohl der Anführer Habib Rizieq Shihab wiederholt festgenommen worden ist, haben die
Aktionen der FPI kaum nachgelassen.
Gewaltablehnender Islamismus
Neben dem gewaltbereiten Islamismus können auch gewaltablehnende Formen in Südostasien
beobachtet werden. Diese können sich sowohl außerhalb des parteipolitischen Partizipationsspektrums –
beispielsweise in Form von (vielfach privat finanzierten) islamistischen Bildungseinrichtungen – als
auch innerhalb bewegen. Mit Blick auf letzteres sei exemplarisch auf Malaysia und Indonesien
verwiesen: So hat sich zum Beispiel die Parti Islam Se-Malaysia (Islamische Partei Malaysias, PAS)
wiederholt offen für die Einführung von Elementen der Shari´ah ausgesprochen. Weniger direkt verhält
sich in Indonesien die Partai Keadilan Sejahtera (Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei, PKS), die in
den letzten Jahren, anders als in ihrer Gründungsphase, von öffentlichen Aufrufen zur Verankerung
der Shari´ah weitestgehend abgesehen hat. Die islamistischen Tendenzen der PKS sind dennoch
unübersehbar. Wie der damalige Vorsitzende Hidayat Nur Wahid im Gespräch mit dem Verfasser
mitteilte, sei die PKS von Denkweisen der ägyptischen Muslimbrüderschaft inspiriert worden. Sie sei
stets bemüht, mit ähnlich strukturierten Parteien im engsten Austausch zu stehen - darunter auch die
Hamas in den palästinensischen Gebieten und die AKP in der Türkei (vgl. Schuck 2008, 205). Der
PKS, so der aktuelle Vorsitzende Tiffatul Sembiring (2006), ginge es basierend auf den Leitsätzen des
Islams darum, ein "spiritually" starkes Indonesien aufzubauen. Inwieweit dies mit dem Ansinnen
einhergeht, "mit Hilfe eines Marsches durch die Institutionen [die] Vision einer Gottesordnung" (Tibi
2004, 18) in die Realität umsetzen zu wollen, bleibt abzuwarten.
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Virtueller Jihad
Die Bedrohung durch den islamistischen Terror in Deutschland und
Europa
Von Elmar Theveßen
12.9.2007
Elmar Theveßen, geb. 1967, studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in Bonn. Der Terrorismus-Experte ist
seit dem 1. Juni 2007 stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Hauptredaktion Aktuelles beim ZDF.
Die fehlgeschlagenen Attacken der Kofferbomber 2006 und die vereitelten Pläne der Terrorzelle
aus Ulm und Saarbrücken 2007 sind deutliche Warnungen: Der Jihad der Extremisten hat
Deutschland erreicht.
Sie fuhren gern Auto - nicht etwa um mit wilden und schnellen Fahrten die Observationsteams
abzuschütteln; sie wollten bei der elektronischen Verfolgungsjagd die Nase vorn haben. Und dafür
waren die häufigen Autofahrten und ein paar technische Tricks, so glaubten sie, das einfachste Mittel.
Die mutmaßlichen Terroristen, die im September 2007 im Sauerland beim Mischen einer Bombe
verhaftet wurden, waren fest davon überzeugt, dass die Fahnder, die sie seit Monaten im Visier hatten,
ihre wahren Absichten nicht kannten; dass ihre Pläne für Terroranschläge auf amerikanische
Militäreinrichtungen, Flughäfen und Diskotheken verborgen geblieben waren. Hochkonspirativ, mit
geheimdienstlichen Methoden, hatten sie kommuniziert und das Internet für ihre Zwecke genutzt. Bei
den Autofahrten durch die Straßen von Ulm wählten sie sich per Laptop in ungesicherte
Drahtlosnetzwerke von Anwohnern ein. Wenn die W-LAN-Verbindung zustande kam, hielten sie kurz
an, öffneten ihr Email-Konto und wendeten eine clevere Methode an, derer sich schon der Chefplaner
der Terroranschläge vom 11. September 2001, Khalid Sheikh Mohammed, häufig bedient hatte.
Er richtete sich eine Email-Adresse bei einem großen Email-Dienst wie hotmail oder gmx ein. Dann
schrieb er einen Entwurf für eine Nachricht, schickte sie aber nicht ab. Stattdessen gab er seine EmailAdresse und das Passwort in einem, ebenfalls mit Passwort geschützten, Chatroom an einen "Bruder
" weiter. Der konnte sich damit auf dem Email-Server den Entwurf ansehen. Die Nachricht selbst wurde
dabei niemals versendet und konnte deshalb auch nicht von den Computerexperten der Geheimdienste
abgefangen werden.
Nach dem Vorbild Khalid Sheikh Mohammeds eröffneten auch die Terrorverdächtigen in Deutschland
häufig neue Email-Konten; so war es beinahe unmöglich für die Ermittler, die Kommunikation der
Terroristen zu überwachen. Dass die Anschlagspläne dennoch vereitelt wurden, ist der Tatsache zu
verdanken, dass die Verdächtigen im Gespräch in ihren verwanzten Wohnungen und Autos unvorsichtig
waren.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Neue Generation von Gotteskriegern
Die neue Generation der Gotteskrieger ist mit modernsten Technologien aufgewachsen und hat die
Multimedialität des Terrors perfektioniert. Das Internet wimmelt geradezu von ihren Produkten. Die
Ideologie Al-Qaida und die ihr verbundenen Terrorgruppen präsentieren sich dort als hypermodernes
Projekt zur Lösung der sozialen und politischen Probleme weltweit. Es ist eine Mischung aus dem
ideologischen Fangnetz einer islamistischen Internationalen und einer Selbsthilfegruppe für
orientierungslose Jugendliche, die ihrem Leben zwischen der sinnentleerten Spaßgesellschaft, der
dumpfen Globalisierungsangst und der sozialen Ungerechtigkeit eine neue Richtung geben wollen.
Quer durch Europa lassen sich junge Leute für diese Ideen begeistern, so war es bei den
Terroranschlägen von London im Juli 2007 und Madrid im März 2004. An diesen Ereignissen, genau
wie an den Vorfällen in Deutschland im September 2007, wird deutlich, wie diese Terrorbedrohung
aussieht. Immer sind es lose Kennverhältnisse, die die Verdächtigen zusammenbringen. Sie kennen
sich, vielleicht sogar aus gemeinsamen Aufenthalten in Trainingslagern (vgl. Chivers, C.J. und Rohde,
David), und sie helfen sich gegenseitig, ohne groß Fragen zu stellen. Zusammengehalten wird dieses
Netz von einer gemeinsamen Ideologie - und die nennen wir Al-Qaida, die eben keine Organisation
mehr ist, sondern eine Weltanschauung, die Gewalt als Selbstverteidigung und Widerstand rechtfertigt.
Nach Auskunft des Vorstehers der marokkanischen Gemeinde von Madrid, Herrn el-Khamouni, sei
nach den Vorschriften des Koran der Jihad im Irak und Israel absolut gerechtfertigt, denn da würden
Muslime ja unterdrückt und angegriffen, also müssten sie sich selbst verteidigen. Anschläge auf
Zivilisten sind erlaubt. Schließlich töte die andere Seite ja auch Zivilisten, z. B. wenn israelische Panzer
Häuser im Flüchtlingslager von Jenin platt walzen und dabei Frauen und Kinder sterben. Spenden für
den heiligen Krieg sind sogar Pflicht, schließlich ist das Spenden eine der Säulen des Islam. Und in
diese Gebiete zu ziehen und mitzukämpfen – Jihad-Tourismus – ist absolut in Ordnung, denn es gilt
ja, den Unterdrückten innerhalb der Gemeinschaft zu helfen.
Nicht in Ordnung aber sind Anschläge in westlichen Ländern. Warum nicht? Schließlich, so Herr elKhamouni, werde man hier ja nicht angegriffen und unterdrückt, also habe man auch kein Recht zur
Selbstverteidigung. Aber es gibt da zwei Probleme: Wenn Terror anderswo in Ordnung ist, dann wäre
es doch nur ein winziger Schritt zu sagen: Vielleicht kann ich den Unterdrückten nur helfen und ein
Ziel anderswo nur erreichen, wenn ich einen Anschlag hier verübe. Rechtfertigt dann nicht der Zweck
die Mittel? Genau das ist in Madrid geschehen. Und das Schlimme dabei: Das Kalkül der Terroristen
ist aufgegangen. Die pro-amerikanische Regierung Aznar wurde abgewählt und Nachfolger Zapatero
zog die spanischen Truppen aus dem Irak ab – für die Terroristen ein Sieg auf der ganzen Linie.
Absehbare Bedrohung
Seitdem halten Islamisten quer über den Kontinent auch Anschläge in Europa für gerechtfertigt. Es
war und ist deshalb nur eine Frage der Zeit, bis auch in Deutschland Bomben explodieren. Die
fehlgeschlagenen Attacken der Kofferbomber 2006 und die vereitelten Pläne der Terrorzelle aus Ulm
und Saarbrücken 2007 sind deutliche Warnungen. So wie das Video, das im Juni 2007 im Internet
auftauchte. Eine Aussendungsfeier von Absolventen der Terrorlager in Pakistan. Eine der Abteilungen
sollte – das geht aus dem Band hervor – den Auftrag haben, nach Deutschland einzusickern, um dort
Anschläge zu verüben. Die Sicherheitsbehörden waren alarmiert, weil immer mehr junge Muslime,
unter ihnen viele Konvertiten, aus Deutschland in die Trainingslager reisen. Im ersten Halbjahr 2007
wurden in der Region 13 Terrorverdächtige mit deutschem Pass oder anderem Deutschlandbezug
festgenommen, ein Teil von ihnen war auf dem Rückweg nach Europa.
Die Propaganda richtet sich immer stärker gegen die Bundesrepublik und das deutsche Engagement
in Afghanistan. Die Medienkampagne von Taliban und Al-Qaida wird sogar in deutscher Sprache per
Internet verbreitet. Wie eine Nachrichtensendung wandte sie sich an junge Männer in Deutschland
selbst, um sie aufzustacheln. Zunächst zielten die Attacken noch auf deutsche Interessen in
Afghanistan – zuletzt mit dem Selbstmordanschlag gegen Bundeswehrsoldaten in Kunduz, den
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Entführungen deutscher Staatsbürger und dem feigen Attentat auf die deutschen Polizeibeamten in
Kabul.
Internet: Werkzeug und Propaganda-Medium
Das Internet ist zum wichtigsten Werkzeug der Al-Qaida für ihren heiligen Krieg geworden, denn es
ist den Terroristen gelungen, die Funktion der Trainingslager in die virtuelle Welt zu übertragen. Durch
das Internet wird bereits das Idealbild vorweggenommen, dass die selbsternannten Gotteskrieger in
der Wirklichkeit mit Gewalt durchsetzen wollen: Eine virtuelle Ummah, eine weltumspannende
islamische Idealgemeinschaft, an der jeder teilhaben kann, solange er Allah als seinen Gott anerkennt
und gleichzeitig ein wenig Ahnung hat von Chatrooms, Modems und Message-Boards. Die Flut der
Terrorpropaganda schwillt weiter an, dafür hat insbesondere der Irakkrieg gesorgt. In den vergangenen
acht Jahren ist die Zahl der Internetseiten islamistischer Extremisten nach Angaben des SimonWiesenthal-Centers in Los Angeles von 12 auf 4.500 gestiegen.
Die Terroristen im Irak und in Afghanistan dokumentieren täglich dutzende ihrer Anschläge und stellen
die Bilder ins World Wide Web: Ein Militärfahrzeug mit US-Soldaten fährt eine Straße entlang. Es folgt
eine Explosion und das Fahrzeug wird zerrissen. Ein Panzer rollt auf eine Gasbombe. Explosion.. Ein
US-Soldat steht am Straßenrand. Explosion.. Eine Rakete ist neben ihm eingeschlagen. Manchmal
filmen die Terroristen hinterher noch die zerfetzten Körper und die herumliegenden Gliedmaße.
Manchmal zeigen sie uns, wie einer von ihnen mit einem sprengstoffgefüllten Auto in einen Checkpoint
rast.. Manchmal drehen sie Überfälle auf Häuser, Massenerschießungen von irakischen Polizisten,
Enthauptungen ausländischer Geiseln. Und alle paar Wochen schneiden sie das grausame Material
zu einem "Best of" zusammen, die Highlights des selbsternannten Widerstands im Irak.
Die Filme sollen jungen Muslimen weltweit wieder die doppelte Botschaft vermitteln: Wir tun was – in
diesem Fall gegen die angebliche Unterdrückung von Muslimen im Irak. Und: Es ist cool mitzumachen,
weil man der Supermacht Amerika endlich mal zeigen kann, wo es langgeht. Die Videos werden auf
den sogenannten Dschihad- Webseiten oder in Chatrooms geparkt, so dass sie sich jeder Interessierte
herunterladen kann. Mit im Angebot sind auch immer die passenden Lehrvideos für den heiligen Krieg:
Man nehme zwei dünne, flexible Sprengstoffmatten, belege eine davon mit hunderten kleiner
Metallkugeln. Dann wird die zweite Matte darauf gelegt und das Ganze an den Kanten rundherum
säuberlich zugenäht. Man schiebe diese Sprengstoffplatte in eine Weste aus weißem Leinen. Dann
wird noch der Zünder montiert. Auf dem Video sind sogar ein paar Probesprengungen mit der
selbstgebastelten Weste für Selbstmordattentäter zu sehen. Ähnliche Anleitungen gibt es für den Bau
von Rucksackbomben, Sprengfallen aller Art und auch für die Herstellung von chemischen und
biologischen Kampfstoffen. Natürlich lassen sich die Baupläne als Schriftdatei herunterladen, z.B. für
TATP, den Sprengstoff, den die Attentäter von London benutzten. Das Internet ist zu einer Art "
Universität des Jihad" geworden.
Osama bin Laden, der sich in seiner Videobotschaft zum 9/11-Jahrestag im September 2007 im Internet
als Globalisierungskritiker inszeniert, dürfte an dieser Entwicklung seine helle Freude haben. Das
Internet mit seinem fehlenden Respekt vor Grenzen und ethnischen Unterschieden ist zu einem
Sammelplatz für eine "Regenbogenkoalition von Jihadisten" geworden. Das klingt harmlos, aber in
Wirklichkeit formiert sich da ja eine neue Generation von Mördern und Terroristen, die die Dynamik
der Bewegung im Internet vorantreibt, aber gleichzeitig auch von ihr getrieben wird – weil die Jihadbegeisterte Masse nach neuen Heldentaten zum Herunterladen giert. Die Terrorverdächtigen aus
Deutschland, die zum Islam konvertierten, sich per Internet radikalisierten und ihre Anschläge planten,
sind nur das jüngste Beispiel dafür.
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Literatur
Dieser Artikel basiert zum großen Teil auf bisherigen Veröffentlichungen des Autors. Vgl. Theveßen,
Elmar: Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung. Rowohlt 2005.
Vgl. Theveßen, Elmar: Schläfer mitten unter uns. Das Netzwerk des Terrors in Deutschland. Droemer
2004.
Vgl. Chivers, C.J. und David Rohde: Al Qaeda´s grocery lists and manuals of killing. In: New York
Times vom 17.03.2002.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/2.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/)
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"Ein Korsett für Schwache"
Interview mit Herfried Münkler
Von Prof. Herfried Münkler
20.9.2007
Prof. Herfried Münkler lehrt Politische Theorie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Wo liegt der Unterschied zwischen herkömmlichen und transnationalen Terrorismus und wer
fühlt sich vom Islamismus angezogen? Herfried Münkler im Interview.
Was ist das Charakteristische am transnationalen Terrorismus? Wie unterscheidet sich
herkömmlicher Terrorismus vom transnationalen Terrorismus?
Die jüngeren Formen des Terrorismus werden meist als islamistischer Terrorismus bezeichnet – ich
nenne diesen Terrorismus transnational. Transnationaler Terrorismus unterscheidet sich in einem
wesentlichen Punkt von den klassischen Formen des Terrorismus, also dem sozialrevolutionären,
ethno-separatistischen oder nationalrevolutionären Terrorismus. Es gibt keinen spezifischen
Adressaten mehr, der durch den Terrorismus dazu aufgerufen werden soll, sich der Terrorgruppe
anzuschließen. Ziel der Terrorakte war die Mobilisierung von Anhängern und Sympathisanten. Die
Strategie war, den Terrorismus in einen Massenaufstand in den Städten oder eine Guerillakriegsführung
auf dem Land zu überführen. Ich habe diesen Adressaten früher einmal den zu "interessierenden
Dritten" genannt, das können dann die Basken sein, oder die katholischen Iren, oder das Proletariat
oder die Marginalisierten.
Dieser Dritte ist darum wichtig, weil seine Existenz zur Folge hat, dass nicht unspezifisch gebombt
werden kann, aus dessen Kreisen darf ja keiner zu Schaden kommen. Das heißt, es gibt einen hohen
Selektivitätszwang bei der Zielauswahl und darin unterscheidet sich der neue Terrorismus, der diese
Selektivität nicht kennt. Wenn wir uns das überlegen, dann wäre ein Anschlag, wie der auf das World
Trade Center, oder die Madrider Züge nicht denkbar. Das ist die fundamentale Differenz, das
Verschwinden oder jedenfalls die Marginalisierung des Dritten.
Wer fühlt sich besonders vom Islamismus angezogen?
Gesellschaften, die auf der einen Seite zwar viel Sicherheit bieten, auf der anderen Seite aber nur
geringe Gewissheiten - zumal im Glauben - sind gekennzeichnet durch Langeweile. Sie haben nichts
Prickelndes zu bieten. Menschen, die diese Langeweile in besonderer Weise verspüren oder auf der
Suche nach starken Glaubensgewissheiten sind, fühlen sich dann von Gruppierungen angezogen, die
eine besonders fundamentale Religionsausübung verfolgen. Von Gruppierungen also, in denen das
Element der Toleranz nicht so hoch gefahren ist, wie etwa im deutschen Protestantismus. Die
Gewissheit des Glaubens erzeugt auch eine appellative Dimension des Handelns: Sie bietet so etwas
wie ein Korsett für Schwache. Da hat der Islam zweifellos sehr viel mehr zu bieten als andere Religionen.
Wie nutzen Islamisten die Medien? Auf welche Wirkung setzen Islamisten?
Es gibt zum einen den Adressatenkreis der Menschen in den postheroischen Gesellschaften. Bei
diesen soll vor allem Angst und Schrecken erzeugt werden, damit die Menschen Druck auf ihre
Regierungen ausüben, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Es gibt aber auch die Botschaft an reiche
Personen in der islamischen Welt, die dadurch zu Spendenbereitschaft motiviert werden. Und es gibt
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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sicherlich die Herausstellung der Organisation als einer, die etwas tut: Während viele nichts zu Stande
bringen, schaffen wir es, unserem Hauptfeind – den Amerikanern – mal so richtig auf die Füße zu
treten. Auch das ist eine bestimmte Botschaft mit entsprechenden Effekten.
Das Interview führte Hanna Huhtasaari beim Medienseminar "Terrorismus und Medien" der bpb am
20.09.2007 in Berlin. Sie ist Volontärin in der Online-Redaktion der bpb.
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"Terrorismus setzt auf psychologische Effekte"
Interview mit Ulrich Schneckener
Von Ulrich Schneckener
20.9.2007
Dr. Ulrich Schneckener ist Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe "Globale Fragen" an der Stiftung Wissenschaft und
Politik in Berlin.
Schrecken, Panik, das Gefühl von Unsicherheit: Der Terrorismus setzt auf psychologische
Effekte. Transnationale Netzwerke sind heute multinationale Unternehmen, die über eigene
Verbreitungskanäle verfügen. Ulrich Schneckener im Interview.
Was ist transnationaler Terrorismus und wie unterscheidet er sich von herkömmlichem
Terrorismus?
Der transnationale Terrorismus unterscheidet sich vom herkömmlichen Terrorismus in erster Linie
dadurch, dass er eine internationale Zielsetzung verfolgt. Das heißt: transnationalen
Terrornetzwerken – wie etwa Al-Kaida oder anderen Gruppen – geht es darum, eine internationale
oder regionale Ordnung zu verändern. Den meisten herkömmlichen und lokalen Terrorgruppen geht
es hingegen darum, ein konkretes politisches Regime zu ändern.
Ein weiterer Aspekt ist, dass transnationaler Terrorismus eine Form von transnationaler Ideologie
braucht. Hier spielt der Islamismus eine wesentliche Rolle. Der Islamismus erlaubt es, Menschen
unterschiedlichster Nationalität und Kultur miteinander in Verbindung zu setzen. Die transnationale
Ideologie schafft eine Offenheit der Netzwerke, weil sich hier im Prinzip jeder beteiligen kann, der sich
dieser Ideologie verschreibt. Das gilt beispielsweise auch für Menschen, die zum Islam übergetreten
sind. Diese Form der Ideologie dient sozusagen der Netzwerkausbreitung.
Und drittens unterscheiden sich transnationale Netzwerke in ihrer Mitgliederstruktur von
herkömmlichen Gruppen. Klassische Terrorgruppen sind oftmals von einer Nation dominierte
Gruppierungen, in denen relativ wenig Ausländer vertreten sind. In den transnationalen Netzwerken
ist diese Unterscheidung zwischen In- und Ausländern gar nicht vorhanden: sie sind multinationale
Unternehmen. Der letzte Aspekt ist der Netzwerkcharakter selber, also die Organisationsstruktur.
Welche Rolle spielen die Medien für islamistische Netzwerke? Wie beeinflussen sich Medien
und Terrorismus gegenseitig?
Grundsätzlich spielen Medien für den Terrorismus eine große Rolle. Der Terrorismus setzt darauf,
psychologische Effekte zu erzeugen: Schrecken, Panik, das Gefühl von Unsicherheit. Das lässt sich
nicht durch den Terrorakt selbst erreichen, sondern nur durch die mediale Berichterstattung über den
Akt und über das Phänomen Terrorismus. Diffuse Ängste können im Wesentlichen eigentlich nur
gefördert werden, weil Terroristen einen medialen Zugang haben.
Heute ist es so, dass Terroristen in der Lage sind, sich diesen medialen Zugang selbst zu schaffen.
Die Terroristen verfügen über eigene Verbreitungskanäle, in denen sie ihre eigenen Inhalte ohne jede
Redaktion eins zu eins senden und verbreiten können. Hier ist das Internet ein zentraler Punkt, aber
natürlich auch Videobänder, eigene TV-Sender, Chatrooms oder ganz herkömmliche
Publikationsformen.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Ein anderer Aspekt, der hier sicherlich eine Rolle spielt und der auch für die Transnationalisierung
wichtig ist, ist die Entwicklung globaler Medienkonzerne. Diese können in vielen Regionen der Welt
gleichzeitig empfangen werden. Die Terroristen haben damit sofort eine weltweite Aufmerksamkeit,
ein weltweites Publikum. Nationale Sender stehen in Konkurrenz zu diesen Sendern, sie müssen sich
irgendwie dazu verhalten. Insofern ist es heute - anders als in den 1970er Jahren oder 1980er Jahren
- für Staaten wesentlich schwieriger, den medialen Zugang zu kontrollieren oder zu regulieren. Es ist
faktisch unmöglich
Das Interview führte Hanna Huhtasaari beim Medienseminar "Terrorismus und Medien" der bpb am
20.09.2007 in Berlin. Sie ist Volontärin in der Online-Redaktion der bpb.
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Dem Islamismus begegnen
31.7.2007
Junge Muslime, die Koran und Scharia über das Grundgesetz stellen, Sympathiebekundungen für
den "Islamischen Staat (IS)" und Leugnungen des Holocaust: All das kann man heute in deutschen
Klassenzimmern erleben. Islamistische Organisationen rekrutieren ihren Nachwuchs über
Satellitenfernsehen und Internet und nehmen dabei vor allem junge Männer mit muslimischem
Hintergrund ins Visier. Wie gefährdet ist die Jugend? Wie unterscheiden sich verbale Provokationen
von echten islamistischen Bestrebungen? Um der neuen Situation angemessen zu begegnen, sind
nicht nur Lehrerinnen und Lehrer gefordert. Die Gesellschaft muss sich insgesamt fragen, wie sie mit
der islamistischen Gefahr umgehen will.
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Salafistische Radikalisierung – und was man
dagegen tun kann
Von Ahmad Mansour
22.10.2014
ist Diplom-Psychologe. An der Universität in Tel- Aviv studierte er Psychologie, Soziologie und Philosophie und führte sein Studium
im Fach klinische Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin fort. Neben seiner Tätigkeit als Gruppenleiter bei "Heroes",
einem Projekt für Gleichberechtigung, arbeitet Herr Mansour als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Projekt "ASTIU"
(Auseinandersetzung mit Islamismus und Ultranationalismus) und bei der Beratungsstelle Hayat, wo er gefährdete Jugendliche und
deren Angehörige berät.
Hunderte vor allem junge Männer haben sich aus Deutschland aufgemacht, um für die
islamischen Terroristen der ISIS zu kämpfen. Wie wurden diese Menschen zu Radikalen? Wie
können Angehörige Radikalisierung erkennen? Und wie sollte man ihr begegnen? Ein
Praxisbericht von Ahmad Mansour.
Ein Islamist verteilt am Samstag (14.04.2012) in Wuppertal kostenlose Koran-Exemplare an Passanten. Die Aktion
im Rahmen der Lies-Koranverteilungskampagne wurde von den radikalislamischen Salafisten initiiert. (© picturealliance/dpa)
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Paul und Mehmet – Brüder im Geiste
Der Autor ist Mitarbeiter bei der Beratungsstelle Hayat. Er hat über 100 Fälle von islamischer
Radikalisierung begleitet. Die hier genannten "Paul" und "Mehmet" sind rein fiktive Personen, die
veranschaulichen sollen, wie Radikalisierungsprozesse verlaufen können.
Mehmet ist 19 Jahre alt, der Älteste von vier Geschwistern. Seine Großeltern kamen 1969 aus der
Türkei nach Deutschland. Seitdem lebt seine Familie in Neukölln, eher traditionell als religiös. An
seinen Vater erinnert er sich kaum noch, er starb, als Mehmet noch in die Grundschule ging. Während
seiner Kindheit machte sich Mehmets Mutter oft Sorgen um ihn; er war sehr nervös und litt an einem
Waschzwang - es gab Monate, in denen er seine Hände über hundert Mal pro Tag wusch. Jetzt macht
er eine Ausbildung zum Industriekaufmann an einer Berufsschule in Berlin. Bis vor einigen Monaten
verbrachte er einen Großteil seiner Zeit im Fitnessstudio. Beinah schon obsessiv beschäftigte er sich
mit Bodybuilding, Ernährung und Fettanteilen. Mehmet wurde sein Aussehen immer wichtiger. Bilder
von sich als Beweise des Fortschritts – Fotos von ihm in enganliegenden T-Shirts – postete er häufig
im Netz. Diese Disziplin zeigte sich auch in seinen schulischen Leistungen. Mehmet war ein guter
Auszubildender, der immer die besten Noten in den Prüfungen bekam, und seine Stimme war häufig
in Seminaren zu hören. Als Mehmet seine große Liebe verlor, weil er sie immer wieder kontrollierte
und extrem eifersüchtig war, brach seine Welt zusammen. Nachdem er alles versucht hatte, um die
Beziehung zu retten und nichts half, fing er an zu beten. Langsam entstand bei ihm der Wunsch, sein
Wissen über den Islam zu vertiefen; er wollte Arabisch lernen, sich über den Koran informieren. So
fing Mehmet an, häufiger in die Moschee zu gehen. Dort lernte er einen Salafisten kennen. Er zeigte
großes Interesse an Mehmet, lobte ihn wegen seiner schulischen Fähigkeiten, lud ihn oft zum Essen
ein. Viele Jungs versammelte der Salafist um sich, er erzählte ihnen und Mehmet, wie mächtig Allah
sei und was die gläubigen Muslime im Paradies erwarte, und was den Ungläubigen in der Hölle
widerfahren werde. Er erzählte von wissenschaftlichen Wundern aus dem Koran und von der Schönheit
des Islam. Den Jungs erklärte er auch, wie die Welt funktioniere, wie die Medien von den Juden
manipuliert würden, um den Islam schlecht darzustellen, wie die Muslime überall in der Welt bekämpft
und unterdrückt würden. Er warnte die Jungs vor den Übeln der deutschen Gesellschaft; vor dem
gierigen, selbstsüchtigen Kapitalismus, der nur zu Depression und Einsamkeit führe, vor Alkohol und
Drogen, und vor allem vor den verführenden, unreinen, unverschleierten Frauen. Mehmet vergaß
seine Freundin und entdeckte den Islam. Seine Mutter war irgendwie stolz, als sie sah, wir ihr Sohn "
religiös" wurde und ein so großes Interesse an seiner Herkunft zeigte.
Paul ist als Einzelkind in Berlin-Schöneweide groß geworden, mit einem arbeitslosen Vater und einer
Mutter, die als Einzelhandelskauffrau an der Kasse eines Supermarktes arbeitet. Paul ist jetzt 20 Jahre
alt und hat gerade seine Ausbildung zum Eventmanager abgebrochen. In der Kündigung schrieb er,
dass diese Arbeit gegen seinen Glauben sei, da er um kein Geld der Welt Unzucht und Alkoholkonsum
unterstützen wolle. Paul ist ein molliger, zurückgezogener Junge, seine Freizeit verbringt er mit
Onlinespielen, er geht wenig aus und hatte bisher kaum Freunde. Bei den Onlinespielen mag er
besonders die Spiele, in denen es um Kämpfen und Schießen geht. Auch offline geht er keinem Konflikt
aus dem Weg, seine Aggression entzündet sich sekundenschnell - so kam er immer wieder mit dem
Gesetz in Konflikt. Gewalt kennt Paul aus seiner Familie sehr gut. Sein Vater, der seine Arbeit vor 15
Jahren verlor, reagierte immer wieder mit der Faust, wenn aus der Nachbarschaft Beschwerden kamen,
weil Paul schon wieder die Nachbarin beleidigt hatte oder wenn die Polizei Paul wieder nach Hause
brachte. Auch auf schlechte Noten reagierte der Vater mit Schreien und Beleidigungen. Die Eltern
waren überfordert und machten sich große Sorgen um ihr Kind. Als Paul 15 Jahre alt war, lernte er ein
paar rechtsradikale Jungs aus dem Jugendzentrum im Kiez kennen. Mit denen war er oft unterwegs,
sie haben "Türken" beschimpft, rechte Musik gehört, sich nationalistisch tätowieren lassen, bis seine
Mutter ihm verbot sich mit dieser Gruppe zu treffen. Auch mit Mädchen hatte er kein Glück. Den Islam
entdeckte er in der Oberschule, der freundliche Umgang und die freundlichen Gespräche mit seinen
muslimischen Mitschülern faszinierten ihn. Immer häufiger traf er sich mit ihnen, stellte Fragen nach
ihrer Religion, interessierte sich und suchte auf Facebook und YouTube nach Antworten. Schnell
landete er bei salafistischen Predigern und schaute nächtelang Videos über den Tod, die wahre
Religion, über die Verdorbenheit des Westens und seinen moralischen Zerfall, über die Lügen der
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Medien und den Kampf gegen den Islam. Langsam begann er auf Veranstaltungen zu gehen, besuchte
Open-Air-Ansprachen von Pierre Vogel und Co., traf sich mit Freunden und fühlte sich endlich
angekommen. Endlich glücklich. Vor einem Jahr sammelte er allen Mut der Welt und meldete sich
beim Organisator einer Veranstaltung in Berlin-Neukölln, er wolle konvertieren. Er zitterte, als er auf
die Bühne kam, konnte kaum Luft holen, mit größter Mühe sprach er die zwei Sätze nach: "Ich bezeuge:
Es gibt keinen Gott außer Allah und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist." Danach
fühlte er sich wie befreit. Hunderte bejubelten ihn, er fühlte sich glücklich und fing an zu weinen.
Als Mehmet in der Moschee Paul traf und seine Leidenschaft für den Islam spürte, schämte er sich. "
Ein Deutscher, der den Islam seit einem Jahr kennt, lebt die Religion noch besser als ich." Seitdem
sind beide gute Freunde geworden. Die Jungs bewundern sich gegenseitig: Paul, der Deutsche, der
den Islam annimmt und diszipliniert ausübt; Mehmet, der Zugang zur islamischen Kultur eröffnet, dazu
klug und groß ist – und auf den andere Jugendliche achten. Paul ist oft bei Mehmet zu Hause. Sie
beten und essen gemeinsam und missionieren zusammen auf der Straße. Ihr Ziel ist es, jedem
Menschen in diesem Land die Botschaft des Islam zu bringen. Sie tun das als selbst ernannte "
Sozialarbeiter" in Neukölln, in der Moschee, beim Fußballspielen, indem sie den Koran verteidigen
und auf Facebook. Dort teilen sie Bilder und Videos, schreiben Kommentare, posten Aufrufe für Demos,
Spenden und Veranstaltungen und weisen ab und zu die Ungläubigen zurecht. Ungläubig gelten den
Salafisten – einer fundamentalistischen Strömung im sunnitischen Islam – alle, die ihrer radikalen
Meinung nicht folgen wollen. Polizei, Medien, Christen, Juden, Amerikaner, Erdogan-Anhänger, Assads
Regime, Schiiten, Alewiten, und Muslime, die ihre Religion nicht ernst nehmen: das sind alles die
Feinde des Islam, ihre Feinde, und gegen die müssen sie etwas unternehmen.
**
Seit Monaten sind die radikalen Islamisten wieder ganz oben in den Nachrichten. Die militärische,
islamistische Vereinigung ISIS kämpft mit wachsendem Erfolg für einen Gottesstaat in Syrien und dem
Irak. Für die Meisten von uns ist dies ein Thema aus dem märchenhaften Orient, "das mit dem Nahen
Osten" ist doch ganz weit weg.Doch dies ist ein Trugschluss. Auch Paul und Mehmet, zwei Berliner
Jungs aus meinem Kiez, sind begeisterte ISIS-Anhänger. Sie verfolgen den Verlauf der Kämpfe, posten
und teilen Bilder und Videos von den Kämpfern an der Front, äußern sich online wütend gegen die
Eingriffe des Westens und spielen sogar mit dem Gedanken, sich dieser Gruppe in Syrien bald
anzuschließen.
Die Debatte um den Umgang mit radikalen Rückkehrern aus Syrien, der feige Anschlag auf eine
jüdische Synagoge in Brüssel und eben Paul und Mehmet bringen das Thema bis vor unsere Haustür.
Die laut Angaben des Verfassungsschutzes bislang 400[1] Ausreiser, die das sichere Deutschland
verlassen haben, um in Syrien zu kämpfen, die Tausenden, die davon träumen, und die zehntausenden
Sympathisanten zeigen, wie gewaltig das Problem in Deutschland ist.
Die Frage der Rückkehrer als potentielle Sicherheitsbedrohung in Europa wird in letzter Zeit sehr oft
thematisiert. Aber die meisten Ausreiser, die nach Syrien oder in den Irak gehen, haben mit dieser
Gesellschaft schon abgeschlossen. Sie gehen, um dort in ihrer Vorstellung ehrenhaft zu sterben, für
Allah, für das Paradies - sie haben gar nicht vor, zurückzukommen! Und die, die zurückkommen – das
sind laut Verfassungsschutz momentan ca. 120 Menschen[2] – bringen sehr unterschiedliche
Erfahrungen mit. Die eine Gruppe ist von ihren Kriegserfahrungen hochtraumatisiert und muss in der
Psychiatrie oder zumindest in Psychotherapie behandelt werden. Dann gibt es auch die jungen Männer,
die sich wichtig machen wollen. Sie sind für ein paar Wochen nach Syrien oder in den Irak gereist, um
sich mit einer Kalaschnikow fotografieren zu lassen und die Bilder auf Facebook zu posten. Die dritte
Gruppe kommt zurück, um hier zu rekrutieren und vielleicht auch Gewalt in Europa auszuüben: Das
sind die gefährlichen Ideologen. Und sie sind auch nicht bereit, mit mir oder mit den Sicherheitsbehörden
zu sprechen.
Aber viel gefährlicher und viel bedeutender als all diese Rückkehrer sind junge Menschen wie Paul
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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und Mehmet, die hier in Deutschland geblieben sind, die die Werte dieser Gesellschaft ablehnen und
die ihren Jihad hierzulande führen wollen. Doch die Gesellschaft scheint mit Jugendlichen wie ihnen
überfordert. Wie erreichen wir Paul und Mehmet und ihresgleichen, bevor sie mit unserer Gesellschaft
abschließen – oder bevor wir sie an einen brutalen Krieg verlieren?
Wieso radikalisieren sich junge Menschen?
Wenn wir effektive Konzepte entwickeln wollen, müssen wir uns grundsätzlich und ernsthaft mit der
Frage auseinandersetzen, wieso sich junge Menschen radikalisieren.
Radikalisierung ist ein Prozess: es passiert nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne
unterschiedliche, manchmal komplexe Umstände. Dieser Prozess fängt häufig mit Entfremdung –
einem psychischen Zustand – an. Die Jugendlichen sind unglücklich oder unzufrieden in ihrem Leben,
sie haben oft wenige soziale Kontakte oder kein starkes soziales Umfeld; vielleicht haben sie auch
einen gescheiterten Übergang von Schule zum Berufsleben erlebt oder sie haben eine frustrierende,
erfolglose Suche nach einem Ausbildungsplatz hinter sich. Bei muslimischen Jugendlichen kann es
sein, dass sie Diskriminierungserfahrungen gemacht haben: Vielleicht bekamen sie das Gefühl, dass
ihre Religion und Herkunft mit Vorurteilen betrachtet wurden. Aber wir reden hier nicht ausschließlich
von muslimischen Jugendlichen oder Jugendlichen mit familiären Einwanderungsgeschichten. Bei
allen Jugendlichen (muslimisch oder nichtmuslimisch, Jungs oder Mädchen), die in der Gesellschaft
nicht angekommen sind, oder die das Gefühl bekommen, dass sie irgendwie nicht dazu gehören, gilt:
kommen zu diesen Gefühlen instabile Persönlichkeitsstrukturen, entwickelt sich ein Zeitfenster von
1-2 Jahren, in dem sie für eine Radikalisierung sehr anfällig sind. Aus mehreren Gründen kommt der
Salafismus – eine fundamentalistische Strömung des Islam – bei diesen Jugendlichen sehr gut an.
Das ist besonders der Fall unter den Jugendlichen, denen die Vaterfigur fehlt. Unabhängig davon, ob
der Vater die Familie verlassen hat, ob er tot ist oder ob er sich selber in der Gesellschaft nicht
zurechtfindet, die Salafisten füllen diese Lücke mit ihrer patriarchalen Ideologie und ihrem strafenden
Gott.
Der Salafismus bietet Jugendlichen vor allem eine Identität an. Sie treten aus der schwierigen,
postglobalen Welt in ein geregeltes, strukturiertes Umfeld ein und bekommen dort Sinn, Orientierung
und eine Mission. Sie finden auch Freunde, Gemeinschaft, Zusammenhalt; endlich gehören sie zu
einer Gruppe. Die Gruppe wird für sie eine Art Jugendkultur: es gibt einen Kleidungsstil, besondere
Symbole, bestimmte YouTube-Kanäle und Facebook-Seiten und eine eigene Sprache, die die
Salafisten aus sich immer wiederholenden Worten bilden: Subhanahallah, Mashaallah, Yaani,
Heuchler, Achi...
Der Salafismus erfüllt auch das Bedürfnis der Jugendlichen nach Information und Wissen. Er nimmt
viele Unsicherheiten ab, indem er "Wahrheit" und Autorität anbietet (obwohl die meisten in Deutschland
lebenden Salafisten keine religiöse Ausbildung gemacht haben und nur ein oberflächliches
Argumentationsmuster kennen). In diesen Gruppierungen müssen sich die Jugendlichen nicht mehr
fragen, was sie anziehen sollen, wie sie sich gegenüber dem anderen Geschlecht verhalten sollen,
wie ihr Lebensentwurf aussehen soll. Sie bekommen das Bewusstsein, auf dem "richtigen Weg" zu
sein. Dazu bekommen sie die Möglichkeit zu Protest und Provokation gegen die Eltern oder gegen
die Mehrheitsgesellschaft sowie die Chance, sich an einem "Kampf für Gerechtigkeit" zu beteiligen: "
Die Muslime werden in Deutschland und weltweit unterdrückt; man muss sich dagegen wehren". So
lautet die salafistische Propaganda. Sie bekommen das Gefühl, dass sie missionieren müssen, um
andere Menschen vor ihrem elenden Leben zu retten. Und für Jugendliche, die vorher vielleicht ihren
Platz in dieser Gesellschaft nicht gefunden haben, ist das eine extrem attraktive Aufgabe.
Auch sehr anziehend ist die märchenhafte Welt, der die Jugendlichen durch den Salafismus begegnen:
Engel, Dämonen (mit allerlei überirdischen Gaben), Hölle, Himmel, betörende Schilderungen des
Paradieses – diese Welt wirkt auf manche Jugendlichen faszinierend.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Propaganda
Die Propaganda für den Salafismus ist raffiniert, weit verbreitet und im Internet fest verankert. Ganz
leicht stoßen die Jugendlichen auf hochemotionalisierende Inhalte, zugespitzte Botschaften,
islamistische Kriegspropaganda. Sie sehen verstörende Videos, in denen wehrlose Kinder in
muslimischen Ländern abgeschlachtet werden, und sie bekommen einen sehr einseitigen,
pauschalisierten Eindruck von Konflikten, die immer auf einen Kampf der Ungläubigen gegen die
Muslime reduziert werden. Diese Schwarz-Weiß-Welt, in der es immer klare Opfer und Feinde gibt,
ist für die Jugendlichen deutlich zugänglicher als die komplexe, teilweise widersprüchliche Politik, über
die in den Nachrichten berichtet wird.
Andere Videos sind nicht so emotionalisierend, aber genauso effektiv. Einige sind von Stil und Graphik
her Videospielen sehr ähnlich - ein Format, mit dem viele Jugendliche vertraut sind. Damit wird der
Krieg in Syrien und dem Irak als Abenteuer verkauft: Waffen, Adrenalin, Kriegsrausch. Andere Filme
sollen zeigen, wie in Syrien und dem Irak nur nach der Scharia in einer Art Utopie-Gesellschaft gelebt
wird, so dass man nur unter Muslimen – nur unter den Gläubigen – lebt, mit islamischen Restaurants,
Apotheken, Kindergärten.
Offline treten die Jugendlichen mit islamistischen Predigern in Kontakt. Dies sind oft sehr
charismatische Menschen, die sich für die Jugendlichen viel Zeit nehmen und sich zum Beispiel als
Sozialarbeiter ausgeben. Sie nehmen die Jugendlichen ernst, reden mit ihnen über den Krieg und die
Lage im Nahen Osten (ein Thema, was in der Schule kaum vorkommt) und sprechen vom Bürgerkrieg
in Syrien als dem Endkampf zwischen Muslimen und Ungläubigen, einer Art Endzeitkrieg, aus dem
die Muslime als Sieger hervorgehen werden.
Innerislamische Debatte
Um Radikalisierung effektiv zu bekämpfen, muss sich die muslimische Community aktiv in der Debatte
engagieren und sich dabei ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob einige Inhalte, die im
Mainstream-Islamverständnis vorhanden sind, die radikale Ideologie begünstigen.
Ausgrenzung, Entfremdung, die Pflege der Opferrolle, Aufwertung der eigenen Anhänger und
Abwertung aller anderen, die Behauptung, die absolute und einzige Wahrheit zu besitzen, das Verbot,
Aussagen zu hinterfragen, die Ablehnung neuer zeitgemäßer oder wissenschaftlicher
Islaminterpretationen, die Tabuisierung der Sexualität, eine einschüchternde Pädagogik, die die Angst
vor der Hölle über alles setzt, der Anspruch, auf alles eine Antwort zu haben und das Leben des
Propheten buchstäblich nachahmen zu müssen – das alles sind Aspekte, die bei den Jugendlichen
sehr gut ankommen. Der Salafismus bietet ihnen scheinbare Sicherheit durch eine glasklare
Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Was die Sache schwierig und zugleich dringlich macht:
Es geht hier um Aspekte, die in manchen Fällen zentrale Bestandteile des Islamverständnisses eines "
Normal-Muslims" sind. Kontrollorientierte Erziehungsmethoden, die auf Kollektivität und Respekt vor
Autorität abzielen, wirken hier als Verstärker und begründen die Anfälligkeit von Jugendlichen für die
Argumentationen der Salafisten. Mit ihren klaren Verhaltensvorgaben geben sie Halt und erleichtern
scheinbar das Leben.
Um radikale Strömungen einzudämmen, brauchen wir eine neue und ernsthafte innerislamische
Debatte über solche Inhalte, um Alternativen zu schaffen und die Jugendlichen von Angst und
Schuldgefühlen zu befreien und ihnen zu ermöglichen, ihre Religion moderner und demokratischer
leben zu können.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Wie kann eine wirksame Präventionsarbeit aussehen?
Eine effektive Präventionsarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche, langfristige Aufgabe. Besonders in
letzter Zeit wird das Thema der radikalisierten Jugendlichen gerne als Themenbereich für die
Sicherheitsbehörden gesehen. Es muss sichergestellt werden, dass radikalisierte Jugendliche keine
Sicherheitsbedrohung für die Menschen in diesem Land darstellen; viel pragmatischer wäre es aber,
die Jugendlichen vor der Radikalisierung zu schützen.
Um diese Aufgabe zu leisten, ist der Aufbau von kommunalen Netzwerken sehr wichtig. Der Reiz an
der Radikalisierung liegt vor allem im Kontakt mit der (radikalen) Gruppe. Daher brauchen wir starke
Netzwerke von Eltern, lokalen Akteuren aus der Schule, Sozial- und Jugendarbeit, aus Polizei und
Politik, die einen direkten Zugang zu den Communities haben – sie müssen unbedingt über
Radikalisierung informiert und sensibilisiert werden. Sie sollten befähigt werden, selbstständig
beratend aktiv zu werden, die "Symptome" zu erkennen und vor einer möglichen Radikalisierung zu
schützen. Gemeinsam können sie dann Strategien und Methoden entwickeln, die zu den Jugendlichen
in ihren Milieus passen.
Bei dieser Sensibilisierung ist wichtig zu betonen, dass islamistische Einstellungen selten erst durch
gewalttätiges Verhalten auffallen. Die Tendenzen sind oft sehr früh im Alltagsverhalten zu sehen: Wenn
der betreffende Jugendliche sich beispielsweise anders kleidet, sich nicht mehr für Musik und TVSerien interessiert, sondern sich intensiv mit Online-Foren und YouTube-Videos beschäftigt, ihm
religiöse Symbole plötzlich sehr wichtig werden. Er will vielleicht keine Geschenke mehr an
Weihnachten bekommen oder sich nicht mehr an anderen, nicht islamischen Traditionen beteiligen.
Anderen Jugendlichen gegenüber verhält er sich auch anders: Im Unterricht zieht er sich zurück, er
möchte nicht mehr mit Mädchen ohne Kopftuch reden, gibt der Lehrerin nicht mehr die Hand. Vielleicht
wirkt er müde, da er nachts aufgestanden ist um zu beten. Seine Argumentationsmuster ändern sich,
er hat eine fehlende Ambiguitätstoleranz, zeigt eine wachsende Empfänglichkeit für
Verschwörungstheorien, äußert sich aggressiv gegen Andersgläubige, Christen, Juden und Muslime,
die ihre Religion liberal leben.
Unverzichtbar ist es auch, dass die Jugendlichen in ihrem Alltag so oft wie möglich gefordert sind,
kritisch zu denken und zu hinterfragen. Debattierklubs und Rollenspiele – ob an der Schule oder im
Jugendzentrum – bewegen die Jugendlichen dazu, andere Perspektiven zu betrachten, vielfältige
Möglichkeiten zu erkennen. Dies ist bei der Präventionsarbeit absolut notwendig, denn wer einmal
gelernt hat, eine eigene Position zu hinterfragen, ist weitaus besser immunisiert gegen Extremisten,
die blinde Nachfolge und bloßes Nachbeten verlangen.
Ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit wäre auch, Jugendlichen verlässliche muslimische Vorbilder
anzubieten, die ihre Religion anders ausleben und mit den Radikalen nichts gemeinsam haben. Um
Ausreisen bereits radikalisierter Jugendlicher zu verhindern, wäre es in manchen Fällen hilfreich, auch
punktuell mit Imamen zusammenzuarbeiten.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Kämpfen um Jede_n: die individuelle Betrachtung jedes Falles
Um effektive Präventionsarbeit zu leisten, darf man den Fokus auf das Individuum nie verlieren. Bei
jedem Jugendlichen sieht die Radikalisierung anders aus und ihre persönlichen Geschichten und
Umstände sollten immer berücksichtigt werden. Die Jugendlichen dürfen nicht nur auf ihre Kultur
reduziert werden und nicht auf ihre Tradition oder Religion, sondern sie müssen individuell
wahrgenommen und behandelt werden.
Jugendliche sollen sich auch mit ihren individuellen religiösen und kulturellen Hintergründen akzeptiert
und anerkannt fühlen. Zu oft ist die Rede von "Ausländern” und "muslimischen Jugendlichen”, obwohl
viele muslimisch geprägte Jugendliche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und in diesem Land
geboren sind. Wenn immer wieder von "wir und ihr" die Rede ist, von "den Anderen", dann ist es kein
Wunder, dass diese Anderen eine Identität suchen, die ganz anders als das "Wir" ist, und die dieses "
Wir" auch abwertet. Wir Menschen in Deutschland müssen endlich inklusiver reden, denn diese
Jugendlichen – und ihre Probleme – sind Teil unserer Gesellschaft.
Wir müssen auch Räume schaffen, in denen Jugendliche frei und auf Augenhöhe diskutieren können,
ohne Angst vor Abwertung. Nur dann werden sie in der Lage sein, sich emotional und intensiv mit
schwierigen, teilweise tabuisierten Themen wie dem Islamismus gemeinsam auseinanderzusetzen.
In solchen Konstellationen können die Jugendlichen ihre eigenen Einstellungen zum Thema revidieren
und gemeinsam bestimmte gesellschaftliche Strukturen hinterfragen, um dann auch ihre Meinungen
zu äußern. Es darf keinesfalls sein, dass Jugendliche nur bei radikalen Salafisten das Gefühl
bekommen, ernstgenommen zu werden.
Auch das Aufarbeiten der Familiengeschichte muss viel stärker in den Fokus rücken, wenn Jugendliche
mit Eltern oder anderen Verwandten groß werden, die hochtraumatisiert aus Konfliktgebieten nach
Deutschland gekommen sind und diese Traumata bewusst oder unbewusst an ihre Kinder weitergeben.
Ein solches Trauma lässt sich von den Salafisten sehr leicht instrumentalisieren. Deshalb bedarf es
einer intensiven Beschäftigung mit den Biographien solcher Jugendlicher und mit ihren Bedürfnissen.
Sie sollten die Möglichkeit, Platz und Raum bekommen, ihre Geschichte zu erzählen. Die Beschäftigung
mit der Herkunft und den Familiengeschichten dieser Jugendlichen und ihrer Eltern ist ein Ausdruck
der Anerkennung und des Interesses.
Auf Elternarbeit sollte das Augenmerk verstärkt gerichtet werden – vor allem mit Müttern. In diesem
Bereich haben wir bei Hayat in Berlin schon viele positive Erfahrungen mit unterschiedlichen
Müttergruppen gemacht. Nach unseren Erfahrungen sind sie sehr offen für diese Arbeit, aber es muss
erst mal eine Vertrauensebene geschaffen werden. Nur dann kann man sich über so wichtige und ein
wenig intime Themen wie Kommunikation in der Familie, Erziehungsmethoden und die Entwicklung
der Kinder ehrlich und produktiv austauschen.
Außerdem sollte in unseren Schulen deutlich mehr über unsere demokratischen Werte diskutiert
werden. Unsere Schulen sind extrem leistungsorientiert, man konzentriert sich auf Mathematik,
Englisch, Grammatik – und weniger darauf, die Philosophie und Werte dieser Gesellschaft zu
vermitteln. Diese ideologische Lücke nutzen die Salafisten gut aus. Prävention bedeutet auch, in
diesem Punkt aktiver zu werden: die Jugendlichen für unsere Werte sensibilisieren und eine gewisse
Begeisterung für den demokratischen Gedanken schaffen.
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Deradikalisierung
Da jeder Radikalisierungsprozess anders ist und seine eigenen begleitenden Umstände und Ursachen
hat, kann es bei der Deradikalisierung auch keine fallübergreifende Vorgehensweise geben, sondern
jeder Fall, jede Familie, jede Person muss individuell behandelt und betrachtet werden.
Das Ziel der Deradikalisierungsarbeit ist es, im Idealfall eine Person dazu zu bewegen, extremistische
Denk- und Handlungsweisen aufzugeben. Häufiger geht es darum, weitere Radikalisierungstendenzen
zu verhindern. Besonders wichtig ist, dass die betroffene Person dahin kommt, Gewalt als mögliche
Methode zur Durchsetzung ihrer Ziele abzulehnen. Zu der Arbeit gehört auch, dass der radikalisierten
Person Alternativen angeboten werden.
Radikalisierung kann auf drei Wirkungsebenen aufgeschlüsselt werden: affektiv, pragmatisch und
ideologisch. Bei der ideologischen Komponente ist es wichtig, dass die Theorie und Rechtfertigung
für extremistisches Verhalten sowie die Narrative und der Deutungsrahmen, die dahinter stecken,
entkräftet werden. Die Person soll mit Alternativen und kritischen Fragen konfrontiert werden, damit
die Einschränkungen bzw. Widersprüche und Doppelmoral der islamistischen Ideologie deutlich
werden.
Beim pragmatischen Aspekt geht es darum, der Person Ausstiegsmöglichkeiten aus dem radikalisierten
Umfeld anzubieten. Gerade bei salafistischen Gruppierungen kann dies besonders schwierig sein, da
die Ideologie so eng mit sozialer Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Werten
verbunden ist. Bei dem pragmatischen Aspekt ist das Ziel auch, extremistische Handlungen und den
Einsatz von Gewalt einzudämmen. Es ist hier allerdings nicht zu vergessen, dass ein Verzicht auf
Gewalt nicht gleich bedeutet, dass die Person sich kritisch mit der Ideologie auseinandergesetzt hat
bzw. sich wirklich aus dem Extremismus zurückzieht.
Der affektive Aspekt betrifft die emotionale Unterstützung der Person und die Schaffung einer
alternativen Bezugsgruppe, die der radikalen affektiven Struktur der Person entgegengesetzt ist. Die
Beratung und Ermutigung von Angehörigen spielt dabei eine zentrale Rolle. Sehr wichtig bei diesem
Aspekt ist, dass die betroffene Person positiv und emotional erreicht wird – und dass ihr klar gemacht
wird, dass nicht sie als Person, sondern ihre Ideologie von den Angehörigen abgelehnt wird.
Die Beratungsstelle Hayat
Kehren wir zu Paul und Mehmet zurück: Beide Jungen leben noch bei ihren Familien und gehen abends
nach den Demos, der "Missionierung" und den Moschee-Besuchen immer nach Hause. Mehmet fängt
jetzt an, seine Mutter als "Ungläubige" zu bezeichnen, weil sie sich weigert eine Burka zu tragen und
den Islam nicht nach seinem Wunsch lebt. Auch mit seinen jüngeren Geschwistern gerät er häufig in
Konflikte, da er sie immer mehr mit seinen Vorschriften kontrollieren will. Seine Mutter fühlt sich nicht
mehr stolz, sondern verunsichert und beleidigt. Pauls Eltern bemerkten die Probleme viel früher. Ihr
Sohn kleidet sich plötzlich komplett anders, verbringt die Zeit zuhause ausschließlich damit, sich
YouTube-Videos anzuschauen - die aggressiven Stimmen der Prediger und die ungewohnten Töne
der Musik bekommen sie jede Nacht mit, wenn sie im Bett liegen. Verzweifelt sind sowohl Pauls als
auch Mehmets Eltern. Sie wollen ihre Söhne nicht verlieren, brauchen dringend Unterstützung und
suchen im Internet nach Hilfe.
Seit 2012 gibt es in Deutschland die Beratungsstelle Hayat (Teil des Beratungsnetzwerks des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge). Rund um die Uhr bietet die Stelle ein kostenloses,
mehrsprachiges (Deutsch, Türkisch, Arabisch, Englisch) und auf Wunsch anonymes Hilfsangebot für
Angehörige von einem Team von ausgewiesenen Islamismus-Experten. Die Beratungsstelle ist an das
Zentrum für Demokratische Kultur (ZDK) angegliedert, welches zu dieser Arbeit langjährige
Erfahrungen und Methoden aus dem Rechts-Aussteiger-Programm "EXIT" mitbringt.
Bei Hayat wird anerkannt, dass Angehörige ein zentrale Rolle in einer erfolgreichen Deradikalisierung
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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spielen können: Sie sind in der Lage eine Radikalisierung frühzeitig zu erkennen (Aussehen, soziales
Verhalten, Internetaktivitäten), ein weiteres Abdriften ihres Familienmitglieds in den Extremismus zu
verhindern oder als Bindeglied zurück in die Gesellschaft zu fungieren. Ziel der Angehörigenberatung
ist es, familiäre Verhältnisse aufrecht zu erhalten und zu verstärken, um ein Unterstützungsumfeld um
die sich radikalisierende Person herum zu schaffen. Durch langfristige Beratung wird dann versucht,
das soziale Umfeld zu stärken, die Kommunikation innerhalb der Familie zu verbessern und dem
bzw. – der Radikalisierten – durch emotional nahestehende Menschen - Alternativen anzubieten.
Wenn jemand bei der Hotline anruft, ist die erste Aufgabe der Berater sicherzustellen, ob es sich
tatsächlich um eine Radikalisierung oder einfach um einen Glaubenswechsel handelt. Die Berater
müssen in der Lage sein, zwischen freier Religionsausübung und eventuell sicherheitsrelevanter
Radikalisierung unterscheiden zu können. Dieses Wissen wird durch intensive Netzwerk-Arbeit
erworben: Um die Bedeutung von bestimmten Moscheen, Gruppen und Symbolen erkennen und
einordnen zu können, ist ein vielfältiges, zuverlässiges Netzwerk eine Notwendigkeit. Manchmal gehört
hierzu, Facebook-Seiten, Veröffentlichungen oder Argumentationen eng zu folgen, um sicher zu stellen,
ob es sich tatsächlich um eine Radikalisierung handelt. Auch sehr wichtig, um mögliche
Deradikalisierungsarbeit zu leisten, sind Partner vor Ort (Schulen, Behörden, Familienberatungsstellen),
die in den Beratungsprozess miteinbezogen werden können. In manchen Fällen ist die Aufgabe der
Beratungsstelle nicht, Deradikalisierungsarbeit zu leisten, sondern einfach Angehörige zu beruhigen
und Verständnis für die religiöse/spirituelle Entscheidung einer Person zu schaffen.
Über die Klärung der tatsächlichen Radikalisierung hinaus muss herausgefunden werden, warum die
radikale Gruppe für diese Person attraktiv ist, welche Motivationen dahinter stecken. An dieser Stelle
ist es auch wichtig, dass eventuelle Konflikte innerhalb der Familie geklärt werden und – falls
notwendig – eine Wiederherstellung einer Bindung zwischen Angehörigen und der betroffenen Person
erfolgt. Hierfür ist es nötig, dass die Bedürfnisse der radikalisierten Person beachtet werden. Wenn
es sich z.B. um eine Konversion handelt, sollten Informationen zum Islam an die Familie vermittelt
werden.
An dieser Stelle soll betont werden, dass die Beratung bei Hayat zuallererst auf die Angehörigen
ausgerichtet ist, um Deradikalisierung bei den Betroffenen zu erreichen; auch wenn die Möglichkeit
besteht, dass sich eine Ausstiegsberatung für die radikalisierte Person selbst daraus entwickelt.
Der Beratungsprozess selbst fängt mit einem individuellen Gespräch zwischen dem Berater und der
ratsuchenden Person an, in dem die möglichen Motivationen für die Radikalisierung diskutiert werden
und auch die Ziele, Fragen und Bedürfnisse der ratsuchenden Person geklärt werden. Dann wird ein
Plan zusammen erarbeitet: die nächsten notwendigen Schritte werden aufgezeigt und in einen
realistischen Zeitrahmen eingefügt.
Aufgabe der Berater_innen ist es, während der nächsten Schritte mögliche Hindernisse aus dem Weg
zu räumen oder es zu erleichtern, diese zu überwinden. Konkret heißt das, dass sie für die Angehörigen
vertraute Ansprechpartner_innen werden – sie unterstützen oder begleiten die Angehörigen bei
Behördengängen, sie vermitteln rechtliche Informationen, sie geben familienorientierte Beratung in
Sachen Sicherheitsrelevanz, sie vermitteln staatliche oder psychologische Hilfe, sie vermitteln an
weitere Institutionen und Familienberatungsstellen, eventuell auch an das Jugendamt.
Die Beratung folgt bei jedem Einzelfall dessen eigener Schrittfolge und Tempo.
Seit dem Start seiner Tätigkeit hat Hayat fast 100 Beratungsfälle aufgenommen. Die Hilfesuchenden
wurden oft durch Freunde und Bekannte auf die Stelle aufmerksam gemacht, suchten im Internet nach
Beratungsangeboten oder sind durch Medienberichte auf Hayat gestoßen. Oft sind es die Mütter oder
weibliche Familienmitglieder, die uns aufsuchen. Die Mehrzahl der Radikalisierten ist zwischen 18 und
24 Jahre alt, davon ist ungefähr ein Drittel weiblich.
In der Mehrzahl der Fälle zeigte sich eine weit fortgeschrittene Radikalisierung mit Anbindung an
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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gewaltbereite salafistische Netzwerke und in vielen Fällen war eine Ausreise geplant oder bereits
erfolgt. Mit Ausnahme von wenigen Fällen liegt der Erfolg der Beratungsarbeit bisher in der Beruhigung
der ursprünglich sehr konfliktgeladenen Situation, der Wiederherstellung der Kommunikation innerhalb
der Familie und mit dem Umfeld und einer damit einhergehenden Verlangsamung bis zum Stopp des
Radikalisierungsprozesses.
Literatur
Dantschke, C., Mansour, A., Müller, J., & Serbest, Y. (2011). Ich lebe nur für Allah - Argumente und
Anziehungskraft des Salafismus. Berlin: ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur GmbH - Arbeitsstelle
Islamismus und Ultranationalismus.
Dantschke, Claudia/Köhler, Daniel: Angehörigenberatung und Deradikalisierung. Theoretische und
praktische Implikationen sowie erster inhaltlicher Bericht über die Beratungsstelle Hayat, in: Journal
EXIT-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und
demokratische Kultur, Berlin, 01/2013. (http://journals.sfu.ca/jed/index.php/jex/article/view/14)
Endres, Florian: Die Beratungsstelle "Radikalisierung" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Journal EXIT-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, Berlin, 01/2014.
(http://journals.sfu.ca/jed/index.php/jex/article/view/53)
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-ncnd/3.0/de/ Autor: Ahmad Mansour für bpb.de
Fußnoten
1.
2.
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-09/deutsche-islamisten-syrien-verfassungsschutz (http://
www.zeit.de/politik/deutschland/2014-09/deutsche-islamisten-syrien-verfassungsschutz)
http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/5458608/die--durchgeknallten--gehen-nach-syrien-undin-den-irak.html (http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/5458608/die--durchgeknallten--gehennach-syrien-und-in-den-irak.html)
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Islamismus in Schule und Unterricht
Von Michael Kiefer
21.7.2011
Dr. phil., geb. 1961, ist Islamwissenschaftler und Publizist. Er forscht und arbeitet zum Themenfeld islamischer
Religionsunterricht.
Blitzartige Radikalisierungsprozesse bei jungen Muslimen sind keine Einzelfälle mehr. Was
können Jugendarbeit und Schule tun, um das zu verhindern?
Bünyamin E., der von seinen Schulkameraden Bünno genannt wurde, war ein unauffälliger junger
Mann, der tagsüber auf einem Bauernhof jobbte und bis zum Jahr 2009 die Abendrealschule in
Wuppertal besuchte. Im Sommer 2010 verschwand der Schüler aus seinen gewohnten
Lebenszusammenhängen. Bünno hatte den Entschluss gefasst, "Imran Almani" zu werden. Fortan
wollte er Teil des "Jihads" in Afghanistan sein. Für den jungen Kombattanten war dies ein kurzer Weg.
Bereits am 4. Oktober, kurz vor seinem 21. Geburtstag, starb Bünno durch einen US-Drohnenangriff
unweit der pakistanischen Provinzstadt Mir Ali.
Für die Sicherheitsbehörden war Bünyamin E. ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Seine
Radikalisierung zum Jihadisten vollzog sich offenbar sehr schnell. Einen nicht unerheblichen Einfluss,
so mutmaßt man heute, hatte das salafistische Umfeld der Schababannur-Moschee in Wuppertal. Dort
predigte auch Abu Jibriel, einer der erfolgreichen deutschen Jugendprediger, der sich neuerdings auch
als Schauspieler im jungen Genre islamischer Unterhaltungsfilm erprobt.
Blitzartige Radikalisierungsprozesse bei jungen Muslimen sind keine Einzelfälle. Seit geraumer Zeit
stellen die Sicherheitsbehörden vermehrt Radikalisierungsverläufe vorzugsweise junger Muslime und
Konvertiten fest. Sichere Zahlen gibt es hierzu allerdings nicht. Das Bundeskriminalamt schätzt die
Zahl der sogenannten islamistischen "Gefährder" auf 130. Auf welchem Wege junge Menschen in
jihadistische Netzwerke hineingelangen und welche Faktoren Radikalisierung begünstigen, ist nach
wie vor unklar. Als gesichert gilt lediglich, dass radikalislamistische Websites, die in großer Zahl im
Internet vorzufinden sind, eine erhebliche Rolle spielen. Dies zeigte insbesondere der Fall des
Frankfurter Attentäters Arid U., der im März 2010 zwei US-Soldaten tötete. Nach Ermittlungslage
verfügte der Attentäter über keine personellen Verbindungen zu jihadistischen Netzwerken. Der
Ideologietransfer lief fast ausschließlich über Internetplattformen.
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Jihad und Islamismus
Der militante Islamismus ist jedoch nur ein Teil des Problems. Das islamistische Spektrum, das auf
Jugendliche Einfluss auszuüben versucht, ist erheblich breiter. Nur ein kleiner Teil zeigt sich
gewaltbereit. Die meisten salafitischen Jugendprediger und islamistischen Netzwerke, die öffentlich
in Erscheinung treten, lehnen Gewalt ab. Allen gemein ist jedoch die umfassende Ideologisierung des
Islams, die nach Mohammed Arkoun den Islam als die einzig wahre Religion darstellt, die den ewigen
Pakt Gottes mit den Menschen entspricht. Der Islam enthalte das vollendete Recht für alle
Gesellschaften und müsse zur Regelung aller Angelegenheiten herangezogen werden. Dieser
Grundsachverhalt findet seinen Niederschlag in vier Tendenzen:
1. Islam als alleiniges Orientierungssystem für alle privaten und gesellschaftlichen
Angelegenheiten
Es wird davon ausgegangen, dass der zur Ideologie transformierte Islam umfassende Antworten auf
alle Fragen des privaten und gesellschaftlichen Lebens bereithält. Dies bedeutet, dass Islam zur
Regelung aller politischen, juristischen, ethischen, kulturellen und ökonomischen Angelegenheiten
herangezogen werden muss.
2. Literalismus
Um Spaltungen in der der Umma zu vermeiden, müsse man wieder zur ursprünglichen Botschaft des
Korans zurückfinden. Dieser sei unantastbar und sola scriptura zu lesen, da alle Aussagen bereits in
unmissverständlicher Klarheit vorhanden wären.
3. Exklusivität
Die eigenen aus der unmittelbaren Koranlektüre gewonnenen Prinzipien werden als absolut und
unhinterfragbar gesetzt. Eine Diskussion über die Prinzipien wird grundsätzlich abgelehnt. Positionen,
die auf anderen religiösen Grundlagen beruhen – seien es innerislamische oder außerislamische –
sowie Positionen, die auf säkularen Weltanschauungen basieren, erzeugen Intoleranz und Ablehnung.
4. Antisemitismus
Ein weiteres häufig vorzufindendes Merkmal islamistischer Ideologie ist eine ausgewiesene
antisemitische Rhetorik und Weltsicht. Zentral ist hier die dem modernen Antisemitismus entnommene
Figur des jüdischen Verschwörers, der mit Rückgriff auf Narrative des Korans zum zentralen
Widersacher der islamischen Umma erklärt wird.
Präventionsarbeit
Die verschiedenen Spielarten des Islamismus und die hieraus abgeleiteten dichotomen
Weltdeutungsangebote, die streng und ohne Zwischentöne zwischen "haram" (verboten) und "halal
" (erlaubt) unterscheiden, stellen Jugendhilfe, Moscheegemeinden und Schule vor eine komplexe
Problemlage. Für die freien und kommunalen Jugendhilfeträger ist zunächst zu konstatieren, dass die
Extremismusproblematik bislang gar nicht oder nur unzureichend wahrgenommen wurde. Folglich
gibt es – abgesehen von wenigen Modellprojekten unter anderem im Bundesprogramm "Inititative
Demokratie stärken", das im Jahr 2010 gestartet wurde – faktisch keine Präventionsarbeit, die
islamistischen Eindeutigkeitsangeboten etwas entgegensetzen könnte. Ferner ist festzuhalten, dass
selbst bei vorhandenem Willen eine wirksame Präventionsarbeit kaum möglich wäre, da bislang den
Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern jegliche Erxpertise fehlt.
Ähnlich stellt sich die Sachlage auch bei den Moscheegemeinden dar. In den vergangenen zehn Jahren
wurde von der Politik immer wieder die Forderung vorgetragen, die Moscheegemeinden sollten einen
bedeutsamen Beitrag zur Islamismusbekämpfung leisten. Hier stellt sich die Frage: Wie und mit wem?
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Zunächst ist festzuhalten, dass viele Moscheegemeinden hier nur beschränkte Wirkmöglichkeiten
haben, da viele muslimische Jugendliche die Moschee gar nicht oder nur selten besuchen. Darüber
hinaus verfügen viele Imame über keine Anbindungen an die Wohnquartiere. Als unzureichend sind
oftmals ferner die Deutschkenntnisse anzusehen. Schließlich fehlen grundlegende pädagogische
Kenntnisse, die für eine qualifizierte Arbeit mit Jugendlichen erforderlich sind.
Schule als Ort der Prävention
Wesentlich bessere Voraussetzungen als Jugendhilfe und Moscheegemeinden bietet die Schule mit
ihrem differenzierten Fächerinstrumentarium. Im Hinblick auf die Zielgruppe – junge Muslime aller
Herkünfte – bietet die Schule zunächst den entscheidenden Vorteil, dass aufgrund der bestehenden
Schulpflicht die Zielgruppe im vollen Umfang erreicht werden kann. Ein in diesem Kontext weiterer
wichtiger Faktor ist darin zu sehen, dass nahezu alle im Unterricht tätigen Lehrkräfte über eine solide
pädagogische Ausbildung verfügen, die einen professionellen Umgang auch mit durchaus schwierigen
Themen sicherstellen soll.
Für die Präventionsarbeit bietet die Schule drei Handlungsfelder:
1.
Fächer der Werteerziehung (Politik, Gesellschaftskunde, Ethik oder Praktische Philosophie),
2.
Kooperationsangebote mit
Ganztagsunterrichts und
3.
"Islamkunde", "Islamunterricht" und "islamischer Religionsunterricht".
außerschulischen
Partnern
im
Rahmen
des
gebundenen
In den Handlungsfeldern Fächer der Werteerziehung und Kooperationsangebote mit außerschulischen
Partnern ist die die Präventionsarbeit gegen Islamismus bislang kein fester Bestandteil der Lehr- bzw.
Bildungspläne. Qualifizierte Lehrerfortbildungen und hochwertige Handreichungen, die sich
schulrelevant mit Phänomen des Islamismus auseinandersetzen, sind eher die Ausnahme.
Als Pionier auf diesem Gebiet erwies sich bisher der Berliner Verein Ufuq e.V., der seit drei Jahren
Fortbildungen für Lehrkräfte in mehreren Bundesländern angeboten hat. Darüber hinaus hat Ufuq
gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)den Newsletter "Jugendkultur, Religion
und Demokratie. Politische Bildung mit jungen Muslimen" herausgegeben. Als weiterer wichtiger Akteur
ist in diesem Kontext das Netzwerk Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage (SOR-SMC) in
Erscheinung getreten. Die von SOR-SMC herausgegebene Handreichung "Jugendkulturen zwischen
Islam und Islamismus" gilt mittlerweile als Standartwerk für Lehrkräfte aller Schulformen.
Das in Zukunft wichtigste Handlungsfeld für die schulische Auseinandersetzung mit Phänomenen des
Islamismus ist der "Islamische Religionsunterricht" der z. Z., der in sechs Bundesländern (Bayern,
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, NRW und Niedersachsen) zumeist in
Form von
Modellversuchen angeboten wird. In Quantität und Reichweite herausragend ist die "Islamkunde" in
NRW, die im Schuljahr 2010/2011 an ca. 170 Schulen mehr als 12 000 Schülerinnen und Schüler der
Jahrgangsstufen 1 bis 10 erreicht. Durchgeführt wird die "Islamkunde", die im kommenden Jahr in
einen ordentlichen "islamischen Religionsunterricht" überführt werden soll seit dem Schuljahr
1999/2000.
Vor allem im Bereich der SEKI und hier insbesondere in der 8. Bis 10. Jahrgangsstufe konnten in den
vergangenen 11 Jahren Lehrkräfte die politische Instrumentalisierung des Islams im Rahmen des
Unterrichts bearbeiten und wertvolle Erfahrungen sammeln. Hierbei ging es auch um durchaus
konfliktträchtige Themen wie den Nahostkonflikt, über den arabisches SAT- TV oft sehr einseitig
berichtet. Im Rahmen des Unterrichts, der in der Regel zwei Wochenstunden umfasst, gewinnen die
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Schülerinnen und Schüler eine mehrdimensionale Sichtweise und erlernen unter anderem einen
reflektierten Umgang mit religiösen Regeln und Dogmen. Überdies setzen sie sich aktiv mit anderen
Religionen und Weltanschauungsmodellen auseinander und arbeiten so aktiv an einer Verbesserung
ihrer Dialog- und Toleranzkompetenz. Beide Kompetenzen sind für das Zusammenleben in einer
wertepluralen Gesellschaft, die durch eine hohe Diversität von Lebensentwürfen gekennzeichnet ist,
von herausragender Bedeutung.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)
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Folgen des 11. September 2001 für die deutschen
Sicherheitsgesetze
Von Marwan Abou-Taam
25.7.2011
Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz.
[email protected]
Nach dem Schock von 9/11 kam es auch in Deutschland rasch zu gesetzlichen Veränderungen.
Seitdem sind die damals erlassenen Gesetze und Neuregelungen immer wieder Gegenstand
politischer Auseinandersetzungen, denn ihre Folgen für die bürgerlichen Grundrechte sind
nicht unproblematisch.
Einleitung
[...] In der Tat führten die Anschläge vom 11. September 2001 zu einer Zäsur in der deutschen Innenund Sicherheitspolitik. Die mediale Inszenierung der Anschläge spiegelte die tatsächliche Komplexität
der neuen Sicherheitslage und ihrer Erfordernisse wider.
Aus staatstheoretischer Perspektive ist Sicherheit ein Kollektivgut, das für alle Mitglieder einer
Gesellschaft gleichzeitig und im gleichen Umfang bereitgestellt wird. Grundsätzlich besteht die Aufgabe
des Sicherheitssektors darin, reale und potenzielle Gefährdungen zu verhindern. In diesem
Zusammenhang bestimmt das Sicherheitsmanagement als Verbindung zwischen security policy [2]
und security politics [3] die politischen Gestaltungsmaßnahmen der sicherheitspolitischen Akteure.
Hierbei hat der Verlust von Steuerungsfähigkeiten in einer medialen Welt verheerende Auswirkungen
auf Gesellschaft und Wirtschaft und damit auch auf die Entscheidungsträger. Sicherheit hat eine
subjektive Ebene, die stark von der persönlichen Empfindung abhängig und daher schwer messbar
ist. Die objektive Dimension von Sicherheit beschreibt dagegen die Gewährleistungen des erreichten
Lebensniveaus, die Bewahrung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie den Schutz
von Rechtsgütern. Das macht diese Ebene organisierbar. Inwiefern und in welcher Intensität dies
geschieht, hängt von der Qualität der Gefahrenlage ab und wird von der jeweils vorherrschenden
Sicherheitskultur bestimmt.[4]
Auch die deutsche Sicherheitspolitik ist einer Reihe von strukturellen und organisatorischen Zwängen
unterworfen, die komplizierte Entscheidungsstrukturen verursachen und damit die Gestaltung von
Sicherheit erschweren. Hier sind insbesondere auf nationaler Ebene die föderalistische Organisation
der Bundesrepublik und nach außen hin die Rolle der Europäischen Union und die Einbindung in die
NATO zu nennen. Auf Letzteres kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Ersteres
wird im Folgenden dargestellt.
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Innenpolitische Maßnahmen
Ausgelöst durch den Schock der Ereignisse vom 11. September 2001 kam es rasch zu gesetzlichen
Veränderungen in den Bereichen, die zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit beitragen. Hinter
den beschlossenen Maßnahmen steht immer die Frage, wie viele Eingriffe in die individuelle Freiheit
des Einzelnen zugelassen werden können, und wo die gesellschaftspolitische Akzeptanzgrenze ist,
ohne die demokratische rechtsstaatliche Kultur Deutschlands infrage zu stellen.
Die erste Reaktion des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily auf die Anschläge in den USA
war der Ruf nach einer übergeordneten Behörde, um die Sicherheitsmaßnahmen auf Landes- und
Bundesebene besser koordinieren zu können. Das zum 1. Mai 2004 errichtete "Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe" (BBK) war ein erster Beitrag des Bundes zur "Neuen
Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland".[5] Zudem verabschiedete die Bundesregierung
zügig das erste sogenannte Antiterrorismuspaket, das die Bereitstellung von drei Milliarden Euro für
die Nachrichtendienste, die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, das Bundeskriminalamt und den
Generalbundesanwalt vorsah. Im Gesetz sind ferner eine Reihe von Maßnahmen beschlossen worden,
die den Sicherheitsauftrag des Staates festigen sollen. Ziel des am 30. November 2001 gebilligten
ersten Sicherheitspakets ist die Bekämpfung terroristischer Vereinigungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die im Rahmen des Sicherheitspakets erlassenen Gesetze
und Neuregelungen die Aufhebung des Religionsprivilegs aus dem Vereinsgesetz vorsahen. Das
Religionsprivileg in Paragraf 2, Absatz 2, Nummer 3 Vereinsgesetz besagte, dass Vereinigungen, die
sich der gemeinschaftlichen Pflege einer Weltanschauung verpflichtet haben, grundsätzlich erlaubt
und keine Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes waren. In der Konsequenz unterlagen sie nicht den
für Vereine bestehenden Kontrollen und Einschränkungen. Die Neufassungen, die unter anderem eine
Streichung des in Nummer 3 beschriebenen Privilegs vorsahen, führten dazu, dass seitdem
weltanschauliche Gemeinschaften den gleichen Verbotskriterien unterzogen werden wie alle anderen
Vereinigungen. Hinzu kam, dass laut Gesetzgeber alle Vereine, deren Mitglieder oder Leiter
überwiegend Ausländer aus Staaten außerhalb der Europäischen Union sind (sogenannte
Ausländervereine), künftig verboten werden können, wenn ihr Zweck oder ihre Tätigkeit den Prinzipien
des Grundgesetzes widersprechen (Paragraf 14 Vereinsgesetz[6] ). Der Staat behält sich nun das
Recht vor, Weltanschauungen bezüglich ihrer Kompatibilität mit dem Grundrecht zu überprüfen und
gegebenenfalls zu verbieten.
Ferner wurde Paragraf 129a des Strafgesetzbuches, der die Bildung terroristischer Vereinigungen
unter Strafe stellt, durch Paragraf 129 b ergänzt, so dass nun die Mitgliedschaft in terroristischen
Vereinigungen sowie Sympathieerklärungen strafbar sind, selbst wenn die Terrorgruppe in Deutschland
keine Infrastruktur unterhält.[7] Mit anderen Worten: Durch die Ergänzungen wurde die Bildung
krimineller und terroristischer Vereinigungen auch dann strafbar, wenn diese im Ausland agieren. Damit
wurde eine Strafbarkeitslücke geschlossen. Denn bereits im Dezember 1998 hatten sich die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung
in ihrem Hoheitsgebiet unabhängig vom Ort, an dem die Operationsbasis beziehungsweise die Straftat
verübt wird, strafrechtlich zu ahnden.
Eine weitere Etappe des Sicherheitspakets war die Änderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes,
die zunächst auf fünf Jahre befristet wurde. Demnach soll eine Sicherheitsüberprüfung aller Personen
stattfinden, die an sicherheitsempfindlichen Stellen arbeiten. Auch Angestellte von Krankenhäusern,
Rundfunkanstalten oder Energieerzeugern sollen einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden.
Neu ist dabei, dass die einfache Überprüfung in die Zuständigkeit des Bundes überführt wurde. Nach
Paragraf 8 des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes wurde geregelt, dass der öffentliche Arbeitgeber vor
der Einstellung eines bestimmten Personenkreises Auskünfte beim Verfassungsschutz des Bundes
und der Länder, dem Bundeskriminalamt, dem Bundesgrenzschutz, den Nachrichtendiensten des
Bundes und gegebenenfalls dem Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen einholen muss.[8] Der
Betroffene hat die Pflicht zu umfangreichen Angaben zur Person sowie unter anderem über
Beziehungen zu oder Reisen in Staaten, die nach Angabe des Bundesinnenministeriums als besondere
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Sicherheitsrisiken gelten. Die rechtliche Umsetzung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes war
allerdings erst Gegenstand des zweiten Sicherheitspakets.
Zweites Sicherheitspaket: Terrorismusbekämpfungsgesetz
Das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz)[9] sah
mehrere Einfügungen und Veränderungen in 17 Gesetzen und fünf Rechtsverordnungen vor. Die
wesentlichen Grundlagen des bisherigen Verfassungsschutzrechts - das Gesetzmäßigkeitsprinzip,
das Gebot der organisatorischen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten sowie der Ausschluss
polizeilicher Zwangsbefugnisse - blieben zwar unangetastet, doch beinhaltete das Gesetz im Rahmen
einer Präventionsstrategie zahlreiche Veränderungen des Bundesverfassungsschutzgesetzes, des
Gesetzes über den Militärischen Abschirmdienst (MAD-Gesetz), des Gesetzes über den
Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz), des Bundesgrenzschutzgesetzes, des Bundeskriminalamtgesetzes,
deren Kompetenzen erheblich erweitert wurden, sowie des Ausländergesetzes.
Das Gesetz zielte auf die Schaffung von Rahmenbedingungen, die einen besseren
Informationsaustausch gewährleisten sowie die Einreise terroristischer Straftäter nach Deutschland
verhindern und identitätssichernde Maßnahmen bilden. Es sollten eine Sicherheitsüberprüfung von
Mitarbeitern in wichtigen Einrichtungen ermöglicht und die Fahndung effektiver gestaltet werden. Das
Terrorismusbekämpfungsgesetz schaffte zudem die Grundlage für die Erhebung biometrischer Daten
wie Fingerabdrücke, Handform oder die Gestalt der Augeniris.
Der Beobachtungsauftrag des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde erweitert, so dass nun auch
Bestrebungen, die gegen die Völkerverständigung gerichtet sind, dazugehören. Die Arbeit des
Verfassungsschutzes soll weit im Vorfeld terroristischer Bestrebungen erfolgen, um die
Gefahrenabwehr zu garantieren. Was unter diesen Bestrebungen zu verstehen ist, wird dagegen nicht
weiter ausgeführt. Hier besteht ein weiter Ermessensspielraum der Behörden.[10]
Für die Erfüllung ihrer Aufgaben erhält die Verfassungsschutzbehörde die Möglichkeit, von Banken,
Luftfahrtunternehmen und Postdienstleistern Kundendaten anzufordern. Zwar wurden hier
bürokratische Hürden eingebaut, um einen Missbrauch zu verhindern und die Bürgerrechte zu
wahren.[11] Jedoch drängt sich die Frage auf, warum Nachrichtendienste engagiert werden, wenn
doch bei begründetem Tatverdacht auch die Polizei Ermittlungen aufnehmen könnte. Unter denselben
Auflagen erhalten auch der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst
Auskunftsbefugnisse gegenüber Telekommunikations- und Teledienstbetreibern sowie Finanzdienstleistern.
Die neuen Kompetenzen der Dienste werden in die bereits bestehenden Kontrollstrukturen integriert.
Allerdings können die Dienste bei Gefahr in Verzug mit Maßnahmen beginnen und die Genehmigung
für eine umfassende Sicherheitsüberprüfung auch erst im Nachhinein einholen.
Ein weiterer Ausbau der nachrichtendienstlichen Kompetenzen ergibt sich durch die sogenannten
G-10-Maßnahmen, über welche die Kommunikations- und Reisewege von Privatpersonen leichter
nachvollzogen werden können. Die "G-10-Maßnahmen" werden im Gesetz zur Beschränkung des
Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses geregelt.[12] Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sowie die Ausländerämter übermitteln bei Verdachtsfällen automatisch die Daten der
entsprechenden Ausländer an die Behörden. Ferner werden Informations- und Datentransfers
zwischen den Diensten rechtlich erleichtert. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit mit ausländischen
Partnern und Strafverfolgungsbehörden. Das zweite Sicherheitspaket ermöglicht dem
Bundesnachrichtendienst zudem, künftig auch stärker im Inland zu ermitteln. Die entsprechenden
Regelungen sind jedoch zunächst auf fünf Jahre begrenzt und bedingen einer Verlängerung durch
den Bundestag.
Die Einrichtung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums im Jahr 2004 in Berlin ist zudem ein
weiterer Schritt, den schnellen Zugriff auf vorhandene Informationen zu organisieren. Hier laufen
sämtliche geheimdienstliche Informationen zusammen, so dass sie mit weniger Personalaufwand und
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aus unterschiedlichster Perspektive ausgewertet werden können. Das Gemeinsame
Terrorismusabwehrzentrum, das die Spezial- und Analyseeinheiten des Bundeskriminalamtes und des
Bundesamtes für Verfassungsschutz zusammenführt, soll die Sicherheitsbehörden unterstützen sowie
Informations- und Wissensbestände verschiedener Behörden miteinander verknüpfen.
Durch die Einbindung von Bundesnachrichtendienst, Kriminal- und Verfassungsschutzämtern der
Länder, Bundesgrenzschutz, Zollkriminalamt und Militärischem Abschirmdienst in die gemeinsamen
Arbeitsabläufe entstanden wichtige Synergieeffekte, so dass jenseits institutioneller Barrieren die
rechtlichen Voraussetzungen für gemeinsame Projektdateien geschaffen werden konnten.
Entsprechend wurde am 30. März 2007 auf Grundlage des Gesetzes zur Errichtung einer
standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und
Ländern (Antiterrordateigesetz) die Antiterrordatei in Betrieb genommen.[13] Hier werden die
Datensätze aller Ermittlungsbehörden des Bundes und der Länder zusammengeführt.
Zugriffsberechtigt sind neben Bundeskriminalamt, Bundespolizei, Bundesnachrichtendienst,
Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischem Abschirmdienst auch die Landeskriminalämter, die
Landesämter für Verfassungsschutz und Staatsschutzdienststellen der Länderpolizeien. In
begründeten Fällen ist der Zugriff auf die Datei auch anderen von den Ländern bestimmten Dienststellen
der Polizei möglich. Von den Betroffenen werden sowohl Grunddaten (wie Name, Geburtsdatum,
Adresse, Sprachen, Dialekte und körperliche Merkmale) als auch erweiterte Daten (wie
Bankverbindungen, Ausbildung, Beruf, Volkszugehörigkeit, Religionszugehörigkeit und Fahr- oder
Flugerlaubnisse) gespeichert.[14]
Die schärfste strafrechtliche Neuerung wurde im Rahmen des Gesetzes zur Verfolgung der
Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (StraftVVG) vom 30. Juli 2009 erlassen.
Gemäß den neu eingeführten Straftatbeständen in den Paragrafen 89a, 89b und 91 ist die Vorbereitung
schwerer staatsgefährdender Gewalttaten, die Kontaktaufnahme zwecks Unterweisung zur Begehung
von Gewalttaten sowie die Verbreitung oder Beschaffung einer entsprechenden Anleitung zu einer
solchen Tat unter Strafe zu stellen.[15] Problematisch ist hier die Tatsache, dass die Straftatbestände
sehr unbestimmt gefasst und die Hürden für den Anfangsverdacht sehr niedrig gehalten sind.
Wirkungsrealität der Sicherheitsgesetze
Erklärtes Ziel der Sicherheitsgesetze nach "9/11" war es, die Bedrohungen durch den internationalen
Terrorismus bereits im Vorfeld geplanter Anschläge effektiv zu "bekämpfen". Viele Maßnahmen wurden
zeitlich befristet. Ihre Verlängerung wurde an die Notwendigkeit einer Evaluierung gekoppelt. Dies
macht naturgemäß nur dann Sinn, wenn die Evaluierung tatsächlich vor der Verlängerung der Frist
stattfindet.
Die Frage, ob eine Evaluierung der oben dargestellten Maßnahmen stattgefunden hat, und welche
Ergebnisse diese hervorbrachte, rückt angesichts der grundsätzlichen programmatisch-ideologischen
Divergenzen der politischen Entscheidungsträger in den Hintergrund. So lehnte die FDP noch als
Oppositionspartei im Jahr 2006 das Terrorismusbekämpfungsgesetz mit der Begründung ab, dass die
Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, sprich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen öffentlicher
Sicherheit und Eingriffe in die bürgerlichen Grundrechte, nicht gewährleistet sei. Ihre Position hat sich
insofern gewandelt, als dass sie als Mitglied der Regierungskoalition bereit ist, einer Verlängerung der
Sicherheitsmaßnahmen zuzustimmen, wenn sich der Koalitionspartner im Gegenzug bei der
Vorratsdatenspeicherung dem liberalen Standpunkt - keine verdachtsunabhängige Speicherung von
Daten - annähert.[16]
Der koalitionsinterne Streit entfachte sich unter anderem durch die Ankündigung der EU-Kommission
im März 2011, die Richtlinie zur Speicherung aller Telekommunikationsdaten überarbeiten zu
wollen.[17] Neben einer zeitlichen Begrenzung der Datenspeicherung und einem konkreten
Verdachtsmoment fordern Kritiker der aktuellen Handhabung auch, die Zahl der Behörden mit
Zugriffsrechten auf die Datei einzuschränken. Ihre Position wurde durch ein Urteil des
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Bundesverfassungsgerichts im März 2010 bestärkt.[18] Ein weiterer grundsätzlicher Streitpunkt im
Zusammenhang mit den seit 2001 erlassenen Sicherheitsmaßnahmen ergibt sich aus dem Verdacht,
durch eine stärkere Bündelung der sicherheitspolitischen, polizeilichen und nachrichtendienstlichen
Landes- und Bundeskompetenzen das Prinzip der föderalen Organisation zu untergraben. So
scheiterte beispielsweise der Versuch, die Kompetenzen des Bundesamtes für Verfassungsschutz
zulasten der Landesbehörden zu stärken, bislang am Widerstand der Länder. Auch die angestrebte
Zentralisierung aller operativen Einheiten des Bundeskriminalamtes (BKA) in Berlin ist nicht erreicht.
Allerdings erhielt das BKA das Recht, ohne den Umweg über die Länderpolizei Informationen zu
sammeln.
Sicherheit, Legitimität, Elitendiskurs
Die seit dem 11. September 2001 erlassenen Gesetze und Neuregelungen wurden vom Gesetzgeber
mit einem Verfallsdatum versehen, weil ihre Wirkungen auf die bürgerlichen Grundrechte nicht
unproblematisch sind. Durch die Befristung soll sicher gestellt werden, dass die Entscheidungsträger
die Öffentlichkeit angemessen über die Nutzung und Wirkung der Antiterrorgesetze informieren. Zwar
sind die Sicherung der Freiheit, der sozialen Wohlfahrt und des inneren Friedens die vornehmsten
Aufgaben eines Staates. Jedoch kann es im Rahmen der Organisation von Sicherheit passieren, dass
die staatlichen Aktivitäten gesellschaftlich nicht akzeptiert werden, so dass zivilgesellschaftliche
Akteure korrigierend eingreifen müssen. Es reicht nicht aus, dass ein Konsens innerhalb der Regierung
hergestellt wird. Auch die Sachargumente müssen offen gelegt werden. Sollten sich die Gesetze als
effektiv erwiesen haben, so muss dies ebenfalls in die Gesellschaft hineingetragen werden, "denn nur
in dem Maße, in dem staatlicher Zwang seine Sicherheitsfunktion im Sinne der Wahrung der Freiheit
seiner Bürger erfüllt, kann er Legitimität beanspruchen".[19]
Sicherheitspolitik muss inhaltliche Handlungsprogramme verwirklichen und den dafür notwendigen
gesellschaftlichen, aber auch institutionellen Konsens organisieren. Dabei entspricht das Management
des Sicherheitssektors der stetig vorausschauenden Analyse von Gefahrenpotenzialen und
Entwicklungen, der Gestaltung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses sowie der
Formulierung von sektorübergreifenden Handlungsanweisungen, die in ihrer Gesamtheit eine moderne
diskursiv-kooperative Sicherheitspolitik darstellen. Diskursiv-kooperativ deswegen, weil sich eine
effektive Sicherheitspolitik vermitteln lassen muss. Hier gibt es in Deutschland noch sehr viel
Nachholbedarf. Der deutsche sicherheitspolitische Diskurs ist nach wie vor mehrheitlich ein Diskurs
der Eliten.
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 31.3.2011.
2 Policy umfasst sowohl inhaltliche Handlungsprogramme, die von den politischen Akteuren und
Instanzen verfolgt werden, als auch Resultate von politischen Willensbildungs- und
Entscheidungsprozessen.
3 Hierbei handelt es sich um die Art und Weise wie policy zustande kommt (wie politische Strukturen
oder Regierungskunst).
4 Vgl. Peter J. Katzenstein, Introduction, in: ders. (ed.), The Culture of National Security: Norms and
Identity in World Politics, New York 1996, S. 1-32.
5 Vgl. Eckart Werthebach, Deutsche Sicherheitsstrukturen im 21. Jahrhundert; in: APuZ, (2004) 44,
S. 10ff.
6 Vgl. Vereinsgesetz vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes
vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3198) geändert worden ist, online: http://bundesrecht.juris.de/
vereinsg/BJNR
005930964.html#BJNR005930964BJNG000100326 (15.6.2011).
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7 Vgl. Text des Gesetzes: www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129b.html (14.6.2011).
8v Vgl. Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom 20. April 1994 (BGBl. I S. 867), das zuletzt durch Artikel
6 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I S. 215) geändert worden ist, online: www.gesetze.
juris.de/s_g/BJNR086700994.html (15.6.2011).
9 Vgl. BGBl. Nr. 3, 2002, online: www.bmi.bund.de/SharedDocs/Gesetzestexte/
DE/Terrorismusbekaempfungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile (14.6.2011).
10 Vgl. Kirstin Hein, Die Anti-Terrorpolitik der rot-grünen Bundesregierung, in: Sebastian Harnisch et
al. (Hrsg.), Deutsche Sicherheitspolitik, Baden-Baden 2004, S. 148.
11 Vgl. Paragraf 1, Absatz 9 Terrorismusbekämpfungsgesetz (Anm. 11).
12 Vgl. Artikel 10-Gesetz vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), das zuletzt durch Artikel 1 des
Gesetzes vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2499) geändert worden ist, Paragraf 1, online: http://
bundesrecht.juris.de/g10_2001/
BJNR125410001.html (14.6.2011).
13 Vgl. Antiterrordateigesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3409), das durch Artikel 5 des
Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I S. 215) geändert worden ist, online: http://bundesrecht.juris.
de/atdg/BJNR
340910006.html (15.6.2011).
14 Vgl. Paragraf 3, ebd.
15 Vgl. BGBl I, I (2009) 49, 3.8.2009, S. 2437-2442.
16 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.4.2011.
17 Vgl. Viviane Reding, Your data, your rights, Brüssel, 16.3.2011, online: http://europa.eu/rapid/
pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/183 (15.6.2011).
18 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung nicht
verfassungsgemäß, Pressemitteilung vom 2.3.2010, online: www.bundesverfassungsgericht.de/
presse
mitteilungen/bvg10-011 (15.6.2011).
19 Walter Euchner (Hrsg.), John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. 1977,
S. 210.
aus: APuZ 27/2011 - Der 11. September 2001 (http://www.bpb.de/publikationen|/ZNC765,0,
Folgen_des_11_September_2001_f%FCr_die_deutschen_Sicherheitsgesetze.html)
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Die muslimische Jugendszene
Von Claudia Dantschke
5.7.2007
studierte Arabistik an der Universität Leipzig. Sie schreibt zu den Themen Antisemitismus, Migration, Islam und Islamismus. Seit
Dezember 2001 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) in Berlin.
Welchen Einfluss haben zum Teil radikale Jugendorganisationen auf muslimische
Jugendliche? Wie sind muslimische Jugendliche in Deutschland organisiert?
Einblicke in einige sunnitisch-panislamische Jugendszenen
Für viele Jugendliche, die unter dem Label "muslimische Jugendliche" gefasst werden, ist die Religion
zwar ein wichtiger Teil ihrer Identität, aber nur eine Minderheit definiert sich selbst primär religiös.
Dieses Segment der sich primär religiös definierenden muslimischen Jugendlichen teilt sich in
zahlreiche Gruppen und subkulturelle Milieus auf, da sich die religiösen Orientierungen entsprechend
der Konfessionen, der verinnerlichten religiösen Dogmatik und auch der politischen oder ideologischen
Positionierung sehr unterscheiden. Diese Jugendszenen sind zum Teil klar voneinander abgegrenzt,
zum Teil überschneiden sie sich aber auch.
Für die Komplexität muslimischer Jugendkulturen spielt neben den unterschiedlichen religiösen
Interpretationen auch die soziale Schichtung eine Rolle sowie die Anbindung an islamische
Organisationen. So werden ethnische/nationale Bezüge am stärksten in einem eher mittelständischen,
sozial integrierten und bildungsnahen Milieu von religiösen Bekenntnissen verdrängt, während es in
den bildungsferneren Milieus oft zu einer Mischung von Religion und nationaler Herkunft kommt. Auch
politische Konflikte in den Herkunftsländern der Familien prägen nationale Orientierungen der
Jugendlichen. Das ist besonders bei Jugendlichen aus arabischen Ländern zu beobachten, quer durch
alle sozialen Milieus. Bei den Jugendlichen türkischer Herkunft resultiert die Kombination aus
ethnischer/nationaler und religiöser Orientierung aus einem von verschiedenen islamischen
Organisationen oder dem Elternhaus geprägten Religionsverständnis, das als "türkisch-islamische
Synthese" bezeichnet wird. Herkunft, türkische Sprache und Kultur erhalten dabei eine quasi religiöse
Bedeutung.
Innerhalb dieses heterogenen Spektrums gibt es gezielte Bestrebungen, die internen Abgrenzungen
und Segmentierungen zu überwinden und zu einer tatsächlichen und nicht nur nach außen
dargestellten "Einheitlichkeit" zu gelangen. Die Grundlage dafür bildet eine panislamisch ausgerichtete,
also von Nationalität, Sprache und Kultur losgelöste Islaminterpretation (1). Das Verbindende ist allein
die Religion, Herkunft und Sprache sind sekundär, weshalb diese Gruppen sehr pragmatisch die
jeweilige Verkehrssprache, hierzulande also Deutsch, zur Kommunikation nutzen. Die sunnitischpanislamischen Gruppierungen werden zwar von Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft
dominiert, insgesamt sind sie aber sehr multinational zusammengesetzt und üben auch auf junge
deutsche Konvertiten beiderlei Geschlechts eine gewissen Anziehungskraft aus. Doch auch dieses
Milieu ist wieder unterteilt in verschiedene Szenen.
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Milli-Görüs-Jugend
Die größte Jugendszene der sunnitisch-panislamischen Strömung dürfte die Milli-Görüs-Jugend sein,
allein aufgrund der seit über 30 Jahren in Europa und speziell in Deutschland etablierten dichten
Infrastruktur und intensiven Kinder- und Jugendarbeit der Milli-Görüs-Organisation. Die Anzahl der
Mitglieder des Jugendverbandes (Milli Görüs Jugend) beläuft sich auf sieben- bis achttausend aktive
und noch einmal so viel weniger aktive Mädchen und Jungen, also insgesamt etwa 15.000 Jugendliche
in Europa (etwa 80% davon in Deutschland). Zwar ist diese Szene in der gelebten Mitgliedschaft noch
sehr stark sprachlich und kulturell türkisch orientiert und geprägt, die zugrunde liegende Milli-GörüsIdeologie des inzwischen über 80jährigen Milli-Görüs-Führers Necmettin Erbakan ist in ihrer Theorie
jedoch auf einen Panislamismus ausgerichtet und in ihrem Kern eine türkische Spielart der arabischen
Muslimbruder-Ideologie. Vor allem in den bildungsnahen Kreisen der Milli-Görüs-Jugend (IGMGGenclik) treten die tradierten türkisch-kulturellen Elemente immer stärker zugunsten der
panislamischen Orientierung in den Hintergrund.
Als der IGMG-Jugendverband im April 2005 zur 10. Jugendkonferenz ins belgische Genk einlud, kamen
etwa 5.000 Besucher, gut die Hälfte waren Frauen und ein gutes Drittel war unter 18 Jahren. Wie
immer bei den IGMG-Großveranstaltungen wurde der greise Erbakan per Telefon zugeschaltet. In
seiner Rede an die Jugendlichen betonte Erbakan die Erwartungen der Organisation an die junge
Generation. Er forderte sie auf, als gute Muslime aktiv zu werden, da sie das Bild der Muslime prägen
und dieses Bild müsse ein positives, ein perfektes sein.
Mit der Ende 2006 gestarteten Jugendoffensive wendet sich die IGMG jedoch primär an die
Erwachsenen, die sich stärker um die Jugendlichen kümmern sollen, denn "schließlich gibt es noch
zehntausend Jugendliche, die wir noch erreichen müssen und die vielen Problemen ausgesetzt sind. ...
Es ist nicht genug, sie zu organisieren; wir müssen sie in unsere Gemeinschaft aufnehmen und sie
für die Zukunft und für die Gesellschaft erziehen. Unser größter Wunsch ist, dass diese Jugendlichen
im Sinne des Islams als gläubige, fleißige, ehrliche und erfolgreiche Personen in der Gesellschaft
einen bedeutenden Platz einnehmen." (2)
Das dazugehörige Projekt, welches der IGMG - Jugendausschuss nun starten wolle, wird als "
zeitgenössische Dar-ul Erkam Schule" ("Gesprächskreise 2000") bezeichnet und soll gleichzeitig
überall in Europa stattfinden. Es ist ein Projekt, das auf Nachbarschaft und Bekannte im Haus, in der
Straße usw. abzielt, die zum Gespräch auf lokaler Ebene eingeladen werden sollen. Eingeladen sind
dabei vor allem Jugendliche, "und alle, die sich jung fühlen". In diesem Programm, so die Planung, "
werden Themen über den Glauben und das Gebet angesprochen. Vor allem aber werden wir die
islamische Geschichte und das beispielhafte Leben unseres Propheten (saw) und seiner jungen
Gefährten kennen lernen. Somit werden wir das Gemeinschafts- und Brüderlichkeitsbewusstsein
stärken." Die Mütter und Väter sollen die Jugendlichen ermutigen, an diesem Programm teilzunehmen
und ihre Wohnungen als Ort der Gesprächsrunden zur Verfügung stellen. "Wir als Milli Görüs möchten
die Jugendlichen in aller Hinsicht fördern. Wir sehen es als unsere Pflicht, ihnen jugendgerechte
Begegnungsorte anzubieten. Es ist unsere größte Aufgabe, sie zu fleißigen, zielstrebigen und mit
gutem Benehmen ausgestatteten Menschen zu erziehen." Dazu brauche man die Zusammenarbeit
mit den Eltern, erklärt die IGMG.
Neben dieser eher traditionellen Jugendarbeit des Verbandes über die Eltern, laufen seit einiger Zeit
Versuche einer Umstrukturierung der Jugendabteilung der IGMG zu einem IGMG-Jugendverband mit
dem Ziel, den Jugendlichen auf Bundes-, Regional-, Landes- und Lokalebene mehr Autonomie zu
gewähren und damit die Mitbestimmung und Aktivierung der Jugendlichen zu erhöhen. Letztendlich
ist es der Versuch, die Jugendlichen bei der Organisation zu halten und zu verhindern, dass sie in die
zahlreichen alternativen muslimischen Jugend-Szenen abwandern, die wesentlich unabhängiger von
den Direktiven der Erwachsenen sind.
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Muslimische Jugend in Deutschland
Zu diesen Jugendszenen gehören die zwar arabisch dominierten aber multinational
zusammengesetzten, islamisch konservativ orientierten sunnitischen "Pop-Muslime", wie z.B. die
Muslimische Jugend in Deutschland (MJD). Die MJD ist eine bundesweit organisierte deutschsprachige
Organisation für muslimische Jugendliche zwischen 13 und 30 Jahren aus eher bildungsorientierten
und sozial integrierten Schichten, darunter auch zahlreiche Jugendliche bikultureller Herkunft sowie
Konvertiten. Die MJD wurde 1994 nach dem Vorbild der britischen Young Muslims (3) unter Leitung
des Vereins "Haus des Islam – HDI" (Lützelbach) gegründet. Der erste Amir und Vorsitzende der MJD
war Muhammad Siddiq (Wolfgang Borgfeld), ein deutscher Konvertit und Leiter des HDI. Offiziell gilt
die MJD als unabhängiger Jugendverband, aber der Verein HDI ist bis heute Pate der MJD, u.a. bei
der Veranstaltung der jährlichen MJD-Meetings oder der Brüder- und Schwestern-Lager. Personelle
Verflechtungen zwischen der MJD und Organisationen der Muslimbruderschaft, das regelmäßige
Auftreten verschiedener Autoritäten dieses Spektrums als Referenten auf MJD Veranstaltungen und
die von der MJD über ihren Buchverlag Greenpalace verbreitete religiöse Literatur haben der MJD
wohl nicht zu unrecht den Ruf einer inoffiziellen Jugend- und Eliteorganisation dieses politischislamischen Spektrums verschafft, deren Interessen in Deutschland, laut Verfassungsschutz, von der "
Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) vertreten werden, die unter dem Einfluss der
ägyptischen Muslimbruderschaft steht". (4)
Die MJD ist gegliedert in Lokalkreise, der Vorstand der MJD nennt sich Schura, Vorstandsvorsitzender
ist der Amir. Zwar sind in der Schura auch junge Frauen vertreten, der Amir war aber bisher stets
männlich. Alle zwei Jahre wird eine neue Schura gewählt. Die Mitgliederzahl der MJD bewegt sich
zwischen 200 und 300, zu den Jahrestreffen kommen aber über 1.000 muslimische Jugendliche,
darunter ein hoher Anteil junger Frauen. Obwohl männliche und weibliche Mitglieder der MJD auch
gemeinsam zu regionalen Treffen reisen und religiöse Feste feiern, treffen sich die "Schwestern" und "
Brüder" des Vereins an unterschiedlichen Wochentagen getrennt. Die konservativ-islamische
Geschlechtertrennung wird bei der MJD eingehalten und praktiziert. So gibt es für Mädchen und Jungen
jeweils eigene mehrtägige Jugendlager, bei denen das Gemeinschaftsgefühl und der
Gruppenzusammenhalt gestärkt werden sollen. "Unter den Geschwistern der Muslimischen Jugend
fühlen wir uns zu Hause, mit keiner anderen Gemeinschaft fühlen wir uns so sehr verbunden", resümiert
ein langjähriger MJD-Funktionär seine Zeit bei der Organisation. Die Jugendarbeit der MJD ist hoch
professionell, wie die Handbücher für die Lokalkreise mit ihren Hinweisen für eine erfolgreiche
Organisation von Jugendgruppen zeigen. (5)
Im Zentrum der MJD - Jugendarbeit steht das Bemühen, die religiöse Selbstdefinition als gläubige/r
und praktizierende/r Muslimin oder Muslim mit dem Leben in Deutschland zu verbinden. Beides wird
im Einklang und nicht im Widerspruch zueinander gesehen, definiert und den Jugendlichen vermittelt.
Elemente urbaner, nichtreligiöser Jugendkulturen, wie Hip Hop oder Graffiti, werden adaptiert und mit
den eigenen religiösen Inhalten gefüllt. Der heute bekannteste muslimische Hip Hopper, Ammar114
(Milkias Kedebe) (6), der im gesamten Spektrum der so genannten "Pop-Muslime" Beachtung und
Anerkennung findet, fand über die MJD nicht nur zum Islam sondern auch zu dem inzwischen von
weiteren Jugendlichen kopierten islamischen HipHop-Stil.
Die Arbeit der MJD ist darauf ausgerichtet, "nichts gegen den Willen der Eltern zu machen, und dass
die Eltern auch zufrieden sind mit dem, was wir leisten, damit es da keine Probleme gibt", so der
aktuelle Vorsitzende der MJD, Mohammed Nabil Abdulazim (7). "Jüngere", so Abdulazim, "können in
der Regel besser auf die Jugendlichen eingehen, sind flexibler, und die Jugendlichen fühlen sich von
ihnen besser verstanden. Die Erfahrung der Älteren ist aber trotz allem nicht zu ersetzen. Wir können
als Jugendliche immer nur einen gewissen Input geben, aber durch Lebenserfahrung und Weisheit
können auch Ältere einen wichtigen Beitrag geben", so der MJD Vorsitzende. (8)
Diesen Generationenwechsel im Sinne der Elterngeneration brachte auch Riem Hawi zum Ausdruck,
als sie am 21. September 2003 als Vertreterin der MJD die junge Generation auf der Jahrestagung
der IGD im Berliner Tempodrom vertrat. Mit Verweis auf die Gefährten des Propheten Mohammad
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stellte sie fest, dass nur eine Jugend, die Teil der Gesellschaft ist und die sich einer Gesellschaft
zugehörig fühlt, auch in der Lage ist, diese Gesellschaft zu verändern, und zwar "zum Besseren" (9). "
Und auch das wollen wir", erklärte Hawi, denn "Integration heißt ja: Heile machen. Das kommt aus
dem Lateinischen und heißt: heile, sauber. Integration heißt heile machen und das wollen wir und
nichts anderes". Riem Hawi bezog sich in ihrer Rede auf den geistigen Mentor der Veranstaltung, den
deutschen Konvertiten Ahmad von Denffer. In einem Grundsatzreferat zum Thema dieser IGDJahrestagung "Integration statt Ghetto?!!" hatte Ahmad von Denffer erklärt: "Die Muslime sollten
Integration nicht als 'Teil werden' oder 'Teil sein' der Gesellschaft verstehen, sondern als 'sich beteiligen'
an der Gesellschaft, also von einer passiven zu einer aktiven Rolle finden. Wenn die Muslime ihre
eigentliche Aufgabe wahrnehmen, nämlich ihren Mitmenschen hierzulande das Wort Allahs nahe zu
bringen und den Menschen zu nützen, dann wird all das, worum man sich ansonsten so sehr bemüht,
sich eigentlich von selbst erledigen." (10) Die Tatsache, dass man in einer säkularen Demokratie lebe,
schreibt Ahmad von Denffer, müsse für die Muslime nur ein Ansporn sein, "sich nach besten Kräften
dafür einzusetzen, die Gesellschaft in eine islamgemäße umzuwandeln."
Salafitische Missionare
Distanzierter zur nichtmuslimischen Umwelt und kompromissloser in ihrem Islamverständnis verhalten
sich die an orthodoxen saudi-arabischen Gelehrten ausgerichteten, sehr spirituell auftretenden
salafitischen Gruppen. Sie sind zwar inhaltlich radikal aber nicht gewaltorientiert, ihre Grundlage ist
ein wahhabitisches (11) Islamverständnis mit einer extrem frommen, puritanischen und
buchstabengetreu am Koran und an der Scharia orientierten Ausrichtung. Propagiert wird eine
Rückkehr zum Vorbild der "lauteren Vorfahren" (al-salaf al-salih) und damit zu einem fiktiven "Urislam
", einem vermeintlich reinen Islam zu Zeiten des Propheten Mohammad und der vier rechtgeleiteten
Kalifen in Medina. Kennzeichnend für diese Strömung ist die Abwertung all derjenigen, die nicht ihrer
dogmatischen Islaminterpretation folgen (12) sowie die extreme Ablehnung der Schiiten und des
Schiitentums als "Sekte" und "Abweichung vom Islam". Die damit eingeleitete Spaltung des Islam soll
überwunden und rückgängig gemacht werden.
Die männlichen Anhänger dieser Strömung (auch und gerade die Jugendlichen) fallen in der
Öffentlichkeit durch Barttracht und orientalisch anmutende Kleidung auf. Es gibt zwei relevante
Netzwerke in Deutschland, die den missionarischen Ansatz verkörpern und damit auch im Bereich der
Jugendlichen bedingt erfolgreich sind. Das ist zum einen die syrisch-marokkanische Gruppe der vier
Imame, gleitet von dem Leipziger Imam Hassan Dabbagh (Abu al-Hussain). Vor allem der Berliner
Vertreter dieser Gruppe, der marokkanische Jugendimam Abdul Adhim, hat mit seinen charismatischen
Auftritten in verschiedenen Berliner Gemeinden (13) und seinen wöchentlichen Gesprächszirkeln in
der Berliner Al-Nur-Moschee vor allem bei Jugendlichen muslimischer Herkunft sowie jungen
deutschen Konvertiten eine gewisse Popularität erreicht und eine feste Anhängerschaft sowohl
männlicher als auch weiblicher Jugendlicher um sich scharen können. Dazu trägt auch das massive
deutschsprachige Internetangebot dieser Strömung bei, ein ganzer Komplex von miteinander
vernetzten Homepages bietet neben Informationen, Fatwas (islamische Rechtsgutachten),
Diskussionsforen und Internet-Paltalk-Abenden auch die deutschsprachigen Vorträge und Predigten
dieser vier Imame als kostenlose Audio- und Videodateien an. (14)
Die zweite, vor allem auch für Jugendliche attraktive Strömung wird von dem deutschen Konvertiten
Pierre Vogel (Abu Hamza) verkörpert. Der ehemalige Profi-Boxer Pierre Vogel ist 29 Jahre alt und
konvertierte vor sechs Jahren zum Islam. Vogel, der wie ein Wanderprediger in Deutschland unterwegs
ist, erreicht mit seinen Botschaften vom "wahren Islam" junge Deutsche, die durch ihn zum Islam
konvertieren, junge Migranten, die er zum Islam "zurückführt" sowie sich sunnitisch-panislamisch
orientierende Jugendliche, die bei ihrer privaten Suche nach "korrektem" islamischem Wissen auf
Islamveranstaltungen, in der Moschee oder im Internet auf Pierre Vogel stoßen und von ihm aufgrund
seiner jugendlichen Ausstrahlung und seines großen Wissens angetan sind. Innerhalb bestehender
Jugendszenen, wie z.b. dem Milieu von Milli Görüs, driften dabei die Meinungen über Pierre Vogel
stark auseinander und es kommt zu sehr kontroversen Diskussionen über ihn. Während Vogel
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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einerseits als gefährlich eingestuft und vor ihm gewarnt wird, weil er in Mekka studiert hat und eine
salafitische Islaminterpretation verbreitet, stören sich andere Jugendliche nicht daran, denn das wäre
kein Grund, "dass man gar nichts von ihnen nehmen kann."
Die massive Internet-Präsenz von Videos mit Vorträgen von Pierre Vogel sowie "Erweckungsvideos
" – Videos von männlichen Konvertiten und Audiodateien von weiblichen Konvertitinnen, in denen sie
erklären, wieso sie Muslim geworden sind –hat zu einem hohen Bekanntheitsgrad Pierre Vogels (Abu
Hamza) geführt und zu einer intensiven Debatte über ihn und seine Anschauungen, nicht nur in Kreisen
muslimischer Jugendlicher. Aus dieser virtuellen Aufmerksamkeit können aber nur bedingt
Rückschlüsse gezogen werden auf die reale Verbreitung dieser Bewegung innerhalb der muslimischen
Jugendsubkulturen. Ein Teil der Jugendlichen wird sich aus dem Angebot Vogels bedienen und einzelne
Aspekte in das eigene Weltbild integrieren, ohne sich Vogel oder seiner Strömung anzuschließen bzw.
sich zugehörig zu fühlen. Unabhängig davon sind Pierre Vogel und auch Abdul Adhim aber ein zu
beachtendes Phänomen in bezug auf die Entwicklung einer konservativen, streng religiös
ausgerichteten muslimischen Jugendsubkultur in Deutschland mit sehr starken Abgrenzungstendenzen
zu allem "nicht-islamischen". Die von beiden propagierte salafitische Islaminterpretation bildet aber
auch die ideologische Grundlage der gewaltbereiten und terroristischen multinationalen DjihadGruppen, die ihre Anhängerschaft auch aus den nicht gewaltorientierten salafitischen Netzwerken
rekrutieren.
Auch andere Gruppierungen, wie die puritanische Missionsbewegung Tablighi Jamaat (Gemeinschaft
der Verkündigung) oder die radikal-islamistisch auftretende Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung),
konnten im Jugendbereich Fuß fassen. Die Tablighi Jamaat (TJ) propagiert eine am Wortlaut
ausgerichtete Auslegung des Koran und damit die Wiederbelebung des klassischen Islam als
Grundlage für eine starke islamische Identität. Gepredigt wird der Rückzug auf die eigene
Gemeinschaft, eine strikte Geschlechtertrennung und eine totale Abschottung von der Umwelt auch
in Form von Kleidung sowie Haar- und Barttracht der Männer, ohne dass aber der umgebende Staat
aktiv geändert werden soll. Gewalt wird grundsätzlich abgelehnt. Die Bewegung beschreibt sich selbst
als unpolitisch, teilt aber die Vision einer puritanischen islamischen Idealgesellschaft mit vielen
Islamisten. Im Zentrum der missionarischen Aufmerksamkeit stehen sozial benachteiligte junge
Muslime, aber auch junge männliche Nicht-Muslime, die sich bereits für den Islam beginnen zu
interessieren. Die TJ-Anhänger suchen diese Jugendlichen auch in kommunalen
Jugendfreizeiteinrichtungen auf, um sie aus dieser "sündhaften" Umgebung "herauszuholen". Typisch
sind intensive Schulungen im kleinen Kreis und eine starke Indoktrination.
Im Unterschied dazu agiert die Hizb ut-Tahrir extrem politisch und agitiert eher in bildungsnahen
Kreisen. Zwar wurde der Partei 2003 die Betätigung in Deutschland verboten, sie ist aber nach wie
vor aktiv, vor allem im Bereich des Ideologietransfers in Kreise von Oberschülern und Studenten, wie
z.B. in Hamburg oder Berlin. Gewalt zur Erlangung der Macht wird nicht ausgeschlossen, richtet sich
aber auf die "islamischen" Länder, wo ein Kalifat errichtet werden soll. Die Strategie der Hizb ut-Tahrir
(HT) besteht darin, vorhandene muslimische Organisationen und Gruppen ideologisch zu
unterwandern. Bei den intellektuellen Jugendlichen und Studenten beeindrucken sie mit rhetorischer
Brillanz und theologischer Belesenheit. Sie versuchen, ein Milieu zu schaffen, eine ideologische
Aufrüstung, mit der die Anhänger (männliche aber auch weibliche Jugendliche) dann selbstständig
ausschwärmen. Inspiriert, aber unabhängig von der Hizb ut-Tahrir, agitieren diese Jugendlichen
unermüdlich ihre Altersgenossen auf lokaler und überregionaler Ebene und bemühen sich um eine
Vernetzung Gleichgesinnter, wobei das Internet eine wichtige Rolle spielt. Mit ihrer radikalen Ablehnung
jeglicher politischen Integration in Deutschland stößt die Hizb ut-Tahrir aber auch auf heftige Kritik in
ihrer jugendlichen Zielgruppe, denn diese Haltung mache es unmöglich, die Lebenssituation der
Muslime entsprechend den eigenen Vorstellungen zu beeinflussen.
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Zwischen Ohnmacht und Aktivität
Im Unterschied zu den bildungsnahen und sozial integrierten muslimischen Jugendlichen, die ihren
gesamten Lebensalltag entsprechend ihrer politisch-ideologischen oder dogmatisch religiösen
Orientierung gestalten, ihre Überzeugung leben und dafür auch aktiv werden, gestaltet sich die Affirmität
gegenüber radikalen islamistischen Gruppierungen in Kreisen eher bildungsferner und sozial
desintegrierter muslimischer Jugendlicher eher rhetorisch. Sie begreifen sich aufgrund ihres
muslimischen Familienhintergrundes als Teil einer Weltgemeinschaft und leiten aus dem positiven
Bezug auf die radikalen und terroristisch agierenden Djihad-Gruppen, deren Führungspersonen und "
Märtyrer" für sich selbst ein Überlegenheitsgefühl und ein übersteigertes Selbstwertgefühl ab. Es ist
eher eine Kompensation erlebter eigener Ohnmacht, Unzulänglichkeit und Schwäche,
Perspektivlosigkeit und eine Flucht aus dem Alltag. Die Selbstaufwertung erfolgt größtenteils über das
Internet und die dort veröffentlichten Gewaltvideos mit Szenen aus den zahlreichen aktuellen
Konflikten. Die Bildersprache ist simpel, mit Aufnahmen hochgerüsteter amerikanischer oder
israelischer Militärs wird die "Überlegenheit und Grausamkeit der Nicht-Muslime" dem "heroischen
Agieren der Muslime", ihrem Widerstand und Durchhaltevermögen, ihrer Kampf- und ihrer
Opferbereitschaft gegenübergestellt. Im Alltag äußern sich diese Bezüge bei den Jugendlichen nicht
durch religiöses Verhalten oder Praktizieren der Religion sondern eher in Form von Sprüchen,
aggressiven verbalen Abgrenzungen entlang der Linie "Muslim" – "Nichtmuslim" und einem das
Männliche, das Starke betonenden Habitus und Outfit. Eine sehr wohl kleinere, schwer zu schätzende
Anzahl von Jugendlichen geht über diese formale und eher rhetorische Identifikation hinaus. Sie
beziehen über das Internet nicht nur die audiovisuellen Propagandamaterialien sondern auch die
zahlreichen religiös verbrämten ideologischen Schriften, Bücher, Aufsätze, Statements, Analysen und
Anweisungen und machen sie sich zu eigen. Gleichzeitig vernetzen sie sich über Diskussionsforen
und es entsteht eine virtuelle Gemeinschaft, die den Beteiligten das Gefühl gibt, einer weltweiten
starken Gemeinschaft anzugehören, auch wenn sie im Alltag recht einsam sind.
Das ideelle Netzwerk der Lifemakers
Jugendlichen, die diese Abschottung ablehnen und sich mit ihrer islamischen Identität am Leben in
Europa beteiligen wollen, bot der TV-Prediger Amr Khaled mit der von ihm ins Leben gerufenen
muslimischen Jugendinitiative Lifemakers eine progressive Alternative. Mit seiner seit April 2004 im
arabischen Satelliten-TV-Sender Iqra ausgestrahlten Fernseh-Show ("Sunna Al-Hajat" - Lifemakers)
wurde Khaled schnell zum bekanntesten arabischen TV-Imam. In dieser Show, die den Sendungen
amerikanischer evangelikaler Erweckungsprediger ähnelt, richtet sich Amr Khaled gezielt an
bildungsnahe muslimische Mittelstands-Jugendliche in der arabischen Welt aber auch in Europa.
Zusätzlich verfügt er über eine Webseite mit Forum (15).
In Deutschland nahm diese muslimische Jugendbewegung im Winter 2005 ihren Anfang und umfasste
in kürzester Zeit etwa 400 aktive muslimische Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren, darunter ein
hoher Anteil Mädchen und junge Frauen. Zunächst bestand diese Szene aus der im Februar 2005
eingerichteten Internetplattform (16), die als eine Art Schwarzes Brett für die einzelnen Lokalgruppen
fungierte. Diese Lokalgruppen bildeten sich in verschiedenen Städten, entsprechend der religiös
begründeten Geschlechtertrennung aufgeteilt in Mädchen- und Jungengruppen. Im Jahr 2006 gab es
einen Wechsel des Internetauftrittes (17), die Anzahl aktiver Teilnehmer sowie der vorgeschlagenen
Projekte hatte rapide abgenommen. Inzwischen finden sich gar keine Inhalte mehr auf dieser Seite,
während die ursprüngliche Internetseite lifemakers von Gegnern dieser Jugendbewegung genutzt und
umgeleitet wird zu einer salafitischen Homepage, auf der in arabischer Sprache die Autoritäten der
Muslimbruderschaft von Sayyid Qutb über Yusuf al-Qaradawi bis hin zu Amr Khaled als "Fitne
(Verführung) islamischer Gruppen" (18) an den Pranger gestellt werden. Auch sonst ist von der
Lifemakers-Bewegung nur noch wenig zu hören. Zwar gibt es einige Lokalgruppen, wie in Köln-Bonn,
Darmstadt und Hamburg. In Berlin hatte sich 2005 nur eine aus etwa 15 Mädchen bestehende
Lokalgruppe gebildet und auch in anderen Regionen war feststellbar, dass sich eher junge Frauen als
junge Männer engagieren. Insgesamt krankt die Bewegung wohl am fehlenden persönlichen
Engagement der Jugendlichen vor Ort, was auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass es
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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sich hier tatsächlich um eine unabhängige, ideell am Ideengeber, dem Prediger Amr Khaled,
ausgerichtete Jugendszene handelt, hinter der keine Organisationen oder Netzwerke Erwachsener
stehen, die durch aktive Jugendarbeit ihr Fortbestehen sichern wollen oder ein Outsourcing der
Jugendarbeit betreiben.
Zu den Ideen und Vorstellungen Amr Khaleds gehört allerdings auch, dass er den Islam und die
Demokratie jeweils als ein eigenes System begreift, und lediglich für eine gegenseitige Annäherung
dieser beiden Systeme plädiert. "Jeder Versuch, die arabische Gesellschaft zu entwickeln und zu
optimieren, bei dem der Glaube nicht im Mittelpunkt steht, ist zum Scheitern verurteilt; denn der Glaube
ist das stärkste und schönste Element im arabischen Wesen. Solche Experimente können vielleicht
eine Weile gut gehen, aber der Kollaps ist vorprogrammiert. Denn die entscheidende Wirkungsmacht
fehlt." (19) Die Annäherung an die "westliche Demokratie" sieht er vor allem in der Übernahme
demokratischer Strukturen, wie Meinungs- und Religionsfreiheit, Pluralismus und demokratischen
Parlamentarismus.
Den muslimischen Jugendlichen in Europa vermittelt Khaled die Botschaft: "Wirkt in der westlichen
Gesellschaft mit, integriert Euch und bietet ihr Dienstleistungen an; nicht um zu sagen, dass wir besser
sind als sie, das ist kein Ziel! Das Ziel ist der Respekt Muslimen gegenüber. ... Ich denke, das Ziel
eines jeden jungen Muslims im Westen sollte die Respektierung der eigenen Religion durch die Umwelt
sein. Wie lässt sich das bewerkstelligen? Mit unserer Umgangsart, mit unserem Charakter, mit sozialem
Engagement für die Menschen, durch unsere Mitwirkung und durch das Erlernen ihrer Sprachen. ...
Von den muslimischen Jugendlichen müssen drei Dinge verlangt werden: Vorbildlicher Charakter,
überdurchschnittliche Leistung und Erfolg im Leben, damit sie respektiert werden. Das hier ist eine
Gesellschaft, die auf Erfolg aufgebaut ist. Außerdem müssen dieser Gesellschaft Dienstleistungen
angeboten werden." (20)
Und so sehen sich die aktiven Jugendlichen der Lifemakers gefordert, Jugendliche zu motivieren und
zu zeigen, "dass wir als muslimische Jugendliche sehr wohl etwas drauf haben und sehr wohl etwas
tun können. Uns liegt der Islam und die Gesellschaft sehr am Herzen. Wir möchten die guten
Eigenschaften, die uns der Prophet, Allahs Segen und Friede seien auf ihm, vermittelt hat, wieder in
der Realität verwirklichen." (21) Die Stärkung des Selbstbewusstseins der Jugendlichen erfolgt durch
die Religion. "Wir müssen einfach nur vertrauen in Allahs Kraft, in seine Liebe uns gegenüber und in
seine Gnade!... Mach die Augen auf, du willst wissen, was Stärke ist? Mach den Koran auf und lies!
Dort findest du mehr als Hölle und Paradies! ... Nehmen wir uns doch vor, Allahs Nähe zu spüren,
indem wir nicht NUR im Ramadan beten, nicht NUR im Ramadan Kopftuch tragen, nicht NUR im
Ramadan Koran lesen." (22)
Auch die IGD hat die Kraft dieser Erweckungs-Botschaft erkannt und den Spiritus rector dieser
Bewegung, Amr Khaled, seit 2003 jedes Jahr als Stargast auf ihren Jahrestreffen präsentiert. Allein
durch den Auftritt Amr Khaleds gelang es der IGD 2003 und 2004 jeweils etwa 10.000 Teilnehmer,
darunter viele Jugendliche, zu mobilisieren. 2005 sank die Zahl jedoch auf etwa 4.000 Teilnehmer und
im Dezember 2006 kamen nur noch insgesamt 2.000 Muslime zum IGD Treff nach Hamburg. Der
anfängliche Zuwachs dieser Szene, die Mobilisierungsfähigkeit in breite Kreise muslimischer
Jugendlicher hinein, scheint ihren Höhepunkt erreicht zu haben und sich spätestens 2006 wieder zu
relativieren. Wie groß aktuell die Anzahl der wirklich aktiven Jugendlichen ist, die sich in der LifemakersSzene engagieren, kann nicht gesagt werden, sie dürfte sich aber eher verringert als vergrößert haben.
Auch wenn die Jugendlichen die Anregungen Amr Khaleds nicht in größerer Zahl durch organisierte
Lokalgruppen umsetzen, so kann man aber wohl von einer mit den Ideen Amr Khaleds
sympathisierenden muslimischen Jugendszene sprechen.
Die Anregungen und Sichtweisen, die der Lifemakers-Szene zugrunde liegen, haben auch in anderen
islamischen Strömungen ihre Umsetzung gefunden, wie z.B. im Bereich der türkischen Nurculuk der
Berliner Verein "Lichtjugend e.V.", die libanesischen Schiiten der Vereine al-Hiwar und Mahdi in Berlin,
der marokkanisch-sunnitische Kulturverein Interface e.V. in Düsseldorfer usw. Immer zahlreicher
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werden die lokalen Initiativen muslimischer Jugendlicher, die sich verantwortlich fühlen für ihre
muslimischen Altersgenossen beiderlei Geschlechts. Ihr soziales Rüstzeug gegen Langeweile und
Herumlungern auf den Straßen, Partykultur und sexuelle Freizügigkeit, Bildungsverweigerung und
Perspektivlosigkeit, Alkohol- oder Drogenkonsum, Gewalt und Kriminalität ist die Religion, die daraus
abgeleiteten Werte und Normen. Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Religion, aus der sie ihre Kraft
schöpfen, die ihnen Orientierung, Halt und Selbstwertgefühl gibt, die sie zum Teil einer Gemeinschaft
gemacht hat, in der sie sich geborgen fühlen, sind die Grundlage ihres Sendungsbewusstseins. Sie
fühlen sich verpflichtet, für ihre Gemeinschaft und ihre Religion etwas zu tun, auch und gerade weil
die Altersgenossen durch ihr Verhalten das Antlitz dieser Gemeinschaft und auch der Religion
beschmutzen. Die jungen Sozialarbeiter sind Missionare im Dienste des Islam, den sie zwar
entsprechend ihrer konfessionellen Orientierungen verschieden auslegen von konservativ-religiös bis
moderat-islamistisch, dessen Kernbotschaft für sie alle aber in der Gerechtigkeit liegt. Sie fühlen sich
als Teil dieser Gesellschaft und wollen auch an dieser Gesellschaft Teil haben. Diskriminierungen und
Ablehnungen durch diese Gesellschaft spornt sie eher an, als dass sie sich entmutigen lassen.
Elemente der Popkultur, ein konservatives Religionsverständnis und soziales und politisches
Engagement kennzeichnet diese muslimischen Jugendgruppen. Abgrenzung und kritische
Hinterfragung erfahren sie einerseits von extrem spirituellen bzw. religiös fundamentalistischen
Gruppen, wie den Salafiten oder der Tablighi Jamaat sowie von radikal islamistischen Gruppen wie
der Hizb ut-Tahrir. Hier entsteht eine kleine, aber recht selbstbewusste Elite, die entweder den
traditionellen islamischen und islamistischen Verbänden neuen Schwung geben wird, so man sie denn
lässt, oder "dem Islam" in Deutschland in all seinen Ausprägungen ein eigenes Gesicht verleiht, dem
sich diese Verbände werden stellen müssen.
Quellen
1) Bei den einzelnen Szenen klaffen hier Theorie und Praxis noch stark auseinander, was aber nichts
am anvisierten Ziel ändert.
2) 24.11.2006 unter: www.igmg.de/index.php?module=ContentExpress
&func=print&ceid=2704
3) Jugendabteilung der Islamic Society of Britain, siehe: www.isb.org.uk/pages06/home.asp#
4)www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/
verfassungsschutz/stand2005/vsb_2006.pdf.
5) siehe: www.mj-net.de
6) Der 29-jährige Frankfurter Hip Hopper Ammar 114 (114 steht für die 114 Suren des Koran) kam
über die MJD zum Islam, er selbst ist deutsch-äthiopischer Herkunft. Ammars Texte sind eine Mischung
aus Religion, Alltags- und Diskriminierungserfahrungen, politischer Analyse und latent islamistischer
Propaganda. Für ihn ist der Musik-Stil (Hip Hop) Mittel zum Zweck. Mit den Texten will er Jugendliche
erreichen, "die Brüder, die kriminell sind und Drogen nehmen" zurück auf den Weg des Islam führen,
denn "du kannst mir Millionen bieten, doch eine Sache ist klar - das beste Angebot kommt immer noch
von Allah".
7) zitiert nach. Islamische Zeitung: Hintergrund: Wie sich gegenüber den Älteren verhalten?, von Yasin
Alder, 03.01.2007
8) Inzwischen haben mehrere ehemalige Mitglieder des MJD-Vorstandes (Schura), wie z.B. Imran
Sagir, Gründer und ehemaliger Amir der MJD, Leitungsfunktionen in den Organisationen des
Netzwerkes übernommen.
9) Video-Mitschnitt der Rede bei der Autorin
10) www.i-g-d.com/html/jahrestreff2.htm Abgelesen am 20.22004
11) Die moderne Salafiyya ab dem späten 19. Jahrhundert ist eine wesentlich heterogenere Bewegung
als die Wahhabiyya, die auf das Engste mit dem modernen saudischen Staat verbunden ist. In der
Gegenwart existiert eine Vielzahl von Bewegungen, die sich ideologisch aus den Quellen der
klassischen und der modernen Salafiyya sowie der Wahhabiyya speisen, dazu zählen auch die
Muslimbruderschaft und die Milli Görüs.
12) takfir - jemanden zum Ungläubigen erklären.
13) Vor allem Einrichtungen, die der Ideologie der Muslimbruderschaft nahe stehen.
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14) Siehe z.B. die Homepage von Abdul Adhim www.islamvoice.de.
15) www.amrkhaled.net
16) www.lifemakers.de
17) www.dielifemakers.de
18) www.dawa-salafiya.de/Dalal/fahras.htm
19) zitiert nach Neue Zürcher Zeitung, 07.11.2005, "Mit Fatwas gegen die Hydra des Terrors" von Tarek
Atia.
20) zitiert nach Islamische Zeitung, 14.10.2003, "Bezug zur Gesellschaft herstellen - Gespräch mit
Amr Khaled"
21) zitiert nach Islamische Zeitung, 04.05.2005, Interview mit Saloua Oulad, Pressesprecherin
Lifemakers-Deutschland
22) zitiert nach Saloua Oulad, 24.09.2005, Protokoll des Lifemakers-Treffens
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/2.0/
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Die dunkle Bedrohung
Hintergrund der gesetzgeberischen Tätigkeit seit dem 11. September
2001
Von Harald Weber
17.12.2007
Geb. 1968, LL.M. (Informationsrecht), Jura-Studium in Bonn und Konstanz, danach Rechtsreferendariat in Bonn, u.a. Wahlstation
bei der AHK Chicago, Illinois. Mitglied in der Deutsch-Amerikanischen Juristen-Vereinigung und dem Deutschen Anwaltverein.
Rechtsanwalt seit 2002, daneben Tätigkeit als freier Journalist. LL.M.-Studium in Düsseldorf 2004/2005, zur Zeit Master-Studium
"Philosophie-Politik-Wirtschaft" (M.A.) an der LMU München.
Ob Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung oder Debatte ums Luftsicherheitsgesetz:
Die Terrorgefahr stellt den Rechtsstaat vor neue Herausforderungen. Wie lassen sich Sicherheit
und Freiheit in Zeiten terroristischer Bedrohungen austarieren?
Die weltweite Bedrohung durch den global operierenden, islamistischen Terrorismus ist eine Tatsache,
deren Auswirkungen jedermann zu spüren bekommt – wenn auch eine weit überwiegende Zahl von
Menschen nicht unmittelbar von extremistischer Gewalt betroffen ist. Dennoch bestimmt der "Krieg
gegen den Terrorismus" mittlerweile maßgeblich den Alltag der Bevölkerungen auf allen Kontinenten:
durch eine allgemein erhöhte Wachsamkeit gegenüber "verdächtigen Bestrebungen" bestimmter
Religionsgemeinschaften (insbesondere des Islams); verschärfte Sicherheitsmaßnahmen im Reiseund Luftverkehr; eine Vielzahl neuer und ergänzter Strafvorschriften; eine intensivierte Kontrolle des
Warenverkehrs und des Außenhandels im Hinblick auf Waffenschmuggel und Komponenten zum
Bombenbau; die Beobachtung internationaler Finanztransaktionen, um dem Verdacht auf Geldwäsche
oder der Terrorfinanzierung nachzugehen; gelockertem Datenschutz, technische Überwachungsvorkehrungen
im öffentlichen Raum und im Internet und vieles andere mehr.
Der "11. September" ist für Jedermann ein Begriff und zum historischen Paradigma für die Eskalation
paramilitärischer terroristischer Gewalt geworden. Am 11.09.2001 wurden in den Vereinigten Staaten
von Amerika vier Flugzeuge von insgesamt 19 Entführern gekidnappt und als Waffen verwendet. Zwei
der Passagierjets wurden in das World Tra-de Center in New York gesteuert, eine Maschine flog in
das Pentagon in Washington, D.C. und ein weiteres Flugzeug stürzte bei Pittsburgh, Pennsylvania auf
ein Feld, bevor ein vermutlich drittes Anschlagsziel erreicht werden konnte. Bei diesen Verbrechen
kamen allein über 3.000 Menschen ums Leben; weitere spektakuläre und grausame terroristische
Attacken (z. B. in Madrid am 11.03.2004 und London am 07.07.2005) sorgten für Aktualisierungen der
ansonsten latenten Bedrohungslage. Vergleichbare Verbrechen gab es in Deutschland bisher
glücklicherweise nicht; ob dies allein der Wachsamkeit bundesdeutscher Sicherheitsorgane geschuldet
ist, mag hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass auch die häufig genannte
Hypothese vom "deutschen Rückzugs- und Erholungsraum" für islamistische Attentäter und
sogenannte "Schläfer" eine Rolle spielt.
Dennoch konnten auch hier zu Lande seit dem Jahre 2002 diverse Terroranschläge vereitelt werden;
als spektakulärste Fälle sind die folgenden zu nennen:
•
Im April 2004 werden nach Großrazzien mehrere mutmaßliche Mitglieder der islamistischen
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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Organisation "Al Tawhid" gefasst. Die Männer, drei Palästinenser und ein Algerier, hatten im Auftrag
des gesuchten Top-Terroristen Abu Musab al-Zarqawi Anschläge auf jüdische Einrichtungen in
Düsseldorf und Berlin geplant. Im Oktober 2005 werden sie zu Haftstrafen zwischen fünf und acht
Jahren verurteilt.
•
Ende Juli 2006 scheitern zwei Anschläge auf Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen aufgrund von
technischen Fehlern bei der Umsetzung der Bombenanleitung zum Zündmechanismus. Zwei
Sprengsätze, die am Kölner Hauptbahnhof in zwei Züge nach Koblenz und Hamm gelegt worden
waren, sollten zahlreiche Menschen töten. Die Täter sind zwei junge Libanesen, die kurze Zeit
später in Kiel und im Libanon gefasst wurden.
•
Im September 2007 vereiteln die Sicherheitsorgane durch frühzeitiges Eingreifen und
Beobachtungen im Vorfeld mehrere schwere Bombenattentate, die auf US-Ziele in Deutschland
erfolgen sollten. Die Täter, drei Mitglieder einer deutschen Zelle der "Islamischen Dschihad-Union
" – zwei Deutsche und ein Türke – wollten laut Bundeskriminalamt an mehreren Orten gleichzeitig
Autobomben zur Explosion bringen.
Rechtsstaatliche Maßnahmen zur Terrorabwehr
Aus diesen Umständen einer dramatisch veränderten Sicherheitslage ergibt sich für den Rechtsstaat,
der grundgesetzlich zum Schutz seiner Bürger verpflichtet ist, als primäres Ziel die möglichst
umfassende Vereitelung von terroristischen Anschlagsplänen bereits im Vorfeld. Die Verantwortlichen
aus Politik und Gesellschaft stehen hier jedoch vor einer großen Herausforderung und zahlreichen
entscheidenden Fragen, deren Beantwortung über die künftige Grundverfassung unseres
demokratischen Gemeinwesens entscheidet: Wie kann man den Rechtsstaat bewahren, ohne die
grund- und einfachgesetzlich garantierten Freiheitsrechte des Einzelnen gesteigerten
Sicherheitsinteressen zu opfern? Wie sollen terroristische Angriffe bekämpft werden? Wie müssen im
Rahmen des Katastrophenschutzes die spezifischen Notfallpläne beschaffen sein? Wie wird die
Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe gewahrt und wie die Balance zwischen Prävention und
Repression gehalten?
Diese Fragen können hier nicht sämtlich beantwortet werden; sie dienen aber dazu, das ganze Ausmaß
des eminent politisch-sozialen Terrains abzustecken, auf dem sich die derzeitigen und künftigen
Diskussionen abspielen werden. Außerdem richtet sich in ihnen gewissermaßen auch ein Appell an
die bundesrepublikanische Bürgerschaft: Nicht tatenloses Zusehen ist die "erste Bürgerpflicht",
sondern zivilgesellschaftliches Engagement und die Auseinandersetzung mit den Problemen, die sich
aus der Realität administrativ-legislativer Reaktionen auf die terroristische Bedrohung für den
Fortbestand des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ergeben.
Die Losung vom "Krieg gegen den Terror" ("war on terrorism") führte zumal am Ursprungsort dieser
neuen Art "asymmetrischer Kriegsführung" (Herfried Münkler) in den USA zu einer Vielzahl von
Gesetzen und Maßnahmen auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung; man kann sogar sagen, dass eine
völlig neue Sicherheitsarchitektur etabliert wurde (hier sei an die Gründung des "Department for
Homeland Security" – DHS im Jahre 2002 erinnert). Weitgehende Einblicke in das Privatleben erlaubte
beispielsweise der "Patriot Act", der den Geheimdiensten etwa Zugriffe auf die Datenbestände von
Bibliotheken erlaubt, um die Lesegewohnheiten potentieller Terroristen auszuforschen.
Eine der weiteren, in den USA angesichts des für die Anschläge vom 11. September verwendeten
Angriffsmittels für die Bekämpfung des Terrorismus als sachdienlich erachteten Maßnahmen, war die
zunehmend schärfere Überwachung des nationalen und internationalen Flugverkehrs sowie eine
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massive Verschärfung der Einreisebestimmungen.
Die Debatte um das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)
Um die Problematik für die bundesdeutsche Rechtssphäre exemplarisch zu verdeutlichen, lässt sich
die Debatte um das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) heranziehen. Um terroristische Bedrohungen des
Luftverkehrs im Zuge der Geiselnahme von Flugzeugpassagieren abzuwehren, entsann man sich nicht zuletzt wegen einiger Zwischenfälle auf deutschem und europäischem Territorium (vgl. die Fälle
eines verwirrten Kleinflugzeug-Piloten in Frankfurt/Main, der über das dortige Bankenviertel flog und
diverse symbolträchtige Hochhäuser der Frankfurter Skyline umkurvte sowie des "Schuhbombers
" Richard Reid) – auch in Deutschland der schadensträchtigen Konsequenzen des "airborne kidnapping
": Das LuftSiG trat am 15.01.2005 in Kraft. Nachdem schon Bundespräsident Horst Köhler schwere
Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes geäußert, es aber im Hinblick auf eine
Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dennoch unterzeichnet hatte, wurden im
Laufe des Jahres 2005 bei dem für solche Fragen zuständigen Ersten Senat des BVerfG durch vier
Rechtsanwälte, einen Patentanwalt und einen Flugkapitän Verfassungsbeschwerden gegen das
LuftSiG erhoben.
Am 15.02.2006 erließen die obersten Richter der Bundesrepublik schließlich ihr Urteil: Die
Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz ist nichtig. Die spezialgesetzliche Norm, an der sich
die meisten Bedenken entzündet hatten, war § 14 Abs. 3 LuftSiG:"(3) Die unmittelbare Einwirkung mit
Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug
gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser
gegenwärtigen Gefahr ist."Verfassungsrechtlich ist mit der diffizilen Regelung insbesondere das
Grundrecht auf Leben betroffen, Art. 2 Abs. 2 S. 1, 1. Fall Grundgesetz (GG), aber auch das Prinzip
der Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG. Das Recht auf Leben besteht primär als
Abwehrrecht gegen den Staat (vertikal), der das Leben seiner Bürger zu schützen hat; darf er es aber
auch opfern?
Ja, sagen zumindest implizit das Gesetz und seine Befürworter. Nein, sagen seine Gegner. Denn: Die
todgeweihten Passagiere dürfen unter dem Aspekt der Menschenwürde nicht zum Objekt staatlichen
Handelns gemacht werden, wenn man sie lediglich als "Teil einer Waffe" betrachtet. Schon Kant sage
schließlich, dass ein Mensch nie Mittel zum Zweck sein dürfe, sondern immer nur der Zweck an sich.
Ein Circulus vitiosus: Was ist, wenn genau diese Zwecke kollidieren und, erst recht, konkurrieren?
Gibt es hier eine gesetzliche Lösung oder gilt der Satz des FDP-Bundestagsabgeordneten und
Parlamentarischen Geschäftsführers Ernst Burgbacher: "Es gibt Güterkollisionen, die sich einer
exakten legislatorischen Beschreibung entziehen"?
Der Spruch aus Karlsruhe hat jedenfalls erneut klargestellt: Leben darf grundsätzlich nicht gegen
Leben abgewogen werden; es sei "schlechterdings unvorstellbar", unschuldige Menschen auf der
Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung vorsätzlich zu töten bzw. so über ihr Leben
staatlicherseits "einseitig zu verfügen". Es fehlt sogar an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes,
denn dieser darf zwar Regelungen zum Hilfseinsatz der Streitkräfte im Falle von Naturkatastrophen
und schweren Unglücksfällen treffen, nicht aber zur Verwendung spezifisch militärischer Mittel auf dem
Territorium der Bundesländer. Die allgemeine Gefahrenabwehr – eine genuine Aufgabe der Länder –
auch unter Zuhilfenahme der Bundeswehr dürfe nur mit qualitativ gleichwertigen Werkzeugen erfolgen,
wie sie etwa auch den Polizeikräften der Länder zur Verfügung stünden. Der Abschuss eines Flugzeugs
gehört dazu nicht. Auch werde vom GG in überregionalen Katastrophenfällen eine Entscheidung der
Bundesregierung zum Einsatz von Militärkräften verlangt (§ 35 Abs. 2 Satz 2 GG); das LuftSiG sehe
für den genannten Eilfall jedoch nur die Instanzen Verteidigungs- und Innenminister vor.
Der Gesetzgebungsprozess in Bezug auf eine Regelung der Bekämpfung von Angriffen auf den Luftund Seeverkehr ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Weiterhin sehen maßgebliche Sicherheitsorgane
und das deutsche Innenministerium eine dringende Notwendigkeit, die Reaktion auf existentielle Not-
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
209
und Gefahrensituationen wie das Hijacking von Flugzeugen, mit denen Attacken auf Menschen
(Abwägung Leben gegen Leben) und Ziele von bedeutendem Wert (Wahrzeichen, Denkmäler,
Hochhäuser etc.) oder mit großem Schadens-/Gefahrenpotential (z. B. Atomkraftwerke,
Wasserversorgungsanlagen) begangen werden sollen, verfahrenstechnisch abzusichern.
Sicherheitspakete I und II
Natürlich hat sich die Anti-Terror-Gesetzgebung von Anfang an nicht auf den Fall einer Regelung zur
Abwehr von Konstellationen beschränkt, wie sie am 11. September Wirklichkeit geworden sind. Es
sind eine Vielzahl legislatorischer Maßnahmen getroffen worden, eine beeindruckende Übersicht dazu
findet sich im Internet bei www.cilip.de (http://www.cilip.de/terror/gesetze.htm). Die wichtigsten
Neuregelungen, an denen sich denn auch unmittelbare Kritik entzündete, waren die sogenannten "
Sicherheitspakete I und II" (beschlossen im November und Dezember 2001). Der zentrale Kern der
Sicherheitspakete ist das "Terrorismusbekämpfungsgesetz", das am 01. Januar 2002 in Kraft trat. Die
Gesetzesvorlagen des damaligen Innenministers Otto Schily enthalten eine große Zahl an
Gesetzesänderungen und neuen Bestimmungen. Dazu gehörten zunächst etwa die Abschaffung des
Religionsprivilegs im Vereinsgesetz oder der neue § 129 b des Strafgesetzbuchs (StGB), mit dem
terroristische Vereinigungen auch im Ausland bekämpft und ihre Finanzquellen ausgetrocknet werden
sollen.
Das Terrorismusbekämpfungsgesetz (Sicherheitspaket II) schließlich brachte Änderungen zu mehr
als 100 Gesetzen und Verordnungen, mit denen insbesondere die Kompetenzen der
Sicherheitsbehörden (Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz,
Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst etc.) sowie der interbehördliche
Datenaustausch gestärkt und erweitert wurden. Zu den Präventions- und Strafverfolgungsmaßnahmen
gehörten eine Ausweitung der Rasterfahndung, Änderungen des Ausländer- und Passrechts ("um
bereits die Einreise terroristischer Straftäter nach Deutschland zu verhindern, identitätssichernde
Maßnahmen im Visumverfahren und Grenzkontrollmöglichkeiten zu verbessern und bereits im Inland
befindliche Extremisten besser zu erkennen" – so die Gesetzesbegründung) sowie umfangreiche
Ergänzungen zur Sicherung der Verkehrsinfrastruktur und Energieversorgung.
Im Zuge dieser Gesetzgebung sind von Anfang an vielfältige kritische Aspekte aufgetaucht, welche
die Freiheitssphäre der Bürger betreffen. Die Gesetzesänderungen bringen es naturgemäß mit sich,
dass auch bestimmte Freiheitsrechte eingeschränkt werden und damit der Schutzbereich solcher
Grundrechte wie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dem Post- und
Fernmeldegeheimnis, der allgemeinen Handlungsfreiheit oder des Asylrechts betroffen ist. Obwohl
die Gesetze teilweise nur befristet in Kraft traten, um eine spätere Evaluation im Hinblick auf ihre
Auswirkungen zu ermöglichen, gelten die wesentlichen Regelungen unverändert fort.
Schon wegen der aktuellen Bedrohungslage, die sich auch in den vereitelten Anschlägen in
Deutschland dokumentiert, ist nicht abzusehen, dass die sicherheitspolitische Debatte zu einem Ende
kommen könnte. Geplante Gesetzesänderungen und Neuregelungen wie auch die laufenden
Maßnahmen zur Sicherung der sozialen Infrastruktur halten die Bürger weiter in Atem. Stichworte,
welche die Auseinandersetzungen über zulässige rechts-staatliche Maßnahmen dominieren, sind die
ständig verschärften Fluggastkontrollen, das jüngste EU-USA-Abkommen zur Weitergabe von
Flugpassagierdaten aus dem Jahr 2007, der Einsatz der Bundeswehr im Innern, die OnlineDurchsuchung, der "Bundes-Trojaner", Lockerung des Datenschutzes (die ab dem 01.01.2008 in Kraft
tretende massive "Vorratsdatenspeicherung" von Telekommunikationsanbietern), die Einführung von
mit biometrischen Erkennungsmerkmalen versehenen, nun (angeblich) fälschungssicheren
Identifikationspapiere etc.
Man ist sich in Politik und Öffentlichkeit letztlich einig, dass die Bundesrepublik Deutschland kein totaler
Überwachungs- und Präventionsstaat werden soll – es bleibt aber die Frage danach, wie sich Sicherheit
und Freiheit in Zeiten terroristischer Bedrohungen austarieren lassen. Eine endgültige Antwort hierauf
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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bleibt dem öffentlichen Diskurs unserer demokratischen Gesellschaft überlassen; es ist aber zu hoffen,
dass die Wirklichkeit in Form neuer terroristischer Anschläge diese Diskussion nicht überholt.
Literatur
Karsten Baumann, Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitseinsatz der Streitkräfte, in: JURA 2006,
S. 447 ff.
Lothar Fritze, Die Tötung Unschuldiger, Berlin – New York 2004
Michael Ignatieff, Das kleinere Übel, Politische Moral in einem Zeitalter des Terrors, Hamburg – Berlin
2005
Josef Franz Lindner, Die Würde des Menschen und sein Leben – Zum Verhältnis von Art. 1 Abs. 1
Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG – in: DÖV 2006, S. 577 ff.
Gerd Roellecke, Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror, in: JZ 2006, S. 265 ff.
Wolfgang Schäuble, Aktuelle Sicherheitspolitik im Lichte des Verfassungsrechts, in: ZRP 2007, S. 210
ff.
Lawrence Wright, Der Tod wird Euch finden, Al-Qaida und der Weg zum 11. September, München
2007-12-18
Schriften der Bundeszentrale:
Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 36/2006: "Folter und Rechtsstaat" (http://www.bpb.de/shop/
zeitschriften/apuz/29560/folter-und-rechtsstaat)
Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 12/2007: "Innere Sicherheit im Wandel" (http://www.bpb.de/shop/
zeitschriften/apuz/30570/innere-sicherheit-im-wandel)
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/2.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/)
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211
Islam, Islamismus und Jihadismus in den Medien
Von Erlaubtem und Verbotenem
Von Jochen Müller
20.9.2007
Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, arbeitet als freier Publizist und ist Mitarbeiter und Mitbegründer des Berliner Vereins
"ufuq.de - Medienforschung & politische Bildung in der
Einwanderungsgesellschaft" (www.ufuq.de).
Wenig ist bekannt über Verbreitungsgrad und Wirkung islamistischer Medien in Europa. Fest
steht aber: Zahllose Portale und Websites, Fernsehsender und Zeitungen verbreiten
islamistisches Gedankengut. Und ihr Einfluss gerade auf hier lebende Muslime sollte nicht
unterschätzt werden.
Es gehe um die "Erhaltung der islamischen Werte", heißt es es in der Selbstdarstellung des
libanesischen Satellitenkanals Al-Manar. Zudem sei der Sender"die erste arabische Einrichtung, die
einen effektiven psychologischen Krieg gegen den zionistischen Feind" führe. Al-Manar ist der Sender
der schiitischen Hizbullah und zählt zu den einflussreicheren unter den arabischen Satellitensendern,
deren Zahl in den vergangenen Jahren auf beinahe zweihundert angewachsen ist. Die meisten von
ihnen strahlen ein Unterhaltungsprogramm aus, das den hiesigen nicht unähnlich ist - Spielfilme, SoapOperas, Musik-Videos oder Adaptionen von Star-Academy und anderen. Anders Al-Manar: Der Sender
versteht sich als politischer Propagandasender gegen Israel und als "Leuchtturm" (arab. manar) für
einen politischen Islam. Und mit diesem Programm ist Al-Manar weit über den Libanon hinaus bekannt
und populär. [1]
So viel lässt sich sagen – viel mehr aber auch nicht. Denn man weiß kaum etwas über den
Verbreitungsgrad und die Wirkung von islamistischen Medien in Europa. Das gilt vor allem für TVKanäle und das Internet. Wie viele junge Muslime zum Beispiel in Deutschland welche islamistischen
Medien nutzen und inwiefern diese ihre politischen Einstellungen beeinflussen, ist so gut wie
unerforscht.
Auch in Deutschland dürfte Al-Manar indes zu den bekannteren Kanälen gehören. Aus zwei Gründen:
Zum einen konzentriert sich der Sender mit dem Palästinakonflikt auf ein Thema, das weit über den
Libanon hinaus auf großes Interesse bei Arabern und Muslimen stößt. Zum anderen ist es der Tonfall
der Berichterstattung. Mit seinen anti-israelischen und oftmals auch anti-semitischen
Propagandasendungen spricht der Sender viele Migranten arabischer und muslimischer Herkunft an.
Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen, mehr noch aber unter Einfluss jahrzehntelanger
Propaganda in der Region, sind diese mit dem Feindbild Israel "vertraut". Für Viele stellt dieses
Feindbild auch in der zweiten und dritten Einwanderergeneration noch einen zentralen Bestandteil
ihres arabischen oder muslimischen Selbstverständnisses dar.
Das gilt auch für junge Muslime in Deutschland, die nicht dem islamistischen Spektrum zuzuordnen
sind. Unter Jugendlichen ist allerdings weniger das Fernsehen als das Internet das meist genutzte
Medium. Vor allem an Jugendliche libanesischer Herkunft wendet sich zum Beispiel das
deutschsprachige Internetforum Rache-Engel. Wie Al-Manar bringen auch die Betreiber dieser Seite
ihre Sympathie für die Hizbullah und deren Führer Nasrallah deutlich zum Ausdruck. In den Debatten
geht es dann aber um ein breites Spektrum von Themen: Neben dem Nahostkonflikt und der
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
212
allgemeinen Bewunderung für den Kampf der Hizbullah geht es auch um Rechtsradikalismus in
Deutschland, die Rolle der Frau und den Versuch, bestehende Ressentiments zwischen Sunniten und
Schiiten zu überwinden. Auffällig und typisch dabei ist die meist weniger islamistische als vielmehr
anti-imperialistische und USA-feindliche Ausrichtung vieler Kommentare. (www.rache-engel.com)
Typisch für diesen Diskurs ist auch der Muslim-Markt (MM). Das bekannte deutschsprachige Portal
der schiitischen Brüder Özoguz aus Delmenhorst sympathisiert mit dem iranischen Regime, wendet
sich gegen den "Raubtierkapitalismus" und rief in den vergangenen Jahren zur Al-Quds-Demonstration
in Berlin für die "Befreiung von Jerusalem" auf. (Vgl. etwa http://www.muslim-markt.de/
Palaestina-Spezial/demos/quds2004/quds_tag2004aufruf.htm.) [2]
Vor allem aber bietet der Muslim-Markt einen Service, der auch bei anderen islamischen und
islamistischen Internetportalen im Mittelpunkt steht: Informationen für den muslimischen Alltag in
Deutschland. Wann beginnt der Ramadan? Wo finde ich Halal-Restaurants oder einen muslimischen
Arzt, Anwalt oder Friseur? Welche Veranstaltungen finden statt, die Muslime interessieren könnten?
Und es gibt Mustertexte. Solche für muslimische Gemeinden, die die örtliche Polizei zu einem
Moscheebesuch einladen wollen, ebenso wie Antragsvordrucke zur religiös begründeten Befreiung
der Tochter vom Schwimmunterricht. Beigefügt ist hier allerdings ein Kommentar der Redaktion, der
allen muslimischen Eltern empfiehlt, ihren Kindern das Schwimmen beizubringen und sie soweit wie
möglich am Sportunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen zu lassen. Denn:
"Ein muslimischer Bürger dieses Landes trägt auch die Verantwortung zur Mitgestaltung der
Gesellschaft in dem ihm möglichen Rahmen (...). Erst in der Auseinandersetzung mit den täglichen
Schwierigkeiten, können sich die jungen Muslimas und Muslime zu konstruktiven Bürgern des Landes
mit Rückrat entwickeln, die ihren Glauben voller Gottesehrfurcht überzeugt leben." (http://www.
muslimmarkt.de/Mustertext/muslim-mustertext.htm)
Das unter jungen Muslimen weltweit bekannteste und meist zum islamistischen Spektrum gezählte
Internetportal ist zweifellos IslamOnline. Spiritus rector von IslamOnline ist Scheich Yussuf alQaradawi. Qaradawi steht der Muslimbruderschaft nahe und ist der gegenwärtig wohl international
einflussreichste islamische Gelehrte. Über den Nahen und Mittleren Osten hinaus bekannt geworden
ist er durch seine wöchentliche Sendung auf Al-Jazeera "Al-Sharia wal-Hayat" ("Die Scharia und das
Leben"), in der er Fragen aus Politik und Gesellschaft aus religiöser Sicht diskutiert. Um ähnliche
Themen geht es auch in seinem bekannten Buch "Al-Halal wal-Haram fil-Islam" (dt. Titel: "Erlaubtes
und Verbotenes im Islam"). Und eben auf IslamOnline. IslamOnline ist Teil einer "Fatwa-Industrie",
jener in den vergangenen Jahren stark anwachsenden TV- und Internetprogrammsparte, in denen
islamische Gelehrte auf Fragen von Zuschauern oder Lesern mit religiösen Gutachten (Fatwas)
antworten. IslamOnline richtet sich dabei auch an Muslime, die in nicht-islamischen Gesellschaften
leben. Ihnen geben religiöse Gelehrte Auskunft in allen Lebenslagen:
Darf ich auch ohne Kopftuch beten, wenn an meiner Arbeitsstelle Kopftücher verboten sind? (Nein,
das Gebet ohne Kopftuch ist immer ungültig.) Darf ich Augenkontakt mit dem anderen Geschlecht
haben? (Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt.) Darf ich die Zinsen behalten, die mir die Bank zahlt?
(Nein, sie sollten an eine wohltätige Einrichtung gespendet werden.) Darf meine Freundin einen nichtmuslimischen Freund haben? (Sie darf überhaupt keinen Freund haben, sondern muss die Beziehung
sofort beenden und hoffen, dass Gott ihr vergibt.) Sind Selbstmordanschläge von Palästinensern
erlaubt? (Sie sind nicht nur erlaubt, sondern eine religiöse Pflicht.) Für ein Attentat in Israel darf eine
Muslima laut Qaradawi sogar ohne Erlaubnis und – zwecks Unauffälligkeit - ohne Kopftuch das Haus
verlassen. Trotz solcher Positionen orientieren sich viele Jugendliche aus der Strömung des Pop-Islam
(s. Beitrag zu Islamismus und islamischer Jugendkultur) an Yussuf al-Qaradawi und IslamOnline.
(www.islamonline.net)
Das "Frag-den-Gelehrten"-Prinzip ist aber nicht nur typisch für diese Websites islamistischer Prägung.
Im Zweifel geht es auch in nicht-islamistischen Foren oft weniger darum, sich eine eigene Meinung
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Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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zu bilden oder kontroverse Positionen zu diskutieren. Die Antwort gibt auch hier oft der religiöse
Gelehrte. Mit dem Koran in der Hand und dem vorbildhaften Leben des Propheten vor Augen kennt
er die Quellen, findet eine Lösung für jedes Problem und befindet, was richtig und falsch, was erlaubt
und was verboten ist im Islam.
Jihad und Kalifat im Internet
Wenn sich auch die meisten islamistischen Medien strikt anti-liberal und in Opposition zum
imperialistischen Westen und seiner materialistisch-kapitalistischen Ordnung präsentieren, so sind die
Differenzen innerhalb dieses Spektrums dennoch groß. Eine deutlich radikale Haltung nimmt etwa die
Organisation Hizb ut-Tahrir (HuT/Partei der Befreiung) ein. Diese in Deutschland verbotene aber
weiterhin unter jungen Muslimen aktiv rekrutierende Gruppierung mit Sitz in London propagiert im
Internet, in Büchern und ihrem Magazin (Khilafah; dt. Explizit; türk. Hilafet; arab. Al-Waye) einen
Kalifat-Staat, dessen Bürger Muslime sein müssen – Nicht-Muslime und "sündige" Muslime kämen
dagegen ins Höllenfeuer. So heißt es jedenfalls auf der deutschsprachigen Seite kalifat.com, wo auch
ein "Aufruf an die muslimische Jugend" zu finden ist. Ausdrücklich wandte sich die HuT in den
vergangenen Monaten zudem gegen Bestrebungen von Muslimen, einen "deutschen", "säkularen
" oder "Euro-Islam" zu errichten. Insbesondere muslimische Verbände, die sich um Integration
bemühen und etwa an der Islam-Konferenz teilnehmen würden, werden scharf verurteilt. Ihnen wirft
kalifat.com Unterwürfigkeit gegenüber den "Kuffar", den Ungläubigen, vor. Sie würden den Islam
verfälschen, wenn sie etwa Homosexualität, Mädchen beim Schwimmunterricht oder einen islamischen
Religionsunterricht akzeptierten. (www.kalifat.com)
Die Positionen von Hizb ut-Tahrir sind nicht nur verfassungsfeindlich, die von ihnen erhobenen Anklagen
von Verrat und Spaltung der muslimischen Gemeinschaft (umma) können auch als Vorstufe zu Militanz
und Jihadismus betrachtet werden. Sind es doch eben jene vermeintlichen Feinde des Islam und
angeblich vom wahren Glauben abgefallene Muslime, die auch im Visier der Jihad-Agitation stehen.
Mord und Totschlag an diesen Gruppen sind für den Jihad-Islamismus legitim (oder gelten gar als
religiöse Pflicht) und werden im Internet auf Hunderten von Webseiten gefordert und mit Hinrichtungsund Attentatsvideos insbesondere aus dem Irak illustriert und gefeiert. [3]
Zu diesem professionell betriebenen, vielfach untereinander verlinkten Spektrum der meist
arabischsprachigen Jihad-Foren zählt auch der Propaganda-Arm von Al-Qaida, die Global Islamic
Media Front (GIMF), mittlerweile eine Art Sammelbecken für Online- Sympathisanten von Al-Qaida.
Die seit Ende 2006 vorübergehend mit deutschen Übersetzungen von GIMF-Statements und
Terrordrohungen im Netz hervorgetretene "Stimme des Kalifat" (Caliphate Voice Channel) ist dabei
ein Ausdruck von Bemühungen der GIMF, Anhänger unter jungen nicht-arabischsprechenden
Muslimen in Europa zu rekrutieren. [4] Die mutmaßlichen Betreiber der Seite wurden Anfang
September 2007 in Österreich festgenommen.
Nun sind diese jihadistischen Internetseiten nicht repräsentativ für das Mediennutzungsverhalten
junger deutscher Muslime. Sie sind vielmehr Ausdruck eines religiös legitimierten
Radikalisierungsprozesses, den eine insgesamt betrachtet nur sehr kleine Zahl von Jugendlichen
durchläuft. Als Mittel von Kommunikation, Propaganda und interner Selbstvergewisserung spielen
Medien, allen voran das Internet, bei diesem Prozess jedoch eine wesentliche Rolle. Umso wichtiger
ist es vor diesem Hintergrund, auf islamische Medien zu verweisen, die einer solchen religiöse
legitimierten Radikalisierung vorbeugen und entgegenwirken wollen. Ein Versuch, die Deutungshoheit
islamistischer Positionen zu durchbrechen, stellt die Internetplattform Muslimische Stimmen dar (www.
muslimische-stimmen.de). Hier sollen Diskussionen unter jungen Muslimen zu religiösen und nichtreligiösen gesellschaftlichen Fragen initiiert werden.
Auch das vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) iniitierte Jugendportal Waymo (www.
waymo.de) eröffnet jungen Muslimen Raum für eine Mitwirkung am öffentlichen Diskurs. Es ermöglicht
seinen Nutzern vor allem das Video- und Audiosharing von Inhalten, die in manchen Fällen selbst
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produziert sind. Vorgestellt wird bei Waymo auch die Initiative "Zeig mir den Propheten" – ein
Wettbewerb, in dem junge Muslime aufgefordert waren, die Bedeutung des Propheten Muhammad
für ihr Leben künstlerisch darzustellen. Angesprochen werden hier zwar vor allem religiöse Muslime –
eine kreative Antwort auf den Karikaturenstreit ist es jedoch allemal: "Wie soll ich Dich lieben", fragt
etwa die Preisträgerin Yildiz Kaya aus Hamburg in ihrem Beitrag, "wenn mir in Deinem Namen auf die
Finger geschlagen wird und nie von Deiner Barmherzigkeit die Rede ist?"
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/2.0/
de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/)
Fußnoten
1.
2.
3.
4.
Weitere dem islamistischen Spektrum zuzurechnende international ausgestrahlte TV-Kanäle sind
die Sender Iqra (Saudi-Arabien) und Al-Alam (Iran). Star von Iqra ist der momentan wohl weltweit
populärste und als eher moderat geltende Prediger des Pop-Islam Amr Khaled. Gleichzeitig agitiert
Iqra gegen den angeblichen Versuch des Westens, die muslimische Welt zu dominieren. Dem will
auch Al-Alam entgegen treten, dessen Zuschauerzahl weltweit auf 40 Millionen geschätzt wird:
Al-Alam beschreibt sich selbst als "islamisches Netzwerk, das die Muslime rund um die Welt
vereint, um der kulturellen Invasion des Westens zu widerstehen".
Im Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz 2006 heißt es dazu: "Die Brüder Özuguz
sympathisieren mit dem theokratischen System der Islamischen Republik Iran und agitieren in
diesem Sinne. Über den MM wird direkt oder indirekt antizionistische und antiisraelische
Propaganda verbreitet." (Verfassungsschutzbericht 2006, S. 254)
Dass der Jihadismus auch schon den Kleinsten nahe gebracht werden soll, zeigt die
arabischsprachige Kinderseite awladnaa.net ("Unsere Kinder"). Hier werden Selbstmordattentäter
als Helden gefeiert und gegen Israel und Juden agitiert: "In dem Moment, in dem Du diese Worte
liest" - so heißt es etwa in einem kurzen Text unter dem Titel "So sind die Juden" - "sind diese
Nachkommen von Affen und Schweinen vielleicht gerade dabei, mit Raketen und Panzern Häuser
und Schulen zu zerstören (...). Denn sie kennen keine Barmherzigkeit und keine Menschlichkeit
(...). In ihrem falschen Glauben gehört das Töten von Nicht-Juden zu den frommsten Taten". (www.
awladnaa.net)
Über die Zunahme auch türkischer Jihadpropaganda im Internet berichtete zuletzt die liberale
türkische Zeitung Milliyet (10.9.2007). Im türkischsprachigen islamistischen Milieu spielt neben
dem Internet auch die Zeitung Milli Gazete eine gewisse Rolle. Mit ihren Positionen steht die Milli
Gazete (dt. Auflage ca. 3000) der islamistischen Milli Görüs-Bewegung nahe. Laut Bundesamt für
Verfassungsschutz stellt die Milli Gazete "(...) einen weiteren Bestandteil der Milli-Görus Bewegung dar und ist ein wichtiges Mittel, um deren Ideologie zu verbreiten und zu festigen".
(Verfassungsschutzbericht 2006, S. 244). Und weiter zur Milli Görüs: ".Nach Auffassung der MilliGörus -Bewegung gelten nicht islamisch geprägte Regierungen oder Gesellschaftssysteme
letztlich als 'nichtig' und 'ungerecht'." (ebd., S. 246)
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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"Terroristen werden zu Helden stilisiert"
Interview mit Elmar Theveßen
20.9.2007
Das Internet ist die wohl wichtigste Waffe von al-Qaida und Co. Islamistische Terrornetzwerke
nutzen es zur Vorbereitung von Anschlägen und zur Rekrutierung von Nachwuchs. Wie
gefährdet ist die Jugend? Wann wird ein Sympathisant zum Täter? Terrorexperte Elmar
Theveßen im Gespräch.
Welche Rolle spielt das Internet für islamistische Organisationen?
Das Internet bietet den Islamisten die Gelegenheit zu etwas, was es in der Wirklichkeit vielleicht so
nie so gegeben hat: Eine weltumspannende Umma zu haben, eine islamische Gemeinde, in der man
sich zu Hause fühlt und in der alle dasselbe denken. Das heißt, man findet Gleichgesinnte überall und
diese Gleichgesinnten können dann auch noch miteinander kommunizieren und möglicherweise auch
Anschläge vorbereiten.
Wie nutzen Islamisten das Internet?
Zum einen benutzen Islamisten das Internet für Propaganda, das heißt sie rekrutieren Nachwuchs,
indem sie Bilder von schrecklichen Ereignissen auf der Welt einstellen, z.B. eine Schießerei an einem
amerikanischen Checkpoint in Irak, bei der Frauen und Kinder getötet werden oder ein Luftangriff in
Afghanistan, bei dem Zivilisten sterben. Diese Bilder werden online gestellt, man erklärt sie zum Beweis
für den Vernichtungskrieg gegen die Muslime in der Welt. Das ist Propaganda, die dann flankiert wird
mit Videos von eigenen Terroranschlägen, die belegen sollen, dass man etwas dagegen unternimmt.
Praktisch heißt das: Terroristen werden zu Helden, Märtyrern, Freiheitskämpfern hochstilisiert.
Das Internet wird auch genutzt zur Anschlagsvorbereitung: Man lädt sich Anleitungen zum Bombenbau
herunter, man kommuniziert miteinander konspirativ mit Passwörtern in verschiedenen Sprachen, mit
technischen Tricks wie E-Mailaccounts, die nur ein mal genutzt werden usw., um Terroranschläge
vorzubereiten. Wir haben mehrere Fälle erlebt, jetzt auch jüngst in Deutschland, in denen die Terroristen
untereinander über das Internet Anschlagsplanungen ausgetauscht und die Befehle bekommen haben.
Was fasziniert vor allem die Jugendlichen am islamistischem Terrorismus?
Der islamistische Terrorismus gibt sich als Globalisierungskritiker, Osama bin Laden höchstpersönlich
gibt sich so. Er nutzt Ungerechtigkeiten in der Welt wie Leid und Gewalt, um zu suggerieren, dass hier
nur einer daran Schuld ist, nämlich Amerika und seine Verbündeten. Damit will er bei den jungen
Leuten, die das Gefühl haben, sie werden ungerecht behandelt, diskriminiert und haben weniger
Chancen in der Gesellschaft, einen Solidarisierungseffekt erzielen: Mein eigenes Leid, meine eigenen
Ungerechtigkeiten, die ich empfinde, entsprechen dem, was weltweit los ist und dagegen muss ich
aktiv werden. Auf diese Weise werden junge Leute begeistert, mitzumachen und gegen diese
Ungerechtigkeiten aufzustehen, und das schlägt dann leider sehr schnell in Gewalt und in Terrorismus
um.
Wie unterscheidet man zwischen Jugendlichen, die mit islamistischen Terroristen
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
216
sympathisieren und die sich z.B. Videos von Selbstmordattentätern anschauen und denen, die
tatsächlich zu Tätern werden? Wie groß ist die Gefahr, dass ein Sympathisant zum Täter wird
und die Anleitung zum Bombebau umsetzt?
Wenn man selber in den Bildern zu erkennen glaubt, dass es hier eine Diskrepanz herrscht zwischen
einem Westen, der von Freiheit, Demokratie, Gleichheit und gleichen Chancen redet, aber in
Wirklichkeit das Gegenteil tut – so sagen es auf jedenfall die Folterbilder von Abu Ghraib, die
Gefangenen in Guantanamo, Raketenangriffe in Afghanistan und Irak, wo Zivilisten sterben – dann
bekommt man das Gefühl, dass hier eine Doppelmoral im Gange ist. Und das radikalisiert und
emotionalisiert junge Leute so, dass sie eher bereit sind, mitzumachen. Auf diesem fruchtbaren Boden
können Terrorgruppen rekrutieren.
Das Interview führte Hanna Huhtasaari beim Medienseminar "Terrorismus und Medien" der bpb am
20.09.2007 in Berlin. Sie ist Volontärin in der Online-Redaktion der bpb.
bpb.de
Dossier: Islamismus (Erstellt am 23.01.2017)
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"Ich bin ein Taliban..."
Islamismus und Jugendkultur
Von Jochen Müller
5.7.2007
Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, arbeitet als freier Publizist und ist Mitarbeiter und Mitbegründer des Berliner Vereins
"ufuq.de - Medienforschung & politische Bildung in der
Einwanderungsgesellschaft" (www.ufuq.de).
Pop-Islam oder Jihad-Islamismus: Welche Rolle spielen Islam und Islamismus in Jugendkultur
und Schule? Und wie können Lehrerinnen und Lehrer islamistische Einstellungen erkennen?
Jochen Müller mit einem Überblick.
Schülerinnen, die eines Morgens mit Kopftuch zum Unterricht erscheinen. Junge Muslime, die auf
Koran, Scharia oder muslimische Gelehrte als ihre wichtigsten Autoritäten verweisen.
Sympathiebekundungen für Osama bin Laden und Al-Qaida, Leugnungen des Holocaust oder die
Hervorhebung des Islam als beste aller Religionen, die bald die ganze Welt beherrschen wird – all das
sind Verhaltensweisen und Positionen von Jugendlichen muslimischer Herkunft, die in Schule oder
Jugendclubs zu beobachten sind. Und nicht zuletzt unter dem Eindruck der aktuellen Debatten um
Islam, Islamismus und Integration werfen sie bei Pädagogen eine Reihe von Fragen auf. Darunter
steht eine häufig im Vordergrund: Handelt es sich hier um Ausdrucksformen islamistischer Ideologie?
Eine Antwort auf diese Frage muss erst einmal unbefriedigend ausfallen. Sie lautet in jedem der
genannten und in einer Vielzahl anderer Fälle: Kann sein, muss aber nicht.
Ohnehin müssten Pädagogen, um die Frage nach den charakteristischen Merkmalen des Islamismus
befriedigend beantworten zu können, in der Lage sein, einen eher säkularen Islam von Traditionen
und Volksislam sowie konservativen Strömungen, Islamismus und Jihadismus zu unterscheiden. Dazu
fehlt es ihnen in der Regel an Wissen - Wissen über den Islam und seine Geschichte zum Beispiel,
Wissen über die unterschiedlichen Ausdrucksformen islamistischer Ideologien, Wissen über die
Bedeutung des Nahostkonflikts für viele Muslime. Dazu gehört auch Wissen darüber, dass bestimmte
demokratiefeindliche, antipluralistische Überzeugungen unter Migranten muslimischer, türkischer und
arabischer Herkunft vorkommen mögen, nichts mit Islam oder Islamismus zu tun haben müssen. Zu
denken wäre dabei etwa an Antisemitismus, Homophobie, traditionalistische Ehrbegriffe und
Wertvorstellungen etwa zur Rolle von Frauen sowie gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen. Alles
dies sind Einstellungen, die in der Region des Nahen und Mittleren Ostens sowie unter Migranten aus
diesen Regionen durchaus verbreitet sind – allerdings weit über die Anhänger islamistischer Ideologien
hinaus.
Kurz gesagt: Das zum Erkennen und Einordnen solcher Einstellungen erforderliche Wissen lässt sich
so schnell nicht generieren. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, zunächst einige allgemeine
Charakteristika des Islamismus zu bedenken, um Schlüsse für den pädagogischen Umgang mit
Jugendlichen zu ziehen, die aus muslimisch geprägten Milieus kommen und möglicherweise
islamistische Überzeugungen vertreten.
Zentrale Bedeutung für das Verständnis des Islamismus und die pädagogische Praxis hat der häufig
vernachlässigte Umstand, dass es sich beim Islamismus zuallererst um eine Gemeinschaftsideologie
bpb.de
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handelt: Über den Bezug auf das Kollektiv der umma - verstanden als Gemeinschaft der Muslime verspricht sie dem Einzelnen Orientierung, Identität und ein Gefühl von Sicherheit und Stärke.
Zugehörigkeit, Identität und Stärke sind aber gerade für Jugendliche zentrale Themen. Das gilt
insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund : Zum einen, weil sie in Schule und
Gesellschaft aufgrund ihrer Herkunft und Religion ohnehin häufig marginalisiert oder diskriminiert
werden. Zum anderen aber auch, weil vielen Jugendlichen der zweiten oder dritten Generation
traditionelle Glaubenspraktiken und Wertvorstellungen ihrer Eltern in der deutschen Umgebung
unpassend und inhaltsleer erscheinen. Viele Jugendliche aus islamisch geprägten Milieus sehen sich
zwischen Baum und Borke und suchen nach Lebensentwürfen, mit denen sich "alte" und "neue
" Identitäten verbinden lassen. Solche Jugendlichen sind es, denen islamistisches Weltbild und
islamistische Lebenspraxis attraktiv erscheinen können.
Gangsta-Rap und Pop-Islamisten
Ihre Suchbewegung kann indes sehr verschiedene und widersprüchlich erscheinende Formen
annehmen. Das sollen zwei Beispiele aus dem Spektrum islamischer Jugendkultur verdeutlichen, die
islamistische Züge aufweisen und derzeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Auf der
einen Seite der stark migrantisch geprägte Gangsta-Rap: Hier zählt die provokative Bewunderung für
Bin Laden und die Anschläge vom 11.9. ebenso so zum Repertoire wie eine verbal-militante Abwendung
von Deutschland und den Deutschen oder ein extremer Bezug auf Tradition und Ehre. All das klingt
mitunter schwer nach radikalem Islamismus - etwa wenn Bushido in seinem Song "11. September
" rappt:
"Der 11. September, der Tag der Entscheidung,
ich bin dieser Junge über den man las in der Zeitung,
wenn ich will seid ihr alle tot,
ich bin ein Taliban,
ihr Mißgeburten habt nur Kugeln aus Marzipan...
ich lass dich bluten wie die Typen aus den Twin Towers,
meine Freunde tragen Lederjacken und sind stinksauer...
ich bin King Bushido, zweiter Name Mohammed,
ich hab ein Flächenbrand über deine Stadt gelegt...".
Tatsächlich haben wir es hier aber kaum mit einer militant-islamistischen Weltanschauung, sondern
eher mit den Fantasien pubertierender Jungs zu tun. Solche Fantasien kommen an im Kiez und unter
Jugendlichen mit Migrationshintergrund, wo sie vor allem für junge Männer attraktiv sind, die sich auf
ihrer Suche nach Identität und Perspektive in der Gesellschaft als Verlierer erleben. Kulturell und sozial
marginalisiert wird ihnen unter Bezug auf den 11.9. oder mit der Ikonisierung Bin Ladens die Option
von Stärke, Macht und Autonomie des Outlaws im Ghetto suggeriert. Wenn schon ganz unten, dann
wenigstens oben auf – oder in den Worten Bushidos: "wir stürzen ab und ich ficke die Stewardess".
Ganz anders, betont angepasst und explizit gewaltlos, erscheint dagegen die Strömung des so
genannten Pop-Islam. Ihr gehören muslimische Jugendliche beiderlei Geschlechts an, die sich, aus
eher besser gestellten Elternhäusern stammend, auf der Grundlage des Islams erfolgreich in die
Gesellschaft integrieren wollen. Sie wollen gute Bürger und gute Gläubige sein, dafür engagieren sie
sich in sozialen Projekten. Sie sind Teil einer weltweiten Reislamisierungsströmung, die Internetseiten,
TV-Sender, Modelabels oder Musikstars umfasst und wollen dort, wo sie wohnen, als Muslim leben.
Dazu gehört auch, dass sie das öffentliche Bild vom Islam verbessern wollen und sich entschieden
gegen islamistischen Terror wenden – etwa wenn Sami Yussuf, ein Idol der Bewegung, singt:
"Jeden Tag seh ich die Headlines,
Verbrechen im Namen des Herrn.
Menschen verüben Grausamkeiten in seinem Namen,
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sie morden und entführen, ohne sich zu schämen.
Aber hat er uns Hass, Gewalt und Blutvergießen gelehrt?
Nein... oh nein!".
Trotz dieser klaren Abgrenzung vom Jihad-Islamismus stehen diese Jugendlichen den gängigen
Islamismus-Kriterien in vielen Punkten näher als die Fans von Bushidos Sprüchen: Sie sind
ausgesprochen fromm und folgen in punkto Bekleidung, Heirat, Sexualität und Familie in der Regel
sehr konservativen Maßstäben. Sie betreiben Dawa, d.h. sie wollen "den richtigen" Islam verbreiten –
unter Muslimen wie Nichtmuslimen. Viele von ihnen orientieren sich stark an international aktiven
islamistischen Predigern wie Yussuf al-Qaradawi und berufen sich auf die islamischen Quellen Koran
und Sunna als Vorgaben nicht nur des privaten Lebens, sondern auch des politischen Handelns und
der anzustrebenden Gesellschaftsordnung.
Letzteres würde sie nach den üblichen Kategorien (etwa der Ämter für Verfassungsschutz) zu
Islamisten und Verfassungsfeinden machen. Tatsächlich müssen sich in ihren Augen aber Scharia und
Grundgesetz gar nicht widersprechen – es käme, so sagen viele von ihnen, nur auf die Auslegung an
(ijtihad).
Zwar üben dem Pop-Islam zuzurechnende Bewegungen und Gruppen wie die Lifemakers oder die
Muslimische Jugend moralischen Druck auf Muslime aus, die anders leben, überlassen diesen aber
die individuelle Entscheidung, ob sie etwa ein Kopftuch tragen oder Alkohol trinken wollen. Damit
unterscheiden sie sich ausdrücklich von radikal-islamistischen Gruppen wie der verbotenen Hizb utTahrir. Diese erklären Muslime, die nicht ihren Glaubensvorstellungen folgen wollen, zu Ungläubigen
(takfir) und lassen auch in puncto Staat- und Gesellschaftsordnung nur ihr eigenes Islamverständnis
gelten.
Pädagogische Konzepte
Mit Gangsta-Rap und Pop-Islam sind nur zwei jugendkulturelle Ausdrucksformen genannt, in denen
sich der Bezug auf den Islam in Deutschland heute äußert. Allerdings wird schon anhand dieser
Beispiele deutlich, wie schwer es meist ist, einzelne Aussagen, Einstellungen und Positionen
herauszugreifen und sie im weiten Feld zwischen säkularem Islam und Jihadismus einzuordnen. Das
gilt schon für Experten wie Politik- und Islamwissenschaftler. Und es gilt erst recht, wenn es um das
Verhalten, die Überzeugungen und Einstellungen von Kindern und Jugendlichen geht.
Mehr noch, Etikettierungen und Zuordnungen würden eher etwas verdecken, was für die pädagogische
Praxis von zentraler Bedeutung ist - das nämlich die einzelnen Formen, in denen sich Muslime in
Deutschland zunehmend auf den Islam beziehen, etwas gemeinsam haben: In ihrer Gesamtheit
bringen sie eine legitime und nachvollziehbare Suchbewegung nach individueller und kollektiver
Identität, nach Selbstbewusstsein und Orientierung zum Ausdruck. Dass im Zuge dieser Bewegung
auch essentialistische, traditionalistische und demokratiegefährdende Islaminterpretationen zutage
treten (bis hin zu den Überzeugungen von "home grown terrorists"), macht den pädagogischen Umgang
mit muslimisch geprägten Jugendlichen zu einem Balanceakt – ein Balanceakt zwischen Grenzsetzung
und Empathie:
Auf der einen Seite muss anti-demokratischen und anti-pluralistischen Positionen und Einstellungen
deutlich widersprochen, den Jugendlichen – notfalls mit Hilfe von Sanktionen – müssen klare Grenzen
gesetzt und auf einer allgemeinen Geltung von Menschen- und Frauenrechten sowie von Meinungsund Religionsfreiheit bestanden werden. Dabei kann es hilfreich sein, auf ein persönliches Gespräch
mit dem örtlichen Imam oder anderen Vertretern muslimischer und Migranten-Organisationen vor Ort
und deren Meinung verweisen zu können. Pädagogen müssen den Koran also nicht besser kennen
als muslimische Schüler, die sich vielleicht auf ihn berufen. Aber sie sollten eine Vorstellung von der
aktuellen wie historischen Vielfalt islamischer Glaubens- und Lebensformen besitzen. Das schließt
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zum Beispiel Wissen über das Denken und Handeln moderater, liberaler und reformorientierter
muslimischer Philosophen, Theologen und Politiker ein. Vorbildfunktion können auch Boxer oder
Fußballclubs wie Oktay Urkal und Türkiyemspor erfüllen, die sich in Kampagnen gegen Homophobie
einsetzen. Pädagogen können hier Impulse auch für eine innermuslimische Debatte geben, die
monolithische Ideologien aus ihrer Nische in die offene Auseinandersetzung zwingt – im
Klassenzimmer und darüber hinaus.
Auf der anderen Seite bringen solche Initiativen und die Aneignung von interkultureller Kompetenz
durch Lehrkräfte und Schule bereits zum Ausdruck, worum es neben der Grenzsetzung auch geht:
einen partnerschaftlichen Ansatz, der den Jugendlichen und ihren religiös begründeten
Überzeugungen kritisch, aber mit grundsätzlichem Respekt begegnet. Wenn Pädagogen Interesse
am Islam oder an den Herkunftsregionen der Jugendlichen (bzw. ihrer Eltern und Großeltern) und
deren Geschichte zeigen, signalisiert dies eine Akzeptanz der Religion und Herkunft der Jugendlichen
in der "deutschen" Umgebung. Dies ist gerade vor dem Hintergrund sozialer und kultureller
Marginalisierung vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund wichtig – gewinnt doch der Islamismus
einen Großteil seiner Attraktivität daraus, dass er neben einer klaren Weltanschauung das Gefühl von
Zugehörigkeit und Stärke verspricht. Um zu verhindern, dass junge Muslime sich abwenden und in
abgeschottete Gegenwelten zurückziehen, muss Pädagogik in Konkurrenz zu diesem Angebot treten.
Pädagogik muss auf Akzeptanz, Anerkennung und Teilhabe setzen und demonstrieren, dass
muslimische Jugendliche in ihren unterschiedlichen Glaubens- und Lebensformen in Deutschland
selbstverständlich "dazugehören". Denn das ist es doch, was die allermeisten von ihnen am
allermeisten wollen.
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Erklärfilme
5.12.2016
Strategien gegen Radikalisierung
Der Aufstieg des Salafismus ist nach Meinung von Guido Steinberg eine welthistorische Entwicklung. Welche
Möglichkeiten haben Staat und Gesellschaft, darauf einzuwirken – und Radikalisierungsprozesse zu verhindern? Was
muss gute Präventionsarbeit leisten? Und wer muss sich aktivieren für den Kampf gegen die Radikalen? Lizenz: cc
by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/238891/strategiengegen-radikalisierung)
Radikalisierung von Muslimen
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Viele der Tatbeteiligten in Paris und Brüssel sind in Frankreich und Belgien aufgewachsen und haben sich dort
radikalisiert. Auch in Deutschland radikalisieren sich junge Muslime. Für die Gesellschaft ist das eine enorme
Herausforderung. Wer radikalisiert sich, und warum? Ist das vergleichbar mit anderen Extremismen? Und welche
Rolle spielt dabei der Islam? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.
bpb.de/mediathek/236880/radikalisierung-von-muslimen)
Was heißt Islamismus?
Kaum ein Wort hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine derartige Konjunktur erfahren wie Islamismus.
Aber was genau versteht man unter Islamismus? Welche Gruppen und Strömungen gibt es? Und auf welche
ideologischen (Vor-)Denker berufen sie sich? Sind alle Islamisten Gewalttäter? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (©
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/233982/was-heisst-islamismus)
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Redaktion
7.11.2011
Hier finden Sie die Redaktion des Dossiers "Islamismus".
Herausgeber
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2007-2011
Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling
Redaktion
Matthias Jung (verantwortlich, bpb)
Martin Hetterich
Hanna Huhtasaari
Online-Dossier
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