Heiner Keupp Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Vortrag bei der Tagung „not just sad!“ in der Evangelischen Akademie Tutzing am 22. Januar 2016 Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Summary Der globalisierte Kapitalismus hat zu einer spürbaren Beschleunigung und Verdichtung der Abläufe in den beruflichen und privaten Lebenswelten geführt. Die deutlichen Belege für eine Zunahme von Burnout und Depressionen lassen sich als Hinweise auf diese Entwicklung verstehen. Sie führen bei zunehmend mehr Menschen zu dem Gefühl der Erschöpfung. Wir haben „gesellschaftsdiagnostische“ Möglichkeiten, um Aussagen über die Zunahme von Erschöpfungszuständen zu treffen. Die Antworten auf diese Probleme dürfen nicht in individualisierenden Strategien gesucht werden, sondern erfordern kollektive Aktionen. 2 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst These 1 Nach einer Phase disziplinärer Alleinvertretungsansprüche, wenn es um die Erklärung von psychischen Störungen geht, geht es heute um die Akzeptanz multidisziplinärer Zugänge. Ein biopsychosoziales Krankheitsmodell der Depression erfordert deshalb neben biologischen und psychologischen auch soziale Bedingungsfaktoren zu berücksichtigen. Diese wiederum können nicht die ganze Wahrheit über Depressionen vermitteln, aber ohne sie kann es auch nur eine „halbierte“ Wahrheit werden, die man als „soziale Amnesie“ bezeichnen könnte. 3 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer psychologischen Gesellschaftsdiagnostik als Alternative zur weitverbreiteten „Gesellschaftsvergessenheit“ oder „sozialen Amnesie“ der institutionalisierten psychosozialen Handlungsformen Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Russell Jacoby Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Gesellschaftsdiagnostik am Beispiel von Burnout und Depression Vom erschöpften Selbst im globalen Kapitalismus Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft „Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wandel von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen. Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewältigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und werden krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der Erwerbsunfähigkeit. (…) Schon heute sind weltweit ca. 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben gewinnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbereich.“ Quelle: Ilona Kickbusch (2005). Die Gesundheitsgesellschaft. 6 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst DER SPIEGEL 3/2011 Erschöpfungsdepression – was hilft gegen die Volkskrankheit des 21. Jahrhundert? „Beruflicher Stress, unendlicher Informationsfluss, intensive Kommunikation als soziales Muss: Die moderne Welt hat uns mit ihren Pflichten fest im Griff. Wer sich selbst nicht fest im Griff hat, läuft Gefahr, auszubrennen. Macht uns das moderne Leben auf Dauer krank.“ DER SPIEGEL 30/2011 Der Ausweg? Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst SPIEGEL WISSEN 1/2012 Robert Enke (1977 – 2009) DER SPIEGEL 4/2012 9 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Prof. Dr. Depressiv Lehrende an deutschen Hochschulen sind so produktiv wie nie – gleichzeitig häufen sich psychische Probleme DIE ZEIT vom 03.11.2011 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Und auch bei den Studierenden nehmen Depressionen und Angststörungen zu! Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 11 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 12 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 13 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 14 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 16 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 17 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 18 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Verschreibung von Antidepressiva: 2009 wurden bei Männern 119 Prozent, bei Frauen 96 Prozent mehr Tagesdosen als im Jahr 2000 verschrieben. Gesundheitsreport der TKK 2010 19 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Nature ruft im Januarheft 2010 eine „Dekade für psychiatrischer Störungen“ aus. Begründet wird diese Priorität damit, dass psychische Störungen wie Schizophrenie und Depressionen die vorherrschenden Störungen der Altersgruppe von 15 bis 44 Jahre ausmachen würden. Hinzu kommt die wachsende Anzahl von ADHS-Diagnosen bei Kindern. Die Be-handlung dieser Störungen machen etwa 40% der medizinischen Kosten in den USA und Canada aus. Die biologische Psychiatrie reklamiert für sich die zeitgemässen Erklärungen und Therapien! 20 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst These 2 Es ist notwendig, die inflationäre Verwendung der Diagnosen Burnout und Depression kritisch zu reflektieren. Die Hauptnutznießer dieser diagnostischen Gepflogenheit ist die Psychopharmaindustrie. Unstrittig dürfte sein, dass immer mehr Menschen die mit der Globalisierung verbundenen Veränderungen in ihrer Arbeits- und Alltagswelt als Herausforderungen und Belastungen erleben, die ihre Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten. Die „Klinifizierung“ der daraus folgenden psychischen Probleme enthält die Gefahr der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme. Insbesondere problematisch ist eine rein biologistische Perspektive. Von der Notwendigkeit einer „Gesellschaftsdiagnostik“ 21 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Allen Frances war Vorsitzender der Kommission, die für DSM-IV zuständig war Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « 22 Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Normalitätskrise Einfache Trauer: Der Tod eines geliebten Menschen führt typischerweise zu Traurigkeit und Schlafstörungen, die Betroffenen können an Gewicht verlieren. Mediziner streiten darüber, wie viel Trauer normal ist - und wann sie in eine krankhafte Depression mündet. DSM IV ging von zwei Monaten aus DSM V setzt zwei Wochen an.. Quelle: SPIEGEL Online 23.01.2013 – Karrikaturen von Tom Cool Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « 23 Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Theophrast fragte: „Aus welchem Grunde sind alle hervorragenden Männer, sei es, dass sie sich in der Philosophie, der Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten ausgezeichnet haben, offenbar Melancholiker?“ Theophrast von Eresos 371 v. Chr.–287 v. Chr. 26 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Albrecht Dürer: Melencolia I 1514 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Melancholie Reflexive Sozialpsychologie « Lukas von Cranach: - 1532 Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Martin Luther in seinen „Tischreden“: Satan est Spiritus tristitiae“. Oder: „Die Traurigkeit, die Epidemien und die Melancholie kommen vom Satan“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst „Der Tod des Selbst“ „Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, ‘one-style-for-all’ Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wir feiern jetzt das proteische Sein (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware“ Quelle: Kenneth J. Gergen: The self: Death by technology (2000). Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Der „postmoderne Reinheitstest“ „Man muss in der Lage sein, sich von den grenzenlosen Möglichkeiten des Verbrauchermarktes und der von ihm propagierten ständigen Erneuerung verführen zu lassen; man muss sich freuen können über die Chance, Identitäten anzunehmen und wieder abzulegen und sein Leben auf der endlosen Jagd nach immer intensiveren Glückserlebnissen und immer aufregenderen Erfahrungen zu verbringen. Nicht jeder besteht diesen Test. Die dies nicht schaffen, sind der ‚Schmutz‘ der postmodernen Reinheit.“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Die „proteische Karriere“ ist angesagt Rosina M. Gasteiger: „Erwerbstätige müssen immer häufiger mit Veränderungen in der Arbeitswelt zurechtkommen. Gleichzeitig verschieben Organisationen die Verantwortung für die Karriereentwicklung immer mehr auf die Arbeitnehmer. Die Herausforderung für den Einzelnen ist dabei, sich nicht nur flexibel auf immer wieder neue Bedingungen einstellen zu können, sondern zugleich die eigene Identität zu wahren und persönliche Werte und Ziele mit der beruflichen Tätigkeit in Einklang zu bringen.“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Robert Jay Lifton, geboren 1926 in New York, ist Professor für Psychiatrie und Psychologie an der New York University Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Quelle: Erasmus Francisci: Der Höllische Proteus, oder Tausendkünstige Versteller [...]. Nürnberg 1690. 35 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Die „Gewalt der Positivität“ Die Arbeitswelt setzt auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbstverantwortung. Die Disziplinargesellschaft, von der Stechuhr regiert, wurde von der Leistungsgesellschaft abgelöst, in der jeder sich konditioniert, als sei er sein eigener Unternehmer. Die „Negativität des Sollens“ hat sich zu einer viel effizienteren „Positivität des Könnens“ entwickelt. Obamas millionenfach reproduzierter Slogan „Yes, we can“ hat darin seine alptraumhafte Kehrseite. Das sich selbst ausbeutende Subjekt ist Täter und Opfer zugleich, Herr und Knecht in einer Person. Allgegenwärtige Werbesprüche gellen wie zum Hohn in ihr nach: „Die Klage des depressiven Individuums ,Nichts ist möglich’ ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt Nichts ist unmöglich.“ 38 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Vertrauensarbeitszeit Die Arbeitszeitkultur verändert sich von der kontrollierten Präsenzpflicht zur „Vertrauensarbeitszeit“. Thomas Sattelberger (Personalvorstand der Telekom): „Ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ist kein Zeichen von Leistungsfähigkeit.“ „Vertrauensarbeitszeit“ bedeutet, dass zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern vereinbarte Ziele und Fristen von diesen in selbstbestimmter Zeiteinteilung erledigt werden können („management by objectives“). Hier übernimmt das Personal zunehmend die Last der unternehmerischen Verantwortung. Und ist der Gefahr der Selbstausbeutung ausgesetzt. 40 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Die Grenzen der „unternehmerischen Anrufung“ und des „Subjektivierungsregimes“ „Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück. (…) Im Unglück der Depressiven wird die Kluft zwischen dem Anspruch an die Individuen und ihren stets unzureichenden Anstrengungen sichtbar.“ „Depressive Erschöpfung (ist) die dunkle Seite der auf Dauer gestellten Hyperthymie des unternehmerischen Selbst.“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das „erschöpfte Selbst“ – Denkanstoss von Alain Ehrenberg Alain Ehrenberg will zeigen, dass depressive Verstimmungen, Erschöpfung und Verzweiflung keine Unregelmäßigkeiten, sondern so etwas wie der unvermeidliche Schatten des karriere- und selbstverwirklichungssüchtigen Selbst der kapitalistischen Moderne um die Jahrtausendwende sind. Dieses Selbst wird gesteuert von der Annahme, dass alles möglich sei. Und dass es ausschließlich in seiner Verantwortung liege, aus der Fülle der Möglichkeiten das je eigene „gelingende“ Leben zu stricken. Ehrenberg hält diese Behauptung nicht für richtig, sondern für mächtig. Sie wirkt wie eine innere Stimme, die den Unzufriedenen allerorten hämisch einflüstert, dass es anders hätte kommen können, wenn sie nur die richtige Wahl getroffen hätten. Unter der Last der Verantwortung brechen die solcherart malträtierten Selbste oft zusammen. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik Eine historische Perspektive Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“ Der Zwang zur Selbstoptimierung Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst 45 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Hartmut Rosa: Der Beschleunigungszirkel 46 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst These 3 Unter aktiver Beteiligung von Psychotechniken passen sich immer mehr Menschen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an, der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst These 4 Schon vor Jahren ist uns die „Erschöpfung der utopischen Energien“ (Jürgen Habermas) diagnostiziert worden und ein „minimal self“ (Christopher Lasch), das ein Fixierung auf Alltagsbewältigung ohne übergreifende Idee. Wir haben es mit einer tiefen Krise im gesellschaftlichen Selbstverständnis zu tun, das sich nicht einmal mehr über unterschiedliche mögliche Zielvorstellungen streitet, sondern einfach keine mehr hat. In allen gesellschaftlichen Bereichen, in der Politik, in der Wirtschaft und zunehmend auch in den privaten Welten geht es ums „Überleben“, ums „Durchhalten“. Hier zeichnet sich eine Gesamtsituation ab, die man mit dem Begriff „erschöpfte Gesellschaft“ überschreiben könnte. Erschöpfung ist also nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftlichpolitisches Phänomen. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Zeitalter der Depression Hat die Depression einen Sinn? Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Zeitalter der Depression Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Zeitalter der Depression Charles Darwin: "Ich sollte mich wahrscheinlich damit zufriedengeben, die Fortschritte zu bewundern, die andere in der Wissenschaft machen.“ "Jedes Leiden verursacht Depressionen, wenn es nur lange genug anhält. Doch es macht auch wachsam gegenüber großem und plötzlichem Übel.“ Charles Robert Darwin (* 12. Februar 1809 in Shrewsbury; † 19. April 1882 in Downe) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Zeitalter der Depression Der evolutionäre Sinn der Depression Paul Andrews von der Virginia Commonwealth University in Richmond J. Anderson Thomson, Jr., University of Virginia in Charlottesville Thomson und Andrews stellten sich die Frage, ob ein paar Monate noch so sinnlos scheinender innerer Monologe nicht am Ende auch ihr Gutes haben können. Vielleicht hilft der von Selbstekel begleitete Trauerprozess, Beziehungsmuster zu überdenken und soziales Verhalten neu zu definieren. "Es schien uns nicht logisch, dass das Gehirn ausgerechnet dann versagt, wenn es am meisten gebraucht wird", sagt Andrews. "Vielleicht sucht es nur besonders konsequent nach einem Ausweg.„ "Wenn es die Depression nicht gäbe, würden wir Lebenskrisen weniger gut meistern." Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Zeitalter der Depression Was könnte insgesamt die Lehre aus diesen Beobachtungen sein? Therapeutisch käme es im Zweifelsfall darauf an, den Patienten dahin zu bringen, dass er sein Leiden akzeptiert. Dass er den Grundton der Verzweiflung annimmt und vielleicht sogar begrüßt, weil er den Weg frei macht für ein geändertes, besseres Leben nach der Depression. Eines muss man dennoch einräumen: Dass eine Depression einem Zweck dienen kann, dass Trauer uns möglicherweise schlauer macht, nimmt beidem nicht die Schwärze und den Schrecken. Auch ein Fieber kann hilfreich sein - trotzdem bekämpfen wir es mit Pillen. Man kann darin ein weiteres Paradox der Evolution sehen: Selbst wenn tiefer Schmerz uns auf Dauer weiterhilft, bleibt die instinktive Flucht vor ihm doch der stärkste Impuls, den wir kennen. Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Auf dem Weg zur Selbstsorge … Sebastian Deisler im Interview mit dem Tagesspiegel vom 4.10.2007: „Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich so, wie alles gelaufen ist, nicht geschaffen war für dieses Geschäft. Am Ende war ich leer, ich war alt, ich war müde. Ich bin so weit gelaufen, wie mich meine Beine getragen haben, mehr ging nicht. Ich möchte jetzt ein Leben führen, das ich allein bestimme“. 54 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Was folgt aus der Analyse? 1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Gesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biographische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheuere Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns. Die Zunahme der Depression verweist auf dieses Risiko. Sie ist aber nicht ein „Fluch der Freiheit“, sondern verweist auf einen Mangel im „Handwerk der Freiheit“. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Was folgt aus der Analyse? 2. Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Menschenbildannahmen . Die Figur des „unternehmerischen Selbst“ ist auf den kritischen Prüfstand zu stellen. Sie verweist auf ein neoliberales Menschenbildes, das eine maximierte Selbstkontrolle als Fortschritt anpreist. Ausbeutung und Entfremdung wird zunehmend weniger als fremd gesetzter Zwang von Menschen erlebt, sondern wird mehr und mehr zu einer Selbsttechnologie, zu einer Selbstdressur, die allerdings in den Ideologien des Neoliberalismus in einem Freiheits- oder Autonomiediskurs daher kommt. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Was folgt aus der Analyse? 3. Selbstsorge ist notwendig, aber die darf sich nicht in individualisierten Überlebensstrategien erschöpfen, die die eigene „Fitness“ steigern. Im Sinne der Salutogenese geht es um die Erarbeitung von sinnhaften Bewältigungsmustern und um die Stärkung von Widerstandsressourcen. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Aaron Antonovsky 1923 - 1994 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist. Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung: Meine Welt erscheint mir verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehbarkeit). Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Handhabbarkeit). Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Bedeutsamkeit). Kohärenzfördernd sind die Widerstandsressourcen: Individuelle, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Ressourcen. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Generalisierte Widerstandsressourcen und Resilienzfaktoren • Im Individuum: organisch-konstitutionelle Widerstandsressourcen, Intelligenz, Bildung, Bewältigungsstrategien und Ich-Stärke, emotionale Sicherheit, Selbstvertrauen. • Im sozialen Nahraum: Sozialen Beziehungen, Netzwerke, Verortung, Vertrauen und Anerkennung, zivilgesellschaftlichem Engagement. • Auf gesellschaftlicher Ebene: Anerkennung über die Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Ressourcen (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung….). • Auf der kulturellen Ebene: Zugang zu kulturellem Kapital im Sinne tragfähiger Wertorientierungen (bezogen aus philosophischen, politischen, religiösen oder ästhetischen Quellen). Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst • Auf salutogenetischer Grundlage gibt es neue Angebote, die Freude an der eigenen Tätigkeit wieder zu gewinnen und das auf der Basis gelungener Selbstsorge. • Ein Beispiel ist das Burnon-Zentrum in Düsseldorf, das Menschen helfen will, wieder Feuer und Flamme zu spüren. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Was folgt aus der Analyse? 4. Eine Strategie der universellen oder Verhältnisprävention muss letztlich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zielen und dazu ist nicht nur die professionelle Arbeitsgestaltung gefragt, sondern die aktive Beteiligung der Betroffenen, denen bewusst ist, dass individuelle Selbstsorge nur im Rahmen kollektiver Interessenvertretung (z.B. in Selbsthilfegruppen, Netzwerken, Gewerkschaften, Attac) möglich ist. Und es ist dringend notwendig, neue Formen des Arbeitsschutzes zu entwickeln, die wirksame Antworten auf die wachsenden psychischen Belastungen und Störungen in der Arbeitswelt bilden. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «