Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst

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Heiner Keupp
Depression und Gesellschaft:
Das erschöpfte Selbst
Vortrag bei der Tagung „not just sad!“ in der
Evangelischen Akademie Tutzing am 22. Januar 2016
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Summary
Der globalisierte Kapitalismus hat zu einer spürbaren Beschleunigung und Verdichtung der Abläufe in den beruflichen und privaten Lebenswelten geführt. Die deutlichen Belege für eine Zunahme von Burnout und Depressionen lassen sich als Hinweise auf
diese Entwicklung verstehen. Sie führen bei zunehmend mehr
Menschen zu dem Gefühl der Erschöpfung.
Wir haben „gesellschaftsdiagnostische“ Möglichkeiten, um Aussagen
über die Zunahme von Erschöpfungszuständen zu treffen.
Die Antworten auf diese Probleme dürfen nicht in individualisierenden Strategien gesucht werden, sondern erfordern kollektive
Aktionen.
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Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
These 1
Nach einer Phase disziplinärer Alleinvertretungsansprüche, wenn es um die Erklärung von psychischen
Störungen geht, geht es heute um die Akzeptanz
multidisziplinärer Zugänge. Ein biopsychosoziales
Krankheitsmodell der Depression erfordert deshalb
neben biologischen und psychologischen auch soziale Bedingungsfaktoren zu berücksichtigen. Diese
wiederum können nicht die ganze Wahrheit über
Depressionen vermitteln, aber ohne sie kann es auch
nur eine „halbierte“ Wahrheit werden, die man als
„soziale Amnesie“ bezeichnen könnte.
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Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer psychologischen Gesellschaftsdiagnostik als Alternative zur weitverbreiteten „Gesellschaftsvergessenheit“ oder „sozialen Amnesie“ der institutionalisierten
psychosozialen Handlungsformen
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Russell Jacoby
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Gesellschaftsdiagnostik am
Beispiel von Burnout und
Depression
Vom erschöpften Selbst im
globalen Kapitalismus
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft
„Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wandel von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen.
Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewältigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und werden
krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der
Erwerbsunfähigkeit. (…) Schon heute sind weltweit ca. 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben gewinnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbereich.“
Quelle: Ilona Kickbusch (2005). Die Gesundheitsgesellschaft.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
DER SPIEGEL 3/2011
Erschöpfungsdepression – was
hilft gegen die Volkskrankheit des 21. Jahrhundert?
„Beruflicher Stress, unendlicher
Informationsfluss, intensive
Kommunikation als soziales
Muss: Die moderne Welt
hat uns mit ihren Pflichten
fest im Griff.
Wer sich selbst nicht fest im
Griff hat, läuft Gefahr, auszubrennen. Macht uns das
moderne Leben auf Dauer
krank.“
DER SPIEGEL 30/2011
Der Ausweg?
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
SPIEGEL WISSEN
1/2012
Robert Enke
(1977 – 2009)
DER SPIEGEL
4/2012
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Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Prof. Dr. Depressiv
Lehrende an deutschen
Hochschulen sind so
produktiv wie nie –
gleichzeitig häufen sich
psychische Probleme
DIE ZEIT vom 03.11.2011
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Und auch bei den
Studierenden nehmen
Depressionen und
Angststörungen zu!
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Verschreibung von
Antidepressiva:
2009 wurden bei
Männern 119 Prozent,
bei Frauen 96 Prozent
mehr Tagesdosen als
im Jahr 2000
verschrieben.
Gesundheitsreport der TKK 2010
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Nature ruft im Januarheft 2010 eine „Dekade für
psychiatrischer Störungen“ aus. Begründet wird
diese Priorität damit, dass psychische Störungen
wie Schizophrenie und Depressionen die vorherrschenden Störungen der Altersgruppe von 15 bis
44 Jahre ausmachen würden. Hinzu kommt die
wachsende Anzahl von ADHS-Diagnosen bei
Kindern. Die Be-handlung dieser Störungen machen etwa 40% der medizinischen Kosten in den
USA und Canada aus.
Die biologische Psychiatrie reklamiert für sich die
zeitgemässen Erklärungen und Therapien!
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
These 2
Es ist notwendig, die inflationäre Verwendung der Diagnosen Burnout
und Depression kritisch zu reflektieren. Die Hauptnutznießer dieser
diagnostischen Gepflogenheit ist die Psychopharmaindustrie.
Unstrittig dürfte sein, dass immer mehr Menschen die mit der Globalisierung verbundenen Veränderungen in ihrer Arbeits- und Alltagswelt als Herausforderungen und Belastungen erleben, die ihre Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten. Die „Klinifizierung“ der
daraus folgenden psychischen Probleme enthält die Gefahr der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme. Insbesondere problematisch ist eine rein biologistische Perspektive.
Von der Notwendigkeit einer „Gesellschaftsdiagnostik“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Allen Frances war Vorsitzender der
Kommission, die für DSM-IV zuständig war
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Normalitätskrise
Einfache Trauer:
Der Tod eines geliebten Menschen
führt typischerweise zu Traurigkeit
und Schlafstörungen, die Betroffenen
können an Gewicht verlieren.
Mediziner streiten darüber, wie viel
Trauer normal ist - und wann sie in
eine krankhafte Depression mündet.
DSM IV ging von zwei Monaten aus
DSM V setzt zwei Wochen an..
Quelle: SPIEGEL Online 23.01.2013 – Karrikaturen von Tom Cool
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Theophrast fragte:
„Aus welchem Grunde sind alle
hervorragenden Männer, sei es,
dass sie sich in der Philosophie, der
Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten ausgezeichnet
haben, offenbar Melancholiker?“
Theophrast von Eresos 371
v. Chr.–287 v. Chr.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Albrecht Dürer:
Melencolia I
1514
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Heiner Keupp » Melancholie
Reflexive Sozialpsychologie
«
Lukas von Cranach:
- 1532
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Martin Luther in seinen
„Tischreden“:
Satan est Spiritus tristitiae“.
Oder:
„Die Traurigkeit, die Epidemien
und die Melancholie kommen
vom Satan“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
„Der Tod des Selbst“
„Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete,
‘one-style-for-all’ Individuum. Solch eine
Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel.
(...) Wir feiern jetzt das proteische Sein (...)
Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk
ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall
und die Zeit ist eine knappe Ware“
Quelle: Kenneth J. Gergen: The self: Death by technology (2000).
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Der „postmoderne Reinheitstest“
„Man muss in der Lage sein, sich von den grenzenlosen
Möglichkeiten des Verbrauchermarktes und der
von ihm propagierten ständigen Erneuerung verführen zu lassen; man muss sich freuen können
über die Chance, Identitäten anzunehmen und
wieder abzulegen und sein Leben auf der endlosen
Jagd nach immer intensiveren Glückserlebnissen
und immer aufregenderen Erfahrungen zu verbringen. Nicht jeder besteht diesen Test. Die dies
nicht schaffen, sind der ‚Schmutz‘ der postmodernen Reinheit.“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Die „proteische Karriere“ ist angesagt
Rosina M. Gasteiger:
„Erwerbstätige müssen immer häufiger
mit Veränderungen in der Arbeitswelt zurechtkommen. Gleichzeitig
verschieben Organisationen die Verantwortung für die Karriereentwicklung immer mehr auf die Arbeitnehmer. Die Herausforderung für den
Einzelnen ist dabei, sich nicht nur
flexibel auf immer wieder neue Bedingungen einstellen zu können,
sondern zugleich die eigene Identität
zu wahren und persönliche Werte
und Ziele mit der beruflichen Tätigkeit in Einklang zu bringen.“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Robert Jay Lifton, geboren 1926 in New
York, ist Professor für Psychiatrie und
Psychologie an der New York University
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Quelle: Erasmus Francisci: Der Höllische
Proteus, oder Tausendkünstige Versteller
[...]. Nürnberg 1690.
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Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Die „Gewalt der Positivität“
Die Arbeitswelt setzt auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbstverantwortung. Die Disziplinargesellschaft, von der Stechuhr regiert, wurde von der Leistungsgesellschaft abgelöst, in der jeder
sich konditioniert, als sei er sein eigener Unternehmer. Die „Negativität des Sollens“ hat sich zu einer viel effizienteren „Positivität
des Könnens“ entwickelt. Obamas millionenfach reproduzierter
Slogan „Yes, we can“ hat darin seine alptraumhafte Kehrseite.
Das sich selbst ausbeutende Subjekt ist Täter und Opfer zugleich,
Herr und Knecht in einer Person. Allgegenwärtige Werbesprüche
gellen wie zum Hohn in ihr nach: „Die Klage des depressiven Individuums ,Nichts ist möglich’ ist nur in einer Gesellschaft möglich,
die glaubt Nichts ist unmöglich.“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Vertrauensarbeitszeit
Die Arbeitszeitkultur verändert sich von der kontrollierten Präsenzpflicht zur „Vertrauensarbeitszeit“.
Thomas Sattelberger (Personalvorstand der Telekom): „Ständige
Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ist kein Zeichen von Leistungsfähigkeit.“
„Vertrauensarbeitszeit“ bedeutet, dass zwischen Vorgesetzten und
Mitarbeitern vereinbarte Ziele und Fristen von diesen in selbstbestimmter Zeiteinteilung erledigt werden können („management
by objectives“).
Hier übernimmt das Personal zunehmend die Last der unternehmerischen Verantwortung. Und ist der Gefahr der Selbstausbeutung ausgesetzt.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Die Grenzen der „unternehmerischen Anrufung“
und des „Subjektivierungsregimes“
„Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt
der Einzelne stets hinter ihnen zurück. (…) Im Unglück
der Depressiven wird die Kluft zwischen dem Anspruch
an die Individuen und ihren stets unzureichenden Anstrengungen sichtbar.“
„Depressive Erschöpfung (ist) die dunkle Seite der auf
Dauer gestellten Hyperthymie des unternehmerischen
Selbst.“
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das „erschöpfte Selbst“ –
Denkanstoss von Alain Ehrenberg
Alain Ehrenberg will zeigen, dass depressive Verstimmungen,
Erschöpfung und Verzweiflung keine Unregelmäßigkeiten, sondern so etwas wie der unvermeidliche Schatten
des karriere- und selbstverwirklichungssüchtigen Selbst
der kapitalistischen Moderne um die Jahrtausendwende
sind.
Dieses Selbst wird gesteuert von der Annahme, dass alles
möglich sei. Und dass es ausschließlich in seiner Verantwortung liege, aus der Fülle der Möglichkeiten das je
eigene „gelingende“ Leben zu stricken. Ehrenberg hält
diese Behauptung nicht für richtig, sondern für mächtig.
Sie wirkt wie eine innere Stimme, die den Unzufriedenen
allerorten hämisch einflüstert, dass es anders hätte kommen können, wenn sie nur die richtige Wahl getroffen
hätten. Unter der Last der Verantwortung brechen die
solcherart malträtierten Selbste oft zusammen.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Von der Notwendigkeit einer Gesellschaftsdiagnostik
 Eine historische Perspektive
 Zunahme des „proteischen“ Menschenbildes
 Entstehung einer „Müdigkeitsgesellschaft“
 Der Zwang zur Selbstoptimierung
 Eine hochtourige Beschleunigungsgesellschaft
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Hartmut Rosa:
Der Beschleunigungszirkel
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
These 3
Unter aktiver Beteiligung von Psychotechniken passen sich
immer mehr Menschen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an, der gesellschaftliche und berufliche
Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an
dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben
offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert
werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance eine
Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in
einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf
Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
These 4
Schon vor Jahren ist uns die „Erschöpfung der utopischen Energien“
(Jürgen Habermas) diagnostiziert worden und ein „minimal self“
(Christopher Lasch), das ein Fixierung auf Alltagsbewältigung ohne
übergreifende Idee. Wir haben es mit einer tiefen Krise im gesellschaftlichen Selbstverständnis zu tun, das sich nicht einmal mehr
über unterschiedliche mögliche Zielvorstellungen streitet, sondern
einfach keine mehr hat. In allen gesellschaftlichen Bereichen, in der
Politik, in der Wirtschaft und zunehmend auch in den privaten
Welten geht es ums „Überleben“, ums „Durchhalten“. Hier zeichnet
sich eine Gesamtsituation ab, die man mit dem Begriff „erschöpfte
Gesellschaft“ überschreiben könnte.
Erschöpfung ist also nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftlichpolitisches Phänomen.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Zeitalter der Depression
Hat die
Depression
einen Sinn?
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Zeitalter der Depression
Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Zeitalter der Depression
Charles Darwin:
"Ich sollte mich wahrscheinlich damit zufriedengeben, die Fortschritte zu bewundern,
die andere in der Wissenschaft machen.“
"Jedes Leiden verursacht Depressionen, wenn
es nur lange genug anhält. Doch es macht
auch wachsam gegenüber großem und
plötzlichem Übel.“
Charles Robert Darwin (* 12. Februar 1809
in Shrewsbury; † 19. April 1882 in Downe)
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Zeitalter der Depression
Der evolutionäre Sinn der Depression
Paul Andrews von der Virginia
Commonwealth University in Richmond
J. Anderson Thomson, Jr.,
University of Virginia in
Charlottesville
Thomson und Andrews stellten sich die Frage, ob ein
paar Monate noch so sinnlos scheinender innerer Monologe nicht am Ende auch ihr Gutes haben können.
Vielleicht hilft der von Selbstekel begleitete Trauerprozess, Beziehungsmuster zu überdenken und soziales Verhalten neu zu definieren. "Es schien uns nicht
logisch, dass das Gehirn ausgerechnet dann versagt,
wenn es am meisten gebraucht wird", sagt Andrews.
"Vielleicht sucht es nur besonders konsequent nach
einem Ausweg.„
"Wenn es die Depression nicht gäbe, würden wir
Lebenskrisen weniger gut meistern."
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Zeitalter der Depression
Was könnte insgesamt die Lehre aus diesen Beobachtungen sein?
Therapeutisch käme es im Zweifelsfall darauf an, den Patienten dahin zu bringen, dass er sein Leiden akzeptiert. Dass er den Grundton
der Verzweiflung annimmt und vielleicht sogar begrüßt, weil er den
Weg frei macht für ein geändertes, besseres Leben nach der Depression.
Eines muss man dennoch einräumen: Dass eine Depression einem
Zweck dienen kann, dass Trauer uns möglicherweise schlauer macht,
nimmt beidem nicht die Schwärze und den Schrecken. Auch ein Fieber kann hilfreich sein - trotzdem bekämpfen wir es mit Pillen.
Man kann darin ein weiteres Paradox der Evolution sehen: Selbst
wenn tiefer Schmerz uns auf Dauer weiterhilft, bleibt die instinktive
Flucht vor ihm doch der stärkste Impuls, den wir kennen.
Jonah Lehrer: Depression‘s Upside. In: The New York Times Magazine vom 25. Februar 2010
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Auf dem Weg zur Selbstsorge …
Sebastian Deisler im Interview mit
dem Tagesspiegel vom 4.10.2007:
„Ich bin zu der Erkenntnis gelangt,
dass ich so, wie alles gelaufen ist,
nicht geschaffen war für dieses Geschäft. Am Ende war ich leer, ich
war alt, ich war müde. Ich bin so
weit gelaufen, wie mich meine
Beine getragen haben, mehr ging
nicht.
Ich möchte jetzt ein Leben führen,
das ich allein bestimme“.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Was folgt aus der Analyse?
1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Gesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr
problemlos auf kulturell abgesicherte biographische
Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken
ungeheuere Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung
des Scheiterns. Die Zunahme der Depression verweist auf
dieses Risiko. Sie ist aber nicht ein „Fluch der Freiheit“,
sondern verweist auf einen Mangel im „Handwerk der
Freiheit“.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Was folgt aus der Analyse?
2. Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Menschenbildannahmen . Die Figur des „unternehmerischen Selbst“ ist auf den kritischen Prüfstand zu stellen.
Sie verweist auf ein neoliberales Menschenbildes, das eine
maximierte Selbstkontrolle als Fortschritt anpreist. Ausbeutung und Entfremdung wird zunehmend weniger als
fremd gesetzter Zwang von Menschen erlebt, sondern wird
mehr und mehr zu einer Selbsttechnologie, zu einer Selbstdressur, die allerdings in den Ideologien des Neoliberalismus
in einem Freiheits- oder Autonomiediskurs daher kommt.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Was folgt aus der Analyse?
3. Selbstsorge ist notwendig, aber die darf sich
nicht in individualisierten Überlebensstrategien erschöpfen, die die eigene „Fitness“
steigern. Im Sinne der Salutogenese geht es
um die Erarbeitung von sinnhaften Bewältigungsmustern und um die Stärkung von
Widerstandsressourcen.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Aaron Antonovsky 1923 - 1994
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben
gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal
unterworfen ist.
Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung:
Meine Welt erscheint mir verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren
Zusammenhang sehen (Verstehbarkeit).
Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über
Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen
Probleme mobilisieren kann (Handhabbarkeit).
Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele
und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Bedeutsamkeit).
Kohärenzfördernd sind die Widerstandsressourcen: Individuelle,
soziale, gesellschaftliche und kulturelle Ressourcen.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Generalisierte Widerstandsressourcen und Resilienzfaktoren
• Im Individuum: organisch-konstitutionelle Widerstandsressourcen,
Intelligenz, Bildung, Bewältigungsstrategien und Ich-Stärke, emotionale Sicherheit, Selbstvertrauen.
• Im sozialen Nahraum: Sozialen Beziehungen, Netzwerke, Verortung,
Vertrauen und Anerkennung, zivilgesellschaftlichem Engagement.
• Auf gesellschaftlicher Ebene: Anerkennung über die Teilhabe an
gesellschaftlich relevanten Ressourcen (Verfügbarkeit über Geld,
Arbeit, Wohnung….).
• Auf der kulturellen Ebene: Zugang zu kulturellem Kapital im Sinne
tragfähiger Wertorientierungen (bezogen aus philosophischen,
politischen, religiösen oder ästhetischen Quellen).
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
• Auf salutogenetischer Grundlage gibt es neue
Angebote, die Freude an der eigenen Tätigkeit
wieder zu gewinnen und das auf der Basis gelungener Selbstsorge.
• Ein Beispiel ist das Burnon-Zentrum in Düsseldorf, das Menschen helfen will, wieder Feuer
und Flamme zu spüren.
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Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Was folgt aus der Analyse?
4. Eine Strategie der universellen oder Verhältnisprävention muss
letztlich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zielen
und dazu ist nicht nur die professionelle Arbeitsgestaltung
gefragt, sondern die aktive Beteiligung der Betroffenen,
denen bewusst ist, dass individuelle Selbstsorge nur im Rahmen kollektiver Interessenvertretung (z.B. in Selbsthilfegruppen, Netzwerken, Gewerkschaften, Attac) möglich ist.
Und es ist dringend notwendig, neue Formen des Arbeitsschutzes
zu entwickeln, die wirksame Antworten auf die wachsenden
psychischen Belastungen und Störungen in der Arbeitswelt
bilden.
Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «
Depression und Gesellschaft: Das erschöpfte Selbst
Herzlichen Dank für
ihre Aufmerksamkeit
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