Machtstrukturen und Identität- Zum Erinnern und Verdrängen im Roman Schlesisches Wetter (2003) von Olaf Müller Inhaltsverzeichnis Seite 1.Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung.................................5 2.Methodologischer Ansatz und Forschungsstand...................................7 2.1 Erinnerungskulturen als Forschungsbereich..........................................................7 2.2 Erinnern vs. Verdrängen........................................................................................8 2.3 Gedächtniskonzeptionen nach Aleida und Jan Assmann......................................9 2.3.1 Das kommunikative und kulturelle Gedächtnis.......................................10 2.3.2 Zwei Modi des kulturellen Gedächtnisses...............................................11 2.4 Konzepte des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs...................12 2.4.1 Gedächtnis und soziale Gedächtnisrahmen.............................................13 2.4.2 Generationengedächtnis...........................................................................14 2.5 Die Kultur als Medium des kollektiven Gedächtnisses.......................................14 2.6 Die Erinnerungsorte nach Pierre Nora.................................................................15 2.7Der Begriff ‚Stereotyp’ in kritischer Sicht...........................................................17 2.7.1Heimat und Heimatlosigkeit....................................................................18 2.7.2 Tabuisierung und Ideologisierung von ‚Heimat’....................................19 2.8 Erzwungene Mobilitäten nach dem zweiten Weltkrieg......................................21 2.9 Literatur in narratologischer Perspektive............................................................24 2.9.1 Zur Erzähltheorie .......................................................................................24 2.9.2 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten......................25 3. Erinnern und Verdrängen in Schlesisches Wetter von Olaf Müller.28 3.1 Die Polenwahrnehmung in der deutschen Literatur - „Schlesisches Wetter“ von Olaf Müller..................................................................................................28 3.1.1 Alexander Schynoski als Erzählfigur- zur Deutschen Polenwahrnehmung..........................................................................................29 2 3.2 Figuren und Figurenkonstellationen...................................................................31 3.2.1 Aleksander Schynoskis Denken, Fühlen, Handeln...................................32 3.2.2 Familie Schynoski- zur Geschichte der Vertreibung und des Heimatsverlusts................................................................................................33 3.2.2 Figuren und ihr soziales Umfeld- zur geschlossenen Gesellschaft der DDR..................................................................................................................36 3.3 Die motivationale Verkettung von Ereignissen in narratologischen Texten........................................................................................................................38 3.3.1 Motivierung von Ereignissen in Schlesisches Wetter von Olaf Müller..................................................................................................................40 3.4 Raumentwurf......................................................................................................41 3.4.1 Räumliche Ordnung in Olaf Müllers Schlesisches Wetter...................................................................................................................42 3.5 Erzählinstanz......................................................................................................46 3.6 Zeitlicher Situations- und Ereignisrahmen........................................................48 3.5 Fazit...................................................................................................................49 4. Zusammenfassung................................................................................50 5. Praktischer Teil- Didaktisierungsvorschläge.....................................52 5.1 Didaktisierungsvorschlag Nr 1........................................................................52 5.2 Didaktisierungsvorchlag Nr 2..........................................................................63 6. Literatur................................................................................................71 6.1 Primärliteratur...............................................................................................71 6.2 Sekundärliteratur........................................................................................71 6.3 Internetquellen............................................................................................73 3 1. Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung In den letzten Jahren beobachtet man nicht nur im wissenschaftlichen Bereich ein wachsendes Interrese an den Gedächtnis- und Erinnerungskulturen. Auch in der Gegenwartsliteratur wird das Verhältnis zwischen dem Gedächtnis, der Erinnerung und der kollektiven Identität aufgenommen. In der vorliegenden Diplomarbeit wird am Beispiel des Romanes Schlesisches Wetter von Olaf Müller auf den Zusammenhang zwischen Literatur und Erinnerungskulturen hingewiesen. Die Erforschung der einzelnen Erinnerungskulturen ermöglicht die geschichtlichen Ereignisse zu vergegenwärtigen, was einen großen Einfluss auf das heutige Leben hat. Gerade das Vergangene gestaltet das Bewusstsein der Menschen sowohl als Individuum als auch als Kollektiv. Das Gedächtnis des Individuums, in dem sich die Erinnerungen verankern, ist aber nicht konstant, sondern hat einen dynamischen Charakter. Das Erinnern und Verdrängen hängt im großen Anmaß von den sozialpolitischen Faktoren ab. Nicht zuletzt werden durch die Machtstrukturen in der geschlossenen Gesellschaft bestimmte Phänomene aus der Vergangenheit tabuisiert oder verfälscht. Die Schriftsteller fühlen sich selbst dafür zuständig, diese sozialpolitischen Verhältnisse zu analysieren und Bestehendes zu verändern. Von daher sind die literarischen Texte als Gedächtnismedium besonders geeignet. Olaf Müller, der Vertreter der neuen Autorengeneration in Deutschland versucht in seinem Roman die Nachkriegszeit zu vergegenwärtigen. Die Einbettung der Geschichtserfahrungen von den fiktiven Figuren im Kontext des zweiten Weltkrieges schafft dem Autor eine Möglichkeit, die damaligen Ereignisse aus der Perspektive der Gegenwart aufzuarbeiten. Diese Vergegenwärtigung bassiert vor allem auf den generationenspezifischen Erinnerungen und Erfahrungen der Zeutzeugen, die typische Ereignisse aus der Vergangenheit wiedergeben. An dieser Stelle sollte man überlegen, 4 wie großen Einfluss die narrativen Texte auf das Bewusstsein der Gesellschaftsgruppen der einzelnen Nationen hat. In erster Linie wird damit der Bezug auf den Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen an der Justus-Liebig-Universität Gießen genommen, in dem die Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen die kulturellen Erinnerungen sowohl diachron als auch synkron erforscht haben. Weil die Erinnerungskulturen im engen Zusammenhang zu dem Gedächtnis stehen, werden hiermit aktuelle Gedächtniskonzeptionen von Jan und Aleida Assmann, Piere Nora, Maurice Halbwachs und Aby Warburg erläutert. Die Thematik des Romanes ist umfangreich. Sie betrifft die Frage der Vertreibung und des Heimatverlusts sowie die deutsch-polnischen Beziehungen in Hinsicht auf die gegenseitigen stereotypen Vorstellungen. Bei der Analyse des literarischen Textes wird aber nicht nur auf den Inhalt des Romanes aufmerksam gemacht. Dabei wird auch die Art und Weise der Vermittlung berücksichtigt. Hiermit legt die vorliegende Diplomarbeit einen besonderen Nachdruck auf folgende Aspekte des narrativen Textes: die Erzählinstanz, Figuren und ihr soziales Umfeld, die Raumsemantik und die Zeitgestaltung. Die Berücksichtigung des Unterschieds zwischen dem Was und dem Wie ermöglicht korrekte Analyse des literarischen Textes. 5 2. Methodologischer Ansatz und Forschungsstand 2.1 Erinnerungskulturen als Forschungsbereich. Die Erinnerung und das Gedächtnis wurden zum Forschungsziel vieler kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Unter anderem beschäftigten sich damit Historiker, Germanisten, Anglisten, Orientalisten, Philosophen, Politologen, Soziologen und Kunsthistoriker. Die Vertreter aller dieser Disziplinen vereinigten sich und entwickelten einen Sonderforschungsbereich. Das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderte Konzept entstand im Jahr 1997 an der JustusLiebig-Universität Gießen. Dieses Konzept betraf das Thema der Erinnerungskulturen. Das Hauptziel der Forschungen war „[...] >> eine konsequente Historisierung der Kategorie der historischen Erinnerung“1. Damit wird die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen2 gemeint. Dies geschieht auf zwei Ebenen. Einerseits werden die Inhalte und Formen kulltureller Erinnerung diachron untersucht, d.h. im Laufe der Zeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Andererseits werden hier bestimmte Phänomene parallel zu der Gegenwart besprochen. Wie schon der Begriff selbst suggeriert, ist die Erinnerungskultur nicht homogen sondern heterogen. Es ist „[..] nicht nur in einem kumulativen, sondern in einem theoretisch reflektierten Sinn von Erinnerungskulturen die Rede“3. Dem zufolge hat man mit verschiedenen Erinnerungskulturen zu tun, je nachdem welche Vergangenheitsbezüge in Betracht gezogen werden, z.B. religiöse Erinnerungskulturen der römischen Antike, adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters, protestantische Erinnerungskulturen, deutsch- 1 Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39 (hier S. 34). 2 Vgl., ebd., S. 35. 3 Ebd., S. 34. 6 judische Erinnerungskulturen, Krieg und Erinnerung im 19. Jahrhundert, russische und islamische Erinnerungskulturen der Gegenwart4. Grundsätzlich kann man vier Arten der Erinnerungskulturen unterscheiden: 1. universale Erinnerungskulturen- ( z.B. die Kulturen der alten Griechen und Römer). 2. partikulare Erinnerungskulturen- (die Kulturen, die nur für bestimmte Gruppen oder Gesellschaften charakteristisch sind). 3. komplementäre Erinnerungskulturen als sich gegenseitig ergänzende Kulturen. 4. konkurierende Erinnerungskulturen, wenn zwei Erinnerungskulturen synchron zu einem gleichen Ereignis andere Stellungen nehmen. Das Konzept des Gießener Sonderforschungsbereichs ist von dem Assmann'schen Modell des kulturellen Gedächtnisses zu unterscheiden. Das kulturelle Gedächtnis definiert man Assmann zufolge als ein statisches und überhistoriches Phänomen. Im Gegensatz dazu geht der SFB davon aus, dass das kulturelle Gedächtnis keine statische Größe ist, sondern einem ständischen Wandel unterworfen ist. Dank der Erinnerung hat der Mensch als Individuum einen großen Einfluss auf die Form des kollektiven Gedächtnisses. Diese Form ändert sich, je nachdem in welchen Rahmenbedingungen es erinnert wird. Als eine der bedeutesten Faktoren, die die Form des kulturellen Gedächtnisses bestimmen, gilt die Gesellschaftsformation. Man kann eine offene oder eine geschloßene Gesellschaftsformation unterscheiden. 2.2 Erinnern vs. Verdrängen Die Erinnerung definiert man als eine Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern 5. Dieser Akt ist dynamisch, kreativ und prozesshaft, d.h. dank der Erinnerung wird die Form des Gedächtnisses kreirt. Sie hat einen großen Einfluss darauf, welche Gestalt das Gedächtnis einer Gruppe oder einer Nation annimmt. An erster Stelle muss es aber darauf hingewiesen werden, dass man sich nur an diese Personen, Gegenstände und Ereignisse erinnern kann, die sich ins Gedächtnis tief eingeprägt haben. Hier spielt also die Relevanz der Inhalte eine Rolle. Manche Inhalte verschwinden aus dem Gedächtnis, weil sie mit der Zeit ihre Bedeutung verlieren. Die Erinnerung an die Vergangenheit hat 4 5 Vgl., ebd., s. 36. Vgl., Duden, Mannheim 2007. 7 konkrete Dimensionen. Dies bedeutet, dass nicht alle Details wachgerufen werden, sondern nur bestimmte Fragmente, die selektiv ausgewählt werden. „Kein Sinn und keine Logik hält sie zusammen, [...]“6. Die Erinnerung hat einen subjektiven Charakter. Diese Ereignisse, die für eine Person wichtig sind, können zugleich für die anderen wertlos sein. Einige Inhalte, die alle Mitglieder einer Gruppe betreffen, können identitätstiftend wirken. Die Erinnerung eines Mitgliedes wird sich aber von den anderen wesentlich unterscheiden. Jeder Mensch sammelt doch eigene Erfahrungen und nimmt die Realität auf andere Art und Weise wahr. Von Bedeutung ist die Tatsache, dass die Erinnerung die Substanz des Lebens ist, denn sie kreirt die Persönlichkeit des Menschen und weckt das Gefühl der Sicherheit. Diese Wichtigkeit wiederspiegeln am besten die Worte von Gabriel García Márquez: „Das Leben ist nicht das, was man erlebt hat, sondern an was man sich erinnert“7. Trotzdem muss es hier gesagt werden, dass die Erlebnisse im gewissen Grade das Gedächtnis beeinflußen. Darunter versteht man vor allem diese Erlebnisse, die bedrängt und unangenehm sind. Diese werden unbewußt aus dem Gedächtnis verdrängt. Die Deaktivierung bestimmter Inhalte kann durch verschiedene Faktoren verursacht werden. Die Erfahrungen, die die Leute während des zweiten Weltkrieges und kurz danach gesammelt haben, hatten einen großen Einfluss auf ihre Psyche. Viele von ihnen weigern sich heutzutage, dieses heikle Thema zu berühren. Obwohl die Frage der Vertreibung der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr ein Tabuthema ist, ruft sie sowohl in Deutschland als auch in Polen eine negative Konnotation hervor. Es gibt immer weniger Zeuge, die dieses, wie die Deutschen sagen, Verbrechen gegen der Menschheit am eigenen Leib erfahren haben. Die Erinnerung an diese Zeit sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, denn sie gilt als eine Mahnung für die nachfolgenden Generationen. 2.3 Gedächtniskonzeptionen von Aleida und Jan Assmann Zu den wichtigsten Forschern des Gedächtnisdiskurses gehören Aleida und Jan Assmann, die sich seit den 1980er Jahren innerhalb des deutschsprachigen Raums mit dem Begriff „das kulturelle Gedächtnis“ auseinandersetzen. Jan Assmann, Professor der Egyptologie, hat zwei Begriffe geprägt: das kulturelle Gedächtnis und das kommunikative Gedächtnis. Aleida Assmann dagegen befasst sich mit dem Gedächtnis 6 7 Stasiuk, Andrzej: Erinnerung. In: In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 2/2001, S. 6-10 (hier S. 6). Ebd., S. 10. 8 als ars und vis. Hier muss man zwei Begriffe erwähnen: das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis. Die Basis der Assmann'schen Theorie ist die Verbindung von Kultur und Gedächtnis8. Jan Assmann macht in seinem Diskurs auf drei Aspekte aufmerksam, die im engen Zusammenhang zueinander stehen, d.h.: kulturelle Erinnerung, kollektive Identitätbildung und politische Legitimierung. Das kullturelle Gedächtnis gestaltet sich Assmann zufolge in Abhängigkeit von Machtstrukturen, Gesellschaftformationen und Erinnerungsbedürfnissen. Je nachdem welche Inhalte zirkuliert werden, ändert sich das kulturelle Gedächtnis, das wieterhin die Identitätsbildung beeinflußt. Daraus ergibt sich, dass das kulturelle Gedächtnis prozesshaftig ist und Veränderungen unterworfen ist. 2.3.1 Das kulturelle und kommunikative Gedächtnis Jan Assmann kommt in seinem Konzept zu dem Schluss, dass das kollektive Gedächtnis auf zwei Ebenen betrachtet werden kann, die voneinander zu unterscheiden sind. Einerseits ist das kollektive Gedächtnis auf die Alltagskommunikation bezogen, andererseits basiert es auf symbolträchtige kullturelle Objektivationen9. Deshalb spricht er von zwei Gedächtnis-Rahmen, für die andere Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger charakteristisch sind. Das kommunikative Gedächtnis wird durch die Alltagsinteraktionen realisiert. Die Geschichtserfahrungen, die als Gegenstand der Kommunikation gelten, werden mündlich überliefert. Aufgrund dessen stellt Assmann fest, dass das kommunikative Gedächtnis im Bereich der Oral History funktioniert. Hier sieht man die Ähnlichkeit zu dem Konzept des Generationengedächtnisses von Maurice Halbwachs. Weil die Träger des kommunikativen Gedächtnisses die Zeitzeugen sind, ist der Zeithorizont begränzt und dauert von etwa 80 bis 100 Jahren. Das betrifft also drei bis vier Generationen. Die Form der Überlieferung ist chaotisch und hängt von der Erinnerung ab. Die Inhalte, die in Folge der Alltagskommunikation ausgetauscht werden, betreffen persönliche Erfahrungen der Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft. Weil sich die Erinnerung in Abhängigkeit von der politischen Machtstrukturen und Sozialformen gestaltet, verändert sich ständig das kommunikative Gedächtnis. Die Inhalte, die da kommuniziert 8 9 Vgl. Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39 (hier: S. 27) Vgl., ebd., S: 27. 9 werden, haben eher private Dimension. Angesichts dessen wird es ihnen keine feste Bedeutung zugeschrieben. Dies bedeutet, dass die Inhalte allgemein verbindlich sein können, auch für die nachfolgenden Generationen. Die gemeinsame Vergangenheit, die aus mehreren individuellen Biographien besteht, kann von allen Zeitgenossen mitreflektiert werden. Das kurturelle Gedächtnis, im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, bezieht sich nicht auf den Alltag, sondern markiert eine viel breitere Zeitspanne. Es reicht in eine absolute Vergangenheit. Das Erinnerte wird in Form von Mythen und Legenden gespeichert und an kulturelle Objektivationen weitertransportiert. Die Inhalte werden traditionell durch Wort, Bild und Tanz kodiert. Sie beinhalten mythische Urgeschichten, wie z. B. Heldengeschichte über Kampf um Troja oder der Auszug aus Ägypten. Das kulturelle Gedächtnis ist geordnet und verbindet sich mit einer Zeremonie. Nicht alle sind für die Interpretation und Vermittlung des Erinnerten geeignet. Als Träger des kulturellen Gedächtnisses gelten nur diese Leute, die dazu ausgebildet werden, z.B. Priester, Schamanen, Archivare, Professoren oder Journalisten. Die Texte, Bilder und Riten, die in Rahmen dieser Gedächtnisform wietergegeben werden, spielen in der bestimmten Gemeinschaft, Gesellschaft, Epoche eine sehr wichtige Rolle. Sie sind für das Selbstbild einer Gruppe, Gesellschaft von Bedeutung. Darüber hinaus entwickelt sich durch diese Inhalte das Bewusstsein von Einheit und Eigenheit der Gemeinschaft. Sie haben also einen großen Einfluss auf die Identitätsbildung. Im Konzept von Assmann wird auch festgestellt, dass zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis eine Lücke entsteht, die als ‚ floating gap’10 genannt wird. Dieser Begriff hat der Ethnologe Jan Vansina eingeführt. Assmann weist darauf hin, dass diese Lücke den Unterschied zwischen der lebendigen Erinnerung des Alltags und der, die in der Öffentlichkeit funktioniert, wiederspiegelt. 2.3.2 Zwei Modi des kulturellen Gedächtnisses Aleida Assmann konzentrierte sich in ihrem Buch „Erinnerungsräume” darauf, wie das kulturelle Gedächtnis in der Neuzeit geformt wird und ob es den Wandlungen unterliegt. Wenn man davon ausgeht, das das Gedächtnis ein heterogenes und 10 Vgl., ebd., S: 28. 10 dynamisches Phänomen ist, so kann man zwei Gedächtnispraktiken unterscheiden: Gedenken und Erinnern. Die Anglistin stützte sich in ihrer Arbeit auf zwei Begriffe, die schon in der Antike eingeprägt worden sind. Es geht hier um zwei Vorstellungen vom Gedächtnis: als ars und als vis. „Das Gedächtnis als "ars" bezieht sich auf "Verfahren der Speicherung" nach topographischem, also räumlichem Vorbild, das eine identische Rückholung des Gespeicherten garantieren soll“11. Nach diesem Konzept wird das Gedächtnis als ein Wissensspeicher definiert, in dem verschiedene Daten, Fakten, Ereignisse verankert werden. Es entsteht dadurch eine Möglichkeit, nach bestimmten Informationen zurückzugreifen. Nicht alle Daten werden aber aktiviert. Manche werden vergessen, weil sie nicht so relevant sind. Die zweite Memorialfunktion ist mit einer antropologischen Kraft12 verbunden. Darunter versteht man eine "Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten"13. Das Gedächtnis hat also einen prozesshaften Charakter. Aleida Assmann geht in ihrer Überlegungen weiter und unterscheidet zwei Modi, in denen das Gedächtnis funktioniert, d.h. das „bewohnte Funktionsgedächtnis" und das "unbewohnte Speichergedächtnis". Diese zwei begriffe sind voneinander zu unterscheiden. Das Speichergedächtnis gilt als „[...] das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen“14. Hier werden alle lebendige Erinnerungen gespeichert, die aber unbrauchtbar sind. Die Inhalte, die in diesem Modus funktionieren, können potentiell aufgenommen werden. Wenn es dazu kommt, werden sie in das Funktionsgedächtnis transportiert, d.h. aktiviert. Daraus ergibt sich, dass die Grenze zwischen dem Speichergedächtnis und dem Funktionsgedächtnis durchlässig ist. Es entsteht ein "Binnenverkehr zwischen aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen"15. 2.4 Konzepte des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs 11 Matussek, Peter: Erinnerung und Gedächtnis, unter: www.peter---matussek.de/pub/A32.html/ Zugriff am:10.02.2009. 12 Vgl. Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 31. 13 Matussek, Peter: Erinnerung und Gedächtnis, unter: www.peter---matussek.de/pub/A32.html/ Zugriff am:10.02.2009. 14 Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 31). 15 Langthaler, Ernst: Geschichte(n) über Geschichte(n).Historisch-anthropologische Feldforschung als reflexiver Prozess, unter: www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/707/1532/Zugriff am:10.02.2009. 11 Das Gedächtnis und die Erinnerung wurden zum Forschungsziel vieler Wissenschaftler. Zu den wichtigsten Forschern, die sich mit diesen Themen befasst haben, gehört der französische Soziologe, Maurice Halbwachs. Über 20 Jahre seines Lebens beschäftigt er sich mit dem kollektiven Gedächtnis und seinen sozialen Bediengungen. Halbwachs hat drei Schriften darüber verfasst, aus denen eine erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Gerade in diesen Werken entwickelte er zwei Begriffe, die bis heute auf den Gedächtnisdiskurs einen großen Einfluss haben, d.h. mémoire collective (das kollektive Gedächtnis) und cadres sociaux (die sozialen Bezugsrahmen des Gedächtnisses). Im Konzept von Halbwachs unterscheidet man drei Untersuchungsbereiche: Das kollektive Gedächtnis im Sinne des sozialgeprägten individuellen Gedächtnisses. Das Generationengedächtnis als eine Form der kollektiven Vergangenheitsbildung. Das kollektive Gedächtnis im Sinne der Tradierung des kulturellen Wissens. 2.4.1 Gedächtnis und soziale Gedächtnisrahmen Nach dem Verständnis von Halbwachs stehen das individuelle und das kollektive Gedächtnis in einer Wechselbeziehung zueinander. Dies bedeutet, dass das kollektive Gedächtnis nichts anders als ein individuelles Gedächtnis ist, das von den sozialen Faktoren bedingt ist. Halbwachs geht davon aus, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Dem zufolge braucht er ein soziokulturelles Umfeld. Ohne die Interaktion und die Kommunikation mit den anderen Mitmenschen hätte er keinen Zugang zu kollektiven Phänomenen wie Sprache und Sitten: „[...] jedes individuelle Gedächtnis ist ein <Ausblickspunkt> auf das kollektive Gedächtnis“16. Diesen <Ausblickspunkt> versteht man als einen Standort, in dem das Individuum von seiner Sozialisation und von der kulturellen Prägung beeinflußt wird. Diese soziokulturelle Prägung wird auf der materiellen, mentalen und sozialen Ebene realisiert. „Das Individuum erinnert sich, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich 16 Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 16. 12 verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen“17. Angesichts dessen ist das kollektive Gedächtnis nicht eine Instanz, die von Individuen unabhängig egsistiert, sondern wird durch die Teilnahme des Individuums am sozialen Leben und durch die Erfahrungen, die es im Kreis anderer Menschen sammelt, konstituiert. Der Prozess der Sozialisation geschieht aber nicht in einer Gruppe, sondern in verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften. Sie efüllen eine sehr wichtige Rolle, „[...] denn ohne sie können Sinnwelten weder entstehen noch weitergegeben werden“18. Die Wahrnehmung des Individuums und seine Erinnerungen hängen davon ab, in welchem Milieu der Mensch funktioniert. Daraus ergibt sich, dass die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses gruppenspezifisch sind. 2.4.2 Das Generationengedächtnis Der Mensch als Individuum funktioniert in bestimmten Gruppen, deswegen unterscheidet man Halbwachs zufolge verschiedene Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses19. Zu diesen sozialen Umfeldern, in denen das Individuum existiert, gehört die Familie. „Das Familiengedächtnis ist ein typisches intergenerationelles Gedächtnis“20. Das Wort ‚intergenerationell’ verweist darauf, dass die einzelnen Mitglieder der Familie verschiedenen Generationen angehören. Weil Familienangehörige einen bestimmten Erfahrungshorizont teilen, sind sie als Träger des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet. Im Kreis der Familie kommt es zum „[...] Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen“21. Dieser Austausch wird auf zwei Ebenen realisiert. Einerseits konstituiert sich das Generationengedächtnis dadurch, dass die Familienmitglieder in Interaktionen miteinander treten. Darunter versteht man gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen22. Andererseits wird das Familiengedächtnis durch die Kommunikation kreiert. Bei der Kommunikation werden vor allem die individuell-autobiografischen Erinnerungen an vergangene Ereignisse aus der Familiengeschichte hervorgerufent. Durch diese Partizipation kann man auch davon erfahren, was man am eigenen Leib 17 Ebd., S. 16. Ebd., S. 15. 19 Vgl., ebd., S. 16. 20 Ebd., S. 16. 21 Ebd., S. 16. 22 Vgl., ebd., S. 16. 18 13 nicht erlebt hat. Bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass das Generationengedächtnis nur so weit reicht, wie die Erinnerungen der ältesten Mitglieder zurückgreifen. 2.5 Die Kultur als Medium des kollektiven Gedächtnisses Die Studien von Aby Warburg sind Teil einer interdisziplinärorientierten Arbeit an dem kollektiven Gedächtnis. Obwohl sein Konzept in den 20er Jahren entstanden ist, hat es bis heute einen großen Einfluss auf den Gedächtnisdiskurs. An der ersten Stelle muss aber darauf hingewiesen werden, dass seine Überlegungen sich wesentlich von den anderen unterscheiden. Aby Warburg geht davon aus, dass das zentrale Medium des kollektiven Gedächtnisses nicht wie bei Halbwachs die mündliche Rede ist. Er setzt sich lieber für die materielle Dimension der Kultur ein. Da „[...] Kultur und ihre Überlieferung Produkte menschlicher Tätigkeit[...]“23 sind, stellte Warburg das Kunstwerk als ein zentraler Träger des kollektiven Gedächtnisses in den Vordergrund. Die Kunst hinterlässt seiner Meinung nach bestimmte, geistige Spuren, die er kulturelle Engramme oder Dynamogramme nannte. Das Kunstwerk existiert unabhängig von dem Raum und kann lange Zeiten überdauern. Dem zufolge kann man also sagen, dass die <mnemische Energie> speichernde Kunst in bestimmten Elementen in den nachfolgenden Epochen und in verschiedenen Kulturräumen wiederaufgenommen werden kann. Als Beispiel für diese wiederkehrende künstlerische Formen gelten die antiken Vorbilder, die in den Kunstwerken der Renaissancekünstler wiederauftauchen. Aufgrund dessen entwickelte Warburg einen Begriff: Pathosformeln. Sie haben einen symbolischen Charakter und wiederspiegeln leidenschaftliche Erregung in Gebärde oder Physiognomie24. Die Pathosformeln können sich also einerseits auf den menschlichen Ausdruck beziehen, andererseits können sie mit dem Denken, Fühlen oder Handeln im Zusammenhang stehen. 2.6 Die Erinnerungsorte nach Pierre Nora Das Konzept von Pierre Nora hat im Vergleich zu den Konzepten von Halbwachs und Warburg eine ganz andere Dimension. Der Unterschied besteht hier darin, dass die Arbeiten von Halbwachs und Warburg in einem völlig anderen Zeitraum entstanden 23 24 Ebd., S. 21. Vgl., ebd., S. 19. 14 sind, nähmlich in den 20er und 30er Jahren. Ihr Bezugspunkt griff auf das 19. Jahrhundert, also auf das Jahrhundert der Nationalstaaten zurück. Pierre Nora äußerte sich zu dem Thema des kollektiven Gedächtnisses erst 50 Jahre später. Dem zufolge war sein Ausgangspunkt völlig anders. Das von Nora entwickelte Konzept wurde durch die postmoderne Realität geprägt. In dieser Zeit beobachtet man in vielen europäischen Ländern die Tendenz, dass man langsam von der Nationalstaatlichkeit abweicht zugunsten der Idee des gemeinsamen Europas. Pierre Nora stellte in seinem Konzept die These, dass es heutzutage kein einheitliches kollektives Gedächtnis gibt, das identitätsstiftend wirken würde. Die Ursache dessen liegt daran, dass die Struktur der heutigen Gesellschaften nicht einheitlich ist. Als Beispiel gilt für ihn sein eigenes Land. Die französische Gesellschaft ist eine multinationale Gesellschaft, in der es viele Leute mit dem Migrationshintergrund gibt. Deren Vorfahren kommen aus anderen Kulturkreisen. Pierre Nora operiert deswegen in seiner Arbeit lieber mit dem Begriff: die Erinnerungsorte. Dies versteht man als loci im Sinne der antiken Mnemotechnik, „[...] die die Erinnerungsbilder der französischen Nation aufrufen“25. Als diese französischen Erinnerungsorte können Nora zufolge geographische Orte, Gebäude, Denkmäler, Kunstwerke aber auch historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen26 gelten. Diese Erinnerungsorte erfüllen eine bestimmte Funktion. Sie sind „[...] eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive Gedächtnis“27. Nach dem Verständnis von Nora kann man also über bestimmte Erinnerungsorte an die Vergangenheit anschließen. Hier muss aber daran hingewiesen werden, dass nicht jedes Kulturphänomen als ein Erinnerungsort gelten kann. Nora geht davon aus, dass die Erinnerungsorte drei Bedingungen erfüllen müssen: 1. Materielle Dimension: Hier geht es darum, dass die kulturellen Objektivationen nicht unbedingt fassbare Gegenstände wie Gebäude, Denkmäler oder Kunstwerke sein müssen. Alle Kulturphänomene, die als ein „materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“28 gelten, können als Erinnerungsorte betrachtet werden. 25 Ebd., S. 23. Vgl., ebd., S. 23. 27 Ebd., S. 23. 28 Ebd., S. 24. 26 15 2. Funktionale Dimension: Die Objektivationen müssen zu einem bestimmten Zweck dienen. Durch diese Erinnerungsorte sollte bei dem Empfänger eine Erinnerung wachgerufen werden. So eine Funktion erfüllt zum Beispiel die Schweigeminute. 3. Symbolische Dimension: Die kulturellen Objektivationen sollten auch einen symbolischen Charakter haben. Hier könnte man rituale Handlungen oder Orte mit einer <<bestimmten Aura>>29 nennen. Es muss aber noch dazu hinzugefügt werden, dass man nur dann mit dem Erinnerungsort zu tun hat, wenn er (egal ob material, sozial oder mental) „[...] auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in Zusammenhang mit Vergangenheit oder nationaler Identität gebracht wird“. 2.7 Der Begriff ‚Stereotyp’ in kritischer Sicht Der Begriff „ Stereotyp” kann auf verschiedene Art und Weise definiert werden und sowohl positiv als auch negativ betrachtet werden. Das Wort ‚Stereotyp’ ist von dem Grichieschen abgeleitet worden: stéreo= starr, fest und týpos= Schlag; Eindruck; Muster, Modell. Die einfachste Definition dieses Wortes lautet dem entsprechend: mit gegossenen feststehenden Typen gedruckt30. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Arbeit an diesem Phänomen interdisziplinär ist. Dieses Wort taucht in verschiedenen Fachrichtungen wie Soziologie, Psychologie und Linquistik auf. Zu den ersten Forschern, die sich mit dem Begriff ‚Stereotyp’ auseinandergesetzt haben, gehört Walter Lipmann, der amerikanische Publizist und Soziologe. Er führte die Theorie der öffentlichen Meinung ein. Lipmann geht in seinem Konzept davon aus, dass der Mensch nicht alles am eigenen Leib erfahren kann, deshalb muss er verallgemeinern und klassifizieren. Der Prozess der Bildung von Stereotypen ist demzufolge mit einer ‚Ökonomie des Denkens’31 verbunden. Die Stereotype kann man mit den Bildern vergleichen, die in den Köpfen der Menschen entstehen. Darunter versteht man bestimmte Vorstellungen, die alle Lebens- und Themenbereiche durchziehen. Die können entweder eigene Gruppe (z.B. Nation) betreffen oder sich auf eine fremde Gruppe beziehen. Von daher unterscheidet man Autostereotype (Stereotype 29 Vgl., ebd., S. 24. Vgl., Duden, Mannheim 2007. 31 Vgl. Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch-Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur. In: Kolago, Lech (Hg.): Studia niemcoznawcze, tom XXXVI, Warszawa 2007, S. 195-211 (hier S. 196). 30 16 über das Eigene) und Heterostereotype (Stereotype über das Fremde). In Überlegungen von Ansgar Nünning wird das Stereotyp als eine „(zumeinst unbewußte) kognitive Strategie der selektiven Wahrnehmung und Komplexitätsreduktion“32 definiert. Dies bedeutet, dass die Stereotypenbildung davon abhängig ist, wie man sich selbst und die anderen wahrnimmt. Dazu soll man noch hinzufügen, dass nicht alle Eigenschaften hervorgehoben werden, sondern nur diese, die meist oberflächlich aber zugleich besonders aufällig sind. Die Stereotype sind stark vereinfachte und wahrnehmungsprägende Schemata. Weil sie oft weit verbreitet sind, lassen sie sich schwer ändern. Der Begriff „Stereotyp“ verwendet man in der Sozialwissenschaft, Kulturtheorie und in der Literatur, um unter anderem die Beziehungen zwischen verschiedenen Nationen zu beschreiben. Die Genese, Entwicklung und Wirkung von Stereotypen im literarischen Bereich untersucht die komparatistische Imagologie. 2.8 Heimat und Heimatlosigkeit Wenn man sich mit dem Begriff ‚Heimat’auseinandersetzt, muss man darauf aufmerksam machen, dass es keine einheitliche Definition dieses Wortes gibt. Um das vollkommend zu verstehen, soll man ihre historische Entwicklung in Betracht ziehen. Die Definition von Heimat hat verschiedene Bedeutungsfacetten und Verwendungszusammenhänge33. Die Bedeutung dieses Wortes ist also nicht konstant, hat sich im Laufe der Zeit geändert, je nachdem in welchem Zusammenhang es verwendet worden ist. Das Wort ‚Heimat’ assoziiert man vor allem mit „ [...] dem Ort der Kindheit und des Vertrauens, der Sprache und der Kultur, der Zugehörigkeit und der Verwurzelung“34. In erster Linie bezieht es sich also auf den Ort, „in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserfahrungen stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und auch Weltauffassungen prägen“ 35. 32 Nünning, Ansgar ( Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Asätze-PersonenGrundbegriffe. 3. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (erweitert und aktulisiert), S. 626f. Nünning, Ansgar: Das Image der (hässlichen?) Deutschen. Möglichkeiten der Umsetzung der komparatistischen Imagologie in einer landeskundlichen Unterrichtsreihe für den Englischunterricht. In: „Die neueren Sprachen“ 93.2/(1994), S. 160-184. 33 Vgl. Zimniak, Paweł: Heimatverbundenheit und Weltäufigkeit. In: Grimberg, Martin/ Engel, Urlich/ Kaszyński, Stefan (Hg.): „Cvivium. Germanistisches Jahrbuch“. Bonn:DAAD 2002, S. 75-98 (hier S.76). 34 Bordersen, Ingke/ Dammann, Rüdiger: Überall und Nirgendwo. In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr 2/2001,S.4-5 (hier S.4). 35 Brockhaus-Enzyklopädie 1989 17 Obwohl man dieses Wort zur Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden verwenden kann, ist es notwendig zu sagen, dass ‚Heimat’ kein Vaterland ist. Über das Wort ‚Vaterland’ definiert man eine nationale Zugehörigkeit. Heimat assoziiert man eher mit dem Privatem, Individuellem. Dazu gehören nicht nur Landschaft, sondern auch die Menschen, mit denen man zusammenlebt. Dieser Begriff kann auch im übertragenen Sinne definiert werden. „Heimat als Sicherheit bedeutet die Möglichkeit der Entwicklung eines Gefühls des Sich-sicher-Fühlens,[...]“36 . Heimat erweckt bei den Menschen bestimmte Gefühle, Erinnerungen, Emotionen, mit denen man sich identifiziert. Man sollte aber nicht davon ausgehen, dass Heimat einem Menschen für ewig gegeben ist. „Heimat kann auch verloren gehen, beschädigt oder zerstört werden“37 (durch Kriege oder ungunstige politische Veränderungen). 2.8.1 Tabuisierung und Ideologisierung von „Heimat“ Zum ersten Mal erschien dieses Wort im 16. Jahrhundert und zwar als Neutrum, als das Heimat. Im ursprünglichem Sinne verband es sich mit dem väterlichen Erbe, mit Haus und Hof. Nur der älteste Sohn hatte das Recht, die Hofanlage ( das ganze Heimat) zu erben. Die anderen mussten das Eigentum verlassen und blieben besitzlos. Unter dem Begriff ‚Heimatlosigkeit’ versteht man also zugleich Besitzlosigkeit. Wer das Heimat besass, der war auch ein Mitglied der Gemeinde und dem standen kommunalpolitische Rechte zu. Diese Rechte konnte man auch durch Geburt, Einheirat, Einkauf oder aufgrund verschiedener Verdienste erwerben, d.h. man musste auch für Gemeinde arbeiten, aktiv sein, sich mit dieser Umgebung identifizieren. Das Wort „Heimat“ verlor aber im 19. Jahrhundert diese unpolitische, lokale, regionale Bedeutung. In dieser Zeit kam es in vielen europäischen Staaten, auch in Deutschland, zur politischen Veränderungen. Im Jahre 1871 wurde Deutschland zum Nationalstaat. In Folge der Vereinigung über 300 zersplitterter Fürsentümer stieg rasch die Mobilität. Die Menschen, die heimatlos waren, zogen in die sich immer schneller entwickelten Städte nach der Suche der Arbeit. Die Industrialisierung zwang die Leute, sich an die neue Realität, an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Ihre bisherige Denkensweise Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S.25-81 (hier S.71). 37 Ebd., S.71. 36 18 musste umgestellt werden. Das Wort „Heimat“ wurde gerade in dieser Zeit politisiert, d.h. es wurde mit den Begriffen Vaterland, Nation gleichgestellt. Die Leute sollten sich nicht mehr mit dem Haus und Hof identifizieren, sondern mit dem vereinigten Deutschland. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus kam es zum zweiten Mal zu „einer wesentlichen Stärkung der politischen Dimension des Heimat-Begriffs“38. Die Blut und Boden-Ideologie hatte zum Ziel, das Fremde ins Abseits zu verschieben. Die Wörter: ‚Blut’und ‚Boden’ symbolisierten „einen quasi-biologischen Zusammenhang zwischen der Bevölkerung und dem Territorium“39 . Die Annäherung der Begriffe: Heimat, Volk und Rasse verursachte die Ausstoßung „unwertiger ud untauglicher Kräfte“40. Die NSHeimatideologie wurde von Hitler zur Entwicklung des Antisemitismus ausgenutzt. Der Missbrauch dieses Begriffs hatte zum Ziel, das kollektive Bewusstsein nationaler Zugehörigkeit zu stärken. Das Individuum sollte davon überzeugt sein, dass die Deutschen eigenartig und auserwählt sind. Das Wort Heimat wurde zum Kampfbegriff, mit dem sich große Menschenmassen identifiziert haben. Die von Nationalsozialisten ausgeübte Rassenideologie führte zur Entstehung eines neuen Staates, in dem die Bevölkerung den Anordnungen der Regierung folgte und gehorsam mitmarschierte. Das Zitat, das 1933 durch die Zeitschrift „Die Heimat“ veröffentlicht wude, wiederspiegelt genau diese Blut und Boden-Ideologie: Volk und Heimat sind durch das Werden eines neuen Staates wieder zu einem Begriff geworden. Blut und Boden sind Träger einer gestaltenden Staatsidee, die bewußt alle Traditon und Geschichte gewordene Vergangenheit an alle gutwilligen, eigenstarken Kräfte der Gegenwart bindet, ein sauberes, sicheres Haus deutscher Zukunft zu bauen. Dieser Neubau beginnt die Ausscheidung und Ausstoßung unwertiger Kräfte und untauglichen Baustoffes. Er verlangt aber auch glaubensfrohe, arbeitswillige Mithelfer und Mitreiter, soll er das Haus der deutschen Volksgemeinschaft werden. Aus Blut und Boden soll das neue Reich entstehen, auf dem Boden deutscher Heimat soll das Werk sich erheben, aus der Blutsgemeinschaft soll die Volksgemeinschaft werden.41 38 Ebd., S.68. Alexander von der Borch Nitzling: Zum Heimatbegriff , unter: www.transodra-line.net.de/node/1381/ Zugriff am: 2.01.2009. 40 Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien, a.a.O., S.69. 41 Zimniak, Paweł: Heimatverbundenheit und Weltäufigkeit. In: Grimberg, Martin/ Engel, Urlich/ Kaszyński, Stefan (Hg.): „Cvivium. Germanistisches Jahrbuch“. Bonn:DAAD 2002, S. 75-98 (hier S.76). 39 19 Das Wort ‚Heimat’ wurde auch im Zusammenhang mit dem Vertreibungsschicksal der Deutschen und anderer Nationen nach 1945 politisiert und ideologisiert. Durch die Zwangsausweisungen und die Flucht geriet der Heimatbegriff in eine andere Dimension. ‚Heimat’ wurde als ein Gut erklärt, auf das jeder Mensch Recht hat. Christian Graf von Krockow verweist in seinem Beitrag: „Vom Recht und Unrecht auf Heimat“ auf einen sehr wichtigen Aspekt. Er bezieht sich darauf, dass es unzulässig ist, dass ein Mensch egal mit welcher Begründung dazu gezwungen ist, von seiner Heimat vertrieben zu sein, denn das Recht auf Heimat ist ein Grundrecht jedes Menschen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass „das Heimatrecht des einen Menschen ein Recht auf Heimat des anderen nicht ausschließen darf“42. Die ideologisch-politische Überstrapaziertheit des Heimatbegriffs während und nach dem zweiten Weltkrieg trug im Endefekt zur Tabuisierung dieses Wortes bei. Die Jugendgeneration wollte mit vaterländischen Werten43 nichts mehr zu tun haben. Das Wort ‚Heimat’ruft seit der NS-Zeit eine negative Konnotation hervor. Nicht zuletzt muss aber darauf hingewiesen werden, dass man sich auch an peinliche Erfahrungen erinnern sollte. Sie darf man auf keinen Fall aus der gemeisamen Geschichte tilgen, denn aus jeder (auch unangenehmen) Erfahrung soll man bestimmte Schlußfolgerungen für die Gegenwart und für die Zukunft ziehen, um Fehler der Vorfahren nicht zu begehen. 2.9 Erzwungene Mobilitäten nach dem zweiten Weltkrieg Rund zwanzig Millionen Menschen, die meistens aus Polen, Russland, Deutschland, Ukraine, ehemaliger Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslavien kamen, erlebten kurz nach dem Kriegsende am eigenen Leib die Vertreibung. Nur die Deutschen, die zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen wurden, waren etwa zwölf Millionen. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges erarbeiteten die Siegermächte einen Plan, nach dem „[...] zwischen Deutschland und der Sowjetunion homogene Nationalstaaten ohne größere etnische Minderheiten entstehen sollten“44. Diese Politik nennt man heutzutage <<ethnische Säuberung>>. 42 Unter anderem darüber berieten Ebd., S. 76. Vgl., ebd., S. 86. 44 Thum, Gregor: Bevölkerungsaustausch. In: Die fremde Stadt Breslau 1945, Siedlerverlag, Berlin 2003 S.107-114 (hier S. 107). 43 20 Roosevelt, Churchill und Stalin während der Konferenzen in Jalta und Potsdam kurz nach dem Kriegsende. Ihr Hauptziel war, die Neuordnung Europas zu schaffen. Die wichtigsten Themen, die dabei besprochen wurden ,betrafen: Verteilung der Macht in Europa nach dem Kriegsende; die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszone; die Gestaltung der Grenzen; die Ausschließung der künftigen Bedrohung durch Deutschland und die Frage der Umsiedlungen. Die Entscheidung über die etnische <<Entmischung>>45 in Europa wurde unter anderem durch die antideutsche Stimmung verursacht. Als weitere Vorwände der Abschiebung der deutschen Bevölkerung gelten handfeste materielle Interessen46. Darunter versteht man die Konfiszierung des gesamten Vermögens der Vertriebenen. In Folge der Verschiebung von Grenzen und der koordinierten Umsiedlung sollten die Bevölkerungsstrukturen verbessert werden. Der Bevölkerungsaustausch sollte „[...] optimale Bevölkerungsdichte und Größe der landwirtschaftlichen Betriebe“47 schaffen. Der Verlauf und die Folgen des zweiten Weltkrieges bleiben bis heute nicht im Ganzen erklärt zu werden. Auch die Ereignisse nach 1945 wecken in Europa hochemotionale Reaktionen. Das heikelste Thema dieser Zeit betrifft die Frage der Vertreibung, Flucht und Aussiedlung gleich nach dem Kriegsende. Über 40 Jahre wurde dieses Thema verschweigert und tabuisiert. Man versuchte zwar in der Nachkriegszeit bestimmte Schritte zu unternehmen, um den deutsch-polnischen Konflikt zu mildern. Hier kann man zumindest die Worte der polnischen Bischöfe erwähnen, die sie an ihre deutschen Amtskollegen richteten: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“48. Mit der Initiative der deutschen Seite zur Gründung eines ‚Zentrums gegen Vertreibungen’ im Jahre 2003 entbrannte aber in vielen europäischen Länder wieder ein heftiger Streit. Dieser Kampf um die Erinnerung erschwechte deutlich die deutsch-polnischen Beziehungen. Die Mehrheit der polnischen Öffentlichkeit kritisierte die Errichtung eines Berliner Zentrums. Diese Idee wurde von der polnischen Seite „[...] als Ausdruck für historischen Revisionismus und als bewusste Verwischung der Relationen zwischen Tätern und Opfern des Krieges wahrgenommen“49. Der Standort eines Zentrums erweckte viele Spekulationen darüber, ob das Mahnmal der deutschen Vertriebenen „[...] ein moralisches Gegengewicht zum Holocaust schaffen“ sollte. 45 Vgl., ebd., S. 107. Vgl., ebd., S. 108. 47 Ebd., S. 110. 48 Krzemiński, Adam: Kampf um Erinnerung, In: Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa r. 13/2004, S. 58-61, (hier S. 58) 49 Ebd., S. 61. 46 21 Das von dem Bund des Vertriebenen mit Erika Steinbach an der Spitze entworfene Projekt kann bestimmt zur Verwechslung zwischen der deutschen Schuld und dem deutschen Leiden führen. Die Traumata, die die Flüchtlinge erlebt haben, sollten aber auf keinen Fall in Vergessenheit geraten. Der Umgang mit diesem Thema erfordert aber höchste Sensibilität. In der Dokumentation aus dieser Zeit findet man zahlreiche Beweise der Augenzeugen, die über die Behandlung der Deutschen während der Umsiedlung erzählen. Die amerikanische Korespondentin der New York Times, Anne O'Hare McCormick beschrieb so diese Ereignisse: Der Umfang der Umsiedlung und die Bediengungen, unter denen sie stattfindet, sind beispiellos in der Geschichte. Niemand, der diese Schrecken mit eigenen Augen sieht, kann bezweifeln, dass dies ein Verbrechen gegen die Menschheit ist, für das die Geschichte furchtbare Vergeltung fordern will.50 Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Vertreibung’ muss es betont werden, dass dieses Phänomen tatsächlich auf zwei Ebenen geschah. Einerseits spricht man von der Vertreibung, wenn man an die Zwangsausweisungen der Minderheiten aus ihrer Heimat denkt. Die Leute mussten dann ihr ganzes Vermögen verlassen. Im Gegensatz dazu erlebten die <<Dagebliebenen >> eine Vertreibung aus der eigenen Sprache und Kultur51. Sie mussten ihre Namen wechseln und die Sprache des Landes, wo sie jetzt lebten, übernehmen. Jahrelang mussten sie verleugnen, welcher Herkunft sie sind. Als gutes Beispiel gilt hier die deutsche Minderheit in Oberschlesien, die erst wieder seit 1989 offizell anerkannt wurde. Die Flucht und Vertreibung nach 1945 ist eine der wichtigsten Folgen des zweiten Weltkrieges. Dieses Phänomen tauchte in der Geschichte schon mehrmals auf, aber nie zuvor weckte es so große Kontroverse wie jetzt. Die Ursache dessen liegt daran, dass die Deutschen immer häufiger versuchen, die deutsch-polnische Geschichte zu deformieren. Diese Missbildung besteht in der heftigen Betonung sowohl im deutschen Fernseher als auch in den zahlreichen historischen Büchern, dass die Deutschen dem Opfer des zweiten Weltkrieges gefallen sind. Die Polen werden größtenteils als Antisemiten dargestellt. Dies schafft den deutschen Historikern eine Möglichkeit, die 50 Judt, Tony: Das Vermächtnis des Krieges.In: Die Geschichte Europas seit dem zweiten Weltkrieg. Erster Teil: Nachkriegszeit 1945-1953, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, S. 40-45 (hier S. 41) 51 Vgl. Schlanstein, Beate: Neue Wurzeln, alte Wunden. Eine andere Geschichte der Vertreibung. In: Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg, Januar 2007, S. 7-21 (hier S. 16). 22 Verantwortung für die Judenvernichtung auf die Polen abzuwälzen, was natürlich einen großen Einfluss auf die Polenwahrnehmung der anderen Nationen hat. In den letzten Jahren beobachtet man in vielen Ländern, unter anderem auch in den hochentwickelten Ländern auf internationaler Ebene, dass sich die Vorurteile über Polen systematisch verstärken. Es gibt aber viele Autoren, die die stereotypen Vorstellungen über Polen abzubauen versuchen. Als ein gutes Beispiel dafür gilt der Roman „Schlesisches Wetter“ von Olaf Müller. Der Autor konfrontiert in seinem Buch die Geschichte der deutschen Vertriebenen mit der der polnischen Bevölkerung. 2.9 Literatur in narratologischer Perspektive 2.9.1 Zur Erzähltheorie Das Wort 'Erzählen' hat verschiedene Bedeutungsfacetten und wird in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt. Der Definition nach bezeichnet man dieses Wort als "[...] eine Art von mundlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas besonderes mitteilt"52. Diese Rede kann aber nur dann als Erzählung gelten, wenn ihr ein zeitlich vorausliegener Vorgang vorkommt. Dies bedeutet, dass der Erzähler ein Geschehen vergegenwärtigt, das früher stattgefunden hat. Wenn man den Realitätscharakter in Betracht zieht, so kann man reale oder erfundene Vorgänge unterscheiden. Die Erzählsituation kann entweder im Rahmen von alltäglicher Rede erzählt werden oder sich im Rahmen von Literatur abspielen. Die Erzählung im Rahmen nichtdichterischer Rede gilt als eine authentische Erzählung, wenn sie sich auf die bestimmten Fakten bezieht. Hinzu kommt aber eine Möglichkeit, dass in der faktualen Erzählung auch von erfundenen Vorgängen berichtet wird. Dies ist dann der Fall, wenn man etwas ausdenkt, vortäuscht oder lügt. Im Bereich der dichterischen Rede kann man drei Begriffe heraussondern: fingiert, fiktional und fiktiv. Das Wort 'fingieren' wird im Sinne 'vortäuschen' verwendet. An dieser Stelle sollte man sich eine Frage stellen, welche Funktion die Literatur erfüllen sollte und was sie ermitteln sollte. Schon in der Antike war die Meinung darüber unterschiedlich. Scheffel und Martinez erwähnen zwei großen Philosophen, nähmlich Platon und Aristoteles, die 52 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Merkmale fiktionalen Erzählens. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.9-25 (hier S.9). 23 zu diesem Thema gegensätzliche Stellungen genommen haben. Platon geht in seiner Überlegungen davon aus, dass die Dichtung überflüßig und schädlich ist. Einer völlig anderen Ansicht war Aristoteles. In seinem Werk "Poetik" formulierte er eine These, dass die dichterische Rede nützlich ist. Er stellte sogar fest, dass die Dichtung im Gegensatz zur Geschichtsschreibung philosophischer und brauchbarer ist. Der Dichter hat eine Möglichkeit, mit potenzielen und nicht nur mit stattgefundenen Welten zu spielen. Die Streit zwischen Platon und Aristoteles über die Funktion der Dichtung hatte einen grossen Einfluss auf die nachfolgenden Dichter, die sich verpflichtet fühlten, ihre Arbeit zurechtzufertigen. Ihrer Meinung nach ist das Ziel der Dichtung auf keinen Fall, den Empfänger vorzutäuschen. Im Rahmen der dichterischen Rede wird nicht von der wirklichen, sondern von der potentielen Sphere referiert. Dies bedeutet, dass die fiktionalen Texte nicht im empirischen Bereich verankert sind, deswegen haben sie mit dem Lügen nichts zu tun. Der zweite Begriff 'fiktional' steht im Gegensatz zu faktual oder authentisch. Das Wort 'fiktional' ist auf den pragmatischen Status der Rede bezogen. Die fiktionalen Welten, die im Rahmen von Literatur auftauchen, sind also zugleich erzählte Welten. Der Begriff 'fiktiv' wird antonimisch zum Wort 'real' verwendet. Er bezieht sich auf „den ontologischen Status des in dieser Rede Aussagten“53. Im Rahmen der fiktionalen Welten funktionieren fiktive Figuren. Im Vergleich dazu werden im Rahmen des faktualen Textes tatsächliche Behauptungen des realen Autors dargestellt. Die literarische Texte haben einen doppelten Charakter, d.h. sie funktionieren sowohl im imaginären als auch im realen Kontext. Die reale Kommunikationssituation geschieht in der Beziehung Leser-Autor. Ein realer Autor produziert reale Sätze, die an einen realen Leser gerichtet werden. Sie ergeben aber einen fiktionalen Text. Im Rahmen des dichterischen Textes tauchen aber auch fiktive Sätze auf, weil sie von einem fiktiven Erzahler produziert werden. 2.9.2 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten Bei der Analyse von literarischen Texten sind zwei Ebenen herauszusondern: 1. die Ebene des Erzählens, d.h. wie die Geschichte vermittelt wird. 2. die Ebene des Erzählten, d.h. was erzählt wird. 53 Ebd., S. 13. 24 Matias Martinez und Michael Scheffel machen in ihrem Beitrag „das Erzählen und das Erzählte“ darauf aufmerksam, dass die meisten Leser sich bei der Interpretation eines fiktionalen Textes eher auf den Inhalt konzentrieren. Sie identifizieren sich mit den Figuren und nehmen die erzählte Welt für real. Diese Lesehaltung berücksichtigt aber nicht, auf welche Art und Weise die Geschichte vermittelt wird. Scheffel und Martinez gehen in ihren Überlegungen davon aus, dass „[...] die erzählte Geschichte und ihre Welt von der Art und Weise ihrer Darstellung zu unterscheiden sind“54. Diese zwei Ebenen sollten aber auf keinen Fall voneinander abgetrennt werden, weil der Leser gerade „[...] in den fiktionalen Werken nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt“55 hat. Dies bedeutet, dass in den fiktionalen Texten der Inhalt als eine einzige Informationsquelle gilt. Im Gegensatz zu den faktualen Texten, die auf das empirische Geschehen außerhalb des Textes referieren, werden in den fiktionalen Texten diese Tatsachen dargestellt, die nur innerhalb der erzählten fiktionalen Welt funktionieren. Wie aber der Leser von diesen Informationen erfährt, hangt in hohem Masse von der Präsentationsweise ab. Deswegen sollte man beide Ebenen berücksichtigen, um den Text richtig zu interpretieren. Die beiden Wissenschaftler veranschaulichen dieses Wechselverhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten anhand zwei Beispielen. Bei der Analyse des Werks "Leiden des jungen Werther" von Goethe spielt die Präsentationsweise eine wichtige Rolle. Der Autor entschied sich, den Briefroman aus der Ich-Perspektive zu verfassen, was gezielt war. Er wollte damit den Empfanger zu der Identifikation mit der Hauptfigur fordern. Es ist ihm gelungen, bei den jungen Leuten "Werther-Fieber" hervorzurufen, infolge dessen der Selbstmord der Hauptfigur in vielen Fällen nachgeahmt wurde. Die Geschichte konnte zwar aus der Er-Perspektive dargestellt werden. Diese Form hätte aber nicht so große Aussagekraft. Auch der Roman von Franz Kafka "Das Schloss" beweist davon, wie die Art und Weise des Erzählens den Inhalt beeinflusst. Der Beginn des Romanes wurde zweifach verfasst. Die Informationen wurden einmal aus der Ich-Perspektive dargestellt, ein anderes mal wurden sie aus der distanzierten Er-Perspektive vermittelt. Obwohl in beiden Fassungen dieselbe erzählte Welt beschrieben wird, wirken sie anders auf den Leser. Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Erzählte eine Funktion des Erzählens ist. Der Empfänger interpretiert den Inhalt eines fiktionalen Textes anders in 54 55 Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. 25 Abhängigkeit davon, auf welche Art und Weise die erzählte Welt vermittelt wird. 26 3. Erinnern und Verdrängen in Schlesisches Wetter von Olaf Müller 3.1 Die Polenwahrnehmung in der deutschen Literatur- „Schlesisches Wetter“ von Olaf Müller Die Frage der Deutschen Polenwahrnehmung wird immer häufiger durch viele deutsche Schriftsteller der neuen Autorengeneration berührt. Olaf Müller ist einer von den zahlreichen Autoren, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. In seinem Roman Schlesisches Wetter versucht er die polenbezogenen Stereotype zu schildern. An dieser Stelle muss aber betont werden, dass diese Überlegungen dem Autor nicht zugeschrieben werden sollten. Die Polenwahrnehmung hat hier keinen subjektiven Charakter. Die Vorstellungen über das Eigene und das Fremde der Figur, des Erzählers und des Autors sind voneinander zu unterscheiden, d.h. der fiktive Erzähler redet in seinem eigenen Namen und seine Stellungnahme zu diesem Thema ist der Meinung des Autors nicht ähnlich. Wenn man aber die Erzählfigur mit dem Autor des Textes vergleicht, so kann man bestimmte Ähnlichkeiten in den Biographien beider Personen feststellen. Dies kann rezeptionsseitig den Anschein erwecken, dass die Vorstellungen des fiktionalen Erzählers mit denen des Autors übereinstimmen. Olaf Müller beschreibt in seinem Roman nicht seine eigene Polenwahrnehmung, sondern er versucht dem Empfänger die typischen, tief eingewurzelten, stereotypen Vorstellungen der Deutschen über Polen darzustellen. Zu den meinst verbreiteten Stereotypen über Polen gehören: 1. Das Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“56 , das als ein Stereotyp der „langen Dauer“57 gemeint wird. Dieses Stereotyp existiert in der Polenwahrnehmung anderer Nationen schon seit über 300 Jahren. Es steht im engen Zusammenhang mit der Nationalstaatlichkeit, d.h. mit der Zeit, in der sich viele europäische Länder (unter anderem auch Deutschland) modernisiert und entwickelt haben und Polen von der politischen Landkarte verschwunden ist. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen. Hubert Orłowski weist in seinem Betrag „Stereotype der <<langen Dauer>> und Prozesse der Nationsbildung“ auf den historischen Aspekt hin. Der Begriff „polnische Wirtschaft“ bezieht sich auf den Orłowski Hubert : Stereotype der >>langen Dauer<< und Prozesse der Nationsbildung. In: Lawaty, Andreas/ Orłowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte-Kultur-Politik. München: C.H. Beck 2003, S. 269-279 (hier S. 270). 57 Ebd., S. 269. 56 27 polnischen Reichstag und das bekannte liberum veto. Er verbindet sich mit Unregierbarkeit, Anarchie, unwirksamen Handeln und Machtlosigkeit. 2. Das ‚Opfer-Stereotyp’58, das im engen Zusammenhang mit der Ideologie des Sarmatismus steht. Die ‚goldene Freiheit’ und Gleichheit aller Edelleute59 haben nichts anderes als Chaos nach sich gezogen. In dem 19. Jahrhundert gab es viele nationale Aufstände, die aber größtenteils gescheitert sind, deswegen haben die polnischen Romantiker das Schicksal Polens mit dem Schicksal Christi verglichen. In der polnischen Opfergeschichte sieht man also deutlich die Verbindung zwischen der Nation und dem Glauben. 3. Das Stereotyp der ‚schönen Polin’ hängt mit dem historischen Kontext des Nationalitätenstreits60 zusammen. Die polnische Frau wird als Patriotin und ‚Mutter aller Rebellion’61 kreeirt. 3.1.1 Aleksander Schynoski als Erzählfigur- zur Deutschen Polenwahrnehmung Die im Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller beschriebene Geschichte wird aus der Perspektive eines knapp vierzigjährigen deutschen Journalisten vermittelt. Aleksander Schynoski, so heißt die Hauptfigur, muss sich mit den Folgen der Vertreibung seiner eigenen Familie konfrontieren. Der letzte Auftrag, den er von seiner Redaktion bekommen hat, führt ihn nach Polen. Diese „polnische Angelegenheit“62 schafft ihm eine Möglichkeit, endlich die ganze Wahrheit von seiner Familiengeschichte zu erfahren. Der Anlass seiner Reise nach Breslau war auf keinen Fall, „[...] Ahnenforschung zu betreiben, noch irgendwas in Augenschein zu nehmen, etwa ein Dorf oder ein Haus oder einen verschollenen Grabstein, was irgendwer einmal besessen haben könnte [...]“63. Den Polen hat sich aber ein Bild des deutschen Heimwehtouristen ins Gedächtnis tief eingeprägt, der in Polen ankommt, um nur Anspruch auf sein verlorenes Vermögen zu erheben. Auch die Polenwahrnehmung des Vgl. Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch- Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur. In: Kolago, Lech (Hg.): Studia niemcoznawcze, tom XXXVI, Warszawa 2007, S. 195-211 (hier 198). 59 Vgl. Olschowsky, Heinrich: Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit- typisch polnisch?, In: Lawaty, Andreas/ Orłowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte-Kultur-Politik. München: C.H. Beck 2003, S. 279-288 (hier S. 283). 60 Vgl. Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch- Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur, a.a.O., S. 199. 61 Vgl., ebd., S. 199. 62 Müller, Olaf: Schlesisches Wetter,Roman. Berlin: BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH 2005 (Berliner Verlag 2003), S. 29. 63 Ebd., S. 194. 58 28 Ich-Erzähles hängt von seiner bisherigen Sozialisation ab. Schynoski malt sich ein Bild der polnischen Realität aus aufgrund dessen, was er in seiner Umgebung gehört hat. [...] was ich allein in der Redaktion von den mafiösen Zuständen in Polen gehört hatte, gelesen, vom erbarmungslosen Beute-Machen bei deutschen Touristen, von spurlosem Verschwinden-, versuchte ich, aus den aufsteigenden Begriffen einen einzufangen, welcher die Lage, in die ich mich gebracht hatte, am sichersten beschrieben hätte. Aus der Wortwolke fiel: Todesgefahr.64 Mit dieser Einstellung fährt er nach Breslau. Gleich nach dem Ausstieg aus dem Zug wird der homodiegetische Erzähler mit der polnischen Realität konfrontiert, die nur seine Überzeugung festigt: „Der Gestank nach Scheiße in der Bahnhofshalle. Die durchgerosteten Pfeiler der Hallenkonstruktion drohten einzuknicken. Ich beeile mich, da rauszukommen.“65 Diese Worte beweisen von der deutschen Vorstellung Polens als ein Land, in dem Unordnung und mangelnde Sauberkeit herrschen. Überall begleitet ihn das Gefühl der Todesgefahr. In jedem Passanten sieht er einen potentiellen Täter. Der Verdacht fällt sogar auf die drei Säufer, die zufällig über ihn stolperten. Schynoski lässt seine Phantasie weiter spielen. Er stellt sich vor, was es ihm in einem polnischen Hotel passieren könnte: Ich komme doch überraschend in einem Hotel unter und gebe das Bündel in den Hotelsafe. Das Peronal lässt mich eiskalt über Nacht verschwinden. Kein Mensch wähnt mich in Breslau. Hier wird niemand anfangen zu suchen. Ich hatte es einmal meiner Mutter gesagt. Im ersten Fall hätte ich mein Geld nicht ohne Widerspruch herausgegeben; und das wäre dann das Ende gewesen. Bei der zweiten Variante wäre ich nicht mal gefragt worden. Keiner hätte mich je gesehen.66 Schynoski kommt letztendlich in dem Breslauer Hotel Polonia unter. Vor seiner Augen erscheint das Bild des Zerfalls: die auf gespenstige Weise glichenden Flure 67; „die gleiche Ausstattung wie im Monopol“68; die fast bis zum Boden durchhängende Matraze, die vermutlich „seit der Einweihung des Hauses nicht ausgetauscht worden 64 Ebd., S. 172. Ebd., S 165f. 66 Ebd., S. 172f. 67 Vgl., ebd., S. 174. 68 Ebd., S. 175. 65 29 war, die Generationen von Generationen beherbergt hatte“69. Er wartet nur, bis sich die Prophezeiung vom erbarmungslosen Beute-Machen bei deutschen Touristen70 in seinem Fall bestätigt: Die Rezeptionistin teilte mir mit, dass sie einhundertachtzig Mark für eine Nacht berechnen müsste.Ich war gespannt auf das Zimmer, welches diesen Preis rechtfertigen würde. Hier wurde mit zweierlei Mass berechnet. Ein Sonderpreis für mich. Aber man sah es der Frau nicht an. Das war für sie Routine. Wenn sich einmal ein Deutscher ins Polonia verirrte.71 Jedes Geräusch schreckt den Ich-Erzähler auf, der in Folge negativer Stereotype davon überzeugt ist, dass er gezwungen wird, ‚sich ‚die Zelle’ mit einem weiteren Bewohner zu teilen. Er bereitet sich mental darauf vor, „[...] für alles zu büßen, was man ihm vorwerfen würde“72. Diese Einstellung zeugt von dem deutschen Schuldbewusstsein und der Absicht, das Unrecht des zweiten Weltkrieges wiedergutzumachen. Die Hauptfigur erfährt mit der Zeit, dass sich die in der Deutschen Polenwahrnehmung tief eingewürzelten negativen Stereotype in der Wirklichkeit nicht bestätigen. Die Todesgefahr ergibt sich, höchst übertrieben zu sein. Auch die Angst vor dem unerwünschten Besuch des Zimmergenossenen verwirklicht sich überhaupt nicht. Keine von seiner stereotypen Vorstellungen, die er in Deutschland aufgebaut hat, stimmen mit der Realität überein. An dieser Stelle könnte man feststellen, dass Olaf Müller sich bewusst mit den polenbezogenen Stereotypen auseinandergesetzt hat. Sein Ziel war aber auf keinen Fall, diese Vorstellungen über Polen hervorzuheben. Hier hat man eher mit der Abkehr von negativen Stereotypen zu tun. 3.2 Figuren und Figurenkonstellationen Der Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller berührt die heiklen Themen, die noch zur Zeit eine negative Konnotation hervorrufen. Die Fragen der Vertreibung und des Heimatverlustes werden mit höchster Sensibilität dargestellt. Trotzdem führte der Autor in den Roman Elemente der Groteske ein, die vor allem die von ihm geschaffenen Figuren betreffen. Die in komischen Zügen dargestellten Figuren und die Situationen, in 69 Ebd., S. 176. Ebd., S. 172. 71 Ebd., S. 174. 72 Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch- Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur, a.a.O. , S. 202. 70 30 denen sie sich befinden, rufen dei dem Empfänger mehrmals das Lächeln auf seinem Gesichts hervor. Die meisten Groteskelemente sind mit der Hauptfigur des Romanes verbunden. Der Aufenhalt von Schynoski im Hotel Polonia oder das Verstecken seiner Brille durch Maureen sind nur einige von den lustigen Situationen, die der Autor beschreibt. 3.2.1 Alexander Schynoskis Denken, Fühlen und Handeln Alexander Schynoski ist ein knapp vierzigjähriger Journalist, der seit Jahren mit der erfolgreichen Architektin Maureen in Berlin wohnt. Er ist in Leipzig großgewachsen. Sein alltägliches Leben ist sinnentleert. Die Arbeit als Sportredakteur macht ihm keine Spaß. In der Redaktion fühlt er sich verachtet: Letztlich war ich nur eine Randfigur. Ein Journalist aus der dritten Reihe, der zu spät erfuhr, was Tage vorher verabredet war. [...] Die Kollegen übersahen mich in ihrem Eifer; dem Fortschritt eine Schlagzeile, einen Kommentar oder eine Reportage abzugewinnen.73 Schynoski ist noch nicht vierzig, als er in den vorläufigen Ruhestand geschickt wird. Nach der Pensionierung bekommt er nur ab und zu einen Auftrag, sonst lebt er auf die Kosten seiner Geliebte. Infolge dessen bricht er zusammen und nimmt deutlich zu: Von meinem schmalen Hintern zog sich bald ein Panzer bis über die Brust. Alles redlich angefressen. Meine ausdrucksstarke Stirn wurde von widerwärtigem Lockenwildwuchs verunziert.74 Sein scheusliche Aussehen und die Arbeitslosigkeit führen dazu ein, dass er aufgigt. Meine Lähmung war zu weit fortgeschritten. Die Kurzsichtigkeit oder das Beinaheblindsein hatte meine Aussichten, wohin auch immer, zunehmend verdunkelt. Den Scham darüber verdankte ich Maureen, den Ekel davor mir allein.75 Der Empfänger erfährt mit der Zeit, dass die Familiengeschichte der Hauptfigur ursprünglich nicht mit Leipzig sondern mit Schlesien verbunden ist. Schon als Kind hörte Schynoski bei jedem Familienfest von der ‚Alten Heimat’, aber erst der vom Chefredakeur beauftragte Hilfsjob schafft ihm eine Möglichkeit, die Vergangenheit der Familie zu verstehen. Schynoski bekommt von den zwei polnischen Journalisten, die in Berlin ankommen, einen Bildband über Breslau aus der Zeit vor 1945. Beata Szewińska 73 Müller, Olaf: Schlesisches Wetter, S. 27. Ebd., S. 39. 75 Ebd., S 29f. 74 31 und Witek Misiak laden ihn nach Breslau ein. Obwohl seine Freundin auf ihn mit dem Rückflugticket in London wartet, entscheidet er sich seine schlesischen Würzeln zu erforschern. Schynoski fährt nach Leipzig, um seine Mutter zur gemeinsamen Reise zu überreden. Ilse Schynoski will aber in die Alte Heimat nicht zurüchkommen. Trozt dessen steigt die Hauptfigur in den Zug nach Breslau ein. Nach der Grenzüberquerung kann der Leser beobachten, wie sich allmählig seine Einstellung Polen gegenüber ändert. Schynoski verifiziert seine bisherige stereotype Polenwahrnehmung mit der Realität. Schritt für Schritt wächst seine Liebe zu Polen. Während des Besuchs im Dorf, aus dem seine Familie stammt, konfrontiert er sich damit, was ihm seine Mutter über Vertreibung und Heimatverlust erzählt hat. Dort trifft er Agnieszka, in der er sich verliebt und sich entscheidet, bei ihr das neue Leben zu beginnen. Alexander Schynoski stand jahrelang neben sich, ohne Identität. Seine Erinnerungen verbinden sich größtenteils mit der familiären Erzählungen über die alte Heimat. Die entscheideste Erinnerung an meine Kindheit besteht darin, wie man im Haus, in unserer Wohnung über die Alte Heimat gesprochen hat. Großmutter erzählte, die Tanten, ihre Töchter, sekundierten.76 Wie gründlich ich mich auch mühte, mir gelang es nicht, die beiden Sphären zu trennen. Die Gegenwart stand meiner Erinnerung im Weg.77 Wegen des Schweigegebots musste er seine Gefühle unterdrücken, die mit der Zeit an sein Gedächtnis heranwuchsen. Er versuchte mühesam, die Erinnerungen zu verdrängen. Es gelang aber ihm nicht, den familiären Geschichten zu entkommen. Erst der Anlass, nach Schlesien zu fahren, ermöglichte der Hauptfihur endlich die Vergangenheit aufzuarbeiten. Daran sah er eine Möglichkeit, eine günstigere Identität anzunehmen. 3.2.2 Familie Schynoski- zur Geschichte der Vertreibung und des Heimatverlusts Familie Schynoski gilt bestimmt als Gedächtnismedium, denn innerhalb dieser Familie kommt es durch alltägliche Kommunikation zum Austausch lebendiger Erinnerungen. Die einzelnen Familienmitglieder sind Träger des kollektiven Gedächtnisses einer bestimmten Gruppe. Die Erinnerungen werden zwischen Zeitzeugen und Nachkommen 76 77 Ebd., S. 162. Ebd., S. 72. 32 ausgetauscht. Familie Schynoski repräsentiert eine typische deutsche Gruppe der Vertriebenen, die mit den Folgen des zweiten Weltkrieges zurechtkommen muss. Flucht und Vertreibung, Heimatverlust und Neubeginn verlaufen unter schwierigen Bedingungen. Olaf Müller beschreibt am Beispiel der fiktiven Familie, wie diese Ereignisse ausgesehen haben. Die meisten Familienmitglieder kommen aus dem nicht weit von Breslau entfernten kleinen Dorf, wo sie geboren und großgewachsen sind. Bis zum zweiten Weltkrieg war dieses Dorf und seine Umgebung für Familie Schynoski wie eine Idylle, in der sie sich wohl fühlten. Wie stark sich die Familie mit dieser kleinen Heimat identifiziert hat, wiederspiegeln die genauen Beschreibungen der Mutter von Schynoski: [...] da war die Bache, das war ein Nebenfluss von der Weide, und da haben wir erst mal gebadet. Wir haben die nassen Klamotten irgendwo versteckt und sind in den Wald gegangen und haben uns eine Kanne Heidelbeeren gepflückt, und dann waren wir schon in Baruthe bei meiner Großmutter, der Mutter von deinem Großvater.78 [...] nach Seydlitzruh hin war eine Kirschallee, und wenn du auf dem Heuwagen nach Hause gefahren bist, dann konntest du mit dem Wagen stehenbleiben, und du kannst gut an die Kirschen ran. Sonst musste man ja immer aufpassen, da war ja ein Pächter...das war wunderbar...die Kirschbäume stehen bestimmt nicht mehr da....wie die Linden... Das Dorf war voller Linden...79 Ilse Schynoski, die nach dem Kriegsende das Dorf verlassen hat und dorthin nie wieder zurückgekehrt ist, hat eine verklärte Vorstellung darüber. Ihre Erinnerungen entsprechen nicht der gegewärtigen Realität. Die furchtbaren Ereignisse nach dem Kriegsende prägen aber sehr stark ihr Gedächtnis. Beim Gespräch mit ihrem Sohn ruft Ilse die Erinnerung an den Tag der Vertreibung hervor: [...] im Januar, als wir aus Fürsten-Altguth weg mussten, hatte es zwanzig Grad minus und es stürmte, am neunzehnten Januar '45 hieß es noch, wir sollen alle dableiben, weil die Front nicht kommt, in der Nacht zum zwanzigsten hieß es dann: Wir mussten weg, raus, sofort, [...]80 Auf dem Weg sah es furchtbar aus. Das war ja nicht so ordentlich zugegangen. Überall waren Sachen verstreut im Schnee, auch tote Kinder, die zurückgeblieben waren, und überall Puppen von den 78 Ebd. S. 138. Ebd., S. 152. 80 Ebd., S 148. 79 33 Kindern. Man hat das nicht so genau sehen können, ob das Puppen waren oder tote Kinder, aber tote Kinder waren auch dabei.81 Am Beispiel der Familie Schynoski wird bildhaft der Ausmaß der Vertreibung geschildert: Hunger, Angst, Vergewaltigungen, Verlust des ganzen Vermögens und Schikanieren: Der Krieg war zu Ende. Die Russen sind einmarschiert. Mit Panzern. Und die Tschechen haben immer gesagt: Nemzi, Nemzi, Deutsche, Deutsche. Auf uns gezeigt. Fast jede Nacht haben uns die Russen gejagt.82 Bei der Erzählung von vergangenen Ereignissen werden aber keine Emotionen aufgezeigt. Kein Gewein begleitet die Vermittlung. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die Mutter erst nach über vierzig Jahren ihrem Sohn darüber erzählt. Der Bildband über Breslau, den ihr Sohn gezeigt hat, hat dabei eine große Rolle gespielt. Ilse ruft sich die Erinnerungen an die damaligen Ereignisse herbei. Früher hörte Alexander Schynoski eher nur die Erzählungen seiner Großmutter und der Tanten und zwar nur von der ‚Alten Heimat’. Obwohl er dort nie gewesen war, wusste er viel davon. Der Heimatverlust hatte jährlich einen großen Einfluss auf das Leben der Familie Schynoski in Leipzig. Bei jedem Familienfest wurde darüber diskutiert. Für die Hauptfigur war die ‚Alte Heimat’ abstrakt. Je älter er war und mehr davon gehört hat, desto „[...] der Hass auf dieses Wort und darauf folgenden Geschichten wuchs.“ 83 Jede Familienfeier sah identisch aus: Stundenlang sangen die Schynoskis und ihre angeheirateten Wurmfortsätze, liebten und beglückwünschten sich. Erst gab es Kaffee. Die Sahne goß man aus einem Kännchen dazu, das die Flucht überstanden hatte. Meißner Porzellan. Torte. Helle und dunkle Buttercreme. [...] Später Salamibrote und Eibrötchen mit einer schimmernden Krone aus Kaviarersatz. Und Wein. Die Onkel und die Großcousins rauchten schwer, wischten sich schon nach dem dritten Kurzen die Stirn. Es wurden Trinklieder gesungen, und die Onkel tanzten mit den Frauen ihrer Söhne. [...] Die freundlichen Feiern, die sechs oder siebenmal im Monat abgehalten wurden. In jedem Jahr, in jedem Monat jeden Jahres.84 81 Ebd., S. 149. Ebd., S. 149. 83 Ebd., S. 23. 84 Ebd., S. 10f. 82 34 Für die meisten Familienmitglieder war es sehr schwer, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Helene Schynoski, die Großmutter der Hauptfigur war immer bereit nach Fürsten-Altguth zurückzukehren. Die Einrichtung der Wohnung verweist darauf, als ob die ganze Familie auf den gepackten Koffern gelebt hätte. Mit einem Mal erklärte sich mir auch die immer provisorisch eingerichtete Wohnung, in der ich von Mutter und Großmutter erzogen worden war. Helene Schynoski wollte bereit sein, die Sachen zu packen, wenn es soweit gewesen wäre.85 In der Öffentlichkeit wurde über die Vertreibung nicht diskutiert. Familie Schynoski musste seine Herkunft verleugnen: „ Unser schlesisches Blut. [...] In der Familie nahm man ein solch schwerwiegendes Wort nicht in den Mund.“86 Schynoski konnte die familiären Erinnerungen nicht bekannt geben. Ich verstand von Anfang an, dass die Warnung meiner Großmutter, der Mutter, nicht aus der Luft gegriffen sein konnte. Wir waren gefährliches Gut. Schon einmal unter Lebensgefahr transportiert.87 Alle Familienmitglieder konnten ihre Vergangenheit nicht zur Schau tragen. Nicht zuletzt wurden sie aber in der neuen Realität schikaniert oder verfolgt. Als Beweis dafür gilt die Brandstiftung des Hauses, wo Familie Schynoski und die anderen Vertriebenen gewohnt haben. Olaf Müller hat in seinem Roman eine fiktive Familie geschaffen, deren Erlebnisse fiktiv aber zugleich wahrscheinlich sein können. Das Zentrum der Vergangenheit bilden private Erinnerungen der Protagonisten. Die Frage der Vertreibung wird aber selektiv dargestellt, ohne Versuch die damaligen Ereignisse zu beurteilen. 3.2.2 Figuren und ihr soziales Umfeld- zur geschlossenen Gesellschaft der DDR Eine der Hauptfolgen des zweiten Weltkrieges war die teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen (englische, amerikanische, französische und sowjetische), aus denen sich später zwei Teilstaaten entwickelt haben: BRD und die DDR. Obwohl die Deutsche Demokratische Republik in ihrem Namen das Wort 'demokratisch' beinhaltete, hatte diese Staatsform mit der Demokratie nichts zu tun. 85 Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. 87 Ebd., S. 163. 86 35 Die Sowjetunion, die in diesem Teilstaat ihre Herrschaft ausübte, wollte bei der Bevölkerung ein sozialistisches Weltbild gestalten. Eine der Hauptmethoden, die dazu führen sollten, war die Zensur. Sie betraf fast alle Spähren des menschlichen Lebens, wie Politik, Meinungsfreiheit, Religion usw. Die Rechte der Bürger wurden eingeschränkt. Jede Form des Widerstandes wurde sofort im Keim erstickt. Gerade unter diesen schwierigen Umständen musste sich die Familie Schynoski nach der Vertreibung zurechtfinden. Weil die komunistische Obrigkeit durch die Ausweisung der deutschen Bevölkerung die polnischen Gebiete wieder gewinnen konnte, wurde die Frage der Vertriebenen tabuisiert. Die Familie Schynoski musste jahrelang ihre Herkunft verleugnen, um von dem Staat nicht verfolgt zu werden: Neben dem Geschichtenerzählen vervollkommneten sie die Fähigkeit, ihre Köpfe unten zu halten. Wie damals. Dass er nur nicht aus der Familie dringt, der phantastische Faden, mit dem ich eingestrickt werden sollte, dessen Verschnürungen, Knoten und Verwirrungen mir an den Atem gehen wollten. Ich sollte schwigen lernen, wie sie es gelernt hatten. In der Öffentlichkeit schweigen. Für die Alte Heimat gab es die Familie.88 Den Familienmitgliedern blieb es nur, sich im geschlossenen Kreis der Verwandten zu treffen und die familiäre Geschichte herbeizurufen. In der Öffentlichkeit war die Frage der Vertreibung das Tabu-Thema: In meiner Schule kamen Geschichten wie die unsere ohnehin nicht vor, und ich durfte die Lehrerin nicht darüber belehren, dass es solche wie mich gab, die aus einer unberichtbaren Familie kamen.[...] Ich verstand von Anfang an, dass die Warnung meiner Grossmutter, der Mutter, nicht aus der Luft gegriffen sein konnte. Wir waren gefährliches Gut. Schon einmal unter Lebensgefahr transportiert.89 Dasselbe Schicksal betraf auch andere Vertriebenen, die sich in Leipzig niedergelassen haben. Im Roman taucht aber eine Figur auf, die sich der komunistischen Macht widersprechen wollte und ihre Vergangenheit ans Licht zu bringen versuchte: Meier entspränge wie ich der ersten Generation. Dann sah er mich lange an. Ein Verschwörer. Und schlug mir vor, erst einmal im kleinen, das Schweigen im Osten zu brechen, vielleicht in der 88 89 Ebd., S. 23. Ebd., S. 163. 36 Studentenzeitung, und über unsere Sache, wie er das nannte, zu recherchieren und zu berichten.90 Dafür hatte aber Schynoski kein Verständnis, denn er war am Beispiel eigener Familie schon dessen bewusst, dass solche Bemühungen in der DDR im Voraus zum Scheitern verurteilt worden wären. Darüber hinaus muss hier noch gesagt werden, dass in den 60er Jahren während der Studentenrevolte das Schreiben oder Sprechen über das deutsche Leid politisch inkorrekt war. Olaf Müller stellt in seinem Roman ein Stück deutscher Geschichte vom Ende des zweiten Weltkrieges bis in die Gegewart dar. Am Beispiel der fiktiven Figuren wurde der historische Hintergrund aufgezeigt, der nicht nur in Deutschland sondern auch im ganzen Europa von Bedetung war. Dank der Einbettung der Geschichte der Familie Schynoski in dieser Zeitspanne kann der Leser die DDR-Realität näher kennen lernen. 3.3 Die motivationale Verkettung von Ereignissen in narratologischen Texten Das Ereignis oder Motiv bedeutet nach Scheffel und Martinez die kleinste, elementare Einheit der Handlung. Dieser erzählteoretische Terminus wurde zum ersten Mal von Boris Tomaševskij definiert. Nach dem russischen Formalisten versteht man unter diesem Begriff Materials eines „ [...] die nicht mehr weiter unterteilbare Einheit des thematischen Erzähltextes“91. Motive bestehen grundsätzlich aus zwei zusammengesetzten Elementen, d.h. Subjekt und Prädikat. Subjekte sind: Gegenstände oder Personen. Prädikate repräsentieren dagegen Geschehnisse, Handlungen, Zustände und Eigenschaften. Je nachdem, ob die Situation in einem narrativen Text verändert wird, kann man die Motive in zwei Gruppen einteilen: 1. Zu den dynamischen Motiven zählt man: a. Geschehnisse, bei denen eine nichtintendierte Zustandsveränderung vorkommt. b. Handlungen, bei denen sich die Situationen in Abhängigkeit von der Handlungsabsichten menschlicher oder anthropomorpher Agenten verändern. 2. Zu den statischen Motiven gehören: 90 Ebd.., S. 164. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.108-134 (hier S.108). 91 37 a. Zustände, d.h. Informationen. b. Eigenschaften, d.h. das Aussehen der Figuren. Wenn man aber in Betracht zieht, ob die Motive „für den Fortgang der Haupthandlung unmittelbar kausal notwendig sind“92, so kann man sie folgend einteilen: a. verknüpfte Motive, die den weiteren Verlauf der Handlung beeinflußen. b. freie Motive, die für die Handlung des Textes nicht relevant sind. Die relativ einheitliche abgeschlossene Kette von Ereignissen bildet ein Geschehen. Damit eine zusammenhängende Geschichte entsteht, müssen die einzelnen Ereignisse nicht nur auf- sondern auch auseinander folgen, d.h. chronologisch und nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit. In den fiktionalen Texten kann aber diese chronologische Abfolge von Ereignissen durch Verwechslung der Zeiten, d.h. Anachronien durchgebrochen werden. Die dargestellten Veränderungen müssen nach bestimmten Regeln oder Gesetzen motiviert sein. Unter dem Begriff Motivierung oder Motivation versteht man also „[...] den Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählten oder dramatischen Text dargestellte Geschehen“93. Dank dessen werden die Ereignisse in einen sinnhaften Erklärungszusammenhang integriert. Man unterscheidet drei Arten von narrativer Motivierung: - empirisch-kausale - finale - kompositorische oder ästhetische In der kausalen Motivierung wird ein Ereignis in einen Ursache-WirkungZusammenhang eingebettet, d.h. die Ereignisse stehen in enger Beziehung zueinander. Das betrifft Figurenhandlungen, Geschehnisse, Gemenlagen sich überkreuzender Handlungen, nicht intentionales Geschehen und Zufälle.94 Bei den älteren, vor allem religiösen Erzähltexten ist der Handlungsverlauf von Anfang an festgelegt. Die erzählte Welt wird von einer numinosen, göttlichen und allmächtigen Instanz beherrscht. In diesen Texten hat man mit der finalen Motivierung zu tun, weil alle kausal bestimmte Sequenzen einer finalen Bestimmung untergeordnet sind.95 Die letzte Art narrativer Motivierung erfüllt eine künstlerische Funktion. Sowohl freie als auch verknüpfte Motive können kompositorisch motiviert sein. Im ersten Fall besteht eine semantische Relation zwischen dem einzelnen Motiv und der Gesamtheit 92 Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. 94 Vgl., ebd., S. 111. 95 Vgl., ebd., S. 112. 93 38 der Handlung.96 Die freien Motive können metaphorisch, d.h. durch Ähnlichkeit verwendet werden. Falls sie aber durch räumliche, kausale oder zeitliche Nähe bestimmt werden, so hat man dann mit der metonymischen Verwendung eines Motivs zu tun. Die narrativen Motivierungen können dem Leser im Text entweder explizit oder implizit vermittelt werden. Explizit geschieht die Motivierung durch erklärende Aussagen der Erzählfigur. Implizite Vermittlung geschieht, wenn die Erklärung von Ereignissen aus eigener empirischer Weltkenntnis oder aus den Erwartungsrahmen, die mit der bestimmten Gattung verbunden sind, abzuleiten ist. Die Motivierungsfrage spielt eine wichtige Rolle bei der Analyse eines narrativen Textes, weil sie hilft dem Leser den Text richtig zu interpretieren. 3.3.1 Motivierung von Ereignissen in Schlesisches Wetter von Olaf Müller Im Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller sind fünf Motive herauszusondern, die eine zusammenhängende Geschichte bilden. Dazu zählt man folgende Ereignisse: 1. Vertreibung 2. Auftrag der Redaktion 3. Gespräch mit Mutter 4. Ankommen in Breslau 5. Treffen mit Agnieszka Jeder Motiv hat einen großen Einfluss auf die ganze Geschichte und determiniert das Leben der dargestellten Figuren. Vom daher kann man sie als verknüpfte Motive erfassen. Die Ereignisse stehen im Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zueinander. Diese Beziehung verweist auf die kausale Art der narrativen Motivierung. Die Vertreibung gilt als das erste und zugleich entscheidende Ereignis, denn es verursacht alle anderen Motive des Romanes. Dieses Ereignis betrifft eine konkrete Gruppe von Menschen, die nach 1945 aus Schlesien vertrieben worden sind. Die Familie Schynoski ist in Folge des zweiten Weltkrieges gezwungen worden, ihr ganzes Vermögen zu verlassen. Die Protagonisten haben sich in Leipzig niedergelassen. Die Erinnerung an die Alte Heimat begleitet aber sie jahrelang und hat einen großen Einfluss auf das Leben der Nachkommen. Alexander Schynoski, der Sohn einer Vertriebenen versuchte lebenslang der familiären Geschichte zu entkommen. Erst der Auftrag, den Schynoski von seiner Redaktion bekommen hat, schafft ihm eine 96 Vgl., ebd., S. 114. 39 Möglichkeit, sich endlich mit den Folgen der Vertreibung zu konfrontieren. Der Bildband über Breslau von den zwei polnischen Journalisten ist für ihn wie ein Reiz und bringt ihn dazu, dass er sich für die Reise in die Alte Heimat entscheidet. Bevor aber die Hauptfigur in Breslau ankommt, besucht sie ihre Mutter, die sie seit zwölf Jahren nicht gesehen hat. Schynoski gelingt es nicht, seine Mutter zur gemeinsamen Resie zu überzeugen. Trotzdem erzählt Ilse Schynoski zum ersten Mal ihrem Sohn von der Flucht aus der alten Heimat. Die beklemmende Beschreibung der Vertreibung und die Erinnerung an die gemütliche Zeit in Fürsten-Altguth beeindrücken den vierzigjährigen Mann. Er macht sich auf die Suche nach eigener Identität. Der Besuch in Breslau ändert seine bisherige Polenwahrnemung. Die polenbezogene Stereotype werden Schritt für Schritt abgebaut. Endlich hat die Hauptfigur eine Möglichkeit, die familiären Erinnerungen mit der Realität zu vergleichen. Am Ende der Reise trifft er schließlich Agnieszka, in der er sich verliebt und beschließt, bei ihr das eigene, nicht von der Familiengeschichte eingeprägte Leben anzufangen. Diese Entscheidung verweist darauf, dass Schynoski sich endlich mit der Vergangenheit seiner Vorfahren abfindet. 3.4 Raumentwurf Bei der Analyse eines narrativen Textes muss man Jurij M. Lotman zufolge die räumliche Kulisse in Betracht ziehen. Der estnische Literatur- und Kulturwissenschaftler weist in seiner Überlegungen darauf hin, dass die räumliche Ordnung zentral für die Bedeutungskonstituierung narrativer Texte ist. Die Bedeutung von Erzählungen lässt sich dem zufolge auf die räumlichen Komponente zurückführen. Der Raum wird mit der zeitlichen Situierung gleichgestellt als der zentrale Bestandteil der fiktionalen Wirklichkeitsdarstellung. Je nachdem welche Funktion die Räume in den narrativen Texten erfüllen, kann man sie in drei Gruppen einteilen: 1. Aktionsraum, d.h. der Schauplatz der Handlung. 2. Anschaungsraum, mit dem sich die Figuren distanzieren oder identifizieren können in Abhängigkeit davon, welche Einstellung sie zu ihm haben. 3. Raum, in dem Emotionen und Stimmung im Vordergrund stehen. Die sujethafte (d.h. narrative) Texte sollen im Sinne Lotmans drei Bedingungen erfüllen: 1. Die erzählte Welt muss in zwei komplementäre Teilräume aufgeteilt sein, die oppositionell zueinander stehen, z.B. hoch vs. tief. 40 2. Die Teilräume müssen durch eine Grenze getrennt sein, die normalerweise impermeabel, d.h. undurchläßig ist. In den sujethaften Texten ergibt sich aber eine Möglichkeit, dass der Held diese Grenze überschreiten kann, wodurch sich eine narrative Dynamik entwickelt. 3. Es muss ein Held sein, der die Handlung trägt und sich zwischen den beiden komplementären Teilräumen bewegen kann. Die Sujet-Raum-Struktur ist Lotman zufolge ein notwendiges Merkmal bedeutungshaltiger narrativer Texte97. In Abhängigkeit von Überschreitung einer klassifikatorischen Grenze unterscheidet man zwischen: 1. revolutionären Texten, in denen die Grenzüberschreitung vollzogen wird. 2. restitutiven Texten, in denen der Versucht die Grenze zu überschreiten scheitert oder gelingt, aber wieder rückgängig gemacht wird. Die komplementären Untermenge einer erzählten Welt stehen im Gegensatz zueinander. Die Entfaltung dieser Gegensätze realisiert sich auf drei Ebenen: 1. topologisch, d.h. durch Oppositionen, wie: <innen vs. außen>; <linksvs. rechts>. 2. semantisch, die mit Wertungen einhergeht, wie ,gut vs. böse>; <vertraut vs. fremd>; <natürlich vs. künstlich>; <ländlich vs. städtisch>; <statisch vs. dynamisch>. 3. topographische, die die erzählte Welt konkretisiert, wie <Stadt vs. Land>; <Berg vs. Tal>; <Himmel vs. Hölle>. Die Raumgestaltung spielt eine wichtige Rolle, denn sie wird zum organisierenden Element, das auch die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt98. Die räumliche Ordnung ist wie die kulturelle Ordnung der Welt topologisch strukturiert99. Von daher betrifft sie auch andere Sphären des menschlichen Lebens, wie soziale, religiöse, politische oder moralische Modelle. Die räumliche Kulisse ergibt im narrativen Text eine autonome Sinnstruktur, deswegen wird ihre Bedeutung von Lotman so hervorgehoben. 3.4.1 Räumliche Ordnung in Olaf Müllers Schlesisches Wetter 97 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungs- und Tiefenstrukturen.. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.134-144 (hier S. 144). 98 Vgl., ebd., S. 141. 99 Vgl., ebd., S. 143. 41 Im Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller unterscheidet man zumindest drei Aktionsräume, die als Schauplätze der Handlung gelten, d.h. Berlin, Leipzig, Breslau und seine Umgebung. Mit diesen Städten sind ganz bestimmte Gefühle, Erinnerungen und Ereignisse verbungen. Jede Stadt hat auch andere Dimension in Abhängigkeit davon, womit sie assoziiert wird. Die Handlung des Romanes fängt in Berlin an, wo Aleksander Schynoski mit seiner Geliebte Maureen wohnt. Hier arbeitete er in der Redaktion als Sportredakteur. Die Hauptfigur erinnert sich an den Ostbahnhof, der früher Schlesischer Bahnhof hieß: „In der Nähe des Ostbahnhofs wohnte ich, bevor ich Maureen traf“100. Die Realität in der DDR wiederspiegelt sich in seiner Beschreibungen: Über mir logierte ein ehemaliger General der Sicherheit, den ich aus der Zeitung kannte. Er grüßte sehr zuvorkommend, zog den Hut. Es wimmelte in diesem Haus [ das sich in der Stalinallee befand] von Parteisäkreteren. Aushänge im Treppenhaus forderten dazu auf, ihnen Versammlungen beizuwohnen. Der Kommunistischen Plattform beizutreten oder der Volkssolidarität.101 Schynoski erinnert sich besonders stark an den Markt, der neben dem Ostbahnhof war. Da konnte man sich unter anderem die Jacken kaufen, die im ganzen Osten vor dem Mauerfall in Mode waren. Berlin ist auch ein Anschaungsraum, zu dem die Hauptfigur eine bestimmte Einstellung hatte: Auch wenn die Blocks bunt getüncht worden waren, änderte das nichts an der Erbarmungslosigkeit, die mich in dieser Umgebung anfiel. Als wäre sie nie mehr zu reparieren. 102 In diesem Raum herrschte eine bestimmte Stimmung. Das Gefühl der Angst, das man im ganzen Ostdeutschland in dieser Zeit spüren konnte, wurde am Beispiel der Einkäufer aufgezeigt: Dennoch spiegelte sich in den Gesichtern der Einkäufer das Glück wider, diese Einkäufe getätigt zu haben, diese Stücke endlich erworben zu haben, um sie nach Hause zu bringen, in die Höhle zu schleppen, aber gleichzeitig sah ich auch die Angst, die dieses Gefühl begleitete und unterminierte, die Angst, das wertvolle Gut könnte ihnen wieder genommen werden. Die Zeiten seien unberechenbar, hörte ich sie denken.103 100 Müller, Olaf: Schlesisches Wetter, S. 48. Ebd., S. 48f. 102 Ebd., S. 50. 103 Ebd, S. 50. 101 42 Als der zweite Aktionsraum gilt Leipzig. In dieser Stadt ist die Hauptfigur geboren und großgewachsen. Für die älteren Generation der Familie Schynoski hat sie aber eine ganz andere Dimension. Hier haben sie nämlich nach dem Kriegsende neue Heimat gefunden. Die Einstellungen der einzelnen Protagonisten zu diesem Ort sind aber unterschiedlich. Die meisten Familienmitglieder distanzierten sich von dieser Stadt. In Leipzig fühlten sie sich einsam, fremd und unsicher. Als Vertriebene wurden sie von dem Rest der Gesellschaft isolliert. Die politische Struktur des Staates hatte einen großen Einfluss auf das familiäre Zusammenleben. Die Herkunft der Familie konnte nicht ans Licht gebracht werden. Trotzdem trafen sich die Familienmitglieder oft zusammen, um die Erinnerungen an die Alte Heimat hervorzurufen. Manche Protagonisten, wie Helena Schynoski, waren immer bereit nach Fürsten-Altguth zurüchzukehren. Die anderen dagegen, obwohl sie jahrelang auf den gepackten Koffern lebten, wollten sich lieber mit der neuen Realität nicht konfrontieren. Alexander Schynoski hatte eine zweierleie Einstellung zu dieser Stadt. Einerseits weckt bei ihm Leipzig positive Gefühle in Verbindung mit der Schulzeit und seinen Schulkammeraden. Auf der anderen Seite wird seine Kindheit mit den Familienfesten assoziiert, auf denen man ununterbrochen über die Alte Heimat erzählte. Auch am Beispiel dieses Raumes wird die DDR-Realität aufgezeigt. Besonders stark sieht man das in den Erinnerungen der Hauptfigur an die heufigen Reise zwischen Berlin und Leipzig durch Jüterbog, wo die russische Armee stationierte, weiterhin durch Wittenberg und das verschmutzte Bitterfeld. Breslau, der dritte Aktionsraum, spielt eine representative Rolle, denn am Beispiel dieser Stadt wird die polnische Realität dargestellt. Alexander Schynoski kommt in diese Stadt an, um auf die Spuren seiner Familiengeschichte zu stoßen. Während des Aufenthalts im Hotel Polonia konfrontiert sich die Hauptfigur mit den Stereotypen, die durch seine Sozialisation eingeprägt waren. Mit der Zeit ändert sich aber seine bisherige Polenwahrnehmung. Breslau, das Schynoski von den Erinnerungen seiner Familienmitglieder kannte, scheinte ihm jetzt fremd zu sein. Die Wirklichkeit entsprach seinen Vorstellungen über diese Stadt nicht: Die Stadt kehrte in mein Blickfeld zurück. Ich war ringsum von Breslau umstellt, womit ich niemals gerechnet hatte. Ich wurde dazu das unaussprechliche Gefühl nicht los, dass die Bewohner dieser unwirklichen Stadt nicht zu ihr gehörten, sondern zu einer anderen, 43 wirklicheren Stadt. Dieses Gefühl bildete die Tyrannei meines fehlprogrammierten Gedächtnisses ab.104 Fürsten-Altguth, das Dorf aus dem die Familie Schynoski stammt, kannte die Hauptfigur nur aus den Erzählungen seiner Verwandten. Sehr genaue Beschreibung dieses Raumes taucht beim Gespräch zwischen Ilse Schynoski und ihrem Sohn auf. Dieses Dorf ist bestimmt ein Anschaungsraum, denn mit diesem Ort verbinden sich die Erinnerungen, Emotionen, Gefühle und tragische Geschichte der ganzen Familie. Obwohl Ilse Schynoski schon fast fünfzig Jahre da nicht gewesen war, konnte sie sich sehr genau an dieses Dorf und seine Umgebung erinnern: Im Sommer war es herrlich, im Winter eisekalt. Es gab viel Gewitter, hat eingeschlagen und gebrannt. Sonnabend wurde die Straße gefegt und der sommerweg geharkt, und wenn Pfingsten war, wurden Lindenzweige abgebrochen. Wenn man nach Wilhelminenort wollte, konnte man über Lampersdorf gehen, man konnte aber auch den Lindenweg gehen, das war ein feldweg, dort war alles voller Linden, Lindenzweige wurden an die Zäune gesteckt, das war unser Pfingstschmuck. 105 Wie sich aber diese Umgebung nach dem Krieg geändert hat, erfuhr sie nur von ihrer Familienmitglieder, die dahin gefahren sind: Mathilde war zweimal nach dem Kreig wieder dort, nach der Wende; das Dorf isr erhalten, die Leute sollen freundlich zu ihr gewesen sei, es gibt sogar Neubauten, die Kirche haben sie wieder aufgebaut, aber unsere Gräber, die sind weg, die Grabsteine haben sie als Fußwegplatten genommen, das weiss ich aber nicht so genau. Jeder erzählt da was anderes.106 Der Roman schlesisches Wetter von Olaf Müller gehört zu den revolutionären Texten, denn man hat hier mit der vollzogenen Grenzüberschreitung zu tun. Alexander Schynoski als Träger der Handlung überschreitet die Grenzen, was zur Entfaltung der narrativen Dynamik führt. Dieser sujethafte Text beinhaltet folgende sich ergänzende Hauptteilräume: 1. Polen vs. Deutschland. 2. Gegenwart vs. Vergangenheit. 3. Stadt vs. Dorf. 104 Ebd., S. 182. Ebd., S. 139. 106 Ebd., S. 139. 105 44 Diese komplämenteren Untermengen stehen im Gegensatz zueinander. Alle drei Gegesatzpaare realisieren sich auf der topographischen Ebene. Sie konkretiesieren entweder räumlich oder zeitlich die erzählte Welt. Die Überschreitung der Grenze zwischen Deutschland und Polen trägt dazu bei, dass die Hauptfigur ihre Einstellung zu diesem Staat ändert. Hier lernt er Agnieszka kennen und entschließt sich in Polen bei ihr das neue Leben zu beginnen. Mit dem Ankommen in Polen wird auch die Grenzüberschreitung zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzogen. Alexander Schynoski kann endlich die familiären Erinnerungen mit der Realität konfrontieren und dadurch seine Familiengeschichte aufzuarbeiten. Die ältere Generation der Familie Schynoski stammt aus dem schlesischen Dorf, das als die Alte Heimat genannt wird. Die Hauptfigur ist dagegen in Leipzig großgewachsen und mit dieser Stadt identifiziert sie sich. In diesem für Schynoski vertrauten Ort fühlten sich aber die anderen Protagonisten fremd und einsam. In der Auseinandersetzung mit der räumlichen Ordnung muss gesagt werden, dass die Existenz der Figuren stark von den Räumen abhängt und beeinflußt wird. Jedem Ort wird eine andere Bedeutung zugeschrieben. Je nachdem welche Einstellung die Protagonisten zu den einzelnen Räumen haben, wecken sie unterschiedliche Emotionen. Diese Räume berühren auch solche Spheren des menschliechen Lebens wie: Politik, Sozialisation oder Moralität. 3.5 Erzählinstanz In der Auseinandersetzung mit der Erzählperspektive muss gesagt werden, dass die literarischen Texte „[...] durch ein vielfältiges und komplexeres Zusammenspiel unterschiedlicher Erzählstrukturen gekennzeichnet sind.“107 Der französische Literaturwissenschaftler Genette hat drei mögliche Erzählfiguren unterschieden: 1. homodiegetischer Erzähler, d.h. der Handlungsbeteiligte. 2. autodiegetischer Erzähler, d.h. ein Teil der Diegese und zugleich die Hauptfigur. 3. heterodiegetischer Erzähler, d.h. der Handlungsunbeteiligte. Grundsätzlich kann man drei typische Erzählsituationen heraussondern: ich-bezogene, auktoriale und personale. Franz K. Stanzel geht in seinem Modell davon aus, dass die 107 Schülein, Frieder/Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.54-69 (hier S. 65). 45 erzählte Wirklichkeit je nach der Erzählperspektive anders konstruiert werden kann. Dabei zieht er zwei Dimensionen in Betracht: 1. Erzählposition, d.h. inwieweit ist die Erzählfigur in die erzählte Geschichte involviert. Dem zufolge kann der Erzähler aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten erzählen oder an der Handlung nicht unmittelbar beteiligt sein, d.h. die Informationen aus der anderen Hand haben. 2. Erfahrungsmodus, d.h. wie das dargestellte Ereignis vom Erähler verarbeitet wird. Der Erzähler kann entweder die Geschehnisse reflektiert wahrnehmen oder eine begrifflich und logisch kohärente Geschichte wiedergeben. Hier muss man sich eine Frage stellen, ob die Erzählperspektive in der Außenwelt fällt oder ob es sich eher um die Innenwelt d.h. Gedanken, Gefühle handelt. Aus der Verknüpfung dieser beiden Dimensionen entstehen vier verschiedene Erzählperspektiven: 1. Ich-Perspektive: Wissen aus der Sicht des Handelnden. 2. Auktoriale Perspektive: Wissen aus der sicht des Beobachters. 3. Erlebnisperspektive: Verselbständigung des inneren Geschehens des IchErzählers. 4. Erlebnisperspektive: Verselbständigung des inneren Geschehens der Handelnden. Im Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller hat man mit der Polyperspektivität zu tun. Alexander Schynoski gilt als homodiegetischer Erzähler, denn er ist an der Handlung unmittelbar beteiligt, ist ein Teil der Diegese. Der Focus, d.h. die Erzählperspektive fällt sowohl in der Innen- als auch in der Außenwelt des IchErzählers. Die Erzählfigur erzählt aus der Perspektive eines knapp vierzigjährigen Mannes von den Ereignissen, die sie am eigenen Leib erlebt hat, z.B. die Erinnerungen an die Kindheit. Er zeigt dabei eigene Gefühle auf und nimmt eine bestimmte Stellung zu den einzelnen Figuren und Ereignissen. Im Roman lassen sich aber auch andere Erzählfiguren unterscheiden. Damit werden die anderen Mitglieder der Familie Schynoski gemeint. Sie erinnern sich an die Ereignisse aus der Vergangenheit und schildern sie aus der eigenen Perspektive. Im Text kann man auch die auktoriale Erzählperspektive unterscheiden: „Schynoski hatte keinen Plan für die nächste Zeit.“108 108 Müller, Olaf: Schlesisches Wetter, S. 101. 46 Aus der Analyse des Romanes Schlesisches Wetter von Olaf Müller ergibt sich deutlich, dass in den literarischen Texten die Erzählfigur im Gegensatz zur Altagskommunikation frei von dem Wahrheitsanspruch ist und dadurch kann sie eine komplexere und nicht zuletzt künstliche Welt gestalten. 3.6 Zeitlicher Situations- und Ereignisrahmen Charakteristisch für die fiktionalen Texte ist die Tatsache, dass die Erzählfigur ungleich freier und artistischer über die Zeitachse109 verfügt. Daraus ergibt sich, dass der sprachliche Ablauf der Erzählung mit der chronologischen Reihenfolge der erzählten Geschehnisse nicht übereinstimmen muss. Die lineare Zeitgestaltung kann durch Zeitsprünge, d.h. Anachronien unterbrochen werden. Dazu zählt man: 1. Analepse, d.h. der Zeitsprung in die Vergangenheit. 2. Prolepse, d.h. der Zeitsprung in die Zukunft. Die meisten Ereignisse des Romanes Schlesisches Wetter von Olaf Müller sind in die 1990-er Jahre eingebettet. Die gegenwärtigen Ereignisse folgen nacheinander, d.h. sie werden chronologisch dargestellt. Im Text kommen aber zahlreiche Rückwendungen vor. Die Protagonisten erinnern sich nämlich an ihre Vergangenheit. Die Hauptfigur greift in seinen Erinnerungen mehrmals auf die Zeit seiner Kindheit in Leipzig zurück. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Schynoski sehr genau die damaligen Ereignisse beschreibt: Tatsächlich wäre es sehr gefährlich gewesen, halbblind durch die Ruinen zu stolpern, in denen wir noch Ende der sechziger Jahre in Leipzig gespielt haben. Unter dem Schutt lagen überall Eingänge zu feuchten Kellerlöchern. Ein falscher Schritt, und wir wären metertief in die Abgründe gestürzt, die der Krieg hinterlassen hatte. Überwucherte Kratzer, heimtückische Gruben, Fallen. [...]110 Direkt meinem Haus gegenüber lagen die trümmer der Dosenfabrik Köhler, die an ein Ruinengrundstück grenzte, wo vor der Bomberdierung ’43, als meine Familie noch in Fürsten-Altguth saß, ein wohnhaus gestanden hatte.111 Die Erinnerungen werden oft durch verschiedene Gegenstände verursacht, wie z.B. bei Ilse Schynoski durch den Bildband über Breslau oder zahlreiche Fotos: 109 Vgl. Schülein, Frieder/Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, a.a.O., S.65. 110 Müller, Olaf, Schlesisches Wetter, S. 8. 111 Ebd., S. 8. 47 Ich erinnere mich an kein Kind in meiner Klasse, das dick gewesen wäre. Damals war nach sicher nicht die Zeit für übergewichtige Kinder, stellte ich nach der Besichtigung dunkelvergilbter Klassenaufnahmen aus der Sechzigern fest.112 Die ältere Generation der Familie Schynoski ruft hingegen in ihrem Gedächtnis die Ereignisse aus der Zeit des zweiten Weltkrieges und eine kurze Zeitspanne nach 1945 herbei. Sie sind größtenteils mit der alten Heimat verbunden. Nicht zuletzt wiederspiegeln diese Erinnerungen Gewalt und Gräueltaten des Krieges: Die Polen haben uns nicht vergewaltigen wollen, die haben uns nur schikaniert, früh wurden wir zur arbeit eingeteilt, vergewaltigt haben sie uns nicht, sie haben uns zermürbt, die haben uns beschimpft.113 Im Roman kann man außer Analepse auch Prolepse unterscheiden. Als das beste Beispiel dafür gilt hier das Moment, als die Hauptfigur sich in ihrem Kopf den Besuch in Breslau ausmalte: Ich finde kein Hotelzimmer und bin gezwungen, die Nacht auf dem Bahnhof zu verbringen oder in einem modrigen Hauseingang. Die Männer aus dem Monopol stecken Pennern Złotykleingeld zu und erkundigen sich nach mir. Aus vielerlei Auskünften bekommen sie schließlich Wind von meinem Aufenthaltsort, sind im Vorteil, weil sie wissen, wohin ich mich verkrochen habe, ich aber nicht weiss, woher sie kommen werden. 114 Die Anachronien spielen eine wichtige Rolle. Der Leser kann dank den Analepsen die Geschichte der Familie Schynoski kennen lernen. Sie haben aber vor allem einen großen Einfluss auf die einzelnen Protagonisten. Die Vergangenheit determiniert nämlich ihr gegenwärtiges Leben, wie z.B. die Erinnerungen der Hauptfigur, die sie dazu verführt haben, dass sie sich für die Reise in das schlesische Dorf entscheidet, um sich mit der Familiengeschichte zu konfrontieren. 3.7 Fazit Der Roman Schlesisches Wetter von Olaf Müller referiert auf die realen Fakten, die am Beispiel der fiktiven Figuren beschrieben werden. Die Ereignisse betreffen die Zeitspanne vom Ende des zweiten Weltkrieges bis in die 1990-er Jahre. Der Autor 112 Ebd., S. 40. Ebd., S. 143. 114 Ebd., S. 172. 113 48 berührt im Roman unterschiedliche Themen, wie die Frage der Vertreibung, der Heimatverlust und Neubeginn unter schwierigen Umständen in der DDR und die stereotypen Vorstellungen Deutschen Polen gegenüber. In den vorigen Kapiteln wurden folgende Ebenen der Analyse berücksichtigt: der Aufbau von Figuren, die Erzählinstanz, der Raumentwurf und die Zeitgestaltung im narrativen Text. Hinsichtlich der Figurenkonstellation wurde vor allem die Familie Schynoski hervorgehoben, als Träger des kollektiven Gedächtnisses. Auf der Ebene der Erzählinstanz wurde die Erzählfigur und ihre Einstellung zu der erzählten Welt analysiert. Weiterhin wurden die Teilräume des Romanes festgestellt, die für den Verlauf der Handlung von Bedeutung sind. Dabei wies man auch darauf hin, dass die Räume in einer gewissen Gegenüberstellung zueinander stehen. Aus der Analyse der zeitlichen Gestaltung des Romanes ergab sich die Unterbrechung der Chronologie von Ereignissen durch die Anachronien, die meistens auf die Vergangenheit bezogen sind. Die vorgenommenen Kriterien bestätigen die These, dass bei der Analyse eines fiktiven Textes nicht nur der Inhalt sondern auch die Art und Weise der Vermittlung in Betracht gezogen werden sollten. Dies ermöglicht dem Leser, den sujethaften Text in mehrperspektivischer Sicht zu betrachten. 4. Zusammenfassung In der vorliegenden Arbeit wird am Beispiel des Romanes Schlesisches Wetter von Olaf Müller der Zusammehang zwischen den Gedächtnis- und Erinnerungskulturen und der Literatur aufgezeigt. Durch die Analyse des Textes versucht man festzustellen, inwieweit die Erinnerungen und das Gedächtnis das Leben bestimmter Gesellschaftsgruppen determienieren. Dabei wird eine konkrete Gruppe berücksichtigt, die nach dem zweiten Weltkrieg zum Verlassen ihr ganzes Vermögen gezwungen war. Im ersten Kapitel wird das Ziel der Arbeit bestimmt. In diesem Teil werden wichtige Aspekte hervorgehoben, die man bei der Analyse des Romanes berücksichtigen sollte. Weiterhin wird auf bestimmte Tendenzen in der Literatur hingewiesen, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Der zweite Kapitel beinhaltet die methodologische Analyse des aktuellen Gedächtnisdiskurses. Dabei werden die Gedächtniskonzeptionen der wichtigsten Theoretiker erläutert, wie Aleida und Jan Assmann, Pierre Nora, Maurice Halbwachs und Aby Warburg. In diesem Kapitel wird auf zwei spezifische Begriffe aufmerksam 49 gemacht: die Heimat und ihr Verlust und das Stereotyp. Hier wird auch die Frage der Vertreibung im historisch-politischen Kontext dargestellt. Als letztes Punkt dieses Kapitels gilt hier die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten in den literarischen Texten. Im dritten Kapitel geht man zur Analyse des Romanes Schlesisches Wetter von Olaf Müller über. Der narrative Text wird nach bestimmten Kriterien analysiert, die folgende Aspekte berücksichtigen: Figuren und ihr soziales Umfeld, die motivationale Verkettung von Ereignissen, die Erzählperspektive, die räumliche Kulisse sowie die zeitliche Fixirung. Das letzte Kapitel der vorliegenden Diplomarbeit beinhaltet die Didaktisierungsvorschläge. Die Stundenentwürfe zeigen, wie die im Roman vorgenommene Thematik vom Lehrer im DAF-Unterricht einbezogen werden kann. 50 5. Praktischer Teil- Didaktisierungsvorschläge 5.1 Didaktisierungsvorschlag Nr 1 Zielgruppe: 3 Klasse- Allgemeinbildendes Lizeum Zeit: 45 Minuten Thema: Typisch deutsch? Pragmatische Ziele: Ich kann anhand des Textes sagen, wie die Deutschen sind. Kognitives Ziel: Ich weiß, was ein Stereotyp ist und wie man es abbauen kann. Sozial-affektives Ziel: Ich kann mit anderen Schülern in der Gruppe zusammenarbeiten. I Begrüßung Die Schüler werden mit einem Guten Tag begrüßt. Die Lehrerin prüft die Anwesenheit. Sozialform: Frontalunterricht. Feinziel: ------------ Zeit: 1 Minute. Materialien: ----------- II Aufmunterung Die Lehrerin schreibt „Typisch Deutsch“ an der Tafel und fragt die Schüler, womit sie das assoziieren. Alle Meinungen werden gesammelt und in Form eines Assoziogramms an die Tafel geschrieben. Die Schüler machen sich Notitzen in ihren Heften. Sozialform: Frontalunterricht. Feinziel: Ich kann sagen, was ich unter dem Begriff „Typisch Deutsch“ verstehe. Zeit: 3 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte III Thema- und Zielangabe Die Lehrerin stellt das Thema und Ziel des Unterrichts dar. Sie werden auf Deutsch formuliert und von der Lehrerin an die Tafel geschrieben. 51 Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiß, womit ich mich heute beschäftigen werde. Zeit: 1 Minute Materialien: Tafel, Kreide, Hefte. IV Einführungsphase Die Lehrerin teilt die Schüler in sechs Kleingruppen ein. Jede Gruppe zieht einen Zettel. Auf den Zetteln befinden sich folgende Schlüßelwörter: 1. Mädchen 2. Jungs 3. Schule 4. Humor 5. Partys 6. Zeitgefühl Die Lehrerin lässt die Schüler ihre Phantasie wecken. Die Schüler stellen sich eine Situation vor. Sie treffen einen jungen Deutschen und möchten mehr über das Thema, das sie ausgewählt haben, wissen. Sie sollten jetzt ausdenken, welche Fragen sie dem jungen Deutschen dazu stellen würden. Die Lehrerin verteilt danach die Texte. Die Schüler lesen in Kleingruppen die Texte durch. Sie sollten den Text allgemein verstehen. Nach dem Lesen sagt jede Kleingruppe, ob die von ihr ausgedachten Fragen mit dem Inhalt des Textes übereinstimmen. Sozialform: Gruppenarbeit Feinziel: Ich kann den Text allgemein verstehen. Zeit: 15 Minuten Materialien: Zettelchen mit den Schlüßelwörtern, die Texte. V Übungsphase Die Schüler lesen die Texte nochmal durch. Jede Kleingruppe bekommt bestimmte Fragen zu ihrem Text. Die Schüler müssen die wichtigsten Informationen aus den Texten herausfinden und die Fragen beantworten. Jede Kleingruppe präsentiert die Antworten vor der Klasse. 52 Sozialform: Gruppenarbeit/ Plenum Feinziel: Ich kann die wichtigsten Informationen aus dem Text herausfinden und die Fragen beantworten. Zeit: 15 Minuten Materialien: die Texte VI Anwendungsphase Die Schüler sollten in den Kleingruppen überlegen, welche Stellung die polnischen Schüler zu den Themen: Mädchen, Jungs, Schule, Humor, Partys und Zeitgefühl in Deutschland nehmen. Die Gruppen tauschen ihre Meinungen darüber. Sozialform: Gruppenarbeit, Plenum Feinziel: Ich kann mich zu einem Thema äußern. Zeit: 5 Minuten Materialien: ---------------- VII Testphase Die Schüler vergleichen ihre Meinungen darüber mit den Meinungen der Jugentlichen aus den anderen Ländern. Aufgrund dessen versuchen sie zusammen festzustellen, was man unter dem Begriff ‚Stereotyp’ verstehen kann und wie es zur Entstehung von Stereotypen kommt. Die von den Schülern erstellte Definiton wird an die Tafel geschrieben. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich kann eine Definiton formulieren. Zeit: 4 Minuten Materialien: Kreide, Tafel, Hefte VIII. Zusammenfassung. Die Lehrerin fasst die Unterrichtsstunde zusammen. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiß, was im Unterricht von bedeutung war. 53 Zeit: 1 Minute Materialien: ---------- Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 1 Anlage 1: Deutsches Zeitgefühl: Immer mit der Ruhe. Rong Liu, 17, aus Shanghai, lebt seit September in München und geht im Juli zurück nach China. "Die Chinesen leben irrsinnig schnell, versuchen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu schaffen. Meine Eltern sind nie zu Hause, weil sie immer nur arbeiten. Auch bei uns gibt es das Sprichwort, dass Zeit Geld ist - und die meisten Chinesen richten sich danach. Wir haben so gut wie keine Freizeit. Die Deutschen denken ja immer sie wären hektisch. In Wirklichkeit aber leben sie sehr langsam, überlegen lange, was sie gerade tun möchten oder müssen. Sie haben viel Zeit für sich und ihre Familie. Die deutsche Zeit rennt nicht, sie bewegt sich in langsamen Kurven. Sie ist nicht durch einen strengen Wettkampf um Arbeit und Platz vorgegeben. Die Deutschen können sich die Zeit einfach nehmen. Vielleicht ist das so, weil hier so wenig Menschen leben und deshalb viel Zeit und Raum für alle da ist. Ich finde das wunderschön. Denn wer sich keine Zeit nimmt, wird krank und schlecht gelaunt. Manchmal gehen die Deutschen trotzdem penibel mit ihrer Zeit um. Was wirklich seltsam ist, denn sie haben doch so viel davon. Wenn ich zum Beispiel eine Freundin treffen will, kann ich nicht einfach vorbeikommen, das nennen sie dann "Überraschungsbesuch" und so was gehört sich wohl nicht. Ich muss vorher anrufen und mich ordentlich mit ihr verabreden. Gerade wenn es ums Essen geht. Essen hat hier immer mit Zeit zu tun. Deutsche versuchen, gemeinsam zu essen und dabei in Ruhe miteinander zu reden. Sie mögen es nicht, nur schnell mal was reinzuschlingen. Es sieht gemütlich aus, wie sie essen. Sie schneiden mit Messer und Gabel klein, was sie vor sich auf dem Teller haben. In China essen die Leute mit hoher Geschwindigkeit, schon wegen der Stäbchentechnik, und weil sie keine Zeit haben. Aber das Wichtigste, wenn man sich mit Deutschen zum Essen verabredet, ist pünktlich zu sein. Die Zeit der Deutschen ist langsam, aber genau." 54 A. Die Deutschen sind schrecklich hektisch. Nie haben sie Zeit zum Leben. B. Die deutsche Zeit rennt nicht, sie bewegt sich in langsamen Kurven. Deutsche Partys: Gemeinsam einsam Claudia Parisi, 17, aus Arco am Gardasee, lebt seit September in Bremen und geht im Juli zurück nach Italien. "Ich gehe in Deutschland viel öfter auf Partys, als ich es in Italien getan habe. Ich komme aus einem kleinen Ort, da gibt es so was nicht so oft. Hier bin ich fast jedes Wochenende unterwegs, entweder auf Privatpartys, zu denen ich eingeladen werde, oder auf diesen etwas größeren, halboffiziellen, bei denen die Leute einen Raum mieten und die Gäste dafür Eintritt bezahlen. Ich bin jedes Mal wieder erstaunt, wie viel Bier und Schnaps getrunken wird. Wissen Deutsche eigentlich, wie viel sie trinken? Ich will jetzt nicht schimpfen, ich trinke ja auch immer mit, aber ich glaube, eine deutsche Party ohne Bier wäre keine Party. Oder alle fänden es total schrecklich. Kürzlich war ich bei Südamerikanern eingeladen. Wir saßen die ganze Nacht zusammen, haben nur Saft getrunken und uns bis morgens um vier köstlich amüsiert. Ich glaube, so was wäre mit Deutschen nicht möglich. Sie müssen Alkohol trinken, um in Stimmung zu kommen, um lockerer zu werden, sich miteinander zu unterhalten und Spaß zu haben. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht so offen gegenüber Fremden sind. Sie kommen als Grüppchen und gehen als Grüppchen. Ich lerne auf deutschen Partys ganz selten jemand kennen. Würde ich alleine auf ein solches Fest kommen, würde ich auch alleine wieder gehen. Vielleicht wollen sie ja gar keine Fremden kennenlernen? Ich glaube wirklich, sie sind lieber mit denen zusammen, die sie schon kennen. Die Deutschen sind weniger aufmerksam als die Italiener, schauen einen nicht an. Vielleicht ist ihnen deshalb auch nicht so wichtig, was sie auf Partys für Klamotten anhaben. In Italien bespreche ich mit meinen Freundinnen jedes Mal stundenlang, was wir tragen werden. Hier haben die Leute abends das Gleiche an wie tagsüber. Sogar an Silvester sahen sie so aus wie immer. Auch das mit dem Tanzen ist irgendwie komisch: Es dauert sehr lange, bis mal jemand tanzt. Niemand traut sich so richtig. Alle warten, bis einer den Anfang macht. Und dann tanzen vor allem die Mädchen. Die Jungs tanzen selten bis gar nicht, weil sie wohl Angst haben, sich lächerlich zu machen und ihre Coolness zu verlieren. Deshalb 55 wird natürlich auch nicht oft zusammen getanzt. Ja, in Deutschland tanzen die Menschen nicht miteinander, sondern eher alleine." A. Ich lerne auf deutschen Partys ganz selten jemanden kennen. Die Leute kommen als kleine Gruppe und gehen als kleine Gruppe. B. Auf deutschen Partys kann man leicht Leute kennen lernen. Man wird als Fremde sofort aufgenommen. Deutscher Humor: Keine Angst vor schlechten Witzen. Suzanna Homérová, 17, aus Nitra, lebt seit September in Hamburg und geht im Juli zurück in die Slowakei. "Ich muss in Deutschland eigentlich über alles lachen. Nicht weil ich es hier so albern finde, sondern weil die Deutschen einfach lustig sind. Ich kenne viele deutsche Jugendliche, die immerzu lachen und andauernd Witze erzählen, über Politiker, Polizisten, Perverse und Blondinen. Ich glaube, die Deutschen sind viel fröhlicher, als sie von sich denken. Wenn ich hier durch die Straßen laufe, sehe ich lockere, lustige Gesichter. Ich habe mich auch von Anfang an getraut, selber Witze zu erzählen, weil gerade die jungen Deutschen alles nicht so furchtbar ernst nehmen und ich deshalb auchkeine Angst habe, etwas falsch zu machen. Am lustigsten finde ich immer, wenn sich die Deutschen über sich selbst lustig machen. Sie halten sich nicht für die Größten vielleicht haben sie aus der Geschichte gelernt. Auch zittert niemand so vor Autoritäten. Wovor man keine Angst hat, darüber kann man sich lustig machen. So richtig intelligente Witze machen die Deutschen allerdings nicht. Ihr Humor ist oft platt, aber vielleicht muss ein guter Witz das auch sein, damit ihn jeder versteht. Was ich nicht mag, ist, wie deutsche Männer lachen. Ich saß mal mit Freunden in einer Kneipe und am Nebentisch hörte eine Gruppe von Männern überhaupt nicht mehr auf zu lachen. Das war so laut und auch irgendwie böse, wie sie ihre Münder aufrissen und abgehackte "Ha!"s ausstießen. Ihr Lachen kam mir vor wie ein Wettkampf, in dem jeder der Beste sein wollte. Fast ein bisschen bedrohlich. Vielleicht habe ich aber einfach nur den Witz nicht verstanden." 56 A. Die Deutschen sind sehr oft schlecht gelaunt und können nicht über sich selbst lachen. B. Ich glaube, die Deutschen sind viel fröhlicher als sie von sich denken. Schule in Deutschland: Lernen ohne Erfolgsdruck. Ilja Krylov, 17, aus Yaroslawl, lebt seit September in Weilheim bei München und geht im Juli zurück nach Russland. " Nur wer in Russland in der Schule besonders gut ist, viele Einsen hat und dafür Medaillen gewinnt, hat eine Chance, an die Uni zu gehen. Und nur wer studiert hat, bekommt später auch eine Arbeit, mit der er genug Geld verdienen kann, um normal zu leben. Und trotzdem müssen viele auch noch Nebenjobs annehmen, damit es zum Leben reicht. Erfolgreich ist, wer viel weiß und sich ein menschenwürdiges Leben leisten kann. Hier in Deutschland ist das alles ganz anders. Die Leute arbeiten viel, erarbeiten sich aber vor allem Zeit, um zu reisen und ihr Leben zu gestalten. Sie sind frei, selbst zu entscheiden, wer sie sein wollen und wie ihr Leben aussehen soll. Die Deutschen sollten wissen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Das fängt schon in der Schule an: Es ist völlig üblich, für ein oder zwei Jahre nach Frankreich oder Amerika zu gehen. Auch wenn darunter vielleicht die Noten leiden, ist es mindestens genauso wichtig, die Welt kennen zu lernen. Vielleicht ist das sogar das einzig Wichtige: gut sein, um mehr Möglichkeiten und mehr Spaß zu haben. In Russland bin ich eine große Ausnahme. Wir haben in den seltensten Fällen die Möglichkeit, unser Land zu verlassen, weil wir das Geld eben zum Leben brauchen und keine Reisen finanzieren können. Schon mit 16 weiß jeder genau, in welchem Beruf er später einmal arbeiten möchte. In Deutschland machen die Jugendlichen einfach ihr Abitur. Und dann haben sie erst mal Zeit. Manche nehmen sich ja sogar ein ganzes Jahr frei, jobben rum, machen Praktika oder auch gar nichts, bis sie sich dann irgendwann entscheiden, ob und was sie studieren wollen. Erfolg ist hier schon auch sehr wichtig, aber eben nicht, um zu überleben, sondern um schön zu leben. Man leistet halt etwas, um nicht ganz dumm dazustehen und andere Länder kennen zu lernen. So scheinen in deutschen Schulen auch Sprachen sehr viel wichtiger zu sein als Naturwissenschaften. Aber manchmal scheint es mir, als würden die Deutschen ihre Freiheit gar nicht bemerken. Denn trotz ihrer Weltoffenheit beschäftigen sie sich komischerweise mehr mit Gegenständen als 57 mit anderen Menschen. Ich bin nachmittags und am Wochenende oft alleine. Wie gern würde ich mich doch mit den anderen aus der Schule treffen, aber die sitzen meistens mit Stereoanlagen und Computern zu Hause. Schade finde ich auch, dass viele so arrogant werden, sobald sie etwas erreicht haben. Die wollen dann, dass jeder weiß, was sie können und sagen zu allem ihre Meinung, auch wenn die manchmal gar niemand hören will." A. Reisen und die Welt kennen lernen ist deutschen Schülern wichtiger als gute Noten zu haben. B. Deutsche Schüler achten sehr auf ihre Noten, damit sie später einen guten Job bekommen. Deutsche Jungs: Sie glauben, sie kriegen alles Leah Nielsen, 18, aus New Uom in Minnesota, lebt seit September in Bremen und geht im Juli zurück in die USA. "Zu Anfang war ich oft etwas schockiert, weil deutsche Jungs so wahnsinnig schnell bei der Sache sind, was Flirten und Sex angeht. In den Discos, zum Beispiel: Da kommen die Leute zusammen, tanzen miteinander und küssen sich dann auch sehr schnell, obwohl sie sich kaum kennen. Ich fand das sehr seltsam. Die Amerikaner sind da langsamer. Auch wenn wir nicht immer an dem starren Dating-System festhalten, wie Europäer uns das oft unterstellen, gibt es einfach einige Regeln: Wenn mich in den USA ein Junge fragt, ob ich mit ihm ins Kino oder zum Essen gehen will, heißt das, dass er mich süß findet und Interesse hat. Wenn ich dann mit ihm ausgehe, signalisiere ich natürlich Zustimmung, aber auch, dass ich ihn kennen lernen will, wissen will, wer er ist und wie er denkt. Kann schon sein, dass ich mich am Ende des Abends dann auch küssen lasse, aber wir würden nicht gleich miteinander schlafen. Ich habe das Gefühl, dass so was in Deutschland eher vorkommt. Inzwischen habe ich mich aber daran gewöhnt, dass die deutschen Jungs so ein "Alles geht"-Gefühl haben. Vielleicht haben sie weniger Hemmungen, weil ihre Eltern meistens nicht so streng sind wie amerikanische. Ich könnte hier zum Beispiel einfach so bei meinem Freund übernachten. In den USA wäre das unmöglich, wir kennen uns ja noch nicht mal ein Jahr. Und sonst? Jungs sind Jungs, überall auf der Welt." 58 A. Es dauert sehr lange, bis man mit deutschen Jungs ins Gespräch kommt. Sie können nicht richtig flirten. B. Zu Anfang war ich schockiert, weil deutsche Jungs so wahnsinnig schnell bei der Sache sind, was Flirten angeht. Deutsche Mädchen: Sie sind schön für sich selbst. Roberto Tenorio, 18, aus San José, lebt seit September in Bad Oldeslohe bei Hamburg und geht im Juli zurück nach Costa Rica. "Deutsche Mädchen sind viel freundlicher und offener als die Mädchen in Costa Rica. Sie haben keine Angst, öffentlich mit einem Jungen gesehen zu werden. Und sie kümmern sich nicht groß darum, ob ein Mädchen 'so etwas tut' oder nicht. Sie machen, was sie wollen und kämpfen um ihre Gleichberechtigung. Sie sind auch im Umgang mit Jungs sehr entspannt. Man redet halt einfach so miteinander und trifft sich, ohne dass es gleich etwas mit Sex zu tun haben muss. Und wenn es dann doch in diese Richtung geht, geben sie einem das auch zu verstehen. Als ich hierher nach Bad Oldeslohe gekommen bin, waren es Mädchen und nicht Jungs, die auf mich zugegangen sind und mir geholfen haben. Ich habe auch viele Mädchen kennen gelernt, die sich für Politik interessieren und die in fremde Länder fahren, um den Menschen dort zu helfen. Meine Gastschwester, etwa, ist gerade in Guatemala, um dort an einer Schule zu arbeiten. Außerdem finde ich, dass deutsche Mädchen sehr gut angezogen sind. Hosen, Pullis alles sieht elegant und selbstbewusst aus. Sie ziehen sich für sich an und nicht für die Blicke der Männer. Sie scheinen die Blicke nicht nötig zu haben. Das ist wirklich etwas Besonderes. Die Mädchen in Costa Rica kleiden sich betont sexy, tragen knappe Röcke und Tops, präsentieren immer nur ihren Körper, verstecken aber ihre Seele. Bei den deutschen Mädchen ist es ihre ganze Art, die sie so schön macht. Das schönste deutsche Mädchen, das ich kenne, ist meine Schulfreundin Hannah. Weil sie so hilfsbereit ist und immer das tut, was sie für richtig hält. Sie hat mir in meinen ersten Wochen in Deutschland geholfen, wo sie nur konnte: Ob ich Probleme mit der Sprache hatte oder einfach nur einsam war, sie war immer da. An der Eigenständigkeit der Mädchen liegt es wohl auch, dass die Paare hier in Deutschland nicht so zusammenkleben wie in Costa Rica. Ich kann mich mit Mädchen treffen, obwohl sie einen Freund haben. Das Einzige, 59 was mich an deutschen Mädchen stört, ist, dass sie dieses Vorurteil gegenüber Südamerikanern haben: Viele denken, ich wäre ein Macho und wollte sowieso nur mit ihnen ins Bett gehen." A. Deutsche Mädchen sind viel freundlicher und offener als Mädchen in Costa Rica. B. Es ist schwierig deutsche Mädchen kennen zu lernen. Quelle:Goethe-Institut: http://www.goethe.de/Z/jetzt/dejart38/dejprv38.htm Anlage 2: Fragen zu den Texten: I Gruppe: 1. Wie sieht das Leben in China aus? 2. Wann kommt zum ‚Überraschungsbesuch’? 3. Wie essen die Deutschen? 4. Sind die Deutschen pünktlich? II Gruppe: 1. Was trinken die deutschen auf Partys? 2. Schließen die Deutschen gerne Bekanntschaften? 3. Wie ziehen sich die Deutschen an? 4. Warum wird auf deutschen Partys nicht so oft zusammen getanzt? III Gruppe: 1. Worüber lachen die Deutschen? 2. Können sich die Deutschen über sich selbst lustig machen? 3. Wie ist ihr Humor? 4. Was mag Suzanna nicht bei den deutschen Männern? IV Gruppe: 1. Sind die Jugentliche in Russland unter Druck gesetzt? 2. Wie lernt man in Deutschland? 60 3. Sind die Deutschen weltoffen? 4. Wie beschreibt Ilja die Deutschen? V Gruppe: 1. Wie betrachtet Leah die deutschen Jungs? 2. Wie betrachtet Leah die Jungs in Amerika? 3. Wie benehmen sich die Deutschen auf Partys? 4. Wie sind die deutschen Eltern? VI Gruppe: 1. Wie sind die deutschen Mädchen? 2. Was ist für sie besonders wichtig? 3. Wie sind die Mädchen in Costa Rica? 4. Was für ein Vorurteil haben die deutschen Mädchen gegenüber Südamerikanern? 61 5.2 Didaktisierungsvorschlag Nr 2 Zielgruppe: III. Studienjahr Zeit: 90 Minuten Thema: DDR-Realität. Pragmatische Ziele: Ich kann anhand des Textes die Situation in der DDR schildern. Ich lerne die typischen Wörter und Wendungen aus dieser Zeit kennen. Kognitives Ziel: Ich weiß, wie das Leben in einem totalitären System ausgesehen hat. Sozial-affektives Ziel: Ich kann mit anderen Schülern zusammenarbeiten. I Begrüßung Die Schüler werden mit einem Guten Tag begrüßt. Der Lehrer prüft die Anwesenheit. Sozialform: Frontalunterricht. Feinziel: ------------ Zeit: 3 Minuten Materialien: ----------- II Aufmunterung Der Seminarleiter schreibt „Das totalitäre System“ an die Tafel und fragt die Schüler, was für dieses System charakteristisch ist. Alle Assoziationen werden an die Tafel geschrieben. Der Lehrer fragt danach, in welchen Ländern ein totalitäres System herrscht und welche Länder in der Geschichte von dieser Staatsform betroffen waren. Die Studenten machen sich Notitzen in ihren Heften. Sozialform: Frontalunterricht. Feinziel: Ich kann sagen, was ich unter dem Begriff „Das totalitäre System“ verstehe. Zeit: 5 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte 62 III Thema- und Zielangabe Der Seminarleiter stellt das Thema und Ziel des Unterrichts dar. Sie werden auf Deutsch formuliert und von der Lehrerin an die Tafel geschrieben. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiß,womit ich mich heute beschäftigen werde. Zeit: 1 Minute Materialien: Tafel, Kreide, Hefte. IV Einführungsphase Der Seminarleiter verteilt das Kapitel Rinks und lechts aus dem Buch Mein erstes TShirt von Jakob Hein. Die Studenten lesen den Text durch und versuchen den Inhalt zusammenzufassen. Sozialform: Einzelarbeit Feinziel: Ich kann den Text allgemein verstehen. Zeit: 15 Minuten Materialien: der Text V Übungsphase Der Seminarleiter lässt die Studenten, im Text Wörter und Wendungen herauszufinden, die mit der DDR verbunden sind. Danach bekommen die Studenten eine Liste mit Begriffen und vergleichen diese mit denen, die sie im Text herausgefunden haben. Die Studenten müssen mit Hilfe der Wörterbücher die Begriffe mit eigenen Worten erklären. Sozialform: Einzelarbeit/ Plenum Feinziel: Ich kann die wichtigsten Informationen aus dem Text herausfinden und die Begriffe mit eigenen Worten erklären. Zeit: 30 Minuten Materialien: die Texte VI Anwendungsphase 63 Der Seminarleiter teilt die Studenten in drei Gruppen ein. Jede Gruppe bekommt dieselbe Textstellen. Die Studenten versuchen sie zu interpretieren. Sozialform: Gruppenarbeit Feinziel: Ich kann mich zu einem Thema äußern. Zeit: 20 Minuten Materialien: Textstellen VII Testphase Die Gruppen präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit. Die Studenten vergleichen, ob alle Gruppen die Textstellen gleich interpretiert haben. Im Plenum wird diskutiert, wie das totalitäre System in der DDR ausgesehen hat und was sich nach der Wende in diesem Staat verändert hat. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich kann eine Definiton formulieren. Zeit: 15 Minuten Materialien: Textstellen VIII. Zusammenfassung. Der Seminarleiter fasst die Unterrichtsstunde zusammen. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiß, was im Unterricht von Bedeutung war. Zeit: 1 Minute Materialien: ---------- Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 2 Anlage:1 Totalitäre Staaten 64 Anlage 2: Rinks und lechts Es gibt Leute, die meinen, rinks und lechts seien nicht zu verwechsern. Ernst Jandl Besonders schwer war es in der DDR. Wenn Leute sagen, sie möchten noch mal vierzehn sein, dann kann man ihnen doch eigentlich genau das nur lebenslänglich wünschen. Bis in den Tod engstirnigen Lehrern ausgeliefert, Mitternacht zu Hause, kein eigenes Geld, ständig irgendwelche lächerlichen Moden mitmachen und dann trotzdem nicht an Jessica Drechsler rankommen. Um nicht so oft an Jessica denken zu müssen, vertrieb ich mir meine Zeit mit Ideologie. Diese bezog sich auf die Musik, ich konnte kein menschliches Wesen als vollwertige Person akzeptieren, das Kylie Minogue gut fand oder Nick Cave nicht kannte. Aber sie bezog sich auch auf Politik, und hier war es eben besonders schwer in der DDR. Diese nannte sich sozialistisch und demokratisch, und erst später wies mich mein Freund Bob Mankoff darauf hin, dass es wohl kein demokratisches Land auf der Welt gibt, das dieses Wort in seinem offiziellen Namen hat. Ich wuchs in einem Haushalt notorischer Nestbeschmutzer auf. Meine Eltern hatten beide Philosophie studiert, nur um jetzt alles besser zu wissen als die Partei- und Staatsführung. Mein Vater war so etwas wie ein Belzebub des Sozialismus, denn tatsächlich wirkten seine Argumente gegen den Fünf-Jahr-Plan oder die neue Initiative zur Verbesserung von allem in sich schlüssig. Stimmen konnten sie aber nicht, denn schließlich stand es schwarz auf weiss anders in der Zeitung. Und die war zuverlässig. Als Westjourlanisten Honecker fragten, warum denn der Kurs vom Ostgeld so schlecht sei, antwortete er: >>Der Wechselkurs der Mark der DDR zur D-Mark beträgt 1:1, wie sie bei uns jeden Tag der Tagespresse entnehmen können<<. Mein Bruder hörte Udo Lindenberg und flog beinahe von der Schule, weil er BAP-Fan war. Er hatte sich mit einem Freund am Vorabend des Kartenverlaufs für deren BerlinKonzert angestellt und vor dem Palast der Republik in der Schlange im Schlafsack übernachtet. Daher hatte er eine der fünfzig frei verkäuflichen von insgesamt 1000 Eintrittskarten bekommen. BAP wurden dann ausgeladen, aber nicht etwa, weil plötzlich der gute Geschmack im Osten ausgebrochen wäre, sondern weil sie ein beinahe kritisches Leid über die DDR singen wollten. Soviel Klasse wie China heute 65 hatte die DDR-Regierung nicht. Das wurde uns spätestens klar, als wir Wandlitz sahen. In Honeckers Haus würde ja die Putzfrau vom Kanzler wohl keine Nacht schlafen. Mein Bruder ärgerte sich jedenfalls sehr über den Verfall seiner Eintrittskarte, obwohl er die sechzehn Mark Eintrittspreis und fünf Pfennig Kulurbeitrag komplett zurückerhalten hätte. Er nahm daher >>Junge Welt<<-Artikel über BAP und der Ausladung und stellte sie auf der Wandzeitung seiner Klasse einander gegenüber. Es fiel auf, dass eine Band innerhalb kurzer Zeit von Vorkämpfern der BRDFriedensbewegung zu Zugpferden des Karrens der kalten Krieger mutiert waren. Beinahe flog er von der Schule. Ich hatte also kaum die Chance auf einen eigenen Meinungsbildungsprozess. Ich empfand mich als Linker. Aber nicht so wie die DDR-, sondern so wie die West-Linken. Die kämpfen gegen Atomkraftwerke und bewarfen die Polzei mit Pflastersteinen. Häuser wurden besetzt, Barrikaden errichtet, und der JusoVorsitzende Gerhard Schröder las in Mutlangen aus Karl Marx vor, Wasserwerfer, Knüppelschweine, Gorleben, Kampf dem Schweinesystem, das war richtig links, so war ich politisch. Doch es war schwer, so zu sein und nicht vom eigenen Schweinesystem vereinnahmt zu werden. Ich war verzweifelt, dann traf ich Clemens. Er erzählte mir von Konzerten, wo Punkmusik gegen das Schweinesystem gespielt wurde und wo sich der Sänger in Scherben wälzte, die nicht in Liverpool, sondern in Ostberlin stattfanden. Ich wertete Clemens´ Erzählungen mit Freunden aus meiner Klasse aus, und wir schlußfolgerten, dass ihm kein Wort zu glauben sei. Ich beschloss, ihn fertigzumachen, und bat ihn, mich doch mal auf so ein Konzert mitzunehmen. Er tat ganz cool und sagte, nächsten Samstag. An diesem Samstag zeigte Clemens mir das Paradies. Wir gingen in eine ganz normale Kirche, wo man sonst immer nur vorbeiläuft. Dort lagen auf Klopapier gedruckte Postillen gegen Atomkraftwerke, Razzien und politische Verfolgung bei uns. Irgendwie war ich fast ein bisschen stolz auf beide Seiten. Der Keller der Kirche war gerammelt voll mit richtigen Punks, und dann spielte die Band drei mal drei Akorde himmlischer Verheißung. Die Leute tanzten Pogo, und die Texte waren glasklar gegen das Schweinesystem. Ich kaufte mir die Kassetten von allen Bands und wusste nun, wo ich politisch stand. Von diesem Abend an änderte sich mein ganzes Leben. Ich ging, so oft ich konnte, zu Konzerten und schleppte nach und nach meine ganzen Freunde mir dorthin. Wir lasen illegale Postillen und >>1984<< und fuhren zu Punkfestivals nach Leipzig. Langsam 66 änderte sich unser /aussehen, die Haare wurden bunter und länger, die Stiefel höher und dreckiger. Nur wenige Monate nachdem ich meine Bestimmung gefunden hahhe, wurde mir von einem Angehörigen der Volkspolizei das ehrenhafte Prädikat >>unsozialistisches Aussehen<< verliehen. Doch nach der ersten Zeit der Verliebheit stellten sich bei mir einige Ernüchterungen ein. Manche der Schreiber in den Postillen waren recht ideologisiert, und außerdem war es echt zum Kotzen, dass vom Schweinesystem in den besetzen Häusern das Wasser abgestellt wurde. Und meine spießige Nase war von bestimmten Körppergerüchen ideologisch echt nicht zu überzeugen. Trotztdem wäre alles noch eine Weile gutgegangen mit mir und dem Linkssein, wenn nicht dieser verfluchte Systemumsturz stattgefunden hätte. Er zerstörte die ganze Gemütlichkeit. Manche setzen sich gleich ab und begannen vom Westen aus eine Karriere als Drogen- oder Computerhändler. Die Ideologen witterten Morgenluft und brachten sich durch endlose Versammlungen an die Macht. Dort suchten sie so lange nach Konsens und diskutierten noch mal drüber, bis sie alle dasaßen. Heute bin ich ausgeschlossen von institutionalisierten politischen Meinungen. Die Dinge erscheinen mir alle komplizierter, und meine Punker-Idole machen Geld in irgendwelchen Blut-und-Boden-Kapellen, Nick Cave singt Schnulzen im Duett mit Kylie Minogue. Und ich muss mir immer meine eigene politische Meinung bilden.115 Anlage 3: Eine Liste mit Begriffenb aus dem Text. Notorischer Nestbeschmutzer (S. 124, 2. Zeile von unten) ______________________________________________________________________ Belzebub des Sozialismus (S. 125, 3. Zeile) ______________________________________________________________________ Wandlitz (S. 125, 6. Zeile von unten) ______________________________________________________________________ 115 Hein, Jakob: Rinks und rechts. In: Mein erstes T-Scirt, Piper Verlag GmbH, München 2001, S. 124- 128. 67 Juso-Vorsitzender Gerhard Schröder (S. 126, 12. Zeile) ______________________________________________________________________ himmlische Verheißung (S. 127, 6. Zeile) ______________________________________________________________________ illegale Postillen (S. 127, Mitte) ______________________________________________________________________ Morgenluft wittern (S. 128, Z. 4/5) ______________________________________________________________________ nach einem Konsens suchen (S. 128, Z. 6/7) ______________________________________________________________________ Blut- und Boden-Kapellen (S. 128, 4. Zeile von unten) ______________________________________________________________________ Schnulzen singen (S. 128, 3. Zeile von unten) ______________________________________________________________________ Anlage 4: Textstellen Diese (die DDR) nannte sich sozialistisch und demokratisch, und erst später wies mich mein Freund Bob Mankoff darauf, dass es wohl kein demokratisches Land auf der Welt gibt, das dieses Wort in seinem offiziellen Namen hat. (S. 124 unten) Ich empfand mich als Linker. Aber nicht so wie in der DDR-, sondern so wie die WestLinken. (S. 126, Z. 8) 68 Trotzdem wäre alles noch eine Weile gutgegangen mit mir und dem Linkssein, wenn nicht dieser verfluchte Systemumsturz stattgefunden hätte. Er zerstörte die ganze Gemütlichkeit. Manche setzten sich gleich ab und begannen vom Westen aus eine Karriere als Drogen- oder Computerhändler. (S. 127 unten, S. 128 oben) Heute bin ich ausgeschlossen von institutionalisierten politischen Meinungen. Die Dinge erscheinen mir alle komplizierter, und meine Punker-Idole machen Geld in irgendwelchen Blut- und Boden-Kapellen, Nick Cave singt Schnulzen im Duett mit Kylie Minogue. Und ich muss mir meine eigene politische Meinung bilden. (S. 128, letzter Abschnitt) 69 6. Literatur 6.1 Primärliteratur MÜLLER, Olaf: Schlesisches Wetter, Roman. Berlin: BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH 2005 (Berliner Verlag 2003). 6.2 Sekundärliteratur BORDERSEN, Ingke/ DAMMANN, Rüdiger: Überall und Nirgendwo. In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr 2/2001 BROCKHAUS-Enzyklopädie 1989 ERLL, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005 HEIN, Jakob: Rinks und rechts. In: Mein erstes T-Shirt, Piper Verlag GmbH, München 2001 DUDEN, Mannheim 2007. JUDT, Tony: Das Vermächtnis des Krieges.In: Die Geschichte Europas seit dem zweiten Weltkrieg. Erster Teil: Nachkriegszeit 1945-1953, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006 KRZEMIŃSKI, Adam: Kampf um Erinnerung, In: Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 13/2004 MARTINEZ, Matias/SCHEFFEL, Michael: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungs- und Tiefenstrukturen.. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 70 MARTINEZ, Matias/SCHEFFEL, Michael: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 NÜNNING, Ansgar ( Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. AsätzePersonen-Grundbegriffe. 3. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (erweitert und aktulisiert), S. 626f. Nünning, Ansgar: Das Image der (hässlichen?) Deutschen. Möglichkeiten der Umsetzung der komparatistischen Imagologie in einer landeskundlichen Unterrichtsreihe für den Englischunterricht. In: „Die neueren Sprachen“ 93.2/(1994) OLSZOWSKY, Heinrich: Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit- typisch polnisch?, In: Lawaty, Andreas/ Orłowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte-Kultur-Politik. München: C.H. Beck 2003 ORŁOWSKI, Hubert: Stereotype der >>langen Dauer<< und Prozesse der Nationsbildung. In: Lawaty, Andreas/ Orłowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte-Kultur-Politik. München: C.H. Beck 2003 SCHLANSTEIN, Beate: Neue Wurzeln, alte Wunden. Eine andere Geschichte der Vertreibung. In: Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg, Januar 2007 SCHÜLEIN, Frieder/STÜCKRATH, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996 STASIUK, Andrzej: Erinnerung. In: In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 2/2001 THUM, Gregor: Bevölkerungsaustausch. In: Siedlerverlag, Berlin 2003 Die fremde Stadt Breslau 1945, ZIMNIAK, Paweł: Nachbarn literarisch-Zu Polenbildern in der neuesten deutschen Literatur 71 ZIMNIAK, Paweł: Heimatverbundenheit und Weltäufigkeit. In: Grimberg, Martin/ Engel, Urlich/ Kaszyński, Stefan (Hg.): „Cvivium. Germanistisches Jahrbuch“. Bonn:DAAD 2002 ZIMNIAK, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007 6.3 Internetquellen ALEXANDER VON DER BORCH NITZLING: Zum Heimatbegriff , unter: www.transodra-line.net.de/node/1381/ Zugriff am: 2.01.2009. LANGTHALER, Ernst: Geschichte(n) über Geschichte(n).Historisch-anthropologische Feldforschung als reflexiver Prozess, unter: www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/article/view/707/1532/Zugriff am:10.02.2009. MATUSSEK, Peter: Erinnerung und Gedächtnis, matussek.de/pub/A32.html/ Zugriff am:10.02.2009. unter: Goethe-Institut: http://www.goethe.de/Z/jetzt/dejart38/dejprv38.htm www.peter--- 72 Streszczenie W ostatnich latach można zaobserwować, iż dyskurs pamięci cieszy się coraz większym zainteresowaniem, nie tylko w obszarze naukowym. Motyw wspomnień i pamięci przewija się coraz częściej także w literaturze, czego przykładem jest powieść Olafa Müllera pt.: Schlesisches Wetter. Autor, jako przedstawiciel nowej generacji autorów w Niemczech porusza w swojej książce tematykę drugiej wojny światowej i ciągnące się za tym konsekwencje dla narodu niemieckiego. Na przykładzie fikcyjnej rodziny zostają opisane losy Niemców wypędzonych tuż po drugiej wojnie światowej z terenów Śląska. Autor ukazuje poprzez rodzinę Schynowskich tragiczny los wypędzonych, którzy po stracie swojej małej ojczyzny musieli się odnaleźć w nowej rzeczywistości. Opis ich powojennego życia w Lipsku dostarcza czytelnikowi wiele informacji dotyczących egzystencji w zamkniętym społeczeństwie. Ważną rolę spełniają tutaj wspomnienia poszczególnych członków rodziny. Dogłębna analiza tekstu umożliwiła stwierdzenie, jak silny jest wpływ pamięci i wspomnień na kształtowanie się tożsamości indywidualnej i kolektywnej. Niniejsza praca składa się z dwóch części: teoretycznej i praktycznej. W części teoretycznej przedstawiony został aktualny stan badań związanych z dyskursem pamięci. W tym rozdziale opisane zostały także dwa pojęcia: ojczyzna i stereotyp. Szczególny nacisk położono także na historyczny kontekst kwestii wypędzeń. Zwrócono również uwagę na analizę tekstu literackiego z narratologicznego punktu widzenia. Kolejne podrozdziały poświęcone są analizie i interpretacji powieści Olafa Müllera pt. Schlesisches Wetter. W części praktycznej zostały szczegółowo opisane propozycje dydaktyzacji. Konspekty lekcji przedstawiają, jak w nauce języka obcego, w tym przypadku języka niemieckiego, można wykorzystać podjętą w powieści problematykę.