Schreiben von Klaus-Heiner Lehne, Vorsitzender des Rechtsausschusses, an Erminia Mazzoni, Vorsitzende des Petitionsausschusses Übersetzung Betrifft: Petition 0163/2010, eingereicht von P.B., deutscher Staatsangehörigkeit, zum Zugang Dritter zu Dokumenten des Gerichtshofs der Europäischen Union Sehr geehrte Frau Mazzoni, Der Ausschuss, dessen Vorsitzende Sie sind, ersuchte den Rechtsausschuss um eine Stellungnahme zu der oben genannten Petition. Der Ausschuss ist zuständig für den Aufbau und die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union1. Den Gepflogenheiten entsprechend und nach einem Meinungsaustausch mit dem Juristischen Dienst und einer schriftlichen Stellungnahme des Juristischen Dienstes hat der Ausschuss entschieden, dem Petitionsausschuss die folgende Stellungnahme in Form eines Schreibens zu übermitteln. Der Rechtsausschuss empfiehlt nach Prüfung der Angelegenheit in seiner Sitzung vom 22. März 2011 und einstimmiger Abstimmung mit 22 Ja-Stimmen ohne Enthaltungen2, dass Ihr Ausschuss als federführender Ausschuss den genannten Vorschlag unter Berücksichtigung seiner Vorschläge prüft. Hintergrund 1. In der Petition 163/2010 setzt sich der Petent für die Öffnung des Zugangsrechts zu Akten im Zusammenhang mit Dokumenten, die beim Gerichtshof der Europäischen Union eingereicht wurden, für interessierte Dritte ein. Er trägt vor, dass eine solche Maßnahme größerer Transparenz für akademische Forschung und Veröffentlichungen nützlich, aber auch zum Schutz der Grundrechte notwendig wäre. 2. Ein Antrag des Petenten auf Zugang zu diesen Dokumenten sei am 12. November 2009 vom Gerichtshof mit dem Verweis auf eine fehlende Regelung in der Satzung des Gerichtshofs oder in seiner Verfahrensordnung und auf die „Praxis des Gerichtshofs, … Dritten keinen Zugang zu den nicht öffentlichen Dokumenten einer Rechtssache zu gewähren“, abgelehnt worden. Der Petent betrachtet diese Praxis als „rigide“ und fordert eine Änderung des Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union3, um interessierten Parteien ein Recht auf Akteneinsicht einzuräumen, wenn sie ein berechtigtes Interesse nachweisen können. 3. Der Petent beruft sich auf den allgemeinen Grundsatz der Offenheit (Artikel 1 Absatz 2 EUV), 11 Geschäftsordnung, Anlage VII, Ziffer XVI Punkt 9. Folgende Mitglieder waren anwesend: Jan Philipp Albrecht, Raffaele Baldassarre, Luigi Berlinguer, Sebastian Valentin Bodu, Françoise Castex, Marielle Gallo, Lidia Joanna Geringer de Oedenberg, Luis de Grandes Pascual, Sajjad Karim, Kurt Lechner, Klaus-Heiner Lehne, Eva Lichtenberger, Antonio Masip Hidalgo, Jiří Maštálka, Alajos Mészáros, Angelika Niebler, Bernhard Rapkay, Evelyn Regner, Dimitar Stoyanov, Alexandra Thein, Cecilia Wikström, Tadeusz Zwiefka. 3 Protokoll Nr. 3 zum Vertragswerk. 2 LT\870840DE.doc DE PE467.185v01-00 In Vielfalt geeint DE eine anhängige Rechtssache vor dem Gerichtshof zum Zugang zu Dokumenten der Kommission4, die zunehmende verfassungsrechtliche Natur des Gerichtshofs und seine Rolle in der Gesellschaft, die Rechtstradition einer Mehrheit von Mitgliedstaaten und ein eher eingeschränktes Recht, das durch das Gericht gewährt wird. 4. Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gewährte Artikel 255 EGV ein Recht auf Zugang nur zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission. 5. Das Grundrecht auf Zugang zu Dokumenten gemäß Artikel 42 der Charta der Grundrechte ist nun in Artikel 15 Absatz 3 AEUV weiterentwickelt. Dieser bestimmt: „Jeder Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder satzungsgemäßem Sitz in einem Mitgliedstaat hat das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, unabhängig von der Form der für diese Dokumente verwendeten Träger, vorbehaltlich der Grundsätze und Bedingungen, die nach diesem Absatz festzulegen sind. (...) Dieser Absatz gilt für den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und die Europäische Investitionsbank nur dann, wenn sie Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.“ Das Recht auf Zugang zu Dokumenten findet auf den Gerichtshof der Europäischen Union Anwendung, da er ein Organ im Sinne des Artikel 13 Absatz 1 EUV ist. Artikel 15 Absatz 3 EUV Unterabsatz 4 EUV begrenzt dieses Recht auf Zugang jedoch auf die Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben durch den Gerichtshof. 6. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hebt hervor, dass die „Beschränkungen der Geltung des Transparenzgrundsatzes hinsichtlich der Rechtsprechungstätigkeit dieselbe Zielsetzung verfolgen, nämlich zu gewährleisten, dass der Zugang zu Dokumenten der Organe ausgeübt wird, ohne den Schutz der Gerichtsverfahren zu beeinträchtigen“. Damit meint der Gerichtshof insbesondere, „dass die Grundsätze der Waffengleichheit und der geordneten Rechtspflege gewahrt werden“. Der Gerichtshof fügte hinzu: „[D]er Ausschluss der Rechtsprechungstätigkeit vom Geltungsbereich des Rechts auf Zugang zu Dokumenten, ohne dass zwischen den verschiedenen Verfahrensstadien zu unterscheiden wäre, [lässt sich] damit rechtfertigen, dass während des gesamten Gerichtsverfahrens sichergestellt sein muss, dass die Erörterungen zwischen den Parteien sowie die Beratungen des Gerichts über die anhängige Rechtssache in aller Ruhe ablaufen.“5 7. Obwohl die Satzung des Gerichtshofs bestimmt, dass die Verhandlung öffentlich ist6, begrenzt sie den Kreis derjenigen, die Anspruch darauf haben, Verfahrensunterlagen übermittelt zu bekommen, auf die Parteien und die Organe, deren Entscheidungen Gegenstand des Verfahrens sind7. Dementsprechend sehen die Verfahrensordnungen der EU-Gerichte vor, dass die 4 Das Urteil in den verbundenen Rechtssachen 514/07, 528/07 und 532/07, API, erging dann am 21. September 2010. 5 Rechtssachen API wie oben zitiert, Randnummern 84, 85 und 92. 6 Artikel 31. 7 Artikel 20 Absatz 2. LT\870840DE.doc DE PE467.185v01-002/4LT\870840D Verfahrensunterlagen nur den Parteien der Verfahren zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere in Artikel 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Artikel 45 der Verfahrensordnung des Gerichts und Artikel 37 Absatz 1 der Verfahrensordnung des Gerichts für den öffentlichen Dienst ist vorgesehen, dass die Klageschrift nur dem Beklagten zugestellt wird8. 8. Weder die Verträge und noch eine der einschlägigen Rechtsvorschriften sehen vor9, dass eine dritte Partei ein Recht auf Akteneinsicht in Bezug auf einen speziellen, beim Gerichtshof anhängigen Fall hätte, noch verbieten sie diesen Zugang. Vorschläge des Rechtsausschusses 9. Der Rechtsausschuss möchte zunächst auf die jüngste Rechtsprechung zu dem Recht auf Zugang zu den Dokumenten des Rates, des Parlaments und der Kommission, die im Rahmen von Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union eingereicht werden, in Bezug auf die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 (Verordnung über den Zugang zu Dokumenten) hinweisen10. Derartige punktuelle Versuche, Akteneinsicht zu erhalten, weisen jedoch praktische Schwierigkeiten – wie die Notwendigkeit vielfacher Anfragen an verschiedene Organe – auf und würden in jedem Fall unvollständige Lösung darstellen, da die Akten des Gerichtsverfahrens weitere Dokumente enthalten könnten, etwa von Mitgliedstaaten, Unternehmen oder Einzelpersonen. 10. Der Ausschuss nimmt zur Kenntnis, dass auf einzelstaatlicher Ebene Systeme bestehen, die dazu führen können, dass Gerichte Teile der Akten freigeben, wobei dies an Bedingungen wie die Zustimmung der Parteien, die Verfahrensphase, das Ermessen des betroffenen Gerichts und des Nachweises eines berechtigten Interesses durch den Antragsteller geknüpft ist. Der Ausschuss möchte die möglichen Vorteile dieses besonnenen Vorgehens im Hinblick auf den Zugang zu Akten des Gerichtshofs betonen, das eine fallbezogene Analyse jedes Antrags ermöglichen würde. Der Ausschuss nimmt auch die Existenz eines derartigen Verfahrens in der internen Dienstanweisung des Gerichts11 zur Kenntnis. 11. Wenn das Gericht entschiede, Dritten Akteneinsicht zu gewähren, müssten verschiedene Normen des Primärrechts beachtet werden, einschließlich Artikel 16 AEUV und Artikel 8 der Charta der Grundrechte, die den Schutz der personenbezogenen Daten vorsehen, Artikel 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Kommunikation schützt, und Artikel 339 AEUV, der die Organe zur Achtung des Berufsgeheimnisses verpflichtet. 12. Gemäß Artikel 225 AEUV könnte das Parlament, falls dies angebracht erscheint, die 8 Vgl. Rechtssache API, Randnummer 98. Siehe insbesondere: Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145 vom 43.31.2001, S.5). 10 Rechtssachen API, wie oben zitiert, und Rechtssachen C-39/05 P und C-52/05 P, Turco/Rat, 1. Juli 2008. Vgl. analog auch Rechtssache C-139/07 P Technische Glaswerke Ilmenau vom 29. Juni 2010. 11 Artikel 5 Absatz 8 der Dienstanweisung für den Kanzler des Gerichts vom 5. Juli 2007: „Keine dritte Person des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts kann ohne ausdrückliche, nach Anhörung der Parteien erteilte Genehmigung des Präsidenten oder, wenn die Rechtssache noch anhängig ist, des Präsidenten des mit ihr befassten Spruchkörpers die Akten der Rechtssache oder die Verfahrensvorgänge einsehen. Diese Genehmigung kann nur auf schriftlichen Antrag erteilt werden, dem eine eingehende Begründung für das berechtigte Interesse an der Akteneinsicht beizufügen ist.“ Konsolidierte Fassung verfügbar auf www.curia.eu. 9 LT\870840DE.doc PE467.185v01-003/4LT\870840D DE Kommission auffordern, Legislativvorschläge zu unterbreiten, um die Satzung des Gerichtshofs zu ändern (Artikel 281 Absatz 2 AEUV). Aus der Antwort der Kommission an den Petitionsausschuss geht hervor, dass sie eher dem Gerichtshof die Gesetzgebungsinitiative gemäß Artikel 281 AEUV zu einem Vorschlag einer Änderung seiner eigenen Satzung überlassen würde. Aus der oben stehenden Analyse wird deutlich, dass der Gerichtshof rechtlich nicht verpflichtet ist, eine solche Initiative zu ergreifen, sondern das dies vielmehr eine Frage der politischen Möglichkeit ist. Eine andere Verfahrensweise könnte sein, dass der Gerichtshof ein Verfahren mittels interner Dienstanweisung anwendet, wie es gegenwärtig beim Gericht der Fall ist, wobei klar ist, dass ein solcher Ansatz keine bindenden Rechtsvorschriften schaffen würde. (Höflichkeitsformel und Unterschrift) Anlage: Stellungnahme des Juristischen Dienstes LT\870840DE.doc DE PE467.185v01-004/4LT\870840D