Zur Ethik der modernen Informationstechnik

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Prof. Dr. Eduard Zwierlein,
Gast- und Forschungsprofessur Philosophie,
Universität Kaiserslautern,
seit April 1995 Projektleiter am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche
Intelligenz:
..aus der Sicht des Philosophen
Wir sind einsame Spitze
- Zur Ethik der modernen
Informationstechnik
-
Meine Damen und Herren,
ich danke herzlich für die Einladung, hier zu Ihnen über ein ganz anderes Thema sprechen zu
dürfen und eine neue Facette anklingen zu lassen: Ich werde nun ein philosophisches Kapitel
aufschlagen.
Als Philosoph möchte ich zunächst etwas zu dem Thema "Philosophie" sagen. Es gibt eine
humorvolle Formulierung zum Thema Philosophie, die ich an den Anfang stellen möchte:
"Was ist denn Philosophie?" Philosophie, das ist der Versuch, unverständliche Antworten auf
noch nicht gestellte Fragen zu geben. Wenn Sie sich das einmal vor Augen führen, sehen Sie,
daß darin natürlich auch ein Stückchen Wahrheit enthalten ist. Denn die Philosophie ist leider
immer ein wenig realitätsfern gewesen. Sie hat auch eine schwierige Terminologie gepflegt.
Aber welche Wissenschaft tut das eigentlich nicht? Warum sollte so etwas nicht auch auf die
Mathematik zutreffen? Jedenfalls gibt es eine uralte Tradition des Spottes über die
Philosophie. Sie beginnt mit Thales von Milet, der bei einer Gelegenheit der Betrachtung der
Himmelssphären in eine Grube hineinfällt und von einer thrakischen Magd verspottet wird:
"Das, was Du über Dir siehst, bemerkst Du wohl; aber das, was vor Deinen Augen ist, was
vor Deinen Füßen ist, das nimmst Du nicht wahr". Seit diesen Zeiten gibt es eine
kontinuierliche Tradition des Philosophenspotts. Ich kann das heute hoffentlich etwas
abmildern.
Es gibt eine mir gestellte Frage: Herr Schwichtenberg hat sie mir mitgeteilt. Insofern antworte
ich nicht auf nichtgestellte Fragen. Andererseits hoffe ich, daß das, was ich zu sagen habe,
wenigstens zum großen Teil einigermaßen plausibel und für Sie durchsichtig ist. Zum
Einstieg ist mir wichtig: Philosophie will eigentlich Aufklärung leisten. Das ist ihr zentrales
Motiv: Sie will mithelfen, bei Orientierungsproblemen einen Beitrag zu geben. Und ihre
Fragen sind im Grunde genommen die drei großen Fragen, die Imanuel Kant aufgeworfen hat:
1. "Was kann ich wissen?" Diese erste große Frage beantwortet die theoretische
Philosophie, die Erkenntnistheorie vor allem.
2. "Was soll ich tun?" Es ist vor allen Dingen die Aufgabe der Ethik, darauf eine
Antwort zu geben.
3. "Was darf ich hoffen?" Ein Thema der Religionsphilosophie.
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Wie Kant sagt, laufen diese drei großen Fragen zusammen in einer einzigen Frage: "Was oder
wer ist der Mensch?" Das ist dann die Frage der Anthropologie, die große Rätselfrage nach
dem Menschen, wenn Sie so wollen. Ich wende mich heute einer dieser Fragen zu:
"Was sollen wir tun angesichts der Veränderungen, die die Informationstechnologie mit sich
bringt?"
Das ist die ethische Frage. Bei ethischen Fragen sollte man die anderen drei Fragen nicht
vergessen. Damit wende ich mich dem ersten Hauptpunkt zu:
I: Wir sind einsame Spitze!
Der Siegeszug einer neuen Basistechnologie
Was soll das bedeuten? Es geht um den Siegeszug einer neuen Basistechnologie. Dazu müßte
ich gar nicht mehr viel sagen, weil es heute ja schon paraphrasiert worden ist. Mir ist nur
wichtig, daß Sie sich vor Augen halten, daß wir in der Tat, nachdem wir im 18. Jahrhundert
die Dampfmaschine hatten und im 19. Jahrhundert die verschiedenen Varianten der Motoren
— der Elektro- und Verbrennungsmotoren beispielsweise —, in diesem Jahrhundert durch die
integrierte Schaltung — durch Mikroprozessoren usw. — in der Tat vor einer
basistechnologischen Revolution stehen: vor den verschiedenen Verfahren der
Datenprozessierung. Und es ist wahrscheinlich richtig, daß wir es hier mit einer Innovation zu
tun haben, die noch einschneidender und in ihren Effekten größer ist als die Erfindung der
Buchdruckkunst oder der Dampfmaschine. Sie wirkt sich in nahezu allen Bereichen der
Arbeits- und Lebenswelt aus. Sie bestimmt auch die kommenden Innovationsmärkte der
Zukunft: vor allen Dingen Bio- und Gentechnologie, Umwelttechnologie, optische
Technologie, den riesigen Gesundheitsmarkt. Sie alle werden angekoppelt werden an diese
Basistechnologie der Informations- und Kommunikationsbereiche, wenn man das einmal so
abkürzend sagen kann.
Der Stolz einer neuen Chancengesellschaft
Wir haben es also hier mit einer umwälzenden Basistechnologie zu tun. Sie sind daran — auf
welche Weise auch immer — beteiligt. Das kann Sie stolz machen, denn Sie sind die
zentralen Mitgestalter der modernen Gesellschaft. Insofern sitzen Sie auf dieser Lok, gehören
Sie zu der einflußreichsten Gruppe von Menschen, was die Modernisierungsaufgaben der
Gesellschaft angeht. Die bisherigen Leistungen können — wenn wir "einsame Spitze" als
Stichwort haben — stolz machen in dem Sinne, daß Sie eine neue Chancengesellschaft — so
habe ich das einmal genannt — eröffnet haben:

Rationalisierung (Mentalisierung): das Wertlegen auf Informationen, auf das
Kognitive; nicht auf Kraft und Stoff — hätte man früher gesagt —, nicht auf Materie
und Energie. Das ist typisch für die neue Technologie und das ist z.B. interessant,
wenn man dabei an die niedrige Entropie-Rate denkt. Es ist auch ökologisch
interessant, daß dieser Wechsel stattfindet: also eine ökologische Chance, die mit
diesem Aspekt verbunden ist.
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
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

Rationalisierung II (Entmaterialisierung): Hier denke ich z.B. an die Arbeitswelt, die
Entlastung von stupiden Routinetätigkeiten, von monotonen Vorgängen, auch von
schwerer, körperlicher Arbeit. Das ist etwas, was Sie in gewisser Weise mit dieser
Technologie fortsetzen und was schon durch die Mechanisierung angestoßen worden
war: die Entlastung des Menschen bei der Arbeit. Auch ein wichtiger Aspekt — mit
neuen Ausblicken. Denken Sie an betriebsferne Heimarbeitsplätze (u.s.w.). Hier
werden uns ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Dynamisierung: bedeutet vor allen Dingen, Zeit ökonomisch geschickt auszunutzen
und mehr Zeit für Wesentliches zu gewinnen.
Komplexierung und Globalisierung: heißt, daß der Grad der Vernetzung ansteigt und
damit auch der Grad der Vielfalt und der Internationalität zunimmt. Es gibt die
Überzeugung, daß wir es hier mit einem Kommunikationsmittel zu tun haben, das als
Mittel zur Überwindung von Vorurteilen dienen kann, ja, daß diese neue
Kommunikationsmöglichkeit sogar zur Pazifizierung, zur Befriedung der Menschheit
beitragen könnte.
Modellierung: Der Mensch fragt nach sich selbst "Wer bin ich eigentlich?". Und in der
künstlichen Intelligenzdebatte bekommen Sie neue Modelle als Anregungen dafür,
dieser Frage sozusagen von einer neuen Seite nachzuspüren und diese alte Rätselfrage
in ein neues Licht zu tauchen: "Was ist menschliches Denken?". Neuroinformatik ist
beispielsweise eine entsprechende Querschnittswissenschaft, die sich mit dieser Frage
befaßt. Damit also sind wir einsame Spitze.
Ich sage noch einmal als Fazit:
Sehen Sie, auf welch einer ungeheuer revolutionären Basistechnik Sie aufsitzen, wie
tiefgreifend und vielfältig die Handlungseffekte auf die gesamte Gesellschaft sind. Daran
mitzuwirken, kann Freude bereiten, stolz machen, gibt aber auch zu denken — im Sinne
einer Verantwortungsperspektive; und der möchte ich mich jetzt zuwenden, in dem ich
die Ambivalenz des Fortschritts betrachte.
II: Die Ambivalenz des Fortschritts
Ich will die Ambivalenz zunächst auf eine andere Weise deutlich machen — und ich glaube,
ich erinnere damit an etwas Bekanntes.
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Sie alle kennen diese optischen Kippfiguren. Da sehen
Sie also, daß diese Kippfiguren dadurch
gekennzeichnet sind, daß zwei Aspekte zwischen zwei
verschiedenen Bildern oszillieren können. Hier
zwischen der Vase und den zwei eingezeichneten
Gesichtern. Das ist natürlich ein ganz simples
Beispiel.
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Sie sehen auf diesem zweiten Bild dieses Thema is
schon etwas schwieriger: eine hübsche junge Dame
deren Gesicht sozusagen von uns wegblickt, oder ein
alte Dame, eine Hexe, die im Pelz eingemummt z
erkennen ist.
Ein drittes Bild zeigt eine junge Dame, die auf dem
Kopf
steht,
und
das
macht
diese
Kippfigurengeschichte noch einmal besonders
deutlich. Sie sehen: die junge Dame lächelt uns
entgegen. Aber die Kippfigurenproblematik, die
Janusköpfigkeit, die Ambivalenz des Fortschritts,
wird in diesem Bild sehr schön deutlich: Was uns
anzulächeln scheint, zeigt uns - richtig herum
betrachtet - eben auch die Zähne. Wer hätte das
gedacht? Das hätte man wohl kaum geahnt, daß in
diesem Gesicht eine solche Problematik durch
Montage präponiert ist.
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Entgrenzung und Nebenwirkung
Also kommen wir zur Ambivalenz als zentralem Aspekt des Fortschritts: "Entgrenzung und
Nebenwirkung".
Das zentrale Motiv sich selbst gefährdender Gesellschaften ist die Entgrenzung. Daß man
keine Grenzen mehr anerkennt, daß man maßlos wird, daß man keine Tabus mehr hinnimmt.
Und das hat Hans Jonas beispielsweise im "Prinzip Verantwortung" ausgeführt: der
entfesselte Prometheus. Dies ist das Bild, das er benutzt. Ich will es einmal durch ein Zitat
von Max Born stützen: Heute sind es nicht mehr die Cholera- oder die Pestbazillen, die uns
bedrohen, sondern das traditionell zynische Denken der Politiker, die Stumpfheit der Massen
und das Ausweichen der Physiker und anderer Wissenschaftler vor der Verantwortung.
Die Chancengesellschaft, die ich eben angedeutet habe, hat als Rückseite die
Risikogesellschaft. Die Risikogesellschaft ist ein Begriff, der Mitte der 80er Jahre —
verbreitet durch Ulrich Beck — eingeführt worden ist. Und Sie können eigentlich sagen, daß
damit ein Gedanke von Hans Jonas soziologisiert worden ist; denn Beck verdankt seine
Anregungen geistiger Art doch ganz wesentlich dem, was Hans Jonas im "Prinzip
Verantwortung" ausgeführt hat.
Phänomen und Begriff der Risikogesellschaft
Risikogesellschaft bedeutet nicht das Triviale, daß alles Leben mit Risiken verbunden ist. Das
weiß jeder: Es gibt kein Leben ohne Risiken. Es geht nicht um Risikofreiheit irgendwelcher
Art.
Risikogesellschaft bedeutet, daß die Art und Weise unseres Arbeitens, unseres Wirtschaftens,
unseres Konsumierens bestimmte neuzeitliche, typische industrielle Risiken — vor allen
Dingen bei großtechnologischen Projekten — hervorgebracht hat, die immer schwieriger zu
managen sind.
Man denke an atomare Risiken, an biotechnologische Risiken, an chemische Risiken, aber
eben auch an Risiken auf dem mikroelektronischen Feld. Die Risikoproduktion scheint immer
größer zu werden im Vergleich zum Risikomanagement. Also unsere Chance, die Risiken
noch zu verstehen und dann noch sinnvoll steuernd in sie einzugreifen, dies scheint immer
mehr eingeschränkt zu werden. Hier zeichnet sich ein Ungleichgewicht ab.
Beispiele aus der Informationstechnologie
Nun habe ich Ihnen einige Beispiele aus der Informationstechnologie als Problemfelder
aufgelistet, und Sie sehen, ich habe dieselben Stichworte, die das Chancenfeld umrissen
haben, wieder aufgegriffen:
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Rationalisierung als Virtualisierung: Die Entmaterialisierung, die durch die
Informationstechnologie betrieben wird, gerät ins Extrem. Was bedeutet es, wenn wir
uns immer mehr in künstlichen Welten aufhalten? Was bedeutet es, wenn wir uns
sozusagen in simulierten Wirklichkeitsräumen bewegen? Was bedeutet es, wenn wir
sozusagen gemietete Träume, kopiertes Leben als Realitätsverlust hinnehmen?
Bedeutet das eine Verarmung oder eine Bereicherung? Ist das eine Form der
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
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

Depersonalisierung? Führt uns das in emotionale oder soziale Isolierung hinein? Dies
möchte ich nur als Fragen stellen und jetzt nicht darauf diskutierend eingehen. In
demselben Phänomen, das ein Chancenpotential darstellt, steckt eben auch eine
Risiko-seite (d.h. eine Verantwortungsseite).
Rationalisierung als Arbeitsplatzabbau: Rationalisierung bedeutet eben nicht nur
Vergeistigung, sondern da ist ja auch der andere Sinn: Personalabbau,
Arbeitsplatzabbau. Noch immer liegt die Quote des Abbaus durch die neuen
Technologien bei 1:3. Sie schaffen einen neuen Arbeitsplatz und sie rationalisieren
drei alte weg. Die "menschenleere Fabrik" war einmal ein Schlagwort aus dem CIMManagement. Also, wie sieht es mit der Verantwortung dafür aus, durch immer mehr
Automatisierung menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen?
Dynamisierung als Dromokratie: Dynamisierung bedeutet eben nicht nur Zeitgewinn,
sondern bedeutet auch Dromokratie; das ist Herrschaft der Geschwindigkeit und
Verletzung der Zeitökologie. Denn normalerweise brauchen wir Zeit, wenn wir zu
vernünftigen Urteilen kommen wollen. Wir brauchen — ja — Muße, nicht wahr? Wir
müssen uns hinsetzen und langsam, vernünftig und bedächtig nachdenken, damit
unsere Urteile solide sind, damit sie reifen. Ein sehr spannendes Beispiel für
Auswirkung der Dromokratie in der Politik war der Golfkrieg.
Der Golfkrieg wurde wesentlich dadurch mitgestaltet, daß George Bush und Saddam
Hussein damals beide CNN anschauten, um immer auf dem aktuellsten
Informationsstand zu sein. Was ist das noch für ein Informationsvorsprung, den da die
beiden involvierten Parteien — und es waren nicht nur diese beiden wesentlichen
involvierten Parteien — hatten: fast keiner mehr. Trotzdem waren enorme politische
Urteile an diese "Sekundenoptionen" gekoppelt. Die Herrschaft der Zeit kann in eine
Geschwindigkeitsmaximierung hineinführen. Wo bleibt dann die Zeit für reifendes
Nachdenken, für reife Urteile?
Komplexierung als Intransparenz: Wir sind mit immer größeren Datenlawinen
konfrontiert. Manche sprechen schon von Datenmüll, von Informationsschrott usw. Es
wächst möglicherweise auch das, was wir die irrationale Intransparenz nennen
können: Wir wissen häufig nicht mehr, was relevant ist. Man spricht von
Informationsriesen und Wissenszwergen. Das drückt sehr schön aus, daß wir hier vor
einem neuen Problem stehen: Was passiert denn, wenn wir automatisches Lesen und
Verstehen einführen, um neue intelligente Zwischenschritte zu machen? Wir steigern
möglicherweise noch einmal die Komplexität; wir erzeugen ein Komplexitätsparadox.
Jedenfalls haben wir einerseits sehr große Möglichkeiten der Informationserzeugung
und Informationsvermittlung; aber unsere Möglichkeiten der Informationsverarbeitung
oder Informationseinordnung sind vergleichsweise gering.
Globalisierung als Störungsanfälligkeitszuwachs: Je vernetzter die Welt wird, um so
anfälliger oder verletztlicher wird sie auch. Das bezieht sich nicht nur auf Datenschutz
und Datensicherheit, sondern einfach auf den Umstand, daß Sie, wenn Sie weltweit
vernetzen, eben auch die Probleme weltweit vernetzen. Sie vernetzen damit auch die
Störfaktoren. Und damit wächst auch die Anfälligkeit und Sie erhöhen die Fehlerrate.
Die Frage ist: Wer kann dieses Weltgehirn eigentlich noch durchschauen? Wer weiß
noch, wenn Probleme auftauchen, ob er es mit virtuellen oder realen Problemen zu tun
hat? Wo sind diese genau zu lokalisieren, wie sind sie zu lösen? Hier werden
möglicherweise doch sehr große Probleme der Datenkommunikation auf uns
zukommen.
Modellierung als Problematisierung menschlichen Selbstverständnisses: Hier denke
ich auch wieder an die künstliche Intelligenz. Es gibt eine harte KI-These, die besagt.
daß der Mensch und der Computer der 5. oder der 6. Generation sich nur noch
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graduell in ihrer Komplexität unterscheiden. Es wird dort ganz ernsthaft die
Behauptung aufgestellt, daß sich menschliches Denken und das "Denken" der Rechner
im Grunde genommen nur noch quantitativ unterscheiden. Das hat man in Erinnerung
an Norbert Wiener als kybernetische Kränkung bezeichnet. Ich sage nichts darüber, ob
diese These wahr oder falsch ist; ich will nur sagen: Es wirkt sich hier die
Informationstechnologie per KI auf das menschliche Selbstverständnis aus. Und
reputierliche Vertreter der KI behaupten ja auch schon, man dürfe bestimmte
qualitätsvolle Maschinen gar nicht mehr aus der Stromversorgung befreien, da man
sonst totschlagsähnliche Prozesse erzeugen könnte. Man würde möglicherweise dem §
212 StGB ähnliche Handlungen begehen, wenn man den Stecker herauszieht. Dies nur
einmal als Andeutung für das, was sich da auf verschiedenen Feldern tut, damit Sie die
Janusköpfigkeit der Phänomene erkennen.
Technik ist ein System von Mitteln und bedarf der
normativen Steuerung
Jede Technik, auch die informationstechnologische, ist ein System von Mitteln, von
Instrumenten. Aber: Wofür und in welchen Grenzen, auf welchen Grundlagen? Sie müssen
normativ gesteuert werden. Das heißt: durch Politik, durch Ethik, durch Recht, vielleicht auch
durch Religion, durch Ökonomie. Dies alles sind Steuerungsmedien, um diesem System eine
Richtung zu geben. Ich schließe diesen Punkt mit einem Zitat von Albert Einstein: "Die Sorge
um den Menschen selbst und sein Schicksal muß stets das Hauptanliegen aller
fachwissenschaftlichen Bestrebungen bilden. Das sollte man mitten unter seinen Diagrammen
und Gleichungen nie vergessen."
III: Ethik
Anliegen und Aufgabe der Ethik
Die Ethik hat damit zu tun, daß sie über die sittliche Erfahrung nachdenkt. Sittliche Erfahrung
bedeutet schlicht und ergreifend: Ich mache die Erfahrung, daß ich frei bin, daß ich frei
handeln kann, und daß ich gut und böse unterscheiden kann (daß mir das Gewissen schlägt).
Diese Erfahrung wird auch von der theoretischen Philosophie, von Soziologen, von MetaEthikern u.s.w. untersucht. Uns interessiert nur folgendes: "Wie kann ein gutes Leben
gestaltet werden?" Das gute Leben ist durch drei Vokabeln gekennzeichnet: durch Glück,
durch Wohlwollen (heute sagen wir dazu: Verantwortung) und durch Weisheit. Das sind die
drei klassischen Begriffe, um den Begriff des guten Lebens zu analysieren.
Glück bedeutet: "Was macht einen Handelnden gut?". Wohlwollende Verantwortung heißt:
"Was macht eine Handlung gut?". Glück beinhaltet also die Frage der Selbstkultivierung, der
Tugend, um einen etwas musealen Ausdruck zu benutzen. Auf der anderen Seite —
Verantwortung beinhaltet die Fragen: "Welche Handlung darf ich, kann ich anderen
zumuten?" oder "Wie muß ich das rechtfertigen bzw. begründen?".
Krisenethik und Ethikkrise
Es geht nun nicht nur darum, daß man die Ethik ruft, wenn man in einer Krise ist: Das ist
dann der Ruf nach der Krisenethik. Sondern es geht gleichzeitig darum zu verstehen, daß sich
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die Ethik selbst in einer Krise befindet, in einer Ethikkrise. Wir haben also parallel eine
Krisenethik und eine Ethikkrise. Die Ethikkrise besteht so lange, so lange es die Ethik gibt;
aber sie ist natürlich gesteigert worden durch die europäische Freiheitsgeschichte, in der wir
uns heute befinden. Die europäische Freiheitsgeschichte ist eine emanzipatorische Geschichte.
Es ging immer um die Freiheit von etwas, die Befreiung von etwas; wozu man sich befreite,
diese Frage war sekundär. Eine Folge dieser europäischen Freiheitsgeschichte ist das, was wir
heute Pluralisierung und Ethosabbau nennen.
Ich zitiere einmal ein Wort des Anthropologen Max Scheler: "Wir sind in der über
zehntausendjährigen Geschichte der Menschheit die erste Generation, die nicht mehr weiß,
wer sie ist, und die weiß, daß sie es weiß." Also: die sich dessen bewußt geworden ist.
Ein anderes Wort von Arnold Gehlen: "Die Religion ist sentimental geworden, die Kunst ist
nervös geworden, das Recht ist elastisch geworden, alles ist möglich". Er wollte damit sagen:
Wir sind in einer hochgradig pluralisierten Welt, in der sich, was früher einmal
handlungsorientierend, sinnstiftend, identitätsbildend war, auf dem Jahrmarkt der
Möglichkeiten nur unter tausend anderen Möglichkeiten mit anbietet. Deswegen ist es wichtig
zu verstehen, daß Sie von der Ethik kein Patentrezept bekommen, und es ist wichtig zu
verstehen, warum heute der Diskurs so hochgepriesen wird, also die demokratischen
Meinungsbildungsprozesse. Daß die Menschen sich zusammensetzen, um einen Konsens zu
finden und auszuhandeln, und dazu minimale Spielregeln entwickeln, das ist eine Kehrseite
dieses Pluralisierungsprozesses. Hier sehen Sie den Zusammenhang zwischen Krisenethik
und Ethikkrise.
Der moderne Verantwortungsbegriff
Der traditionelle Verantwortungsbegriff ist der der Nächstenliebe. Der ist heute nicht außen
vor; der gilt immer noch. Aber er ist maßgeblich ergänzt, erweitert worden unter anderen von
Hans Jonas. Er hat das wohl am entschiedensten vorangetrieben. Die Ergänzung besteht im
Grunde genommen in vier Aspekten der Frage: "Wie ist die moderne Verantwortung, eine
moderne Zukunftsethik heute zu gestalten?" Vier Thesen sollten besonders hervorgehoben
werden:
1. Jede Verantwortung muß eine Präventiv-Verantwortung sein. Sie sollen nicht nur
reparativ, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist oder wenn das Feuer schon
brennt, sondern vorlaufend, antizipierend, präventiv, prophylaktisch arbeiten, um die
kommenden Probleme frühzeitig ins Auge zu fassen.
2. Jede moderne Ethik muß eine globale Ethik sein. Wir sprechen ja vom globalen Dorf.
Zum globalen Dorf gehört eine globale Ethik. Sie muß unseren natürlichen
Lebensgrundlagen ausdrücklich in die moralische Reflexion mit einbeziehen.
3. Wir dürfen unsere Kindeskinder nicht unnötig beeinträchtigten. Die
intergenerationelle Pflicht ist, die Freiheitsgrade und die Lebenschancen kommender
Generationen nicht unnötig zu verkleinern.
4. Wir müssen die Trennung in zwei Kulturen überwinden. C. P. Snow hat in seiner
Analyse deutlich gemacht, daß sich im Laufe der modernen Ausdifferenzierung der
Wissenschaften zwei Kulturen herausgebildet haben: die naturwissenschaftlichtechnische auf der einen und die literarisch-geisteswissenschaftliche auf der anderen
Seite.
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Die Überwindung der zwei Kulturen
Daß sie verschiedene Sprachen
sprechen, daß sie verschiedenen
Rationalitäten-Modellen folgen, daß
sie verschiedene Erfolge verbuchen,
und vor allen Dingen — und
ärgerlicherweise —, daß sie wenig
miteinander anfangen können, daß
sie sich nicht gut verstehen, daß sie
oft arrogant einander gegenüber
stehen und sich das Leben schwer
machen: Das ist das Los der zwei
Kulturen. Wir müssen versuchen, von
den ideologischen Grabenkriegen
dieses Denkens wegzukommen, mehr
sehen zu lernen, oder — wie man das
modern
ausdrückt
—
Verfügungswissen
und
Orientierungswissen
zusammenzubinden.
Positives
Wissen
aus
Naturwissenschaft und Technik ist
mit
regulativem
Wissen
zusammenzubinden bzw. — ich
könnte das auch so formulieren —
das
Einsteindilemma
ist
zu
überwinden. Albert Einstein hat
gesagt: "Wir verfügen zunehmend
über perfekte Mittel, aber doch
gleichzeitig nur über verworrene
Ziele".
Dies möchte ich Ihnen noch einmal
in einer anderen, ganz netten Folie
visualisieren:
Der Mensch hat eine unterschiedliche
Entwicklung genommen; oben sehen
Sie über dem Wolkengürtel die
Wissenschaft — die perfekten Mittel
— und unten sehen Sie die
Staatskunst — sie können dort auch
die Ethik hinschreiben, die sich in
noch sehr steinzeitlicher Manier
präsentiert.
Das fasse ich einfach in einem Wort
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zusammen: Wir sind zwar technische
Riesen — auch ökonomische Riesen
—, aber nur ethische Zwerge. Aus
diesem Dilemma müssen wir
herausfinden.
IV: Ethik als Auftrag an die
Informationstechnologie
Die angedeuteten bzw. umrissenen Probleme sind nicht im Handstreich zu lösen: Es gibt kein
Patentrezept. Die ethische Reflexion bleibt in der Regel ohnmächtig und unfruchtbar, wenn
sie nicht verlebendigt und praktisch in Forschung, in Wissenschaft, in Lehre, in Institutionen
eingebettet wird. Also mit idealistischen Appellen allein ist leider nicht viel zu erreichen.
Daher schlage ich Ihnen zur Diskussionsanregung vor, drei Elemente zu bedenken:
Die Vision der Biophilie
Biophilie bedeutet Lebensfreundlichkeit, Lebenserhaltung und Lebensförderlichkeit. Eine
biophile Informationstechnologie besteht darin, daß Sie Ihre Entscheidungen und Handlungen
immer an drei Grundsätzen ausrichtet: "Ist das, was wir tun, human verträglich,
sozialverträglich und naturverträglich?" Das sind sozusagen Standards, die zu einer Zielidee,
zu einer Vision gehören. Eine Vision fragt immer danach: "Wozu gibt es uns eigentlich, wer
wollen wir sein und an welcher Zukunft wollen wir mitarbeiten?" Mein Vorschlag ist, daß Sie
vielleicht darüber nachdenken, sich eine solche biophile Zukunft als Navigationsbild zu
wählen.
Ich möchte hier Antoine de Saint-Exupéry zitieren: "Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann
trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufträge zu vergeben und Arbeit
zu verteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer." Wenn sie
eine Vision haben, dann glaube ich, wird sich — wie unter einem Magneten — die Richtung,
der Kurs finden lassen.
Jedenfalls brauchen wir eine Vision: Biophile Informationstechnologie wäre eine solche Idee.
Lehren und Lernen
Die Frage nach der Verantwortung der Informationstechnologie muß ein ganz normaler
Bestandteil wissenschaftlichen Lernens, Lehrens und Forschens in allen Institutionen sein.
Technikphilosophie muß da ein ganz normaler Bestandteil sein. Fach- und
problemübergreifende Lehre muß ein ganz normaler Bestandteil der Lehre sein, übrigens auch
die großzügige Anerkennung studentischer Studienleistungen außerhalb enger fachbezogener
Studienpläne. Helfen Sie mit, daß wir zu interdisziplinären Kompetenzen kommen, Wissen
zweiter Ordnung gewinnen, diskursfähig werden, Sehen lernen, Metakompetenzen einüben.
Das scheint mir wichtig zu sein, um die neuen Strukturwandel-Erfordernisse anpacken zu
können.
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Demokratische Technikkontrolle und
Wirkungsforschung
Ich glaube, es ist immer noch wahr, was Gustav Heinemann 1970 formuliert hat: daß jede
Wissenschaft und jede Technik Entscheidungs-, Handlungs- und Informationsverantwortung
gegenüber der Gesellschaft hat — als Zins der Wissenschaft dafür, daß die Gesellschaft bereit
ist, Wissenschaftler auszubilden. Es ist zwar richtig, daß man akademische Freiheit nicht
inaktivieren darf, daß man keine Wissenschaft vor irgendeinen idiologischen Karren spannen
darf, um Gefälligkeitsforschung zu machen. Auf der anderen Seite muß genauso klar sein, daß
die Wissenschaft immer zwei Dingen verpflichtet war und ist, nämlich der Wahrheit auf der
einen Seite und gleichzeitig dem Wohlergehen der Menschen und der Schöpfung auf der
anderen. Wissenschaften und technische Vorgänge sind — in der philosophischen Sprache —
hochspezialisierte menschliche Handlungen. Und weil sie Handlungen sind, sind sie eben
auch der Ethik zugänglich: Sie sind rechtfertigungsbedürftig und rechtfertigungsfähig. Ich
will keine Schulmeisterei der Wissenschaft, ich will keine Gedankenpolizei, keine unnötige
Disziplinierung. Aber ich will Erinnerung an die Herkunft, an den Sinn, an den Zweck von
Wissenschaft und Technik. Der drückt sich dann auch so aus: demokratische
Technikkontrolle in Technikfolgenabschätzungen, in Technikfolgenbewertungen, in
Partizipationen am Risikodiskurs. Forschungspolitische Arrangements werden von Ihnen
gefordert, Mitarbeit an der Wirkungsforschung und — natürlich — Aufklärung und
Information der Öffentlichkeit. Wenn Sie das berücksichtigen, bekommen Sie ein neues
Verständnis des Wortes: "Wir sind einsame Spitze".
V: Schlußgedanken
Damit komme ich zu meinem Schlußgedanken.



Ein Problem besteht darin, daß wir schneller tüchtig als weise werden, daß wir
technische Riesen und ethische Zwerge sind und daß das mit Entgrenzung zu tun hat.
Ich will das mit einem Wort von Adalbert Stifter noch einmal anders ausdrücken:
"Untergehenden Völkern schwindet zuerst das Maß". Also, was bedeutet
Maßlosigkeit?
Umgekehrt gesagt: Ethik ist die Aufgabe vernünftiger Begrenzung. Das ist es, was wir
in einer begrenzten Welt mit begrenzten Ressourcen und mit begrenzten Kapazitäten
heute lernen müssen.
Wir können es auch so formulieren — als die entscheidende Frage der Weisheit heute:
"Wie weit läßt du was wachsen?". Dieser Frage muß sich jede Institution, jede
Wissenschaft stellen.
Es sollte natürlich auch klar sein, daß niemand so tun kann, als hätte er alle Rätsellösungen
parat. Gegen alle die, die angeblich mit dem Stein der Weisen in ihrer Hosentasche klimpern
und klappern, halte ich es lieber mit Kant. Imanuel Kant hat darauf aufmerksam gemacht, daß
unser Ringen um Lösungen ein immer unvollendetes Abenteuer theoretischer und praktischer
Vernunft ist, das auf den Ideenreichtum aller angewiesen ist. Er formuliert es so: "Es ist
niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden. Es ist aber schwerer, wenn die Einsicht spät
kommt."
Und niemand von uns entwächst je der Schule der Weisheit.
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