Othmar Schoecks und Hermann Burtes Oper Das Schloss Dürande

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Alfonsina Janés
Othmar Schoecks und Hermann Burtes Oper Das Schloss Dürande1
Es ist bekannt, dass im 19. Jahrhundert die Komponisten des deutschsprachigen
Raums eine besondere Vorliebe für die Liedform gezeigt haben, und dass sie dazu zum
großen Teil Texte von den bedeutendsten Dichtern verwendeten. Goethe und Heine sind
sicher die markantesten Beispiele. Aber neben ihnen nimmt Joseph von Eichendorff einen
ehrenvollen Platz ein. Den Grund dafür erklärt der berühmteste Liedsänger des 20.
Jahrhunderts Dietrich Fischer-Dieskau auf folgende Weise: “Einer, dessen Sprache an sich
schon Musik ist und die doch die Töne nicht verdrängte, sondern sie eher durch ihre
andeutende Zartheit zum Fortführen mit den Mitteln der Melodie und der klanglichen
Anreicherung hervorlockte, war Joseph Freiherr von Eichendorff.” (Fischer-Dieskau
1968:18-19).
Der Name Eichendorff verbindet sich also immer wieder mit Kompositionen von
Schumann, Mendelssohn, Brahms, Hugo Wolf. Mit Max Reger, Hans Pfitzner, Richard
Strauss wird die Reihe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt, die Othmar
Schoeck (1886-1957) in das Schweizer Gebiet und zu neuer Blüte führt. Zeuge davon war
Hermann Hesse, der schrieb: “Von den heutigen Musikern hat keiner so schöne
Eichendofflieder komponiert wie der Schweizer Othmar Schoeck”2 (Hesse 1994: 73).
Schoeck ist tatsächlich einer der bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts
gewesen und hat im Laufe seines Lebens immer wieder Gedichte seines “heißgeliebten
Eichendorff” (Walton 1994: 57) für seine Lieder und Chorwerke verwendet. So ist es nicht
verwunderlich, dass unter seinen Opern sich auch eine befindet, die ein Werk des
romantischen Dichters zur Grundlage hat: Das Schloss Dürande3.
Es war eben Hermann Hesse, mit dem der Komponist seit 1911 in engem Kontakt
stand, dem Schoeck ursprünglich die Idee verdankte, eine Oper über diese Eichendorffsche
Erzählung zu komponieren4. Es mussten aber fast 30 Jahre verstreichen, bis diese Idee anfing,
Wirklichkeit zu werden. Im Jahre 1937 beginnt die Suche nach einem Textdichter. Da sein
bisheriger Librettist Armin Rüeger Schoecks Vorschlag zurückwies, schrieb er wohl auf
Antrieb des gemeinsamen Mäzens Werner Reinhart einen Brief an den Dichter und
Dramatiker Hermann Burte. Dieser Brief liest sich wie eine direkte, liebe und nonchalante
Einladung zur Zusammenarbeit, und in ihm wird die Verwandtschaft des Themas mit
Käthchen von Heilbronn, Michael Kohlhaas und Romeo und Julia erwähnt und die
Eichendorffsche Atmosphäre gepriesen. Burte akzeptierte. Die Wahl des Librettisten war
aber nicht ungefährlich, denn viel zu spät erkannte dieser Schriftsteller, dass man sich vom
Einfluss der damals herrschenden nationalsozialistischen Ideologie befreien musste. Sowohl
Schoeck als auch einige seiner Freunde hatten tatsächlich ihre Bedenken. Er war auch nicht
damit einverstanden, dass Burte eine Oper mit happy end vorschlug. Schoeck wollte keine
märchenhafte Behandlung des tragischen Themas; so etwas wäre eine große Inkongruenz
1 . Ich möchte Herrn Dr. Beat. A. Föllmi, Aktuar-Archivar der Othmar-Schoeck-Gesellschaft, meine
Dankbarkeit aussprechen, da er mir freundlicherweise Textbuch, Klavierauszug und Einspielung dieser
Oper sowie weiteres Material zur Verfügung gestellt hat.
2 . Aus Hermann Hesses Ausgabe von Eichendorffs Gedichten und Novellen aus dem Jahr 1913. Zitiert
nach Walten 1994: 73.
3 . In seiner Oper Venus stellt man einen “Seitenblick” auf die Erzählung Das Marmorbild fest, und Die
Entführung soll ihn auch zeitweise als mögliches Opernsujet interessiert haben (Vogel 1956: 65).
4 . Die Nachrichten über Entstehung und Aufführungen der Oper stammen aus der Biografie von Chris
Walton, S. 64, 227-247.
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gewesen, ein Verrat gegen die Substanz des Themas selbst. Schoeck musste geduldig warten,
denn nach diesem Mangel an Verständnis verstrich einige Zeit. Den anonymen Text zu einem
möglichen ersten Akt, den ihm sein Freund Hans Corrodi schickte, liess er unbenutzt,
allerdings fand er es sicher interessant, zwei Gedichte Eichendorffs daraus zu verwenden, die
nicht zur romantischen Novelle gehören: Die Verlassene und Der verirrte Jäger. Die Bitten
an Burte um den Text wiederholten sich. Die kompositorische Skizze wurde am 31. August
1939 fertig, die ganze Oper aber erst im Jahre 1941. Kein geringerer als Anton von Webern
stellte den Klavierauszug her.
Auch die Uraufführung bot erstklassige Sänger wie Maria Cebotari als Gabriele, Josef
Greindl als Nicole und Willi Domgraf-Faßbaender als Renald. Der Dirigent war Robert
Heger, der Bühnenbildner Emil Preetorius und die Inszenierung besorgte Wolf Völker. Die
Aufführung fand am 1. April 1943 statt, also zwei Jahre nach Fertigstellung des Werkes. Es
war eben Kriegszeit, und Berlin -die Stadt, die Schoecks Werk angenommen hatte- erlitt
damals Bombenangriffe, die auch das Opernhaus trafen. Der Eindruck dieser Angriffe soll so
stark gewesen sein, dass bei der Uraufführung, als am Schluss das Schloss durch eine
Explosion zerstört wird, das Publikum wieder an Bomben dachte. Obwohl der Erfolg groß
war, gab es nur 4 Vorstellungen, und man vermutet, dass Hermann Göring dafür
verantwortlich war. Göring fand es einfach unglaublich, dass die Berliner Staatsoper ein
Werk zeigte mit einem Text, den er als “Bockmist” (Walton,244) bezeichnete. Er war nicht
der erste, der von Burtes Arbeit abgeschreckt wurde; nach Schoecks Wunsch hätte die
Uraufführung in Dresden stattfinden sollen, aber der Dirigent Karl Böhm lehnte die Oper
aufgrund des Librettos ab. Auch in Zürich, wo Das Schloss Dürande am 5. Juni auf die
Bühne kam, kritisierte man den Text. Die Textänderungen für die nächsten Aufführungen
konnten die Oper nicht mehr retten: nach 3 Vorstellungen verschwand sie aus dem
Repertoire und tauchte erst im Jahre 1993 wieder auf.
Das Schloss Dürande ist in 4 Akte eingeteilt, und der Inhalt ist wie folgt:
Akt I: Vor dem Jägerhaus. Der Wildhüter erzählt Renald vom Männerbesuch bei Gabriele.
Diese zeigt ihre Angst, dass sie und Armand -so heißt in der Oper der junge Graf- von ihrem
Bruder überrascht werden. Sie vermeidet ein blutiges Treffen der beiden Männer, wird aber
selbst leicht verwundet. Renald erzählt vom Auftrag seines Vaters, die Schwester zu hüten,
und gibtt sein Misstrauen ihr gegenüber zu erkennen. Als er die Waffe Armands entdeckt und
feststellt, dass Gabriele tatsächlich die Identität ihres Besuchers nicht weiß, beschließt er, sie
am nächsten Tag ins Kloster zu schicken. Gabriele aber nimmt gleich Abschied von der
Heimat und begibt sich dorthin. In der Ferne hört man die Stimmen Armands und seiner
Jäger, Renald aber denkt an Rache: falls der Herr von Dürande ihm die Schwester nicht gibt,
will er das fordern, was er sein Recht nennt.
Akt II: Weinlese. Während die Nonnen ihr Gebet singen, kommt Gabriele im Kloster an. Sie
unterhält sich mit der Priorin über ihren Liebsten, dessen Identität diese gleich danach von
Renald erfährt. Gabriele wird von der Priorin aufgefordert, dem jungen Grafen den Pokal zu
reichen. In der Erregung vergießt sie etwas Wein, den sie mit ihrem Miedertuch abwischt.
Armand nimmt dieses Tuch und läßt ihr dann durch Nicole eine Kette bringen, die der treue
Diener aber Renald gibt. Vorher hat Gabriele schon beschlossen, als Gärtnerbursche dem
Grafen nach Paris zu folgen. Nach dem Gesang der Winzer kommt der alte Graf. Renald
gerät in Wut, als der Gärtnerbursche mit Gabrieles Kleidern erscheint, denn das beweist ihm,
was für einen Schritt seine Schwester gerade unternommen hat. So bittet er den alten Grafen
um Urlaub, aber für seine Klage hat der Graf nur Spott; angesichts von Renalds Verzweiflung
und Ungehaltenheit verweigert er ihm den Urlaub, so dass der Jäger ungehorsam wird und
sich die Freiheit nimmt, die man ihm nicht schenken will. Seine Verzweiflung verwandelt
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sich in Drohung, und seine Worte lassen erkennen, dass er schon Kenntnis von der
Revolution hat.
Akt III: Schenke in Paris. Ein Verfechter der Revolution redet von Freiheit und Gleichheit,
Renald aber verteidigt seinen Grafen, will nur sein Recht bekommen, wird aber zum Objekt
des Zynismus des Advokaten und des Spottes der anderen Gäste. Der Redner, der ihn für die
Revolution zu gewinnen sucht, gibt ihm als Hilfsmittel einen Zettel, den er dann liest. Renald
hört in der Ferne Gabrieles Stimme und versucht vergebens von Nicole die Wahrheit zu
erfahren. Gabriele bringt auf Auftrag des Gärtners Blumen für den erwarteten Grafen und
bleibt versteckt im Raum, so dass sie ihren Geliebten unbemerkt sehen kann. Die Gräfin
Morvaille versucht, Armand für die Rettung von Monarchie und Religion zu gewinnen, aber
er will nicht handeln: er sehnt sich nach seiner Heimat, denn er ist verliebt, und der Staat
kümmert ihn nicht. Beim Hören solcher Geständnisse ist die Freude Gabrieles groß. Renald
fordert von Armand Gabriele und droht ihm mit einer Anklage vor Gericht und sogar vor den
König, und dann nennt er die Kräfte der Revolution, wobei er ihm den Zettel gibt. Auf
Armands Herausforderung fechten sie; Renald wird gefesselt und abgeführt. Gabriele ist
verzweifelt. Die Revolutionäre befreien Renald, was seine Dankbarkeit hervorruft; so
verflucht er seine Vergangenheit, verlangt eine Kokarde, lässt vom Advokaten ein Ultimatum
an Armand schreiben und verlangt die Plünderung der Schenke.
Akt IV: Schloss Dürande. Der alte Graf lebt außerhalb der Zeit, seine Diener sind
unzufrieden, und von ferne hört man schon die Annährung der Revolution. Die Gräfin
Morvaille will jetzt in Dürande zum Kampf anspornen, aber ihre Versuche sind umsonst. Der
Wildhüter meldet die Ankunft Renalds in der Region; der Graf versucht, das Schloss zu
sprengen und stirbt. Morvaille bereut jetzt ihre politischen Wünsche und schließt sich den
Nonnen an, die ins Ausland fliehen. Armand kommt in der Absicht, seinen Vater zu retten,
aber zu spät. Das Ultimatum Renalds akzeptiert er nicht, bietet ihm aber ein Duell an. Nicole
enthüllt ihm, dass der Gärtnerbursche Gabriele war. Kurz nachdem er seinen Doppelgänger
gesehen hat, erscheint Gabriele, aber die Freude der zwei Liebenden dauert nur kurz, denn sie
ist verwundet und stirbt, und gleich danach wird auch er erschossen. So hat Renald seine
Rache vollzogen und glaubt sich schon Schlossherr, als Nicole ihm die ganze Wahrheit
erzählt. Es kommt ein Kommissar, der das Schloss für Eigentum der Nation erklärt, Renald
aber steckt es in Brand.
Wir man sieht, folgt das Libretto, was die Handlung anbelangt, der Novelle
Eichendorffs ziemlich treu. Die Wahrheit ist, dass die Struktur der Erzählung eigentlich
günstig ist für eine Veroperung: keine komplizierte Handlung, wenige Schauplätze, einige
sehr deutlich charakterisierte Hauptgestalten, zahlreiche Kontraste. Trotzdem sind bei
solchen Gattungsverschiebungen immer Änderungen notwendig, umso mehr, wenn es sich
um die Verwandlung eines epischen Werkes in ein dramatisches, in ein musikdramatischen
handelt. Schon E.T.A. Hoffmann hatte in seiner dialogischen Erzählung Der Dichter und der
Komponist den Dichter Ferdinand sich beklagen lassen über die Erfordernisse, die der
Musiker an den Librettisten stellt, der sich dann “um die Struktur eurer Terzetten, Quartetten,
Finalen usw. zu bekümmern” hat (Hoffmann o.J.: 81). Im Fall von Schloss Dürande ergeben
sich mehrere für die musikdramatische Behandlung günstige Gelegenheiten. So kann ein
einziges Wort bei den Anwesenden verschiedenartige Reaktionen auslösen, die manchmal
sogar zur gleichen Zeit zum Ausdruck gebracht werden. Beim Winzerfest geschieht das, als
Armand mitteilt, dass er den Winter in Paris verbringen wird. Paris ist für die Jagdgesellen
Synonym für “Jugend, Jubel in Lust” (Burte/Schoeck 1943: 30), für Gabriele ein “Dolchstoß
in die Brust” (Burte/Schoeck 1943: 31). Sowohl die Priorin als auch Armand sind sich jedoch
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bewusst, dass die geographische Ferne der inneren Verbundenheit des Grafen mit der Heimat
nichts anhaben kann, während Gabriele an eine andere Art Ferne und an eine andere Art
Verbundenheit denkt: Ferne von ihm, was den sozialen Stand anbelangt, Nähe, weil sie ihn
als Bräutigam empfindet. Diese Reflexionen singen die drei Gestalten zur gleichen Zeit (
Burte/Schoeck 1942: 101-102). Eine bestimmte Nachricht kann dazu führen, dass jeder
Anwesende sie nach der eigenen Situation interpretiert, alle aber ihre Gedanken im Gesang
gleichzeitig ausdrücken. Als im vierten Akt der Wildhüter von der Ankunft Renalds berichtet,
erklingen die Angst des Adligen, der Tatendrang der Morvaille und Nicoles Wissen um die
Reinheit Gabrieles gleichzeitig (Burte/Schoeck 1942: 305-307). Entgegengesetzte Worte und
Gedanken hört man gleichzeitig, so die Freude Gabrieles in der Schenke, Armand so nah zu
haben, und Morvailles Aufforderung, er solle Dürande vergessen und an Versailles denken;
und dann auch Gabrieles Wunsch, dass er Versailles vergisst, und Armands Kälte beim
Gedanken an diesen Ort (Burte/Schoeck 1942: 209-10).
Natürlich werden die Möglichkeiten reichlich genutzt, Liebesduette zu gestalten.
Selbstverständlich gibt es eins beim ersten Auftritt Gabrieles und Armands im ersten Akt. Im
zweiten Akt ruft die Anekdote mit dem Pokal eines hervor, im vierten das letzte Treffen. Für
die Gestaltung von Chören gibt die romantische Erzählung mehrere Möglichkeiten -Nonnen,
Winzer, Schankgäste, Diener-, die aber den Autoren der Oper offensichtlich nicht genügten,
so dass sie noch andere Chorgelegenheiten gefunden wurden. Dies machen sie im ersten Akt,
der durch die Hinzufügung von Armands Jagd einen Schluss ermöglicht, in dem die
Solistenstimmen (Renald und Armand) sich mit denen der Jäger verbinden. Der Chor macht
oft Bemerkungen zur Haltung der Hauptgestalten, kommentiert die Situationen, dient zur
Charakterisierung von Kollektiven oder sorgt für überraschende Kontraste, wie am Ende des
zweiten Aktes, wo nach der starken Szene zwischen dem alten Grafen und Renald und der
drohenden Anspielung des Jägers die allgemeine Lustigkeit der Teilnehmer am Winzerfest
zur Betonung der dunklen Ahnungen beiträgt.
Ein anderer wichtiger Punkt in Zusammenhang mit der musikalischen Gestaltung, den
der Librettist immer berücksichtigen muss, ist die Gestaltung des Textes auf eine solche
Weise, dass sie dem Komponisten Steigerungsmöglichkeiten bietet. Burte hat Schoeck eine
interessante Gelegenheit geboten: Gabrieles Antwort auf die Frage der Priorin, ob sie nachts
im Wald keine Angst habe. Sie redet zuerst “träumerisch” von dem ihr so vertrauten Wald,
dann “gesteigert”, als sie anfängt von dem Geliebten zu sprechen; mit der Erinnerung an
seine Küsse wird ihr Gesang “immer erregter”, bis sie dann “ausbrechend” die Priorin bittet,
ihr seinen Namen zu nennen (Burte/Schoeck 1943: 23).
Vieles ist in Burtes Libretto dadurch bedingt, dass er das in der Vorlage Erzählte in
Bild oder Rede verwandeln muss. So werden manche Ortsbeschreibungen Eichendorffs zu
Dekorationen, wobei es selbstverständlich nur einem sehr einfühlsamen Bühnenbildner
gelingen kann, den Zuschauer in die gewollte Atmosphäre zu versetzen. Die Darstellung des
Erzählten als Gespräch vermittelt aber nicht unbedingt die Absichten des Romantikers. Die
Oper beginnt mit der Unterhaltung zwischen dem Wildhüter und Renald über das angeblich
dubiose Verhalten Gabrieles. Eichendorff lässt aber gerade die Reden der Männer dubios
erscheinen, da es sich um Gerüchte dritter Hand handelt; davon findet man in Burtes Text
nichts. Wie in der Erzählung haben auch in der Oper die Priorin und Renald ein Gespräch
unter vier Augen über Gabriele, aber der Librettist hat nicht nur anhand der wenigen
Bemerkungen Eichendorffs durch seine Phantasie den Inhalt dieser Konversation
“rekonstruiert”, sondern auch etwas hinzugefügt, das sicher nicht die Absicht des Erzählers
war: Renald verrät in der Oper den Namen des adligen Besuchers, was die Priorin mit Freude
erfüllt, weil sie eine hohe Meinung von Armand hat. Bei Eichendorff erfährt sie jedoch den
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Namen nicht, denn sonst hätte sie wahrscheinlich verhindert, dass Gabriele am Winzerfest
teilnimmt und dem jungen Grafen den Wein reicht.
Die Verwandlung des Epischen in das Dramatische ist sicher von großer
Schwierigkeit, zumal wenn der Ausgangstext eine Erzählung ist, deren Qualität zum großen
Teil auf dem beruht, was der Autor sagt, was er verschweigt, was er ahnen läßt. Der Eindruck
von gütiger Naivität, die die Beschreibung des Winzerfestes bei Eichendorff erweckt, geht in
der Oper nicht nur durch die pikante Bemerkung, dass “die Kufenträger erhaschen Küsse
nach Winzerbrauch” (Burte/Schoeck 1943: 27) verloren. Gabrieles Beschreibung: “Die
Kinder singen und naschen,/ Die Nonnen treiben es auch” (Burte/Schoeck 1943: 27) ist nur
eine arme Zusammenfassung dessen, was für Eichendorff wichtig war: die umständliche
Vorbereitung für den Ausflug, die Beziehungen der Nonnen zu den Dorfmädchen und vor
allem die mütterliche Sorge der Priorin um die Kinder, für die die Möglichkeit, bei der
Weinlese mitzuhelfen, Hochfest ist. Oder die verschleierte Anspielung auf die mönchische
Regel “ora et labora” durch die Tätigkeit der Priorin, die das Brevier liest, und der Nonnen,
die bei der Arbeit wie wandernde Engel aussehen.
Die poetische Atmosphäre geht dann auch verloren, wenn der Librettist einen
Tatbestand plakativ darstellt, den der Erzähler erst nach und nach enthüllt. Ein Beispiel dafür
liefert die Verkleidung Gabrieles als Gärtnerbursche. Eichendorff erwähnt zuerst nur, dass
“Gabriele heimlich verschwunden” (Eichendorff 1978: 65) ist, dann glaubt Renald in Paris
beim Grafen Gabriele in einem Fenster zu erkennen. Als der junge Graf nach Dürande
zurückkehrt, kommt ihm die Stimme des singenden Gärtnerburschen bekannt vor. Die
Entdeckung der Kleider des Gärtnerburschen ruft verschiedenartige Reaktionen hervor, aber
beim Lächeln Nicolos ergreift den Grafen “eine entsetzliche Ahnung” (Eichendorff 1978:
84), und fast am Ende der Erzählung teilt Nicolo Renald mit, dass Gabriele sich als
Gärtnerbursche verkleidet hatte und so dem Grafen nach Paris gefolgt war. Dies zu tun,
beschließt Gabriele in der Oper während des Winzerfestes, aber da sie das als Mädchen nicht
machen kann, denkt sie sofort, dem Gärtnerburschen die Kleider zu nehmen. Das Auftreten
des Jungen in Mädchenkleidern und sein Zornausbruch muten grotesk an, aber das ist eine
deutliche Bestätigung dessen, was geschehen ist, und Renald begreift es sofort.
Man versteht, dass der Librettist auf gewisse intensive Beschreibungen Eichendorffs
nicht verzichten will, die aber in einem dramatischen Werk unmöglich verwendet werden
können. Als Renald den Spott des alten Grafen über die Liebschaften seines Sohnes ertragen
muss, schreibt Eichendorff: “Renald schüttelte sich wie ein gefesselter Löwe.” (Eichendorff
1978: 66) Burte versucht das durch die Worte und die Haltung Renalds wiederzugeben, und
zwar durch seine Frechheit, seinen Ungehorsam und seine Drohungen. Dabei verbindet der
Librettist genauso wie Eichendorff den inneren Kampf des Jägers mit der Revolution. Burtes
Renald denkt an das Revolutionslied “Ça ira”, denn er ahnt, dass eine neue Zeit kommt. Bei
Eichendorff wird die Verbindung nur verschleiert und symbolisch dargestellt: der Treffpunkt
der Pariser Revolutionäre ist die Schenke Zum roten Löwen.
Manchmal gelingt es dem Librettisten, lange epische Passagen auf sehr einprägsame
Weise kurz zusammenzufassen. So z.B. als bei ihrem Auftauchen im Kloster Gabriele wieder
das Gemsenlied singt und als eine Art Erweiterung des letzten Verses sich fragt: “Wann holt
er mich ein?/ Wann hol’ ich ihn ein?” (Burte/Schoeck 1943: 20). In diesen zwei Fragen
reflektiert sich der Inhalt ihres ganzen Lebens im Kloster, nämlich die Sehnsucht, die sie bei
Eichendorff z.B. dazu veranlaßt, sich ihren Phantasien über den Liebsten zu widmen und der
Schwester Renate das Märchen über die Prinzessin im bezauberten Schloss zu erzählen.
Die Verlegung eines Handlungsteils in eine andere Atmosphäre zur Vermeidung von
Ortswechseln mitten in einem Akt bietet Burte im Allgemeinen keine Schwierigkeit. Eine
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Szene in Renalds Wohnung im ersten Akt ist wirklich nicht nötig; dass nicht nur der junge
Graf, sondern auch sein Vater bei der Weinlese erscheint, wirkt glaubwürdig; dass man im
vierten Akt das Treffen Renalds mit dem Waldwärter als Botenbericht erlebt, ist eine gute
Lösung, und dass man die Tätigkeit der Rebellen im Schloss nicht sieht, sondern hört, wirkt
in einem musikdramatischen Werk sicher noch viel stärker. Das einzige Problem, was den
Handlungsort anbelangt, war der Pariser Aufenthalt, denn Treffpunkt von Revolutionären,
adliger Palast und Königsgarten sind schwer in Einheit zu bringen. Burte findet einen
interessanten Ausweg: die Schenke Zum roten Löwen befindet sich auf einem Grundstück,
das dem Grafen Dürande gehört, so dass er dort für sein politisches Treffen mit der Gräfin
Morvaille ohne weiteres erscheinen kann. Auf den Königsauftritt wird verzichtet, Renald
trifft Armand in der Schenke, und hier wird er festgenommen.
Sehr charakteristisch für viele Operntexte ist die Vermischung von Charakterzügen
mehrerer Gestalten in einer einzigen5. In dieser Hinsicht ist für Burte keine große
Anstrengung erforderlich, denn, wie schon erwähnt, agieren bei Eichendorff nicht sehr viele
Gestalten mit einem geprägten individuellen Charakter. Eigentlich findet man nur eine dieser
interessanten Vermischungen: der Librettist läßt nicht zwei, sondern nur eine Nonne als
individuell sprechende Figur auftreten, die Priorin, die statt Schwester Renate Gabriele fragt,
ob sie nachts allein im Wald keine Angst habe, womit sie statt des Märchens über die
Prinzessin den sich steigernden Herzensausguss der Heldin hervorruft.
Dass in gewissen Situationen die Librettisierung einer Erzählung Erweiterungen
gegenüber dem Original verlangt, versteht sich von selbst. Drei Passagen bekommen auf
diese Weise in der Oper ein besonderes musikalisches Gewicht. Sicher ist die Rede des
Revolutionärs hier länger als im Original, damit der Interpret mehr Text zum Singen hat.
Andererseits aber verleiht diese Erweiterung dem revolutionären Pol der Geschichte eine
große Wucht. Dass das Treffen Renalds mit Armand in der Schenke nicht unter vier Augen
geschieht, sondern in Gegenwart der Gräfin und der versteckten Gabriele, erlaubt es, die Lage
von vier verschiedenen Standpunkten darzustellen. Zuletzt ist der Vorwand, unter dem
Renald festgenommen wird, zu erwähnen: das in der Erzählung nicht vorhandene Duell.
Durch diese Szene wird in der Oper einerseits Armands Umstellung zur Tat augenscheinlich,
andererseits führt sie zum verzweifelten Gefühlsausbruch Gabrieles.
Burte und Scheock zeigen sich in einigen Passagen als echte Meister der
Verflechtungskunst. So am Anfang des zweiten Aktes, wo sich das Gebet des Angelus in der
Kapelle mit der zweiten Strophe des Weinleseliedes durch die Nonnen, die noch nicht
angekommen sind, und dann mit Gabrieles erweitertem Gemsenlied verbinden. In der
zweiten Strophe des Weinleseliedes befinden sich zwei Motive, die für die dargestellte
Situation sehr gut ausgenutzt werden: die wunderschöne Frau, die der Jungfrau Maria im
Angelus entspricht, und die Aufforderung an die Blumen, nicht nach anderem zu sehen,
sondern einfach einzuschlafen. Obwohl Gabriele zuerst von der Müdigkeit überwältigt wird,
schläft sie innerlich nicht ein, sie sieht doch nach dem anderen, d.h., sie spricht sofort mit der
Priorin über den Liebsten, will seinen Namen wissen. So rein, wie die Engel der dritten
Strophe, die die Nonnen nach verrichtetem Gebet singen, ist auch Gabriele nach Meinung der
Priorin. Später findet man noch eine solche Situation, in der die Motive sich verflechten.
Während ihres Gesprächs mit Renald redet die Priorin von Gabrieles reiner Liebe zu Armand,
einer Liebe, die durch die Eifersucht ihres Gesprächspartners verletzt wird. Die Priorin
vergleicht die zwei Männer mit zwei Hirschen, von denen einer -Renald natürlich- nachgeben
5 . In den italienischen Opern, die auf Schillers Dramen zurückgehen, ist diese Art, eine große Anzahl
von Personen zu reduzieren gang und gäbe. Besonders auffallend ist Verdis Giovanna d’Arco mit 5
Gestalten statt 26.
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muss. Und während sie ihn bittet, sich einzufügen, ihnen bei der Weinlese zu helfen und
fröhlich am Fest teilzunehmen -also ein Opfer zu bringen-, hört man den Nonnenchor, der
von der eucharistischen Verwandlung des Weines singt. Am eindrucksvollsten ist die
Verflechtung von Motiven bei Gabrieles Tod. Wie schon gesagt, ergibt das letzte Treffen
Gabrieles mit Armand ein Liebesduett, das sich mit dem Lied verbindet, mit dem sie am
Anfang des Werkes vorgestellt wurde. Hinzu kommen die immer näher rückende
Kriegsmusik und das Revolutionslied “Ça ira”. Mit musikalischen Mitteln wird auf diese
Weise die tragische Geschichte Gabrieles zusammengefasst.
In der romantischen Erzählung spielt beim Tod Gabrieles ein kleiner Gegenstand eine
sehr wichtige Rolle: der Ring, den der junge Graf ihr an den Finger steckt als Zeichen der
Vermählung. In der Oper findet man dieses Detail nicht; die Ausrufe “Du mein!” “Ich dein!”
(Burte/Schoeck 1943:89) ersetzen diese Zeremonie. Aber auf die Bedeutung von anderen
Objekten verzichten die Opernautoren nicht. Da ist der Pokal bei der Weinlese, der als
Symbol für Armands Liebe zu Gabriele und für seine Anerkennung dem Schützen Renald
gegenüber fungiert. Da ist auch Gabrieles Miedertuch, das sie benutzt, um den in der
Erregung verschütteten Wein zu wischen und sofort von Armand genommen wird, und das
zum Zeichen der reinen, nicht erzwungenen, freiheitlich geschenkten Liebe wird. Armand
will es nämlich nicht behalten, wenn Gabriele es zurück haben will, sie aber behauptet, er
habe es nicht genommen, sondern sie habe es ihm gegeben. So, sagt Armand, soll es “dem
Träger frommen/ im Sündenbabel Paris!” (Burte/Schoeck 1943:30). Das Tuch spielt im
dritten Akt eine wichtige Rolle als Symbol für das Recht auf persönliche Liebe, auf
Privatleben den politischen Forderungen gegenüber. Mit der Bemerkung der Gräfin
Morvaille, Armand solle nicht das Tuch, sondern ihre Hand küssen, stellt sie ihm die zwei
Wege vor Augen, zwischen denen er sich entscheiden soll: die private Liebe oder das Opfer
zugunsten der politischen Tätigkeit. Für Renald ist das Tuch aber wie bei Eichendorff ein
Beweis von Armands Schuld, eine Art corpus delicti. Am Ende der Oper muss Renald
erkennen, dass ein anderer Gegenstand, den er auch für eine Art corpus delicti gehalten hatte,
es keineswegs ist, weil einfach kein Verbrechen vorhanden war: das Armband, das Nicole im
Namen Armands Gabriele geben sollte, aber statt dessen Renald gegeben hat. Von Armand
mit der gleichen Symbolkraft wie Gabrieles Tuch versehen, wird das Armband am Anfang
zum Zeichen von Renalds gestörtem Verhältnis zu seiner Schwester und am Ende der Oper
zum Symbol seines späten Verständnisses, seiner Versöhnung. Und noch mehr: wie gesagt,
bekommt Gabriele keinen Ring von Armand, aber dadurch, dass Renald die Kette auf die
Leiche der Schwester legt, verbindet er sie mit dem auch schon toten Grafen.
Was die Gestalten anbelangt, fällt insbesondere eine auf, die in Eichendorffs Werk
nicht zu finden ist: die Gräfin Morvaille. Fragt man sich nach dem Grund für diese
Erfindung, so kann man verschiedene Antworten geben. Zunächst eine rein technische, die
mit dem Gleichgewicht der Singstimmen zusammenhängt: In Das Schloß Dürande
überwiegen die Männerstimmen, also ist eine dritte Frauenstimme willkommen, da man auf
Schwester Renate verzichtet hat. Dass man eine Gräfin erfindet, bringt auch eine andere Art
Gleichgewicht: für jeden sozialen Stand singt in der Oper eine Frau. Das Vorhandensein der
Gräfin bringt Belebung in die Privatgeschichte, da sie einen echten Kontrapunkt zu Gabriele
darstellt: die Gräfin, die vom Schankwirt “Amazone” (Burte/Schoeck 1943: 52) genannt
wird, ist Gabriele völlig entgegengesetzt. Es ist kaum anzunehmen, dass Armand durch ihre
Augen an die Gabrieles erinnert werden könnte, wie das bei Eichendorff mit der Dame im
Park von Versailles geschieht. Die Gräfin ist politisch aktiv, sie organisiert und befiehlt, alles
Tätigkeiten, die der Art und Weise Gabrieles weit entfernt sind. Zur gleichen Zeit dient die
Gräfin, auch auf kontrapunktische Weise, zur Belebung der Revolutionsgeschichte: so wie
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die Revolutionäre Renald für ihre Sache zu gewinnen versuchen, möchte die Gräfin Armand
für ihre Pläne begeistern. Der Kontrast zwischen Privatleben und Politik wird auf diese Weise
intensiviert: Armand steht deutlich zwischen zwei entgegengesetzten Mächten: Politik und
Liebe.
In der Charakterisierung der Hauptgestalten folgt der Librettist im Prinzip der
Vorlage. Einige Änderungen sind aber auch festzustellen, die manchmal zu kleinen
Widersprüchen führen. So ist Nicole, genauso wie der Eichendorffsche Nicolo, der gute treue
Diener, dem man sich anvertrauen kann. Das tut Gabriele in der Erzählung erst nach der
Rückkehr aus Paris, in der Oper jedoch eben in der Hauptstadt. Als Renald in der Schenke
von ihm die Wahrheit über seine Schwester und den Grafen hören will, behauptet der Diener:
“Mein Wissen triebe dich noch mehr ins Irren” (Burte/Schoeck 1943: 50). Renald erfährt hier
nichts. Im vierten Akt aber, als ihn Nicole des doppelten Mordes anklagt, fragt der Jäger:
“Wie konnte ich das wissen?”, worauf der Diener antwortet: “Vom Wahnsinn hingerissen,/
Du Narr, der immer klagt,/ Und nie nach Wahrheit fragt. Ich hätte sie dir gesagt!”
(Burte/Schoeck 1943: 94). Wie man sieht, ein klarer Widerspruch.
Gewisse Widersprüche kann man auch in der Charakterisierung Gabrieles finden, die
nicht von einer so entwaffnenden Naivität wie bei Eichendorff ist. So kennt sie z.B. die Kunst
der Verführung, wie sie am Anfang Renald erzählt: “Er [Armand] kam hereingegangen-/ ich
hab’ ihn mir gefangen -/ Nicht Falle und nicht Stricke,/ ich brauchte Lied und Blicke-“
(Burte/Schoeck 1943: 11). Auch lebt sie nicht so isoliert wie die Heldin der Erzählung, da sie
und ihr Besucher durch Gespräch und Gesang die “Welt und die dumme Zeit”
(Burte/Schoeck 1943: 11) vergassen, eine Bemerkung, die sich auf die Zeitgeschichte
bezieht, wie der Marschrhythmus, der dann zu hören ist, beweist (Burte/Schoeck 1942: 27).
Aber das schönste Charakterisierungsmittel Gabrieles im Laufe der ganzen Oper ist
zweifelsohne ihr Gemsenlied. Dieses Lied taucht in verschiedenen Situationen auf. Zuerst
singt sie es im ersten Akt, um Renald, den sie gerade im Walde gesehen hat, auf diese
symbolische Weise zu erkennen zu geben, dass er für seine Ehre nichts zu befürchten hat,
denn sie weiß sehr gut zu unterscheiden, was ein Mädchen darf und was es nicht darf.
Deswegen singt sie “in höchster Angst, mit plötzlichem Entschluß [...], fast demonstrativ”
(Burte/Schoeck 1943: 8). Die Motivation ist also ganz verschieden von der der Heldin in der
Erzählung, denn hier dient dieses Lied, um den jungen Grafen, zurechtzuweisen, weil er sich
offensichtlich “nicht artig” (Eichendorff 1978: 52) verhalten hat. Bei ihrer Ankunft im
Kloster wird das Lied dank der sich auf dieselbe Gabriele beziehende Ergänzung zum
Symbol ihrer Sehnsucht. Als sie sich schon in den Kleidern des Gärtnerburschen nach Paris
begibt, singt sie es wieder “weit in der Ferne, hoch auf dem Felsen” (Burte/Schoeck 1943:
38), also kann man den Inhalt des Liedes mit ihrer Flucht aus dem Kloster identifizieren.
Zuletzt hört man das Gemsenlied aus Nicoles Munde, und zwar “trällert [er es] vor sich hin”
nach seinem Gespräch mit Renald in der Schenke, und er fügt hinzu: “In der Jungentracht,/ In
der schwarzen Nacht/ Von mir bewacht,/ ‘Kein Bursch holt das ein!’” (Burte/Schoeck 1943:
52). Hier also findet man eine deutliche Anspielung auf die schützende Funktion des alten
Dieners dem Mädchen gegenüber, auf die Gefahr, in der Gabriele eigentlich steht.
Wenn das Miedertuch und das Gemsenlied jeweils ein Symbol und ein
Charakterisierungsmittel Gabrieles sind, so sind es die Kokarde und das Lied “Ça ira” für die
Revolution. Im Gegensatz zu Eichendorffs Erzählung zieht der Gedanke an die Revolution
durch das ganze Werk. Renald ist im ersten Akt nicht nur bereit ein “blutiger Lowe”
(Burte/Schoeck 1943: 17) zu sein, wenn Armand ihm die Schwester nicht gibt, sondern in
seinen Worten kündigt sich schon ganz klar der Standeskonflikt an: “Die bösen
Herrenbande,/ Der freien Männer Schande!” (Burte/Schoeck 1943: 17). Im zweiten Akt lobt
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er nach seinem unglückseligen Auftritt mit dem alten Grafen “Ça ira” als “Lied, das fegte
frei” (Burte/Schoeck 1943: 41) .Daher wirkt etwas erstaunlich, dass er in der Schenke, genau
so wie der Held Eichendorffs, seinen Herrn lobt. Nach seiner Befreiung durch die
Revolutionäre besteht seine Dankbarkeit nicht einfach aus freundlichen Worten, sondern er
beweist, dass er mit ganzer Seele für die neue Bewegung ist. Und zur Bestätigung verlangt er
eine Kokarde. Das Lied “Ça ira” krönt den Bund, den er mit den anderen schließt. Dieses
Lied ist im vierten Akt mehrmals zu hören, und zwar immer wieder in Kontrast zu den
jeweiligen Situationen: zur Lully-Musik der gräflichen Spieluhr, zur Verweigerung des alten
Grafen, seine Augen auf das gegenwärtige Geschehen zu richten, zum Vertrauen der Nonnen
auf Gottes Vorsehung, zu den glücklichen Minuten, die Gabriele und Armand vor deren Tod
vergönnt sind.
Am Ende trennen sich jedoch die Wege der Revolutionäre und Renalds. Dieser erträgt
die Arroganz des Kommissars nicht, der im Namen des Volkes das Schloß als Eigentum der
Nation erklärt, und er steckt das Gebäude in Brand. Eichendorff beendet seine Erzählung mit
einer Mahnung: “Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, dass es nicht
plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt.” (Eichendodrff 1978: 94) Das fehlt natürlich in
der Oper. Aber was man sieht und hört, scheint auch eine Moral nahezubringen. Das
revolutionäre Kollektiv kann durch Gewalt, durch Enteignung siegen und so seine Macht
zeigen. Gegen denjenigen aber, der nicht vor der Selbstvernichtung zurückschreckt, wenn er
in seiner geistigen Verirrung kein anderes Mittel findet, sein Ziel zu erreichen, ist man fast
wehrlos. Bei Eichendorff läßt Renald zuerst das Schloß räumen, damit er allein Opfer seines
Wahnsinns ist. Nicht so in der Oper. Hier müssen alle fliehen, wenn sie nicht sterben wollen.
Nicole nicht: er hat von Gabriele gelernt, was Treue ist, und will bei ihrer Leiche und der
seines Herrn bleiben. Für den Kommissar, der wie die anderen auch flieht, hat Renald nur ein
lautes Gelächter. Renald glaubt mit seiner Tat, über alle zu siegen. Sein letzter Irrtum.
Bibliographie
Burte, Hermann/ Schoeck, Othmar. 1942: Das Schloß Dürande. Klavierauszug mit Gesang.
Wien-Leipzig: Universal Edition.
Burte, Hermann/ Schoeck, Othmar. 1943. Das Schloß Dürande. Wien-Leipzig: Universal
Edition.
Eichendorff, Joseph von. 1978: Das Marmorbild.- Das Schloß Dürande. Stuttgart: Reclam.
Fischer-Dieskau, Dietrich. 1968: Texte deutscher Lieder. Ein Handbuch. München: dtv,
Hoffmann, E.T.A. [o.J.]: Die Serapionsbrüder.
Vogel, Werner. 1956:” Othmar Schoeck. Ein Schweizer Eichendorff-Komponist”. In: Aurora
16.
Walton, Chris. 1994: Othmar Schoeck. Eine Biographie. Zürich-Mainz: Atlantis.
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