Soziologische Theorie

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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
SOZIOLOGISCHE THEORIE ........................................................................................................................... 2
WIRKLICHKEIT UND INTERPRETATION ................................................................................................................ 2
SOZIALWISSENSCHAFTLICHE THEORIE ................................................................................................................ 2
THEORIE UND ALLTAGSBEWUßTSEIN .................................................................................................................. 3
DER NÜTZLICHE STREIT DER THEORIEN .............................................................................................................. 3
SOZIOLOGISCHE THEORIEANSÄTZE IM ÜBERBLICK ......................................................................... 4
DIE ANFÄNGE DER MODERNEN SOZIOLOGIE ........................................................................................ 5
DIE PROFESSIONALISIERUNG DER SOZIOLOGIE ................................................................................................... 5
AUGUST COMTE (1798-1757) ............................................................................................................................. 5
EMILE DURKHEIME (1858-1957) ........................................................................................................................ 5
MAX WEBER (1864-1920) .................................................................................................................................. 6
GEORG SIMMEL (1858-1917) .............................................................................................................................. 7
UTILITARISTISCHE SOZIOLOGIE ............................................................................................................... 8
DIE AUSGANGSFRAGE ......................................................................................................................................... 8
DIE UTILITARISTISCHE TRADITION ...................................................................................................................... 9
DER HOMO OECONOMICUS.................................................................................................................................. 9
DER „RATIONAL CHOICE ANSATZ“................................................................................................................... 11
BEHAVIORISTISCHE ANSÄTZE ........................................................................................................................... 11
DIE TAUSCHTHEORIE: PETER M. BLAU ............................................................................................................. 12
DER FUNKTIONALISMUS .............................................................................................................................. 12
DER FRÜHE FUNKTIONALISMUS: GESELLSCHAFT ALS ORGANISMUS................................................................. 12
STRUKTUR UND FUNKTION IN PRIMITIVEN GESELLSCHAFTEN .......................................................................... 13
DIE FUNKTIONALE ANALYSE KOMPLEXER GESELLSCHAFTEN ........................................................................... 14
DER STRUKTURFUNKTIONALISMUS................................................................................................................... 14
ZUR BEDEUTUNG DES FUNKTIONALISMUS ........................................................................................................ 15
DIE SYSTEMTHEORIE.................................................................................................................................... 16
DIE ENTWICKLUNG DER ALLGEMEINEN SYSTEMTHEORIE ................................................................................ 16
DIE SYSTEMTHEORIE ALS SOZIOLOGISCHE THEORIE ......................................................................................... 16
WAS SIND SOZIALE SYSTEME? .......................................................................................................................... 17
GESELLSCHAFT UND FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG .................................................................................... 18
DER SYMBOLISCHE INTERAKTIONISMUS ............................................................................................. 19
ZENTRALE THESEN ........................................................................................................................................... 19
ORGANISATIONSSOZIOLOGISCHE ASPEKTE ....................................................................................................... 20
LABELING-THEORIE .......................................................................................................................................... 21
DIE ETHNOMETHODOLOGIE ...................................................................................................................... 22
ZENTRALE KONZEPTE ....................................................................................................................................... 22
MARX UND DER HISTORISCHE MATERIALISMUS ............................................................................... 22
ARBEITSWERTLEHRE UND MEHRWERTTHEORIE ................................................................................................ 23
DIE THEORIE DER GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG ....................................................................................... 24
SEIN, BEWUßTSEIN, IDEOLOGIE ......................................................................................................................... 24
DIE KRITISCHE THEORIE ............................................................................................................................ 25
DIE ENTWICKLUNG DER KRITISCHEN THEORIE ................................................................................................. 26
GRUNDPOSITIONEN DER KRITISCHEN THEORIE ................................................................................................. 26
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Soziologische Theorie
Wirklichkeit und Interpretation
Soziales Gebrauchswissen
Basiert auf individuellen Erfahrungen, deshalb ist es auch individuell verschieden,
wobei aber jede Sozialstruktur auf einer gewissen Übereinstimmung basiert. Dieses
Gebrauchswissen hängt eng mit lebenspraktischen Entscheidungen und
Zielfindungen zusammen.
Evolution, Kommunikation, Interaktion
Interaktion bedeutet, daß verschiedene Subjekte, ausgerüstet mit
Verhaltensalternativen, situationsspezifische Verhaltensstrategien
entwickeln/auswählen und realisieren, wobei sie auf die Besonderheiten/Reaktionen
der anderen eingehen.
Primitive Kommunikationssysteme basieren auf chemischen Stoffen, zb. bei den
Ameisen. Die nächste Stufe ist der körpergebundene Ausdruck: Herbert Mead spricht
von Gesten, Paul Watzlawick von analoger Kommunikation. Sie ermöglicht immerhin
schon die Bildung einer Sozialstruktur, das Ausdrücken von Zuneigung und
Abneigung etc.
Erst durch die sprachliche Codierung der Realität kann man über diese reflektieren
und sie reflektieren. Dadurch werden erst möglich:







Individuelle und gemeinschaftliche Gedanken
Kognitive Bilder der Realität (Bewußtsein)
Aus Verhalten wird Handeln
Symbolische Verständigung: statt Handlung auszuführen kann sie signalisiert
werden
Regeln
Soziale Realität
Neue Zeitformen, besonders Geschichte
Sozialwissenschaftliche Theorie
Möglichkeiten und Grenzen des Alltagsbewußtseins
Alltagsbewußtsein ist ein Begriff für die Art und Weise, wie wir im täglichen Leben
unsere Welt verstehen und auf sie reagieren. Es ist nicht objektiv richtiges Wissen,
sondern hilft uns, aufgrund eigener Erfahrungen alle Situationen zu beurteilen und
macht uns so handlungsfähig. Das Alltagsbewußtsein ist egozentrisch und wird im
Lauf des Lebens erworben und ständig modifiziert. Es orientiert sich auch nicht an
Wahrheit, sondern ist pragmatisch, wenn einem zb. jemand ein Glas Wein über die
Kleidung schüttet, wird man verschieden reagieren, je nachdem, wer diese Person ist
und in welcher Tagesverfassung man sich befindet.
Wissenschaftliche Theorie und Alltagsbewußtsein
Max Weber beschreibt Verstehen als zweistufigen Prozeß:
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
1) rationales aktuelles Verstehen von Aussagen, Handlungen...
2) erklärendes Verstehen  welcher Sinn wird mit einer Aussage verbunden, warum
wird eine bestimmte Handlung gesetzt...  Einbettung in den Kontext
Die Interpretation im Alltag hat also einen Doppelcharakter und sind so das missing
link zwischen der Orientierungsleistung und der Theorie.
Eine wissenschaftliche Theorie muß dem Gegenstand gerecht werden, nicht dem
Subjekt. Eine Theorie bezieht sich aber nur auf partikulare und isolierbare Einheiten,
sie ist also nur begrenzt fähig, den gesamten Prozeß der empirischen Realität zu
erfassen, spontanes Zusammenspiel und wechselseitige Beeinflussung kann eine
Theorie nicht erfassen.
Die Chaostheorie geht davon aus, daß das Zusammenspiel vieler verschiedener
Momente den Rahmen der linearen theoretischen Modelle sprengt. Vor allem das
Moment der Rückkoppelung macht Prozesse so unberechenbar.
Sozialwissenschaftliche Theorie und soziale Realität
Die soziale unterscheidet sich von der natürlichen Realität durch ihre Dynamik.
Während ein Stein überall auf der Welt ein Stein ist und sich wie einer verhalten wird,
hängen soziale Phänomene stark von gesellschaftlichen und kulturellen
Zusammenhängen sowie von der jeweiligen Situation ab. Für die
sozialwissenschaftliche Theorie bedeutet das


ihr Gegenstand entwickelt und verändert sich
soziale Wirklichkeit und Theorien bedingen sich gegenseitig  Theorien werden
produziert, zur Kenntnis genommen und verarbeitet, genutzt und bewirken
Veränderungen
Eine sozialwissenschaftliche Theorie soll keinerlei ideologische Abhängigkeiten
aufweisen, deshalb muß sie nach Voraussetzungen fragen, welche Postition wovon
abhängig ist und warum... Latente Abhängigkeiten werden aber immer bestehen
bleiben.
Theorie und Alltagsbewußtsein
Es besteht eine Konkurrenz zwischen dem Alltagsbewußtsein und den Theorien:
während für das Alltagsbewußtsein egozentrisches, partikulares Wissen und feste
Überzeugungen nötig sind, muß eine Theorie genau diese Dinge vermeiden. Eine
Theorie bleibt also auf einer allgemeinen Ebene und wird deshalb im Alltag als
unverständlich und weit weg erlebt.
Problem: Emanzipation vom Alltagsbewußtsein bei gleichzeitiger produktiver
Bindung!!!
Der nützliche Streit der Theorien
Nicht nur zwischen Theorien und Alltagswissen bestehen Konkurrenzen, die
verschiedenen Theorien konkurrieren auch untereinander. Verschiedene Theorien
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
benutzen verschiedene Denksysteme, interpretieren denselben Sachverhalt
verschieden und scheinen sich zu widersprechen.
Soziologische Theorieansätze im Überblick
Die Zahl der möglichen Paradigmen ist begrenzt, man kann Theorien typisieren: wie
arbeiten sie, welche Verfahren wenden sie an und wie kommen sie zu Aussagen,
etc.? Eine Möglichkeit ist die Unterscheidung in mikrosoziologische und
makrosoziologische Theorien:
Mikrosoziologische Theorien
Gehen vom handelnden Menschen aus und sehen in individuellen Handlungen und
den Interaktionen ihren primären Bezugspunkt. Dabei fragen sie einerseits nach der
Logik von Handlungen (Motive und Muster des Handelns) und andererseits nach
Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammen-Handelns von verschiedenen
Akteuren.







Utilitarismus
Ethnomethodologie
Sinnverstehende Soziologie Max Webers: Menschen verbinden mit ihrem
Handeln einen subjektiven Sinn, der sich logisch rekonstruieren läßt
Nutzentheoretische Konzepte: Handeln eines Menschen richtet sich immer am
individuellen Nutzen aus, homo oeconomicus als rationeller Nutzenmaximierer
Rational Choice Konzepte: Handeln unter bestimmten Zwängen und Alternativen
Interaktionismus:
Konstruktivismus: betont die Konstitutionsleistungen des Einzelnen, der seine
individuelle Welt immer wieder konstruiert
Makrosoziologische Theorien
Gehen nicht vom Individuum, sondern von der sozialen Struktur der Gesellschaft
aus: wie ist soziale Wirklichkeit aufgebaut und wie funktioniert sie?




Historischer Materialismus (Karl Marx): Produktionsverhältnisse und damit
verbundene Klassenkonflikte
Kritische Theorie: knüpft am historischen Materialismus an, aber Rolle von
subjektiver Identität und Kultur wird stärker betont, kommt zu einem abstrakteren
Begriff von Herrschaft und gesellschaftlichen Widersprüchen
Funktionalismus: Zusammenspiel der Elemente des gesellschaftlichen Ganzen,
die Teilbereiche stehen durch die zu erbringenden Leistungen in einem
Abhängigkeitsverhältnis zum Ganzen
Systemtheorie: Bedingungen und Bestand von sozialen Systemen, das
dominante Problem ist die Reduktion von Komplexität.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die Anfänge der modernen Soziologie
Die Professionalisierung der Soziologie
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Soziologie noch keine eigenständige
Wissenschaft. Mit der Emanzipation der Wissenschaft von politischen und religiösen
Bevormundungen entwickelte sich die Universität zum Zentrum des Diskurses, der
dadurch professionelle Züge erhielt. Dies führte zur Bildung verschiedener
Paradigmen und „Schulen“. Zu den herausragenden Gründern solcher Schulen
gehören Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel.
August Comte (1798-1757)
Begründer des Positivismus, der eines der herausragenden theoretischen Systeme
es 19. Jahrhunderts war. Der Kern des Positivismus ist die Forderung, daß jede
Theorie positiv zu begründen sei, also auf empirischen Beobachtungen basieren
muß. Er prägte den Begriff „Soziologie“ – Gesetze des Sozialen – und unterschied
zwei Gesetzestypen:


Soziale Statik: gesetzmäßiger Aufbau und gesetzmäßiges Funktionieren einer
Gesellschaft
Soziale Dynamik: die gesetzmäßige Form der Veranderung und Entwickung von
Gesellschaften
Emile Durkheime (1858-1957)
Befreite den Positivismus von seinen politischen Ambitionen und widmete sich der
Begründung der Soziologie als eigener Wissenschaft. Seine Grundüberlegung ist,
daß soziale Tatbestände wie Dinge betrachtet werden müssen, alle Vorurteile,
Identifikationen, Empfindungen müssen ausgeschaltet werden. Außerdem müssen
soziale Tatbestände vom Denken und Handeln der Akteure getrennt werden. Er
unterscheidet zwischen normalen und pathologischen Phänomenen: ein soziales
Phänomen ist für einen bestimmten sozialen Typus in einer bestimmten Phase seiner
Entwicklung normal, wenn es im Durchschnitt der Gesellschaft (...) auftritt.
Die „soziale Morphologie“ dient zur Klassifikation von Gesellschaften, wobei diese
nach dem Grad ihrer Zusammengesetztheit beurteilt werden, den Ausgangspunkt
bildet dabei die monosegmentäre Gesellschaft, in der alle Mitglieder dieselben
Aufgaben etc. haben. Analysiert wird der Aufbau von Gesellschaften anhand der
Entstehung und der Funktion sozialer Sachverhalte sowie anhand des inneren
sozialen Milieus, das sind die relevanten Regeln, Pflichten, Rollenverteilungen etc.
Durkheim versuchte, soziale Kausalitätsbeziehungen herauszuarbeiten.
In seiner Studie über die Arbeitsteilung als soziales Phänomen entdeckte er zwei
Formen der Solidarität:
 Die mechanische Solidarität findet man in einfachen Gesellschaften mit wenigen
Mitgliedern, die nur durch die unmittelbare Abhängigkeit zusammengehalten
werden
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
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die organische Solidarität entwickelt sich, wenn sehr viele Mitglieder vorhanden
sind. Dabei kommt es zu Spezialisierungen, wobei jeder Spezialist von anderen
Spezialisten abhängig ist.
In seiner Studie über den Selbstmord zeigt er, daß es falsch ist, diesen einfach als
psychischen Defekt zu betrachten. Generell hängt Selbstmord von der Beziehung
des Individuums zur Gesellschaft ab, er unterscheidet aber drei typische Formen:
 Der egoistische Typ beruht auf geringer sozialer Integration
 Der altruistische Typ ist zu stark sozial integriert, sodaß ihm soziale Anliegen
wichtiger erscheinen als das eigene Leben (zb. Kapitän, der mit dem Schiff
untergeht, Märtyrer...)
 Der anomische Typ tritt auf, wenn die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen
unerträglich wird, vor allem in Krisenzeiten
Max Weber (1864-1920)
Betont den subjektiven Sinn, den jedes Individuum mit seinem Handeln verbindet
und tritt für eine radikal wertfreie Position ein. Er entwickelt eine sinnverstehende
Soziologie, soziales Handeln soll deutend verstanden und erklärt werden.
Soziales Handeln definiert er als subjektiv sinnhaftes Handeln, reine Reaktionen wie
zb. ein Lidschlag gelten also nicht als Handeln. Verstehen bedeutet, ein Handeln
richtig zu interpretieren. Erklären bedeutet, über die alltäglichen ad hoc Erklärungen
hinaus einen Einzelfall in seinem tatsächlichen Sinnzusammenhang oder aber
typische Abläufe in ihrem logisch reinen Sinnzusammenhang darzustellen.
Kern von Webers Vorgehen ist das Herausarbeiten eines logischen Modells von
Handlungen zur Konstruktion von Idealtypen. Idealtypen sind Handlungsabläufe, wie
sie im Idealfall ablaufen würden. Dadurch wird es möglich, die typischen Strukturen
der empirischen Vielfalt begrifflich zu erfassen sowie die Systematik von
Abweichungen vom Idealtypus zu bestimmen und zu analysieren, warum bestimmte
Abweichungen regelmäßig auftreten.
Zur Analyse des Handelns gibt es vier idealtypische Arten, die das Handeln
bestimmen können:
 Zweckrational: um eigene Zwecke zu erreichen
 Wertrational: es besteht ein Glaube an einen religiösen, moralischen, etc.
Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens
 Affektuell: durch momentane Gefühlslagen beeinflußt
 Traditional: durch eingelebte Gewohnheit
Soziale Beziehungen bestehen dann, wenn Handelnde sich aneinander orientieren,
also soziale Handlungen setzen. Begriffe wie „der Staat“, „die Kirche“ sind für ihn ein
Muster sozialer Beziehungen. Die Aufgabe der Soziologie ist es, das Muster dieser
sozialen Beziehungen herauszuarbeiten, zu entdecken, was für eine bestimmte
Gruppe von Menschen typisch ist.
Handlungen und soziale Beziehungen basieren darauf, daß sich die Handelnden als
Teil einer geltenden Ordnung sehen und sich an ihr orientieren. Unter der Legitimität
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
der Ordnung versteht Weber die Gründe, die dazu führen, daß eine Ordnung
aufrechterhalten wird. Er unterscheidet vier idealtypische innere Gründe:
 Traditionen
 Affekte
 Werte
 Legalität einer positiven Satzung
Daneben existieren noch äußere Gründe, die sich an Nutzen bzw. Strafen
orientieren.


Vergemeinschaftung: soziale Beziehungen, die auf subjektiv gefühlter
Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen, zb. Liebespaare, Freunde...
Vergesellschaftung: Herstellung von Gemeinsamkeit aufgrund von Interessen und
rationalen Vereinbarungen
Berühmt wurde Webers Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus“, in deren Zusammenhang er auch die These von der Entzauberung der
Welt entwickelt hat: durch die fortschreitende Rationalisierung werden Dinge wie
Werte, Glaube, Gefühle etc. marginalisiert.
Theorie der Herrschaft:
Macht ist jede Möglichkeit, sich in einer sozialen Beziehung durchzusetzen, egal wie.
Herrschaft ist dagegen ein Typus von festgelegten Abhängigkeiten mit klarer
Hierarchie. Weber unterscheidet drei Typen von Herrschaft:
 Traditionale Herrschaft
 Charismatische Herrschaft: dominante Führungspersönlichkeit, zb. in religiösen
Sekten
 Legale Herrschaft
Georg Simmel (1858-1917)
Sein Ausgangspunkt ist, daß jeder Mensch in Wechselwirkung mit anderen
Menschen lebt, Soziologie versteht er als wissenschaftliche Methode, diese
Wechselwirkungen zu verstehen, die aus bestimmten Trieben heraus oder um
bestimmter Ziele willen entstehen.
Gesellschaft wird gekennzeichnet durch das Zusammenspiel der Elemente, sie
besteht also aus sozialen Formierungen, wobei Simmel zwischen Inhalt und Form
unterscheidet. Inhalt (Themen, die sich aus der menschlichen Existenz ergeben) und
Form (Hierarchie, Arbeitsteilung, Gruppenbildung) sind allerdings empirisch nicht zu
trennen, jeder Inhalt kann aber mehrere Formen hervorbringen und umgekehrt
können jeder Form der Vergesellschaftung mehrere Inhalte zugrunde liegen.
Soziale Gebilde wie Staat, Kirche, Wirtschaft... sind das Resultat einer
unermeßlichen Zahl von Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den
Menschen. Interaktion ist der Kitt, der Individuen aneinander bindet.
Gruppengröße und Gruppenstruktur:
Die kleinstmögliche Gruppe ist die Dyade, die aus zwei Personen besteht. Ihr
Kennzeichen ist die völlige Ausrichtung auf den anderen, mit dem Hinzutreten eines
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Dritten ändert sich die Konstellation völlig. Außerdem besteht das Problem daß die
beiden Individuen nicht nur jede für sich Qualitäten haben muß, sie müssen auch
noch zusammenpassen.
Die Triade hat ebenfalls ihre spezifischen Eigenschaften, sie existiert in drei
verschiedenen Gruppierungsformen:
 Der Unparteiische und Vermittler
 Der lachende Dritte
 „Teile und herrsche“ (kann die anderen beiden gegeneinander ausspielen
Die Merkmale der Großgruppe hingegen sind:
 größere Tendenz zur Ungleichheit und Inhomogenität
 Sozialismus (soziale Gerechtigkeit) ist für ihn in einer großen Gruppe nicht
möglich, in einer kleinen aber schon
Konflikte werden von Simmel nicht negativ beurteilt, sondern sogar befürwortet, da
sie eine wichtige integrative Funktion haben. Die Reife einer Gesellschaft mißt sich
demnach nicht am Grad der Harmonie, sondern am Grad der Opposition, die sie
verträgt.
Simmel versucht auch zu zeigen, daß auch aus scheinbar nebensächlichen oder auf
den ersten Blick sogar asozialen Wechselwirkungen sozialer Zusammenhalt
entstehen kann. So ist Simmel zu einem Vorreiter der Alltagssoziologie geworden.
Utilitaristische Soziologie
Die Ausgangsfrage
Im 15. Und 16. Jahrhundert wurde in Mitteleuropa die traditionelle Agrargesellschaft,
deren Sozialstruktur auf dem feudalen Herrschaftsverband und den christlichen
Kirchen beruhte, durch moderne Strukturen abgelöst:
 Städte entstanden
 Das Bürgertum entstand durch die neue Form des Zusammenlebens in den
Städten
 Die Expansion von Handwerk und Handel wurden zur Grundlage des
Kapitalismus
 Der Territorial- und Nationalstaat entstand anstelle persönlicher Herrschafts- und
Abhängigkeitsverhältnisse
 Das Zusammenleben der Menschen wird differenzierter und führt zur
„Bürgerlichen Gesellschaft“
Dieser Wandlungsprozeß ging aber nicht friedlich, sondern gewalttätig und chaotisch
vor sich, was einerseits zu apokalyptischen Wahnvorstellungen führte, andererseits
aber ein Nachdenken über soziale Prozesse und den Zusammenhalt der
Gesellschaft führte. Die Scholastik wurde durch die empirische und nichttheologische
Wissenschaft abgelöst, nicht mehr die Kleriker waren die Träger des Denkens,
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
sondern der weltliche, bürgerliche Intellektuelle. Dieser Wandel vollzog sich sowohl in
den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften.
Thomas Hobbs (1588-1672)
Entwarf ein unerhört revolutionäres Bild von der Gesellschaft, in dem Gott nur mehr
als indifferenter Bezugspunkt vorkam. Hobbs geht davon aus, daß jeder Mensch
egoistisch handelt, was er als das natürliche Recht eines jeden Menschen betrachtet.
Bei der Interaktion kommen sich die Egoisten aber in die Quere – diesen Zustand
bezeichnet er als Naturzustand. In der Folge muß jeder Mensch auf ein Stück seiner
natürlichen Souveränität verzichten, sodaß im Interesse aller Regeln bestimmt und
ihre Einhaltung kontrolliert werden können.
Die utilitaristische Tradition
Jeremy Bentham (1748-1832)
Auch er ging vom egoistischen Handeln des Einzelnen aus, er betrachtete sie als
autonome Subjekte. Sein Bild der Gesellschaft entspricht aber dem, was später als
Wohlfahrtsstaat bezeichnet wurde: gesellschaftliche Einrichtungen sind dazu da,
möglichst vielen Nutzen zu bringen, „das größtmögliche Glück der größtmöglichen
Zahl“ war das Ziel.
Er trat auch vehement für Gesetzesreformen ein, die mehr Gerechtigkeit bringen
sollten, anstatt nur den Reichen zu nützen. Gleichzeitig forderte er sexuelle
Freizügigkeit und gleiche Rechte für Frauen.
Sein Gesellschaftsmodell wurde schließlich Utilitarismus genannt. Er war allerdings
noch kein systematischer Wissenschafter. Gleichzeitig setzten sich noch andere
Theoretiker mit en Funktionieren der Gesellschaft auseinander:
Adam Smith (1723-1790)
Der Stammvater der modernen ökonomischen Theorie
ging auch davon aus, daß Menschen aus
Eigeninteresse heraus handeln. Dies ist für ihn die
Garantie für Fortschritt und Ausgleich, durch das
Wechselspiel von Angebot und Nachfrage entsteht ein
Gleichgewicht. So wird durch eine unsichtbare Hand
dafür gesorgt, daß aus der großen Anzahl von einzelnen
Aktivitäten ein Ganzes entsteht. Allerdings ist er
keineswegs ein Propagandist des völlig autonomen
Marktes, sondern sieht sehr wohl auch die
Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen zu kontrollieren
und zu steuern, wie er in seinem zweiten Buch „Theory
of Moral Sentiments“ ausführt.
Smith [engl. smi], 1) Adam, Kirkcaldy
5.6. 1723, †Edinburgh 17.7. 1790,
schott. Nationalökonom und
Moralphilosoph. In seinem philosoph.
Hauptwerk ›Theorie der Gefühle‹ (1759)
entwarf er eine Theorie des sozialen
Handelns, die auch Grundlage für sein
nationalökonom. Hauptwerk
›Untersuchung über die Natur und die
Ursachen des Nationalreichtums‹ (1776)
war. Für S. stellt der Zusammenhang
des ökonom. Handelns ein sich selbst
regulierendes System dar, das ohne
Regulierung durch den Staat ein
sinnvolles Ganzes ergibt. Grundlage
seiner nationalökonom. Theorie ist die
Arbeitswertlehre, wonach der Wert einer
Ware sich nach der in ihr
vergegenständlichten gesellschaftl.
notwendigen Arbeit bestimmt; S. gilt als
Begründer der klass. Nationalökonomie.
Der Homo oeconomicus
Der klassische Entwurf
Mit dem Siegeszug des Industriekapitalismus wurde Adam Smiths Theorie der
„invisable hand“ weiterentwickelt, es kam zur Vorstellung des idealen Marktes mit
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sinkender Nachfrage- und steigender Angebotskurve, aus denen sich objektive
Gleichgewichtspunkte ergeben. Komplementär dazu entstand das Modell des „homo
oeconomicus“, einem rational handelnden Individuum, das im idealen Marktmodell
die gegebenen Mittel so einsetzt, daß der maximale Nutzen erreicht wird. Unter der
Voraussetzung der Ressourcenknappheit und mehrerer Handlungsalternativen wählt
der Nutzenmaximierer homo oeconomicus jene Alternative, die ihm den meisten
Nutzen bietet.
Dabei existieren aber eine Reihe von Nebenannahmen:
 Rationales Entscheiden setzt vollständige Information voraus, diese kann aber
nur bei idealer Zugänglichkeit und ideale Verarbeitbarkeit der Information erreicht
werden
 Güter etc. müssen prinzipiell vergleichbar sein, es muß einen gemeinsamen
Wertmaßstab geben, nach dem Präferenzen bestimmt werden können
 Es muß eine stabile Präferenzordnung geben, d.h. die Subjekte müssen an ihren
Bewertungen festhalten
 Die Nutzenmaximierung als oberste Verfahrensregel darf nicht in Frage gestellt
werden.
Es war aber von Anfang an klar, daß diese Annahmen empirisch so nie stimmen
können. Daher gab es mehrere Strategien, mit dem Problem umzugehen:
 Konservierung des Modells durch Radikalisierung
 Flexibilisierung des Modells durch Relativierung
 Anpassung des Modells durch neue Annahmen
 Kritik und Weiterentwicklung des Modells
Die radikale Position: Gary S. Becker
Er beschränkt den ökonomischen Ansatz von Adam Smith nicht auf materielle Güter
oder auf den Marktbereich, sondern verwendet sie als Grundlage einer generellen
Theorie sozialer Prozesse. Er geht davon aus, daß jede Handlung mit monetären
oder psychischen Erträgen verbunden sind; gleichzeitig entstehen bei jeder
Entscheidung für eine Handlung Opportunitätskosten durch das Verzichten auf eine
andere Alternative entstehen. (Beispiel: Theorie der Ehe).
Becker operiert aber in seiner Theorie mit Wahrscheinlichkeiten, der Erklärungswert
der Theorie ist gering, vielmehr bleibt es ein tautologisches Modell, das sich selbst
bestätigt. (wenn alle Menschen nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung handeln,
ist alles, was sie tun, Resultat der Nutzenmaximierung)
Die gemäßigte Position: McKenzie und Tullock
Dehnen die Markttheorie nicht auf alles aus, sondern beschränken ihre Gültigkeit auf
ökonomische strukturierte Themen, die rational behandelt werden können (das sind
ihrer Meinung nach aber die meisten Themen).
In ihrer Theorie der Sexualität schließen sie im Wesentlichen an Becker an, sie
gehen aber nicht von einem Heiratsmarkt, sondern von einem Sexualitätsmarkt aus.
So erklären sie zb. Prostitution. Das Modell ist aber insofern flexibler, als sie
Präferenzen als rational wählbar betrachten; es kann also auch rational entschieden
werden, Kosten und Nutzen außer acht zu lassen.
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Relativierungen: Herbert Simon
Auch das gemäßigte Modell wurde weiterentwickelt, eine Schwachstelle war die
Annahme der vollständigen Information. Simon zog schließlich die Konsequenz, nur
mehr von begrenzter Rationalität zu sprechen, Nutzen ist jeweils eine Frage der
subjektiven Definition.
Die Spieltheorie: Oskar Morgenstern und John von Neumann
Morgenstern und Neumann beachteten als erste die Ebene der Intersujektivität:
meistens hängen Entscheidungen von den Entscheidungen anderer ab. Situationen
werden als Spiele im mathematischen Sinn definiert, je nach der „Summe“, um die es
geht unterscheidet man
 Nullsummenspiele (Fixsummenspiele)  was einer gewinnt, muß ein anderer
verlieren
 Nicht-Nullsummenspiele
Das bekannteste Beispiel der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma. Die
Spieltheorie versucht, Modelle für Situationen zu entwickeln, in denen es um
Konkurrenz oder Kooperation geht.
Der „Rational Choice Ansatz“
Verwirft das Modell des homo oeconomicus insgesamt, weil es nichts taugt
 Bei mehreren Entscheidungen
 Wenn sich die Randbedingungen ändern
 Wenn sich der Entscheidende selbst ändert
 Wenn gegenwärtige Entscheidungen auch spätere Möglichkeiten beeinflussen
Die Umwelt darf nicht als statisch betrachtet werden, wesentlich ist das
Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren und die wechselseitige Beeinflussung
von Umweltbedingungen und Entscheidungen.
Bezugspunkte sind die „constraints“ (Zwänge) und die „choices“ (Alternativen). Elster
hat in diesem Zusammenhang untersucht, inwiefern Zwänge selbst auferlegt sein
können und wie Alternativen durch Uminterpretationen der Umwelt ausgewählt
werden (zb. der Fuchs und die Trauben).
Behavioristische Ansätze
George Caspar Homans hat versucht, die Grundlagen des homo oeconomicus mit
der behavioristischen Psychologie in Einklang zu bringen. Die Grundsätze dieser
Psychologie sind:
 Wissenschaft kann nur messen und zählen
 Was im menschlichen Kopf vor sich geht, kann nicht gemessen und gezählt
werden, muß also außer acht gelassen werden („black box“), außer, es lassen
sich Input-Output-Reaktionen feststellen
 Organismen sind lernende Systeme, durch Erfahrung entwicklen sie ReizReaktions-Koppelungen, Handeln ist eine programmierte Verhaltenskette
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Diese Theorie wurde aber bald weiterentwickelt, so ging Tolman schon in den 30ern
davon aus, daß Menschen nicht einfach auf Reize reagieren, sondern ein inneres
Bild der Realität entwickeln: die kognitive Landkarte. Durch Weiterentwicklung dieses
Ansatzes kam es zur kognitiven Psychologie. Gleichzeitig wurde über die
Hintergründe von psychischen Prozessen nachgedacht und Balancemodelle
entwickelt. Leon Festinger entwickelte in diesem Zusammenhang die Theorie der
kognitiven Dissonanz.
Homans vertrat aber einen radikalen Ansatz und entwarf den utilitaristischen
Behaviorismus, nach dem jede soziale Realität auf fünf Grundgesetze des Handelns
zu reduzieren ist:
 Menschen wiederholen belohnte Verhaltensweisen
 Je öfter ein Verhalten belohnt wird, desto häufiger tritt es auf
 Je wertvoller die Belohnung, desto häufiger die Reaktion
 Je öfter ein Verhalten belohnt wurde, desto mehr sinkt der Wert der Belohnung
 Distributive Gerechtigkeit: jeder strebt danach, seine Interessen zu realisieren und
reagiert auf Ungerechtigkeit mit Gegenaktivitäten
Klaus Dieter Opp entwirft die verhaltenswissenschaftliche Soziologie und geht von
der These aus: „Menschen verhalten sich so, daß sie unter Berücksichtigung der
gegebenen Bedingungen Bedürfnisse in möglichst hohem Maß befriedigen.
Demnach ist Rollenhandeln nicht das Befolgen von Normen, sondern eine
Entscheidung, um positiven Nutzen daraus zu ziehen. Das Nicht-Einhalten von
Normen wird dadurch erklärt, daß der Nutzen der Abweichung größer ist als der der
Einhaltung.
Die Tauschtheorie: Peter M. Blau
Er versucht, mit dem nutzenorientierten Ansatz Interaktionen zu erklären, in denen
alle Beteiligten in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihre Interessen
realisieren wollen. Die Situationen sind offen, das Handeln eines Beteiligten hängt
vom Handeln der anderen ab. Die Tauschtheorie versucht, Zusammenhänge zu
finden, die sich aus strategischen Kalkülen und teils unsicheren, teils zwingenden
Rahmenbedingungen ergeben.
Der Funktionalismus
Gesellschaften sind Zusammenhänge, in denen es um subjektive oder objektive
Zwecke geht, ohne daß sie darauf reduziert werden können. Die Gesellschaftstheorie
muß allgemeine Vorstellungen entwickeln, wie eine Gesellschaft funktioniert.
Der frühe Funktionalismus: Gesellschaft als Organismus
Herbert Spencer (1820-1906)
Die ersten Versuche Gesellschaften funktionsanalytisch darzustellen, lehnen sich
noch sehr eng an gesellschaftsfremde Konzepte an. Spencer, der eigentlich
Ingenieur war, widmete sich intensiv dem Thema Foirtschritt und war von den
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Fortschritten der biologischen Forschung beeindruckt. Er versuchte auch die Logik
des gesellschaftlichen Fortschritts zu ananlysieren und übernimmt dazu
evolutionstheoretische Vorstellungen. Nach seinem Grundgesetz verläuft eine
gesellschaftliche Entwicklung immer vom Homogenen zum Heterogenen, also vom
Gleichen zum Verschiedenen, wobei Verschiedenes bedeutet
 Daß die verschiedenen Elemente sinnvoll kombiniert und aufeinander bezogen
werden, sodaß sich ein sinnvolles Ganzes ergibt
 Das Problem der Integration: die einzelnen Elemente müssen
zusammengehalten, koordiniert und kontrolliert werden
Er unterscheidet in der sozialen Evolution drei Typen von Gesellschaften:
 Primitive Gesellschaften: wenige Mitglieder, geringe Arbeitsteilung und einfachen
Formen der sozialen Integration
 Militärische Gesellschaften: mehr Mitglieder, mehr Arbeitsteilung und Formen der
Integration, die Verschiedenheit vor allem durch Zwang und Unterordnung
erreichen
 Industriegesellscahften: viele Mitglieder, hochdifferenzierte Arbeitsteilung,
Freiwilligkeit und Konsens als Prinzip der sozialen Organisation
Er betrachtet Gesellschaft wie einen Organismus: jedes gesellschaftliche Organ muß
eine Aufgabe erfüllen und ist dabei auf die Leistungen der anderen Organe
angewiesen. Die Leistungen der gesellschaftlichen Organe nennt er Funktionen, die
ein Teil eines System von Kooperationen sind. Nach dieser Theorie ist Gesellschaft
eine gut durchstrukturierte Einheit, in der alles seinen angestammten Platz hat und
seine Aufgaben erfüllt.
Struktur und Funktion in primitiven Gesellschaften
Alfred R. Radcliffe-Brown (1881-1955) und Bronislaw Malinowski (1884-1942)
Die beiden Anthropologen wollten Kulturerscheinungen aus ihrer Funktion erklären,
die sie für die Gesellschaft haben und entwickelten dazu den Ansatz von Spencer
weiter.
An Durkheim anknüpfend war Radcliffe-Brown der Meinung, daß Gesellschaft als
totales soziales Phänomen untersucht werden muß und betrachteten die Funktionen
einzelner sozialer Erscheinungen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erhaltung der
ganzen Gesellschaft. Die Funktion sieht er in enger Beziehung zur Struktur, der
Beziehung der Einheiten zueinander. Gesellschaften brauchen notwendige
Existenzbedingungen: einen minimalen Grad an Integration und Solidarität bzw. an
Konsistenz und Kontinuität der Struktur, um existieren zu können. Eine „gesunde“
Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, daß alle Teile eines sozialen Systems
ausreichend miteinander kooperieren, zur Erhaltung dieser Gesundheit dienen zb.
die Religion und die Verwandtschaft.
Malinowski versteht unter Funktionalismus die Untersuchung des Wesens der
Kulturphänomene, wichtig sind dabei wesentliche Beziehungen und Verbindungen.
Er bestimmt Funktionen aber nach menschlichen Bedürfnissen: alle sozialen
Prozesse sind eingebettet in die Bedürfnisbefriedigung des einzelnen. Er untersucht,
welchen Beitrag gesellschaftliche Institutionen wie Familie etc. zur
Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen leisten. Gelingt es diesen Institutionen nicht, die
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Grundbedürfnisse des Menschen zu erfüllen, ist eine Gesellschaft nicht
überlebensfähig. Die funktionale Analyse versucht, die Beziehungen zwischen
Kulturhandlungen und menschlichen Bedürfnissen zu erforschen. Funktion bedeutet
Bedürfnisbefriedigung durch eine Handlung, bei der Menschen zusammenwirken;
eine Institution ist eine Einheit menschlicher Organisation.
Die funktionale Analyse komplexer Gesellschaften
Robert K. Merton
Er kritisiert drei von den Anthropologen vertretene Postulate:
 Gegen die vollständige funktionale Einheit der Gesellschaft: nicht alle modernen
Gesellschaften haben einen so hohen Integrationsgrad, daß jede Tätigkeit für die
Gesellschaft als Ganzes funktional ist. Zb. kann Religion integrativ, aber auch
desintegrativ wirken
 Gegen den universalen Funktionalismus: nicht jeder Bestandteil einer Kultur muß
notwendig funktional sein, Merton unterscheidet Funktion, Dysfunktion und NichtFunktion. Weiters unterscheidet er zwischen manifesten und latenten Funktionen.
 Gegen die Unentbehrlichkeit: ein Objekt kann mehr als eine Funktion haben,
gleichzeitig kann eine Funktion aber auch von verschiedenen Objekten erfüllt
werden. Das bezeichnet Merton als funktionales Äquivalent.
Mertons Anliegen ist die Ausarbeitung eines Handwerkszeuges für die funktionale
Analyse.
Der Strukturfunktionalismus
Talcott Parsons (1902-1979)
Greift auf Ideen von Durkheim und Weber zurück, entwickelt sie aber weiter und
verbindet sie miteinander. Er faßt Gesellschaften als Handlungssysteme auf, die vier
Grundfunktionen erfüllen müssen, sein Modell bezeichnet er als AGIL-Schema:
 Adoption: Gesellschaft muß dafür sorgen, daß sich das System an seine Umwelt
anpassen kann
 Goal-Attainment: sie muß dafür sorgend, daß geplante Ziele erreicht werden
 Integration: ein bestimmtes Maß an innerer Einheitlichkeit muß bestehen
 Latency: die Grundstruktur muß über Veränderungen hinweg erhalten bleiben
Im nächsten Schritt greift er den Gedanken der Struktur auf, in Handlungssystemen
gibt es demnach vier basale Teilsysteme:
 Der menschliche Organismus, der die körperliche Anpassung an die Umwelt
erbringt
 Die menschliche Persönlichkeit, die für Zielverwirklichung sorgt
 Das soziale System, welches für die Integration zuständig ist
 Das kulturelle System, welches die Erhaltung des Handlungssystems garantiert
Jedes der einzelnen Systeme erfüllt also besondere Funktionen. Das soziale System
ist die Gesellschaft, die drei anderen stellen den Kontext dar, der durch die
integrative Funktion der Gesellschaft zusammengehalten wird. Gesellschaften selbst
gliedern sich wiederum in vier Subsysteme:
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Erstellt von Pia Lichtblau




Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die Wirtschaft ist das Subsystem der Adoption und sorgt für die optimale
Allokation der Ressourcen
Das Politische System ist das Subsystem des Goal-Attainment, in ihm werden
Entscheidungen getroffen
Das System der Normen und Regeln ist das Subsystem der Integration und sorgt
dafür, daß soziales Handeln auf berechenbare Weise abläuft
Das System der Kultur und Werte ist das Subsystem der Latency, Kultur ist der
Hintergrund, vor dem Handlungen ablaufen und Werte bieten stabile Orientierung
Darauf aufbauend entwickelt er sein Modell in zwei Richtungen weiter:
1) Die Architektur von sozialer Wirklichkeit ergibt sich daraus, daß jedes
Subsystem seinerseits die vier Grundfunktionen erfüllen muß, um bestehen zu
können. Dazu müssen die einzelnen Subsysteme aber miteinander in Kontakt treten,
Parsons spricht von „Interpenetration“ (wechselseitige Durchdringung).
3) Er entwickelt ein Konzept von Systemvariablen, innerhalb deren Dimensionen
die Funktionen erfüllt werden können:
 Grad der emotionalen Beteiligung (Affektivität bis Neutralität)
 Grad der Ausschließlichkeit, mit der Themen behandelt werden (Spezifität bis
Diffusität)
 Der Horizont der Handlung (Partikularismus bis Universalismus)
 Das Ausmaß der Eigenbeteiligung der Handelnden (Leistung bis Zuschreibung)
 Worauf sich Handlungen beziehen (Selbstorientierung bis Kollektivorientierung)
Anhand dieser Grundvariablen lassen sich Gesellschaftstypen und Typen von
Teilsystemen unterscheiden. Zb. weisen moderne Industriegesellschaften wesentlich
mehr Neutralität, Leistungsorientierung und Spezifität als Agrargesellschaften auf.
Aus diesen Merkmalen lassen sich Probleme in Gesellschaften ableiten.
Zur Bedeutung des Funktionalismus
Vom funktionalistischen Denken angeregt wurde auch die Entwicklung der
Rollentheorie:
Gesellschaftliche Funktionen werden über Positionen gewährleistet, jeder Mensch
hat bestimmte zugewiesene oder erworbene Positionen. Von der Gesellschaft
werden dem Inhaber einer Position konkrete Erwartungen entgegengebracht, die er
zu erfüllen hat. Diese Erwartungen sind gestuft in Kann-, Soll- und Mußerwartungen.
Werden Erwartungen nicht erfüllt, kommt es zu Sanktionen: Lob bei Erfüllung von
Kann-Erwartungen, Bestrafung bei Verletzungen von Soll-Erwartungen, Ausschluß
beim Verstoß gegen Muß-Erwartungen.
Da eine Person immer mehrere Positionen einnimmt und daher mehrere Rollen zu
spielen hat, passen die ihr entgegengebrachten Erwartungen oft nicht zusammen, es
kommt zu Inter-Rollen-Konflikten (zb. Manager soll viel Zeit für Firma haben, aber
auch für seine Familie).
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Da meist mehrere Bezugsgruppen einem Positionsinhaber Erwartungen
entgegenbringen, kann es zu Intra-Rollen-Konflikten kommen (zb. Schüler wollen,
daß der Lehrer nett ist, Eltern wollen, daß er den Kindern möglichst viel beibringt).
Die Systemtheorie
Die Entwicklung der Allgemeinen Systemtheorie
Unter System versteht man eine Menge von Elementen und deren Relationen
untereinander. Man unterscheidet dabei geschlossene Systeme, bei denen sich die
einzelnen Teile unter die Zwecke des Ganzen unterordnen; und offene Systeme, die
nicht in sich abgeschlossen sind, sondern in Beziehung zu anderen Systemen und
der Umwelt stehen. Die moderne Systemtheorie baut wesentlich auf dieser Theorie
der offenen Systeme aufBegründet wurde die Allgemeine Systemtheorie von einem Biologen, Ludwig von
Bertalanffy. System ist für ihn eine Anzahl von in Wechselwirkung stehenden
Elementen, es gibt immer eine eindeutige Grenze zwischen dem System und seiner
Umwelt. Gegenstand der Systemtheorie sind die komplexen Wechselwirkungen
zwischen den einzelnen Systemteilen und dem System und der Umwelt.
In den letzten 20 Jahren ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen, da die
Neurophysiologen Humberto Maturana und Francisco Varela den Begriff der
Autopoesis eingebracht haben. Die Grundaussage ist, daß autopoetische Systeme
sich kontinuierlich selbst erzeugen und reproduzieren. Autopoetische Systeme sind
geschlossene Systeme, da sie alle Elemente, die sie für ihr Bestehen brauchen,
selbst erzeugen, sie tauschen aber mit ihrer Umwelt Energie und Materie aus. Dieser
Austausch wird aber nicht durch die Umwelt bestimmt, sondern durch das System
selbst.
Die Systemtheorie als soziologische Theorie
Niklas Luhmann (1927)
Kehrt den Strukturfunktionalismus Parsons um, indem er nicht nach der Struktur von
Systemen, sondern nach der Funktion von Systemen fragt: welche Funktion erfüllen
Systeme, warum entwickeln sich soziale Systeme? Systeme müssen immer in Bezug
auf ihre Umwelt betrachtet werden, um den Wandel von Systemstrukturen erklären
zu können. Gleichzeitig wird die Systembildung erstmals als Variable behandelbar.
Das Besondere der Systemtheorie ist, daß nicht das Handeln einzelner Personen
oder deren Interaktion untersucht wird, sondern immer nur die Handlungen eines
Systems. Systeme werden als handelnde Einheiten verstanden: „die Partei“, „die
Uni“, „der Staat“, ...
Der Sinn von Systemen ist die Schaffung abgegrenzter Bereiche, die es der
menschlichen Aufnahmekapazität ermöglichen, die Komplexität der Welt zu erfassen
und zu verarbeiten.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Was sind soziale Systeme?
Systeme als offene Systeme
Ein soziales System ist ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen, die
aufeinander verweisen. Systeme bestehen also nicht aus den Personen, sondern
aus deren Handlungen. Diese Handlungen verweisen aufeinander und bilden so ein
soziales Gebilde. Eine klare Differenzierung zwischen Innen und Außen verweist auf
die Grenzen eines Systems zur Umwelt.
Die letzte Bezugseinheit, die keine Grenzen mehr hat, ist für Luhmann die Welt. Sie
kann also kein System sein, da sie keine Umwelt mehr hat. Wichtig ist sie aber im
Zusammenhang mit der Komplexität: der Gesamtheit der möglichen Ereignisse. Aus
dieser Komplexität wählt das soziale System die Möglichkeiten aus, die für es
sinnhaft sind, betreibt also Komplexitätsreduktion – die wichtigste Funktion sozialer
Systeme.
Beim Prozeß der Systembildung stabilisiert sich die Grenze zwischen innen und
außen, sodaß innerhalb der Komplexität der Welt Inseln von geringerer Komplexität
entstehen. So entstandene soziale Systeme können relativ autonom werden, eigene
Regeln entwickeln und Systemstrukturen ausbilden. Diese Strukturen bilden den
Handlungsrahmen, aufgrund dessen systemkonformes Verhalten erwartet werden
kann.
Systeme können sich weiterentwickeln, indem sie in sich selbst weitere Systeme
ausbilden, man spricht von Interner Differenzierung.
Luhmann unterscheidet folgende verschiedene Systemtypen:
1. Interaktionssysteme: kommt dadurch zustande, daß Anwesende sich
wechselseitig wahrnehmen, wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum System.
Man kann nur mit den Anwesenden sprechen, die Umwelt kann aber thematisiert
werden. Interaktionssysteme können keine sehr hohe Komplexität erreichen, da
Kommunikation nur nacheinander, nicht parallel möglich ist.
2. Organisationssysteme: die Mitgliedschaft ist an verschiedene Bedingungen
gebunden, durch den Eintritt in eine Organisation werden Mitglieder zu
bestimmten Verhaltensweisen verpflichtet.
3. Gesellschaftssysteme: das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ
füreinander erreichbaren Handlungen, die Grenzen des Systems sind also die
Grenzen möglicher und sinnvoller Kommunikation.
Die Systemebenen sind ineinander verschachtelt, Handlungen können gleichzeitig
mehreren Systemen angehören.
Systeme als autopoetische Systeme
Luhmann unterscheidet psychische Systeme und soziale Systeme.
Die Komponenten des psychischen Systems nennt Luhmann Gedanken bzw.
Vorstellungen. Durch den ständigen Gebrauch von Gedanken entwickeln sie sich
weiter, verbinden sich mit anderen oder gehen verloren, das System bildet sich von
selbst immer wieder neu. Psychische Systeme sind von den sozialen Systemen
getrennt, auch wenn sie nicht ganz unabhängig von ihnen sind.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Auch die sozialen Systeme werden als geschlossene autopoetische Systeme
aufgefaßt. Sie sind Kommunikationssysteme, die sich dadurch reproduzieren, daß
ständig kommuniziert wird. Wenn eine Kommunikation keine
Nachfolgekommunikation nach sich zieht, hört das System auf zu existieren.
Organisationen sind soziale Systeme, deren Grundelemente Entscheidungen sind.
Durch diese Entscheidungen erzeugt sich das System ständig selbst.
Dem sozialen und dem psychischen System gemein ist, daß beide Sinn konstituieren
und verwenden. Sinn bedeutet, aus verschiedenen Möglichkeiten eine auszuwählen
und stellt eine Form des Umgangs mit der Komplexität dar. Das psychische System
verarbeitet Sinn durch Bewußtsein, das soziale System durch Kommunikation.
Luhmann unterscheidet drei Sinndimensionen:
 Die Sachdimension: was
 Die Zeitdimension: wann
 Die Sozialdimension: wer
Jedes System entwickelt eigene Regeln, welche Informationen verwertet werden
sollen und welche nicht, welche also sinnhaft sind.
Gesellschaft und funktionale Differenzierung
Die Gesellschaft wird ebenfalls als autopoetisches System begriffen, es umfaßt alle
sozialen Systeme, die in ihm eingebettet sind. Auch Gesellschaften weisen
bestimmte Strukturen auf, das heißt, daß auch hier Komplexität reduziert wird. Die
Theorie soziokultureller Evolution behandelt das Entstehen von
Gesellschaftsstrukturen. Luhmann unterscheidet drei Stufen der gesellschaftlichen
Evolution, die jeweils einen unterschiedlichen Grad an interner Differenzierung
aufweisen:
 Die segmentäre Gesellschaft: Zugehörigkeit zu einem Teilsystem besteht in der
Anwesenheit, die Gesellschaft ist also durch geringe Komplexität gekennzeichnet.
(Zb. Stämme)
 Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften: nach Schichten gegliedert, die
einzelnen Teilsysteme stehen in einer hierarchischen Beziehung, einer
„gottgewollten Ordnung“
 Die funktionale Differenzierung: beginnt am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit,
Politik löst sich von der Religion und wird zu einem eigenen Teilsystem, dann
entwickeln sich für andere Funktionsbereiche weitere Teilsysteme heraus:
Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Rechtssystem, Religion...
Heute leben wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die kein einheitliches
Ganzes mehr ist, sondern aus vielen verschiedenen Teilsystemen besteht. Diese
Teilsysteme sind für bestimmte gesellschaftliche Funktionen exklusiv zuständig. Die
Steuerung der Teilsysteme funktioniert über binäre Codes, nach denen das System
seine Auswahl trifft (zb. zahlen/nicht zahlen im Wirtschaftssystem; wahr/unwahr im
Wissenschaftssystem,...). Die einzelnen Teilsysteme interessieren sich aber sehr
wohl füreinander, die Systemtheorie spricht von der „Resonanz“, die ein gewisses
Thema aus der Umwelt im System findet oder nicht.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Das Problem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften besteht darin, daß
sowohl die Abhängigkeiten (Interdependenzen) der Funktionssysteme als auch ihre
Unabhängigkeit (Independenzen) durch ihre Geschlossenheit zunehmen. Nicht in die
Systeme integrierbare Probleme werden in die Umwelt abgewälzt, so hat zb. das
Umweltproblem sehr wenig Resonanz in den einzelnen Teilsystemen.
Der Symbolische Interaktionismus
Wurde um die Jahrhundertwende in den USA entwickelt, das zu dieser Zeit mit der
rasch fortschreitenden Industrialisierung und der damit verbundenen massiven
Einwanderung und Urbanisierung zu kämpfen hatte. Es kam zu erheblichen Unruhen
und völlig neuen sozialen Problemen wie Bandenbildung etc. Besonders die
Chicagoer Schule betrieb qualitative Forschungen zu den Lebensumständen in den
Großstädten.
Der Begründer des Symbolischen Interaktionismus war George Herbert Mead (18631931), der Begriff stammt von einem seiner Schüler, Herbert Blumer.
Zentrale Thesen
Es geht darum, zu verstehen, wie soziales Handeln abläuft und strukturiert ist. Dazu
werden gesellschaftliche Vorgänge aus einer distanzierten und verfremdeten
Perspektive betrachtet.
Gesten und signifikante Symbole
Im Mittelpunkt steht die soziale Interaktion, wobei zwischen nicht-symbolischer
(Mead: Konversation von Gesten) und symbolischer (Mead: Gebrauch signifikanter
Symbole) Interaktion unterschieden wird. Die symbolisch vermittelte Interaktion ist für
Mead die für Menschen typische Kommunikationsform, weil nur Menschen Symbole
verwenden. Um sich bei symbolischer Interaktion verstehen zu können, muß die
Bedeutung dieser Gesten für beide Interaktionspartner möglichst gleich sein, nach
Mead hat die Bedeutung einer Geste immer drei Ebenen:
 Sie zeigt an, was der Empfänger tun soll
 Sie zeigt an, was der Sender tun wird
 Sie zeigt die gemeinsame Handlung an, die aus der Verbindung der Handlungen
beider hervorgehen soll
Gesten werden zu signifikanten Symbolen, wenn sie von beiden Interaktionspartnern
gleich interpretiert werden und sie einen allgemeinen Charakter besitzen, das heißt,
daß eine signifikante Geste in jeder Situation das Gleiche bedeutet (zb. Hilferuf). Es
kann sich dabei sowohl um non-verbale als auch um sprachliche Gesten handeln.
Die Bedeutung der Dinge
Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, daß Menschen aufgrund von
Bedeutungen handeln, die Dinge für sie haben. Diese Bedeutung von Dingen ist ein
Produkt der Interaktion, sie werden vom Individuum ständig erneuert, geändert,
verworfen. Die Bedeutungen müssen immer wieder neu interpretiert werden.
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die interaktionistische Rollentheorie
Im Gegensatz zur struktur-funktionalistischen Theorie orientieren sich die
Handelnden im symbolischen Interaktionismus nicht an fixen Erwartungen, die an
ihre Rolle gestellt werden. Vielmehr können diese Erwartungen in einer
Interaktionssituation ausgehandelt werden. Im Prozeß der Rollenübernahme (role
taking) versetzt sich der Interaktionspartner in die Rolle des anderen hinein und ist
dadurch in der Lage, ihn zu verstehen. In den seltensten Fällen wird sich aber ein
Interaktionspartner den Erwartungen des anderen völlig unterordnen, es tritt der
Prozeß des „role making“ ein: die individuelle Ausgestaltung der angebotenen Rolle.
Zu Beginn einer Interaktion werden sich die noch unbekannten Interaktionspartner
abtasten, um genauere Informationen über den anderen zu erhalten. Mit der Zeit
werden sie wissen, was der andere von ihnen erwartet, es kommt zu einer
Konkretisierung der Rollen.
Auch Rollendistanz kann geübt werden, das heißt, man kann sich bewußt von seiner
Rolle distanzieren, um Situationen die Spannung zu nehmen oder um inneren
Konflikten auszuweichen.
Durch die ständige Ausübung von Rollen kommt es zur Entwicklung einer Identität.
Diese besitzt eine sozial geprägte Struktur, weil sie durch Interaktion zustande
kommt. Mead hat die Entwicklung von Identität und die Fähigkeit des Rollenhandelns
bei Kindern untersucht und zwei Stufen unterschieden: play und game. Zuerst
übernimmt das Kind beim Spielen die Rolle eines „bedeutsamen Anderen“ und lernt
so, daß durch Rollenübernahme Identität zustande kommt. Dann eignet sich das
Kind die Rollen der andern an und bekommt so die Fähigkeit, sich selbst mit den
Augen der anderen zu sehen (der verallgemeinerte Andere).
Mead unterscheidet zwei Stufen der Identität:
 „Me“: durch die Gesellschaft bestimmter Teil der Identität
 „I“: persönlicher Teil der Identität
Aus der Auseinandersetzung des I mit dem Me entsteht dann das Selbst.
Organisationssoziologische Aspekte
Organisation ist eine soziale Einrichtung mit klaren Zielen. Der Symbolische
Interaktionismus ist am Verhältnis der Organisation zu ihren Mitgliedern interessiert.
Goffmann geht davon aus, daß jede Organisation von ihren Mitgliedern
Anpassungsleistungen verlangt und sie diszipliniert. Um das herauszufinden
untersucht er extreme Fälle, die er totale Institutionen nennt: Gefängnisse,
psychiatrische Anstalten... In solchen totalen Institutionen kommt es zu einer
Demütigung des Selbst in verschiedenen Formen:
 Rollenverlust
 Aufnahme- und Gehorsamsprozeduren um den Willen zu brechen
 Beraubung der Identitätsausrüstung zb. Wegnahme der persönlichen Sachen
Die Person hat zwei Möglichkeiten damit umzugehen:
 Primäre Anpassung: man erfüllt die verlangten Pflichten
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Erstellt von Pia Lichtblau

Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Sekundäre Anpassung: man wendet unerlaubte Mittel an oder verfolgt unerlaubte
Ziele, um die Erwartungen der Organisation zu umgehen. Dadurch entstehen
Formen eines „Unterlebens“, die in jeder Organisation auftreten
Anselm Strauss: „negotiated order approach“
Im Zentrum steht die Art und Weise, wie soziale Ordnung ausgehandelt wird, Strauss
untersuchte in den 60ern Krankenhäuser, weil er annahm, daß dort klare Strukturen
und Kompetenzverteilungen herrschen. Er bemerkte aber bald, daß das nicht so ist
und kam zu dem Schluß, daß Regeln und Normen erst durch dauernde Reflexionen
und Kommunikation erst hergestellt werden. Einige wesentliche Merkmale eines
Aushandlungsprozesses sind:
 Die Zahl der Teilnehmer
 Deren Erfahrungen
 Ob sie nur für sich sprechen oder eine Gruppe repräsentieren
 Ob es nur eine oder mehrere Verhandlungsrunden gibt
 Das Machtgefälle zwischen den Akteuren
 Die Bedeutung, die die Verhandlung für die Akteure hat
 Anzahl und Komplexität der Verhandlungsgegenstände
 Optionen der Akteure, wenn die Verhandlungen scheitern
Es lassen sich drei Hauptdimensionen unterscheiden:
 Der strukturelle Kontext: Rahmenbedingungen
 Der Verhandlungskontext: die Sichtweise der Akteure
 Die handelnden Akteure: das Bild, das der einen jeweils vom anderen hat,
beeinflußt die Verhandlungen wesentlich. Es gibt vier mögliche Sichtweisen:
 Beide Parteien kennen genau Absichten und Ziele
voneinander
 Beide Parteien kennen die Absichten, tun aber so,
als wüßten sie nichts
 Eine Partei ist sich über die Absichten der anderen
nicht klar oder weiß nicht, wie die andere Partei ihre
Absichten einschätzt
 Wie vorher, nur daß die Partei Vermutungen
anstellt und danach handelt
Labeling-Theorie
Beschäftigt sich damit, wie abweichendes Verhalten zu erklären ist, Hauptvertreter ist
Howard Becker. Nach seiner Theorie stellt die Gesellschaft Regeln auf, gegen die
jemand verstößt, der dann zum Außenseiter erklärt wird. Abweichendes Verhalten ist
so gesehen nur eine soziale Konstruktion. Die Normsetzung allein reicht aber noch
nicht aus, erst durch die Normanwendung, als einem Netz der sozialen Kontrolle,
wird normenverletzendes zu abweichendem Verhalten.
Die Entwicklung von Abweichung wird von Becker als Prozeß gesehen, den er als
Karriere mit folgenden idealtypischen Schritten beschreibt:
 Entfremdung zur konventionellen Gesellschaft
 Durch abweichendes Verhalten kommt es zur Stigmatisierung
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Erstellt von Pia Lichtblau



Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Als Folge davon kommt es zum sozialen Ausschluß der Betroffenen, also zur
Reduzierung konformer Handlungsmöglichkeiten
Wird das abweichende Verhaltensmuster lang genug beibehalten, kann dadurch
die Identität des Betroffenen verändert werden
Der letzte Schritt ist der Eintritt in eine organisierte Gruppe
Die Ethnomethodologie
Befaßt sich mit den alltäglichen Handlungen der Menschen und möchte die
Methoden aufdecken, die Menschen anwenden, um sich selbst und anderen eine
reale Welt zu schaffen. Es geht nicht darum, warum Menschen bestimmte
Handlungen setzen, sondern wie sie es zuwege bringen, einander zu verstehen.
Die Mitglieder einer Gemeinschaft schaffen sich ihre soziale Realität selbst. Erst
durch ihre Aktivitäten entsteht Wirklichkeit, weshalb von Vollzugswirklichkeit
gesprochen wird. Das was man selbst für eine stabile Umwelt hält, ist in hohem Maß
von eingespielten gemeinsam anerkannten Situationsdeutungen abhängig.
Zentrale Konzepte
Indexikalität
Die Beziehung zwischen einer Handlung oder einem Text und dem
zugrundeliegenden Muster. Wenn jemand etwas tut oder sagt, denkt der
Interaktionspartner immer Dinge mit, er konstruiert den passenden Kontext, sodaß
das Gesagte oder Getane verständlich wird.
Fragiliät von Wirklichkeit
Normalerweise wird die soziale Wirklichkeit als stabil wahrgenommen, manchmal
ändert sich eine Situation aber und erscheint plötzlich nicht mehr als normal. Mit Hilfe
von Krisenexperimenten versuchte Garfinkel, das zu zeigen indem er in routinisiert
ablaufende Handlungen Störungen einbaute.
Darstellungen
Soziale Realität ist nicht nur fragil, sie muß auch erst einmal erzeugt werden, zb.
wenn man in eine neue Position gerät. Garfinkel untersuchte, wie Geschworene ihre
Rolle kompetent ausfüllen und sich gegenseitig bestätigen. Das geschieht mit Hilfe
von accounts, einem sich-in-Szene-setzen.
Marx und der Historische Materialismus
Karl Marx (1818-1883)
Auf die mit der Industrialisierung verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen
gaben die damaligen Theorien keine Antwort. Marx war einer der wenigen
bürgerlichen Theoretikern, die die Probleme nicht übersahen oder herunterspielten.
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Frühsozialismus
Aus der utopischen Sozialkritik (Thomas Morus: Utopia; Tommaso Campanella: Der
Sonnenstaat) entwickelte sich der Frühsozialismus, von dem Karl Marx die Idee einer
gerechten Gesellschaftsordnung und die Kritik am Liberalismus übernahm. Weiters
knüpfte er an den Deutschen Idealismus vor allem Hegels und an die Politische
Ökonomie (Smith, Ricardo) an.
Idealistische Philosophie
Hegel thematisierte die Dynamik und Widersprüchlichkeit von Systemen, Dinge und
Ereignisse dürfen niemals für sich genommen werden, sondern müssen immer im
Kontext betrachtet werden. Geschichte betrachtete er als Prozeß, der zur
Vervollkommnung führen muß.
Marx übernahm von Hegel die Analyse der Verhältnisse auf ihren inneren
Zusammenhalt und ihre Dynamik hin, allerdings in einem materialistischen
Zusammenhang. Für ihn sind es die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse,
die den Gang der Geschichte bestimmen. Produktivkräfte sind alle Mittel, mit denen
Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen; Produktionsverhältnisse sind die
ökonomische und die politische Dimension der Produktion. Diese Gedanken
entnimmt er der Politischen Ökonomie.
Politische Ökonomie
Adam Smith (1723-1790) untersucht in „Wealth of the nations“ die
Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung und analysiert die selbststimulierende
und selbststeuernde Struktur des Marktes von Angebot und Nachfrage.
Dieser Theorie der invisible hand stimmte Marx nicht zu, das Gleichgewicht des
Marktes bestimmt seiner Meinung nach der, der Macht hat. Diese Macht, die zu
sozialer Ungleichheit führt, resultiert aus dem Privateigentum von Produktionsmitteln.
David Ricardo (1772-1823) beschäftigte sich mit der Frage, woher der Wert einer
Ware stammt und hob besonders die Bedeutung der Arbeitskraft hervor.
Arbeitswertlehre und Mehrwerttheorie
Nach der Arbeitswertlehre besitzt jedes Produkt einen Gebrauchswert und einen
Tauschwert, der objektive Wert des Produkts ergibt sich aber aus der Arbeit, die
nötig ist, um es herzustellen.
Stufen des Warentauschs:
 Ware gegen Ware
 Ware gegen Geld gegen Ware: Geld kann man aufheben, sparen, der
Tauschwert löst sich von den Waren, der Tauschwert selbst kann so zum Ziel der
Tausches werden 
 Geld gegen Ware gegen Geld + Zugewinn
Das entscheidende Merkmal des Produktionskapitalismus ist, daß Kapital nicht mehr
in produzierte Waren, sondern in den Produktionsprozeß selbst investiert wird!!! Der
Kapitalbesitzer investiert also in Produktionsmittel und Arbeitskraft; der
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Gebrauchswert der Arbeitskraft ist aber höher als der Tauschwert, den so
produzierten Mehrwert eignet sich der Kapitalist an.
Die Theorie der geschichtlichen Entwicklung
Geschichte entwickelt sich aufgrund der Dynamik von Widersprüchen, besonders
durch das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Marx geht
davon aus, daß gewisse Produktionsverhältnisse eine Entwicklung der
Produktivkräfte ermöglichen, dann aber zum Hindernis dieser Entwicklung werden
und schließlich von ihnen gesprengt werden. Demnach werden
Herrschaftsverhältnisse immer dann abgeschafft, wenn sie der Entwicklung der
Produktivkräften im Weg stehen. Diese Entwicklung sieht er als Dauerkonflikt bei
dem sich die Produktivkräfte immer weiterentwickeln, während die Herrschaft immer
weiter reduziert wird.
Die Entwicklung des Kapitalismus führt zu Überakkumulation und Konzentration von
Kapital, in der Folge zu Verwertungskrisen und zur Verschärfung des sozialen
Gegensatzes bis zur Verelendung des Großteils der Bevölkerung.
Die Lohnarbeit führt zur „Entfremdung“, das heißt, daß der Arbeiter durch die
Arbeitsteilung in den Industriebetrieben jede persönliche Beziehung zum Produkt
verliert, Arbeit kann damit für ihn nicht mehr Selbstverwirklichung bedeuten und wird
zum stumpfsinnigen Mittel zum Zweck der Lebenserhaltung.
Gleichzeitig kommt es zur „Verdinglichung“ der menschlichen Beziehungen, die der
Marktlogik unterworfen werden.
Trotz allem hat der Kapitalismus eine wichtige historische Funktion, weil er die
Emanzipation der Produktivkräfte von traditionellen Bindungen erst ermöglicht und
damit die Grundlage für die generelle Befreiung von Herrschaft geschaffen hat. An
die Stelle der privaten Verfügung über die Produktionsmittel muß nur noch die
öffentliche treten, damit wäre die tatsächliche Befreiung von allen Zwängen erreicht.
Das Ergebnis wäre eine neue kommunistische Gesellschaft: es gibt kein Ausbeuten
von Menschen durch andere Menschen mehr, jeder Mensch kann seine Anlagen
optimal entwickeln, der Staat stirbt ab, weil die Menschen ihre Angelegenheiten
selbst auf friedliche Weise regeln.
Sein, Bewußtsein, Ideologie
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen war für
Marx der Kampf gegen die Herrschaft überhaupt. Die Arbeiterklasse war sich aber
dieser historischen Bedeutung nicht bewußt. In dem Zusammenhang fragte Marx
nach dem Entstehen von Bewußtsein und dessen Verhältnis zur sozialen Realität.
Dabei knüpfte er an Hegel an, der festgestellt hat, daß das Bewußtsein der
Entwicklung der sozialen Realität hinterherhinkt. Marx bringt das Bewußtsein mit den
materiellen Lebensbedingungen in Verbindung: das Denken hängt von den
Bedingungen ab, aus denen es hervorgeht. Nicht das Bewußtsein bestimmt das
Sein, sondern das Sein bestimmt das Bewußtsein.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Diese Erkenntnis stellt einen bedeutenden Schritt im Verständnis von Ideologien dar:
verzerrte Vorstellungen von Realität sind Ausdruck bestimmter Interessen und
Lebensbedingungen.
Der Grund, warum die Arbeiterklasse keine eigenes Bewußtsein entwickelte, sah er
im Warenfetischismus. Jede Ware hat einerseits einen materiellen Charakter,
andererseits ist sie aber auch Ausdruck bestimmter Verhältnisse von Produktion und
Herrschaft. Betrachtet man eine Ware, sieht man aber nur das Produkt selbst, nicht
die dahinterstehenden Verhältnisse. Es geht also lediglich darum, die Arbeiterklasse
aufzuklären, um ihnen die Entwicklung eines Bewußtseins zu ermöglichen. Er mußte
aber schließlich zur Kenntnis nehmen, daß es soziale Umstände gibt, unter denen
das objektive Erkennen der eigenen Bedürfnisse nicht möglich ist.
Marx Theorie hat einige Entwicklungen nicht berücksichtigt: die Gesellschaft basierte
auf neuen Formen der Organisation und Strukturbildung, die in der Systemtheorie
Funktionale Differenzierung genannt wird. Das brachte auch neue, abstraktere
Formen von Herrschaft mit sich. Weiters hat Marx im Zusammenhang mit Arbeit
immer nur an manuelle, körperliche Arbeit gedacht und übersehen, daß die
Rationalisierung eine Zunahme der geistigen Arbeit und der Dienstleistungen mit sich
brachte.
Die Kritische Theorie
Entstand in den 20er Jahren in Frankfurt, weshalb sie oft auch die „Frankfurter
Schule“ genannt wird. Sie knüpfte vor allem an folgende Traditionen an:
 Die Philosophie der Aufklärung: gegen die Verteilung von Macht und Vermögen
aufgrund von Geburt und Abstammung, für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, alle
Bürger sind vor dem Gesetz gleich
 Den Deutschen Idealismus: Kant und Hegel haben die Aufklärung auf
philosophische Ebene gebracht
 Den Historischen Materialismus von Karl Marx: erklärte, warum es auch ohne
Adel gesellschaftliche Ungleichheiten gibt. Einige Grundannahmen von Marx
konnten nicht beibehalten werden, da sie nicht mehr der Zeit entsprachen, aber
andere Grundgedanken entwickelte die Kritische Theorie fort:
 Die zentrale Bedeutung von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen, es wurde nun aber die Zwiespältigkeit der
Modernisierung betont und auch die Möglichkeit des Scheiterns
zugelassen
 Der systematische Zusammenhang der Gesellschaft, aber als
Prozeß wechselseitiger Abhängigkeiten
 Die Ideologiekritik
 Die Psychoanalyse von Sigmund Freud: Freud betrachtete abnormales Verhalten
nicht mehr wie bis dato übliche einfach als krankhaft, sondern kam zur Einsicht,
daß dieses Verhalten durch psychische Störungen im Laufe der Entwicklung
eines Menschen erworben und dann konserviert werden. Somit konnte erklärt
werden, was für Marx immer unverständlich geblieben ist: wie die Fähigkeit zum
Denken deformiert werden kann, sodaß Menschen sogar gegen ihre objektiven
Interessen handeln.
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Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die Entwicklung der Kritischen Theorie
1924 wurde das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt gegründet.
Wichtige Vertreter waren:
 Max Horkheimer
 Theodor W. Adorno
 Leo Löwenthal
 Erich Fromm
 Friedrich Pollock
 Herbert Marcuse
 Jürgen Habermas
Die Entwicklung der Kritischen Theorie wurde stark von den historischen Ereignissen
geprägt, die Integrationskraft von Wirtschaft, Staat und Kultur, das Absorbieren von
Kritik und die Schwierigkeit von Widerstand beschäftigen sie bis heute. Das Institut
arbeitete sowohl empirisch als auch theoretisch und strebte eine indterdisziplinäre
Sozialforschung an. Mitte der 30er Jahre mußte das Institut mit seinen zahlreichen
jüdischen Mitgliedern nach New York emigrieren, wo sie mit einer für sie neuen Form
des Kapitalismus konfrontiert wurden.
Für die glitzernde Warenwelt, in der es scheinbar keine Unterdrückung gab, prägten
sie den Begriff „Kulturindustrie“. Die Grundthese ist, daß Menschen zunehmend an
die Gesellschaft angepaßt werden, die Massenkultur bietet dabei Surrogate für ein
besseres Leben an. Die Kritische Theorie entwirft das Bild einer total integrierten
Gesellschaft, die sie „verwaltete Welt“ nennen. Ihre Entsprechung in der Literatur
finden sie in George Orwells „1984“ und in Aldous Huxleys „Brave new world“.
Die Aufgabe der Kritik ist es demnach, auf die Weiterexistenz von Unterdrückung,
Leid und Unmenschlichkeit hinzuweisen. Die Kritische Theorie war aber immer eine
eher negative Theorie, die es vermieden hat, positive Visionen der Zukunft zu
entwickeln.
Im Zuge der Studentenbewegung der späten 60er Jahre benutzten die Studenten die
Texte der Kritischen Theoretiker gegen deren Überzeugung und Willen als Anleitung
zur Revolution. Die Vertreter der Kritischen Theorie selbst waren jedoch der
Meinung, daß die historischen Bedingungen für eine Verbindung ihrer Theorien mit
der Praxis noch nicht gegeben wären.
Grundpositionen der Kritischen Theorie
Nach Max Horkheimer bestehen wesentliche Unterschiede zwischen der
traditionellen und der kritischen Theorie:
Die Traditionelle Theorie
 orientiert sich am Ideal der Naturwissenschaft, das Ziel ist die Formulierung
allgemeiner Gesetze zur Beschreibung der Welt. Das Problem dieser Theorien
liegt nach Horkheimer darin, daß sie Gesellschaft wie einen toten Gegenstand
betrachten
 vertritt die Trennung von Wert und Forschung sowie die Trennung zwischen
Wissen und Handeln
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Die Kritische Theorie
 geht davon aus, daß wissenschaftliche Tätigkeit nur im Zusammenhang mit
Gesellschaft verstanden werden kann
 ist kritisch gegen eine ungerechte Gesellschaft gerichtet mit dem Interesse an
einer künftigen Gesellschaft freier Menschen
 keine Trennung von Wertvorstellungen und Tatsachen, es gibt keine wertfreie
Wissenschaft
 begreift Theorie und Praxis als Einheit
 verweist auf den historischen Charakter der Gegenstände und der Wissenschaft
daraus ergeben sich folgende Konsequenzen für die Kritische Theorie:
 der Forscher ist selbst ein Teil der Gesellschaft, die er untersucht
 die Wertvorstellungen des Forschers sollen offengelegt werden
 nur Theorie und Empirie gemeinsam können die Gesellschaft beschreiben
 Selbstreflexion muß integraler Bestandteil der Forschung sein
 Es muß immer die Frage nach dem gesellschaftlichen Sinn von Phänomenen
gestellt werden
Die Studie zu Autorität und Familie
1936 ging Erich Fromm der Frage nach, wie es möglich ist, daß sich so viele
Menschen Autoritäten unterwerfen, ihren eigenen Willen ausschalten und blinden
Gehorsam zeigen. Er geht davon aus, daß äußere Zwänge von psychischen
Mechanismen gestützt werden. Für Fromm ist es das Über-Ich die psychische
Instanz, die das Gewissen und verinnerlichte Verbote repräsentiert; dieses Über-Ich
wird im Zuge der Erziehung in der patriarchalischen Kleinfamilie vor allem durch den
Vater sozialisiert. Das Über-Ich wird dann auf andere Autoritäten übertragen.
Die Lust am Gehorchen, die Fromm im Hitler-Deutschland beobachten konnte, ist für
ihn ein Zug der Struktur des masochistischen Charakters; während der autoritäre
Charakter, den jeder hat, auch sadistische Züge aufweist. Der Autoritäre Charakter
zeigt also Sympathien für den Mächtigen und Aggressionen gegen den Wehrlosen.
Der sadomasochistische Charakter wird durch die ökonomische Struktur erzeugt: je
schlechter die ökonomische Lage einer Person, desto größer ist die Angst. An diese
Situation paßt sich das Individuum durch die Ausbildung einer sadomasochistischen
Charakterstruktur an. Das erklärt auch, warum Hitler seine fanatischsten Anhänger
im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum hatte.
Die Furcht vor der Freiheit
Die Individuation des Menschen ist ein Prozeß der Loslösung von primären
Bindungen in der Kindheit. Dadurch wird einerseits das Selbst gestärkt, andererseits
kommt es aber zur zunehmenden Vereinsamung. Fromm spricht vom Doppelgesicht
der Freiheit. Derselbe Prozeß geht auch im Übergang vom Feudalismus zum
Kapitalismus vor sich.
Bei vielen Menschen kommt es angesichts der positiven aber auch negativen Seiten
der Freiheit zu einer Flucht vor der Freiheit ins Autoritäre, ins Destruktive und ins
Konformistische.
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Erstellt von Pia Lichtblau
Schülein/Brunner: Soziologische Theorien
Geschichte und Fortschritt
Horkheimer und Adorno legten mit der „Dialektik der Aufklärung“ die Grundlage für
die Weiterentwicklung der Kritischen Theorie in der Nachkriegszeit. Sie stellten fest,
daß es Hand in Hand mit der Aufklärung zu einer Unterwerfung der Natur unter
menschliche Zwecke kam. Da der Mensch selbst aber auch Natur ist, gehen sie
davon aus, daß er sich selbst unterwirft, indem er seinen Körper zahlreichen
Disziplinierungsmaßnahmen unterzieht. Durch die hemmungslose Ausbeutung der
Natur entfremdet sich der Mensch immer mehr von ihr, die Ausbreitung von
Wissenschaft und Technik wird als Zerfall interpretiert. Die Beschädigungen, die die
Psyche dadurch erleidet, machen die totalitären Herrschaftssysteme des 20.
Jahrhunderts überhaupt erst möglich.
Kulturtheorie und Gesellschaft
Kultur wird nicht abgehoben von der Gesellschaft, sondern immer im
Zusammenhang mit ihr gesehen. Kunstwerke sind immer auch Ausdruck
gesellschaftlicher Tendenzen, sie können Sehnsüchte nach einer anderen
Gesellschaft ausdrücken, die bestehenden Verhältnisse kritisieren etc.
Im 20. Jahrhundert spaltet sich die Kultur in industriell erzeugte Massenkultur
(Kulturindustrie) und der avantgardistischen Kultur.
Massenkultur:
 alle utopischen Momente werden getilgt
 aus Kultur wird Unterhaltung. Sie führt nach Adorno zur Manipulation des
Bewußtseins der Massen
 sie ist völlig der Ökonomie unterworfen. Nicht mehr künstlerische Leistungen
zählen, sondern Vermarktung und Absatz
 dadurch, daß Kulturgüter zu Waren werden, büßen sie ihren ästhetischen Wert
ein
Massenkultur dient auch dazu, Menschen mit der Realität zu versöhnen, sie quasi
ruhigzustellen und an die herrschenden Verhältnisse anzupassen.
Herbert Marcuse beschreibt in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ die
Auswirkungen des Massenkonsums, die auf den ersten Blick als sozialer Fortschritt
erscheinen. Problematisch dabei ist die Möglichkeit der sofortigen
Bedürfnisbefriedigung: kaum entsteht ein Bedürfnis, kann es auch schon befriedigt
werden, sodaß man gar nicht mehr dazu kommt, über das Bedürfnis nachzudenken.
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