Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien SOZIOLOGISCHE THEORIE ........................................................................................................................... 2 WIRKLICHKEIT UND INTERPRETATION ................................................................................................................ 2 SOZIALWISSENSCHAFTLICHE THEORIE ................................................................................................................ 2 THEORIE UND ALLTAGSBEWUßTSEIN .................................................................................................................. 3 DER NÜTZLICHE STREIT DER THEORIEN .............................................................................................................. 3 SOZIOLOGISCHE THEORIEANSÄTZE IM ÜBERBLICK ......................................................................... 4 DIE ANFÄNGE DER MODERNEN SOZIOLOGIE ........................................................................................ 5 DIE PROFESSIONALISIERUNG DER SOZIOLOGIE ................................................................................................... 5 AUGUST COMTE (1798-1757) ............................................................................................................................. 5 EMILE DURKHEIME (1858-1957) ........................................................................................................................ 5 MAX WEBER (1864-1920) .................................................................................................................................. 6 GEORG SIMMEL (1858-1917) .............................................................................................................................. 7 UTILITARISTISCHE SOZIOLOGIE ............................................................................................................... 8 DIE AUSGANGSFRAGE ......................................................................................................................................... 8 DIE UTILITARISTISCHE TRADITION ...................................................................................................................... 9 DER HOMO OECONOMICUS.................................................................................................................................. 9 DER „RATIONAL CHOICE ANSATZ“................................................................................................................... 11 BEHAVIORISTISCHE ANSÄTZE ........................................................................................................................... 11 DIE TAUSCHTHEORIE: PETER M. BLAU ............................................................................................................. 12 DER FUNKTIONALISMUS .............................................................................................................................. 12 DER FRÜHE FUNKTIONALISMUS: GESELLSCHAFT ALS ORGANISMUS................................................................. 12 STRUKTUR UND FUNKTION IN PRIMITIVEN GESELLSCHAFTEN .......................................................................... 13 DIE FUNKTIONALE ANALYSE KOMPLEXER GESELLSCHAFTEN ........................................................................... 14 DER STRUKTURFUNKTIONALISMUS................................................................................................................... 14 ZUR BEDEUTUNG DES FUNKTIONALISMUS ........................................................................................................ 15 DIE SYSTEMTHEORIE.................................................................................................................................... 16 DIE ENTWICKLUNG DER ALLGEMEINEN SYSTEMTHEORIE ................................................................................ 16 DIE SYSTEMTHEORIE ALS SOZIOLOGISCHE THEORIE ......................................................................................... 16 WAS SIND SOZIALE SYSTEME? .......................................................................................................................... 17 GESELLSCHAFT UND FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG .................................................................................... 18 DER SYMBOLISCHE INTERAKTIONISMUS ............................................................................................. 19 ZENTRALE THESEN ........................................................................................................................................... 19 ORGANISATIONSSOZIOLOGISCHE ASPEKTE ....................................................................................................... 20 LABELING-THEORIE .......................................................................................................................................... 21 DIE ETHNOMETHODOLOGIE ...................................................................................................................... 22 ZENTRALE KONZEPTE ....................................................................................................................................... 22 MARX UND DER HISTORISCHE MATERIALISMUS ............................................................................... 22 ARBEITSWERTLEHRE UND MEHRWERTTHEORIE ................................................................................................ 23 DIE THEORIE DER GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG ....................................................................................... 24 SEIN, BEWUßTSEIN, IDEOLOGIE ......................................................................................................................... 24 DIE KRITISCHE THEORIE ............................................................................................................................ 25 DIE ENTWICKLUNG DER KRITISCHEN THEORIE ................................................................................................. 26 GRUNDPOSITIONEN DER KRITISCHEN THEORIE ................................................................................................. 26 1 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Soziologische Theorie Wirklichkeit und Interpretation Soziales Gebrauchswissen Basiert auf individuellen Erfahrungen, deshalb ist es auch individuell verschieden, wobei aber jede Sozialstruktur auf einer gewissen Übereinstimmung basiert. Dieses Gebrauchswissen hängt eng mit lebenspraktischen Entscheidungen und Zielfindungen zusammen. Evolution, Kommunikation, Interaktion Interaktion bedeutet, daß verschiedene Subjekte, ausgerüstet mit Verhaltensalternativen, situationsspezifische Verhaltensstrategien entwickeln/auswählen und realisieren, wobei sie auf die Besonderheiten/Reaktionen der anderen eingehen. Primitive Kommunikationssysteme basieren auf chemischen Stoffen, zb. bei den Ameisen. Die nächste Stufe ist der körpergebundene Ausdruck: Herbert Mead spricht von Gesten, Paul Watzlawick von analoger Kommunikation. Sie ermöglicht immerhin schon die Bildung einer Sozialstruktur, das Ausdrücken von Zuneigung und Abneigung etc. Erst durch die sprachliche Codierung der Realität kann man über diese reflektieren und sie reflektieren. Dadurch werden erst möglich: Individuelle und gemeinschaftliche Gedanken Kognitive Bilder der Realität (Bewußtsein) Aus Verhalten wird Handeln Symbolische Verständigung: statt Handlung auszuführen kann sie signalisiert werden Regeln Soziale Realität Neue Zeitformen, besonders Geschichte Sozialwissenschaftliche Theorie Möglichkeiten und Grenzen des Alltagsbewußtseins Alltagsbewußtsein ist ein Begriff für die Art und Weise, wie wir im täglichen Leben unsere Welt verstehen und auf sie reagieren. Es ist nicht objektiv richtiges Wissen, sondern hilft uns, aufgrund eigener Erfahrungen alle Situationen zu beurteilen und macht uns so handlungsfähig. Das Alltagsbewußtsein ist egozentrisch und wird im Lauf des Lebens erworben und ständig modifiziert. Es orientiert sich auch nicht an Wahrheit, sondern ist pragmatisch, wenn einem zb. jemand ein Glas Wein über die Kleidung schüttet, wird man verschieden reagieren, je nachdem, wer diese Person ist und in welcher Tagesverfassung man sich befindet. Wissenschaftliche Theorie und Alltagsbewußtsein Max Weber beschreibt Verstehen als zweistufigen Prozeß: 2 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien 1) rationales aktuelles Verstehen von Aussagen, Handlungen... 2) erklärendes Verstehen welcher Sinn wird mit einer Aussage verbunden, warum wird eine bestimmte Handlung gesetzt... Einbettung in den Kontext Die Interpretation im Alltag hat also einen Doppelcharakter und sind so das missing link zwischen der Orientierungsleistung und der Theorie. Eine wissenschaftliche Theorie muß dem Gegenstand gerecht werden, nicht dem Subjekt. Eine Theorie bezieht sich aber nur auf partikulare und isolierbare Einheiten, sie ist also nur begrenzt fähig, den gesamten Prozeß der empirischen Realität zu erfassen, spontanes Zusammenspiel und wechselseitige Beeinflussung kann eine Theorie nicht erfassen. Die Chaostheorie geht davon aus, daß das Zusammenspiel vieler verschiedener Momente den Rahmen der linearen theoretischen Modelle sprengt. Vor allem das Moment der Rückkoppelung macht Prozesse so unberechenbar. Sozialwissenschaftliche Theorie und soziale Realität Die soziale unterscheidet sich von der natürlichen Realität durch ihre Dynamik. Während ein Stein überall auf der Welt ein Stein ist und sich wie einer verhalten wird, hängen soziale Phänomene stark von gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen sowie von der jeweiligen Situation ab. Für die sozialwissenschaftliche Theorie bedeutet das ihr Gegenstand entwickelt und verändert sich soziale Wirklichkeit und Theorien bedingen sich gegenseitig Theorien werden produziert, zur Kenntnis genommen und verarbeitet, genutzt und bewirken Veränderungen Eine sozialwissenschaftliche Theorie soll keinerlei ideologische Abhängigkeiten aufweisen, deshalb muß sie nach Voraussetzungen fragen, welche Postition wovon abhängig ist und warum... Latente Abhängigkeiten werden aber immer bestehen bleiben. Theorie und Alltagsbewußtsein Es besteht eine Konkurrenz zwischen dem Alltagsbewußtsein und den Theorien: während für das Alltagsbewußtsein egozentrisches, partikulares Wissen und feste Überzeugungen nötig sind, muß eine Theorie genau diese Dinge vermeiden. Eine Theorie bleibt also auf einer allgemeinen Ebene und wird deshalb im Alltag als unverständlich und weit weg erlebt. Problem: Emanzipation vom Alltagsbewußtsein bei gleichzeitiger produktiver Bindung!!! Der nützliche Streit der Theorien Nicht nur zwischen Theorien und Alltagswissen bestehen Konkurrenzen, die verschiedenen Theorien konkurrieren auch untereinander. Verschiedene Theorien 3 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien benutzen verschiedene Denksysteme, interpretieren denselben Sachverhalt verschieden und scheinen sich zu widersprechen. Soziologische Theorieansätze im Überblick Die Zahl der möglichen Paradigmen ist begrenzt, man kann Theorien typisieren: wie arbeiten sie, welche Verfahren wenden sie an und wie kommen sie zu Aussagen, etc.? Eine Möglichkeit ist die Unterscheidung in mikrosoziologische und makrosoziologische Theorien: Mikrosoziologische Theorien Gehen vom handelnden Menschen aus und sehen in individuellen Handlungen und den Interaktionen ihren primären Bezugspunkt. Dabei fragen sie einerseits nach der Logik von Handlungen (Motive und Muster des Handelns) und andererseits nach Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammen-Handelns von verschiedenen Akteuren. Utilitarismus Ethnomethodologie Sinnverstehende Soziologie Max Webers: Menschen verbinden mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn, der sich logisch rekonstruieren läßt Nutzentheoretische Konzepte: Handeln eines Menschen richtet sich immer am individuellen Nutzen aus, homo oeconomicus als rationeller Nutzenmaximierer Rational Choice Konzepte: Handeln unter bestimmten Zwängen und Alternativen Interaktionismus: Konstruktivismus: betont die Konstitutionsleistungen des Einzelnen, der seine individuelle Welt immer wieder konstruiert Makrosoziologische Theorien Gehen nicht vom Individuum, sondern von der sozialen Struktur der Gesellschaft aus: wie ist soziale Wirklichkeit aufgebaut und wie funktioniert sie? Historischer Materialismus (Karl Marx): Produktionsverhältnisse und damit verbundene Klassenkonflikte Kritische Theorie: knüpft am historischen Materialismus an, aber Rolle von subjektiver Identität und Kultur wird stärker betont, kommt zu einem abstrakteren Begriff von Herrschaft und gesellschaftlichen Widersprüchen Funktionalismus: Zusammenspiel der Elemente des gesellschaftlichen Ganzen, die Teilbereiche stehen durch die zu erbringenden Leistungen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Ganzen Systemtheorie: Bedingungen und Bestand von sozialen Systemen, das dominante Problem ist die Reduktion von Komplexität. 4 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die Anfänge der modernen Soziologie Die Professionalisierung der Soziologie Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Soziologie noch keine eigenständige Wissenschaft. Mit der Emanzipation der Wissenschaft von politischen und religiösen Bevormundungen entwickelte sich die Universität zum Zentrum des Diskurses, der dadurch professionelle Züge erhielt. Dies führte zur Bildung verschiedener Paradigmen und „Schulen“. Zu den herausragenden Gründern solcher Schulen gehören Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel. August Comte (1798-1757) Begründer des Positivismus, der eines der herausragenden theoretischen Systeme es 19. Jahrhunderts war. Der Kern des Positivismus ist die Forderung, daß jede Theorie positiv zu begründen sei, also auf empirischen Beobachtungen basieren muß. Er prägte den Begriff „Soziologie“ – Gesetze des Sozialen – und unterschied zwei Gesetzestypen: Soziale Statik: gesetzmäßiger Aufbau und gesetzmäßiges Funktionieren einer Gesellschaft Soziale Dynamik: die gesetzmäßige Form der Veranderung und Entwickung von Gesellschaften Emile Durkheime (1858-1957) Befreite den Positivismus von seinen politischen Ambitionen und widmete sich der Begründung der Soziologie als eigener Wissenschaft. Seine Grundüberlegung ist, daß soziale Tatbestände wie Dinge betrachtet werden müssen, alle Vorurteile, Identifikationen, Empfindungen müssen ausgeschaltet werden. Außerdem müssen soziale Tatbestände vom Denken und Handeln der Akteure getrennt werden. Er unterscheidet zwischen normalen und pathologischen Phänomenen: ein soziales Phänomen ist für einen bestimmten sozialen Typus in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung normal, wenn es im Durchschnitt der Gesellschaft (...) auftritt. Die „soziale Morphologie“ dient zur Klassifikation von Gesellschaften, wobei diese nach dem Grad ihrer Zusammengesetztheit beurteilt werden, den Ausgangspunkt bildet dabei die monosegmentäre Gesellschaft, in der alle Mitglieder dieselben Aufgaben etc. haben. Analysiert wird der Aufbau von Gesellschaften anhand der Entstehung und der Funktion sozialer Sachverhalte sowie anhand des inneren sozialen Milieus, das sind die relevanten Regeln, Pflichten, Rollenverteilungen etc. Durkheim versuchte, soziale Kausalitätsbeziehungen herauszuarbeiten. In seiner Studie über die Arbeitsteilung als soziales Phänomen entdeckte er zwei Formen der Solidarität: Die mechanische Solidarität findet man in einfachen Gesellschaften mit wenigen Mitgliedern, die nur durch die unmittelbare Abhängigkeit zusammengehalten werden 5 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die organische Solidarität entwickelt sich, wenn sehr viele Mitglieder vorhanden sind. Dabei kommt es zu Spezialisierungen, wobei jeder Spezialist von anderen Spezialisten abhängig ist. In seiner Studie über den Selbstmord zeigt er, daß es falsch ist, diesen einfach als psychischen Defekt zu betrachten. Generell hängt Selbstmord von der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft ab, er unterscheidet aber drei typische Formen: Der egoistische Typ beruht auf geringer sozialer Integration Der altruistische Typ ist zu stark sozial integriert, sodaß ihm soziale Anliegen wichtiger erscheinen als das eigene Leben (zb. Kapitän, der mit dem Schiff untergeht, Märtyrer...) Der anomische Typ tritt auf, wenn die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen unerträglich wird, vor allem in Krisenzeiten Max Weber (1864-1920) Betont den subjektiven Sinn, den jedes Individuum mit seinem Handeln verbindet und tritt für eine radikal wertfreie Position ein. Er entwickelt eine sinnverstehende Soziologie, soziales Handeln soll deutend verstanden und erklärt werden. Soziales Handeln definiert er als subjektiv sinnhaftes Handeln, reine Reaktionen wie zb. ein Lidschlag gelten also nicht als Handeln. Verstehen bedeutet, ein Handeln richtig zu interpretieren. Erklären bedeutet, über die alltäglichen ad hoc Erklärungen hinaus einen Einzelfall in seinem tatsächlichen Sinnzusammenhang oder aber typische Abläufe in ihrem logisch reinen Sinnzusammenhang darzustellen. Kern von Webers Vorgehen ist das Herausarbeiten eines logischen Modells von Handlungen zur Konstruktion von Idealtypen. Idealtypen sind Handlungsabläufe, wie sie im Idealfall ablaufen würden. Dadurch wird es möglich, die typischen Strukturen der empirischen Vielfalt begrifflich zu erfassen sowie die Systematik von Abweichungen vom Idealtypus zu bestimmen und zu analysieren, warum bestimmte Abweichungen regelmäßig auftreten. Zur Analyse des Handelns gibt es vier idealtypische Arten, die das Handeln bestimmen können: Zweckrational: um eigene Zwecke zu erreichen Wertrational: es besteht ein Glaube an einen religiösen, moralischen, etc. Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens Affektuell: durch momentane Gefühlslagen beeinflußt Traditional: durch eingelebte Gewohnheit Soziale Beziehungen bestehen dann, wenn Handelnde sich aneinander orientieren, also soziale Handlungen setzen. Begriffe wie „der Staat“, „die Kirche“ sind für ihn ein Muster sozialer Beziehungen. Die Aufgabe der Soziologie ist es, das Muster dieser sozialen Beziehungen herauszuarbeiten, zu entdecken, was für eine bestimmte Gruppe von Menschen typisch ist. Handlungen und soziale Beziehungen basieren darauf, daß sich die Handelnden als Teil einer geltenden Ordnung sehen und sich an ihr orientieren. Unter der Legitimität 6 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien der Ordnung versteht Weber die Gründe, die dazu führen, daß eine Ordnung aufrechterhalten wird. Er unterscheidet vier idealtypische innere Gründe: Traditionen Affekte Werte Legalität einer positiven Satzung Daneben existieren noch äußere Gründe, die sich an Nutzen bzw. Strafen orientieren. Vergemeinschaftung: soziale Beziehungen, die auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen, zb. Liebespaare, Freunde... Vergesellschaftung: Herstellung von Gemeinsamkeit aufgrund von Interessen und rationalen Vereinbarungen Berühmt wurde Webers Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in deren Zusammenhang er auch die These von der Entzauberung der Welt entwickelt hat: durch die fortschreitende Rationalisierung werden Dinge wie Werte, Glaube, Gefühle etc. marginalisiert. Theorie der Herrschaft: Macht ist jede Möglichkeit, sich in einer sozialen Beziehung durchzusetzen, egal wie. Herrschaft ist dagegen ein Typus von festgelegten Abhängigkeiten mit klarer Hierarchie. Weber unterscheidet drei Typen von Herrschaft: Traditionale Herrschaft Charismatische Herrschaft: dominante Führungspersönlichkeit, zb. in religiösen Sekten Legale Herrschaft Georg Simmel (1858-1917) Sein Ausgangspunkt ist, daß jeder Mensch in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt, Soziologie versteht er als wissenschaftliche Methode, diese Wechselwirkungen zu verstehen, die aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Ziele willen entstehen. Gesellschaft wird gekennzeichnet durch das Zusammenspiel der Elemente, sie besteht also aus sozialen Formierungen, wobei Simmel zwischen Inhalt und Form unterscheidet. Inhalt (Themen, die sich aus der menschlichen Existenz ergeben) und Form (Hierarchie, Arbeitsteilung, Gruppenbildung) sind allerdings empirisch nicht zu trennen, jeder Inhalt kann aber mehrere Formen hervorbringen und umgekehrt können jeder Form der Vergesellschaftung mehrere Inhalte zugrunde liegen. Soziale Gebilde wie Staat, Kirche, Wirtschaft... sind das Resultat einer unermeßlichen Zahl von Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Menschen. Interaktion ist der Kitt, der Individuen aneinander bindet. Gruppengröße und Gruppenstruktur: Die kleinstmögliche Gruppe ist die Dyade, die aus zwei Personen besteht. Ihr Kennzeichen ist die völlige Ausrichtung auf den anderen, mit dem Hinzutreten eines 7 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Dritten ändert sich die Konstellation völlig. Außerdem besteht das Problem daß die beiden Individuen nicht nur jede für sich Qualitäten haben muß, sie müssen auch noch zusammenpassen. Die Triade hat ebenfalls ihre spezifischen Eigenschaften, sie existiert in drei verschiedenen Gruppierungsformen: Der Unparteiische und Vermittler Der lachende Dritte „Teile und herrsche“ (kann die anderen beiden gegeneinander ausspielen Die Merkmale der Großgruppe hingegen sind: größere Tendenz zur Ungleichheit und Inhomogenität Sozialismus (soziale Gerechtigkeit) ist für ihn in einer großen Gruppe nicht möglich, in einer kleinen aber schon Konflikte werden von Simmel nicht negativ beurteilt, sondern sogar befürwortet, da sie eine wichtige integrative Funktion haben. Die Reife einer Gesellschaft mißt sich demnach nicht am Grad der Harmonie, sondern am Grad der Opposition, die sie verträgt. Simmel versucht auch zu zeigen, daß auch aus scheinbar nebensächlichen oder auf den ersten Blick sogar asozialen Wechselwirkungen sozialer Zusammenhalt entstehen kann. So ist Simmel zu einem Vorreiter der Alltagssoziologie geworden. Utilitaristische Soziologie Die Ausgangsfrage Im 15. Und 16. Jahrhundert wurde in Mitteleuropa die traditionelle Agrargesellschaft, deren Sozialstruktur auf dem feudalen Herrschaftsverband und den christlichen Kirchen beruhte, durch moderne Strukturen abgelöst: Städte entstanden Das Bürgertum entstand durch die neue Form des Zusammenlebens in den Städten Die Expansion von Handwerk und Handel wurden zur Grundlage des Kapitalismus Der Territorial- und Nationalstaat entstand anstelle persönlicher Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse Das Zusammenleben der Menschen wird differenzierter und führt zur „Bürgerlichen Gesellschaft“ Dieser Wandlungsprozeß ging aber nicht friedlich, sondern gewalttätig und chaotisch vor sich, was einerseits zu apokalyptischen Wahnvorstellungen führte, andererseits aber ein Nachdenken über soziale Prozesse und den Zusammenhalt der Gesellschaft führte. Die Scholastik wurde durch die empirische und nichttheologische Wissenschaft abgelöst, nicht mehr die Kleriker waren die Träger des Denkens, 8 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien sondern der weltliche, bürgerliche Intellektuelle. Dieser Wandel vollzog sich sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften. Thomas Hobbs (1588-1672) Entwarf ein unerhört revolutionäres Bild von der Gesellschaft, in dem Gott nur mehr als indifferenter Bezugspunkt vorkam. Hobbs geht davon aus, daß jeder Mensch egoistisch handelt, was er als das natürliche Recht eines jeden Menschen betrachtet. Bei der Interaktion kommen sich die Egoisten aber in die Quere – diesen Zustand bezeichnet er als Naturzustand. In der Folge muß jeder Mensch auf ein Stück seiner natürlichen Souveränität verzichten, sodaß im Interesse aller Regeln bestimmt und ihre Einhaltung kontrolliert werden können. Die utilitaristische Tradition Jeremy Bentham (1748-1832) Auch er ging vom egoistischen Handeln des Einzelnen aus, er betrachtete sie als autonome Subjekte. Sein Bild der Gesellschaft entspricht aber dem, was später als Wohlfahrtsstaat bezeichnet wurde: gesellschaftliche Einrichtungen sind dazu da, möglichst vielen Nutzen zu bringen, „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“ war das Ziel. Er trat auch vehement für Gesetzesreformen ein, die mehr Gerechtigkeit bringen sollten, anstatt nur den Reichen zu nützen. Gleichzeitig forderte er sexuelle Freizügigkeit und gleiche Rechte für Frauen. Sein Gesellschaftsmodell wurde schließlich Utilitarismus genannt. Er war allerdings noch kein systematischer Wissenschafter. Gleichzeitig setzten sich noch andere Theoretiker mit en Funktionieren der Gesellschaft auseinander: Adam Smith (1723-1790) Der Stammvater der modernen ökonomischen Theorie ging auch davon aus, daß Menschen aus Eigeninteresse heraus handeln. Dies ist für ihn die Garantie für Fortschritt und Ausgleich, durch das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage entsteht ein Gleichgewicht. So wird durch eine unsichtbare Hand dafür gesorgt, daß aus der großen Anzahl von einzelnen Aktivitäten ein Ganzes entsteht. Allerdings ist er keineswegs ein Propagandist des völlig autonomen Marktes, sondern sieht sehr wohl auch die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen zu kontrollieren und zu steuern, wie er in seinem zweiten Buch „Theory of Moral Sentiments“ ausführt. Smith [engl. smi], 1) Adam, Kirkcaldy 5.6. 1723, †Edinburgh 17.7. 1790, schott. Nationalökonom und Moralphilosoph. In seinem philosoph. Hauptwerk ›Theorie der Gefühle‹ (1759) entwarf er eine Theorie des sozialen Handelns, die auch Grundlage für sein nationalökonom. Hauptwerk ›Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums‹ (1776) war. Für S. stellt der Zusammenhang des ökonom. Handelns ein sich selbst regulierendes System dar, das ohne Regulierung durch den Staat ein sinnvolles Ganzes ergibt. Grundlage seiner nationalökonom. Theorie ist die Arbeitswertlehre, wonach der Wert einer Ware sich nach der in ihr vergegenständlichten gesellschaftl. notwendigen Arbeit bestimmt; S. gilt als Begründer der klass. Nationalökonomie. Der Homo oeconomicus Der klassische Entwurf Mit dem Siegeszug des Industriekapitalismus wurde Adam Smiths Theorie der „invisable hand“ weiterentwickelt, es kam zur Vorstellung des idealen Marktes mit 9 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien sinkender Nachfrage- und steigender Angebotskurve, aus denen sich objektive Gleichgewichtspunkte ergeben. Komplementär dazu entstand das Modell des „homo oeconomicus“, einem rational handelnden Individuum, das im idealen Marktmodell die gegebenen Mittel so einsetzt, daß der maximale Nutzen erreicht wird. Unter der Voraussetzung der Ressourcenknappheit und mehrerer Handlungsalternativen wählt der Nutzenmaximierer homo oeconomicus jene Alternative, die ihm den meisten Nutzen bietet. Dabei existieren aber eine Reihe von Nebenannahmen: Rationales Entscheiden setzt vollständige Information voraus, diese kann aber nur bei idealer Zugänglichkeit und ideale Verarbeitbarkeit der Information erreicht werden Güter etc. müssen prinzipiell vergleichbar sein, es muß einen gemeinsamen Wertmaßstab geben, nach dem Präferenzen bestimmt werden können Es muß eine stabile Präferenzordnung geben, d.h. die Subjekte müssen an ihren Bewertungen festhalten Die Nutzenmaximierung als oberste Verfahrensregel darf nicht in Frage gestellt werden. Es war aber von Anfang an klar, daß diese Annahmen empirisch so nie stimmen können. Daher gab es mehrere Strategien, mit dem Problem umzugehen: Konservierung des Modells durch Radikalisierung Flexibilisierung des Modells durch Relativierung Anpassung des Modells durch neue Annahmen Kritik und Weiterentwicklung des Modells Die radikale Position: Gary S. Becker Er beschränkt den ökonomischen Ansatz von Adam Smith nicht auf materielle Güter oder auf den Marktbereich, sondern verwendet sie als Grundlage einer generellen Theorie sozialer Prozesse. Er geht davon aus, daß jede Handlung mit monetären oder psychischen Erträgen verbunden sind; gleichzeitig entstehen bei jeder Entscheidung für eine Handlung Opportunitätskosten durch das Verzichten auf eine andere Alternative entstehen. (Beispiel: Theorie der Ehe). Becker operiert aber in seiner Theorie mit Wahrscheinlichkeiten, der Erklärungswert der Theorie ist gering, vielmehr bleibt es ein tautologisches Modell, das sich selbst bestätigt. (wenn alle Menschen nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung handeln, ist alles, was sie tun, Resultat der Nutzenmaximierung) Die gemäßigte Position: McKenzie und Tullock Dehnen die Markttheorie nicht auf alles aus, sondern beschränken ihre Gültigkeit auf ökonomische strukturierte Themen, die rational behandelt werden können (das sind ihrer Meinung nach aber die meisten Themen). In ihrer Theorie der Sexualität schließen sie im Wesentlichen an Becker an, sie gehen aber nicht von einem Heiratsmarkt, sondern von einem Sexualitätsmarkt aus. So erklären sie zb. Prostitution. Das Modell ist aber insofern flexibler, als sie Präferenzen als rational wählbar betrachten; es kann also auch rational entschieden werden, Kosten und Nutzen außer acht zu lassen. 10 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Relativierungen: Herbert Simon Auch das gemäßigte Modell wurde weiterentwickelt, eine Schwachstelle war die Annahme der vollständigen Information. Simon zog schließlich die Konsequenz, nur mehr von begrenzter Rationalität zu sprechen, Nutzen ist jeweils eine Frage der subjektiven Definition. Die Spieltheorie: Oskar Morgenstern und John von Neumann Morgenstern und Neumann beachteten als erste die Ebene der Intersujektivität: meistens hängen Entscheidungen von den Entscheidungen anderer ab. Situationen werden als Spiele im mathematischen Sinn definiert, je nach der „Summe“, um die es geht unterscheidet man Nullsummenspiele (Fixsummenspiele) was einer gewinnt, muß ein anderer verlieren Nicht-Nullsummenspiele Das bekannteste Beispiel der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma. Die Spieltheorie versucht, Modelle für Situationen zu entwickeln, in denen es um Konkurrenz oder Kooperation geht. Der „Rational Choice Ansatz“ Verwirft das Modell des homo oeconomicus insgesamt, weil es nichts taugt Bei mehreren Entscheidungen Wenn sich die Randbedingungen ändern Wenn sich der Entscheidende selbst ändert Wenn gegenwärtige Entscheidungen auch spätere Möglichkeiten beeinflussen Die Umwelt darf nicht als statisch betrachtet werden, wesentlich ist das Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren und die wechselseitige Beeinflussung von Umweltbedingungen und Entscheidungen. Bezugspunkte sind die „constraints“ (Zwänge) und die „choices“ (Alternativen). Elster hat in diesem Zusammenhang untersucht, inwiefern Zwänge selbst auferlegt sein können und wie Alternativen durch Uminterpretationen der Umwelt ausgewählt werden (zb. der Fuchs und die Trauben). Behavioristische Ansätze George Caspar Homans hat versucht, die Grundlagen des homo oeconomicus mit der behavioristischen Psychologie in Einklang zu bringen. Die Grundsätze dieser Psychologie sind: Wissenschaft kann nur messen und zählen Was im menschlichen Kopf vor sich geht, kann nicht gemessen und gezählt werden, muß also außer acht gelassen werden („black box“), außer, es lassen sich Input-Output-Reaktionen feststellen Organismen sind lernende Systeme, durch Erfahrung entwicklen sie ReizReaktions-Koppelungen, Handeln ist eine programmierte Verhaltenskette 11 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Diese Theorie wurde aber bald weiterentwickelt, so ging Tolman schon in den 30ern davon aus, daß Menschen nicht einfach auf Reize reagieren, sondern ein inneres Bild der Realität entwickeln: die kognitive Landkarte. Durch Weiterentwicklung dieses Ansatzes kam es zur kognitiven Psychologie. Gleichzeitig wurde über die Hintergründe von psychischen Prozessen nachgedacht und Balancemodelle entwickelt. Leon Festinger entwickelte in diesem Zusammenhang die Theorie der kognitiven Dissonanz. Homans vertrat aber einen radikalen Ansatz und entwarf den utilitaristischen Behaviorismus, nach dem jede soziale Realität auf fünf Grundgesetze des Handelns zu reduzieren ist: Menschen wiederholen belohnte Verhaltensweisen Je öfter ein Verhalten belohnt wird, desto häufiger tritt es auf Je wertvoller die Belohnung, desto häufiger die Reaktion Je öfter ein Verhalten belohnt wurde, desto mehr sinkt der Wert der Belohnung Distributive Gerechtigkeit: jeder strebt danach, seine Interessen zu realisieren und reagiert auf Ungerechtigkeit mit Gegenaktivitäten Klaus Dieter Opp entwirft die verhaltenswissenschaftliche Soziologie und geht von der These aus: „Menschen verhalten sich so, daß sie unter Berücksichtigung der gegebenen Bedingungen Bedürfnisse in möglichst hohem Maß befriedigen. Demnach ist Rollenhandeln nicht das Befolgen von Normen, sondern eine Entscheidung, um positiven Nutzen daraus zu ziehen. Das Nicht-Einhalten von Normen wird dadurch erklärt, daß der Nutzen der Abweichung größer ist als der der Einhaltung. Die Tauschtheorie: Peter M. Blau Er versucht, mit dem nutzenorientierten Ansatz Interaktionen zu erklären, in denen alle Beteiligten in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihre Interessen realisieren wollen. Die Situationen sind offen, das Handeln eines Beteiligten hängt vom Handeln der anderen ab. Die Tauschtheorie versucht, Zusammenhänge zu finden, die sich aus strategischen Kalkülen und teils unsicheren, teils zwingenden Rahmenbedingungen ergeben. Der Funktionalismus Gesellschaften sind Zusammenhänge, in denen es um subjektive oder objektive Zwecke geht, ohne daß sie darauf reduziert werden können. Die Gesellschaftstheorie muß allgemeine Vorstellungen entwickeln, wie eine Gesellschaft funktioniert. Der frühe Funktionalismus: Gesellschaft als Organismus Herbert Spencer (1820-1906) Die ersten Versuche Gesellschaften funktionsanalytisch darzustellen, lehnen sich noch sehr eng an gesellschaftsfremde Konzepte an. Spencer, der eigentlich Ingenieur war, widmete sich intensiv dem Thema Foirtschritt und war von den 12 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Fortschritten der biologischen Forschung beeindruckt. Er versuchte auch die Logik des gesellschaftlichen Fortschritts zu ananlysieren und übernimmt dazu evolutionstheoretische Vorstellungen. Nach seinem Grundgesetz verläuft eine gesellschaftliche Entwicklung immer vom Homogenen zum Heterogenen, also vom Gleichen zum Verschiedenen, wobei Verschiedenes bedeutet Daß die verschiedenen Elemente sinnvoll kombiniert und aufeinander bezogen werden, sodaß sich ein sinnvolles Ganzes ergibt Das Problem der Integration: die einzelnen Elemente müssen zusammengehalten, koordiniert und kontrolliert werden Er unterscheidet in der sozialen Evolution drei Typen von Gesellschaften: Primitive Gesellschaften: wenige Mitglieder, geringe Arbeitsteilung und einfachen Formen der sozialen Integration Militärische Gesellschaften: mehr Mitglieder, mehr Arbeitsteilung und Formen der Integration, die Verschiedenheit vor allem durch Zwang und Unterordnung erreichen Industriegesellscahften: viele Mitglieder, hochdifferenzierte Arbeitsteilung, Freiwilligkeit und Konsens als Prinzip der sozialen Organisation Er betrachtet Gesellschaft wie einen Organismus: jedes gesellschaftliche Organ muß eine Aufgabe erfüllen und ist dabei auf die Leistungen der anderen Organe angewiesen. Die Leistungen der gesellschaftlichen Organe nennt er Funktionen, die ein Teil eines System von Kooperationen sind. Nach dieser Theorie ist Gesellschaft eine gut durchstrukturierte Einheit, in der alles seinen angestammten Platz hat und seine Aufgaben erfüllt. Struktur und Funktion in primitiven Gesellschaften Alfred R. Radcliffe-Brown (1881-1955) und Bronislaw Malinowski (1884-1942) Die beiden Anthropologen wollten Kulturerscheinungen aus ihrer Funktion erklären, die sie für die Gesellschaft haben und entwickelten dazu den Ansatz von Spencer weiter. An Durkheim anknüpfend war Radcliffe-Brown der Meinung, daß Gesellschaft als totales soziales Phänomen untersucht werden muß und betrachteten die Funktionen einzelner sozialer Erscheinungen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erhaltung der ganzen Gesellschaft. Die Funktion sieht er in enger Beziehung zur Struktur, der Beziehung der Einheiten zueinander. Gesellschaften brauchen notwendige Existenzbedingungen: einen minimalen Grad an Integration und Solidarität bzw. an Konsistenz und Kontinuität der Struktur, um existieren zu können. Eine „gesunde“ Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, daß alle Teile eines sozialen Systems ausreichend miteinander kooperieren, zur Erhaltung dieser Gesundheit dienen zb. die Religion und die Verwandtschaft. Malinowski versteht unter Funktionalismus die Untersuchung des Wesens der Kulturphänomene, wichtig sind dabei wesentliche Beziehungen und Verbindungen. Er bestimmt Funktionen aber nach menschlichen Bedürfnissen: alle sozialen Prozesse sind eingebettet in die Bedürfnisbefriedigung des einzelnen. Er untersucht, welchen Beitrag gesellschaftliche Institutionen wie Familie etc. zur Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen leisten. Gelingt es diesen Institutionen nicht, die 13 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Grundbedürfnisse des Menschen zu erfüllen, ist eine Gesellschaft nicht überlebensfähig. Die funktionale Analyse versucht, die Beziehungen zwischen Kulturhandlungen und menschlichen Bedürfnissen zu erforschen. Funktion bedeutet Bedürfnisbefriedigung durch eine Handlung, bei der Menschen zusammenwirken; eine Institution ist eine Einheit menschlicher Organisation. Die funktionale Analyse komplexer Gesellschaften Robert K. Merton Er kritisiert drei von den Anthropologen vertretene Postulate: Gegen die vollständige funktionale Einheit der Gesellschaft: nicht alle modernen Gesellschaften haben einen so hohen Integrationsgrad, daß jede Tätigkeit für die Gesellschaft als Ganzes funktional ist. Zb. kann Religion integrativ, aber auch desintegrativ wirken Gegen den universalen Funktionalismus: nicht jeder Bestandteil einer Kultur muß notwendig funktional sein, Merton unterscheidet Funktion, Dysfunktion und NichtFunktion. Weiters unterscheidet er zwischen manifesten und latenten Funktionen. Gegen die Unentbehrlichkeit: ein Objekt kann mehr als eine Funktion haben, gleichzeitig kann eine Funktion aber auch von verschiedenen Objekten erfüllt werden. Das bezeichnet Merton als funktionales Äquivalent. Mertons Anliegen ist die Ausarbeitung eines Handwerkszeuges für die funktionale Analyse. Der Strukturfunktionalismus Talcott Parsons (1902-1979) Greift auf Ideen von Durkheim und Weber zurück, entwickelt sie aber weiter und verbindet sie miteinander. Er faßt Gesellschaften als Handlungssysteme auf, die vier Grundfunktionen erfüllen müssen, sein Modell bezeichnet er als AGIL-Schema: Adoption: Gesellschaft muß dafür sorgen, daß sich das System an seine Umwelt anpassen kann Goal-Attainment: sie muß dafür sorgend, daß geplante Ziele erreicht werden Integration: ein bestimmtes Maß an innerer Einheitlichkeit muß bestehen Latency: die Grundstruktur muß über Veränderungen hinweg erhalten bleiben Im nächsten Schritt greift er den Gedanken der Struktur auf, in Handlungssystemen gibt es demnach vier basale Teilsysteme: Der menschliche Organismus, der die körperliche Anpassung an die Umwelt erbringt Die menschliche Persönlichkeit, die für Zielverwirklichung sorgt Das soziale System, welches für die Integration zuständig ist Das kulturelle System, welches die Erhaltung des Handlungssystems garantiert Jedes der einzelnen Systeme erfüllt also besondere Funktionen. Das soziale System ist die Gesellschaft, die drei anderen stellen den Kontext dar, der durch die integrative Funktion der Gesellschaft zusammengehalten wird. Gesellschaften selbst gliedern sich wiederum in vier Subsysteme: 14 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die Wirtschaft ist das Subsystem der Adoption und sorgt für die optimale Allokation der Ressourcen Das Politische System ist das Subsystem des Goal-Attainment, in ihm werden Entscheidungen getroffen Das System der Normen und Regeln ist das Subsystem der Integration und sorgt dafür, daß soziales Handeln auf berechenbare Weise abläuft Das System der Kultur und Werte ist das Subsystem der Latency, Kultur ist der Hintergrund, vor dem Handlungen ablaufen und Werte bieten stabile Orientierung Darauf aufbauend entwickelt er sein Modell in zwei Richtungen weiter: 1) Die Architektur von sozialer Wirklichkeit ergibt sich daraus, daß jedes Subsystem seinerseits die vier Grundfunktionen erfüllen muß, um bestehen zu können. Dazu müssen die einzelnen Subsysteme aber miteinander in Kontakt treten, Parsons spricht von „Interpenetration“ (wechselseitige Durchdringung). 3) Er entwickelt ein Konzept von Systemvariablen, innerhalb deren Dimensionen die Funktionen erfüllt werden können: Grad der emotionalen Beteiligung (Affektivität bis Neutralität) Grad der Ausschließlichkeit, mit der Themen behandelt werden (Spezifität bis Diffusität) Der Horizont der Handlung (Partikularismus bis Universalismus) Das Ausmaß der Eigenbeteiligung der Handelnden (Leistung bis Zuschreibung) Worauf sich Handlungen beziehen (Selbstorientierung bis Kollektivorientierung) Anhand dieser Grundvariablen lassen sich Gesellschaftstypen und Typen von Teilsystemen unterscheiden. Zb. weisen moderne Industriegesellschaften wesentlich mehr Neutralität, Leistungsorientierung und Spezifität als Agrargesellschaften auf. Aus diesen Merkmalen lassen sich Probleme in Gesellschaften ableiten. Zur Bedeutung des Funktionalismus Vom funktionalistischen Denken angeregt wurde auch die Entwicklung der Rollentheorie: Gesellschaftliche Funktionen werden über Positionen gewährleistet, jeder Mensch hat bestimmte zugewiesene oder erworbene Positionen. Von der Gesellschaft werden dem Inhaber einer Position konkrete Erwartungen entgegengebracht, die er zu erfüllen hat. Diese Erwartungen sind gestuft in Kann-, Soll- und Mußerwartungen. Werden Erwartungen nicht erfüllt, kommt es zu Sanktionen: Lob bei Erfüllung von Kann-Erwartungen, Bestrafung bei Verletzungen von Soll-Erwartungen, Ausschluß beim Verstoß gegen Muß-Erwartungen. Da eine Person immer mehrere Positionen einnimmt und daher mehrere Rollen zu spielen hat, passen die ihr entgegengebrachten Erwartungen oft nicht zusammen, es kommt zu Inter-Rollen-Konflikten (zb. Manager soll viel Zeit für Firma haben, aber auch für seine Familie). 15 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Da meist mehrere Bezugsgruppen einem Positionsinhaber Erwartungen entgegenbringen, kann es zu Intra-Rollen-Konflikten kommen (zb. Schüler wollen, daß der Lehrer nett ist, Eltern wollen, daß er den Kindern möglichst viel beibringt). Die Systemtheorie Die Entwicklung der Allgemeinen Systemtheorie Unter System versteht man eine Menge von Elementen und deren Relationen untereinander. Man unterscheidet dabei geschlossene Systeme, bei denen sich die einzelnen Teile unter die Zwecke des Ganzen unterordnen; und offene Systeme, die nicht in sich abgeschlossen sind, sondern in Beziehung zu anderen Systemen und der Umwelt stehen. Die moderne Systemtheorie baut wesentlich auf dieser Theorie der offenen Systeme aufBegründet wurde die Allgemeine Systemtheorie von einem Biologen, Ludwig von Bertalanffy. System ist für ihn eine Anzahl von in Wechselwirkung stehenden Elementen, es gibt immer eine eindeutige Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt. Gegenstand der Systemtheorie sind die komplexen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Systemteilen und dem System und der Umwelt. In den letzten 20 Jahren ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen, da die Neurophysiologen Humberto Maturana und Francisco Varela den Begriff der Autopoesis eingebracht haben. Die Grundaussage ist, daß autopoetische Systeme sich kontinuierlich selbst erzeugen und reproduzieren. Autopoetische Systeme sind geschlossene Systeme, da sie alle Elemente, die sie für ihr Bestehen brauchen, selbst erzeugen, sie tauschen aber mit ihrer Umwelt Energie und Materie aus. Dieser Austausch wird aber nicht durch die Umwelt bestimmt, sondern durch das System selbst. Die Systemtheorie als soziologische Theorie Niklas Luhmann (1927) Kehrt den Strukturfunktionalismus Parsons um, indem er nicht nach der Struktur von Systemen, sondern nach der Funktion von Systemen fragt: welche Funktion erfüllen Systeme, warum entwickeln sich soziale Systeme? Systeme müssen immer in Bezug auf ihre Umwelt betrachtet werden, um den Wandel von Systemstrukturen erklären zu können. Gleichzeitig wird die Systembildung erstmals als Variable behandelbar. Das Besondere der Systemtheorie ist, daß nicht das Handeln einzelner Personen oder deren Interaktion untersucht wird, sondern immer nur die Handlungen eines Systems. Systeme werden als handelnde Einheiten verstanden: „die Partei“, „die Uni“, „der Staat“, ... Der Sinn von Systemen ist die Schaffung abgegrenzter Bereiche, die es der menschlichen Aufnahmekapazität ermöglichen, die Komplexität der Welt zu erfassen und zu verarbeiten. 16 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Was sind soziale Systeme? Systeme als offene Systeme Ein soziales System ist ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen, die aufeinander verweisen. Systeme bestehen also nicht aus den Personen, sondern aus deren Handlungen. Diese Handlungen verweisen aufeinander und bilden so ein soziales Gebilde. Eine klare Differenzierung zwischen Innen und Außen verweist auf die Grenzen eines Systems zur Umwelt. Die letzte Bezugseinheit, die keine Grenzen mehr hat, ist für Luhmann die Welt. Sie kann also kein System sein, da sie keine Umwelt mehr hat. Wichtig ist sie aber im Zusammenhang mit der Komplexität: der Gesamtheit der möglichen Ereignisse. Aus dieser Komplexität wählt das soziale System die Möglichkeiten aus, die für es sinnhaft sind, betreibt also Komplexitätsreduktion – die wichtigste Funktion sozialer Systeme. Beim Prozeß der Systembildung stabilisiert sich die Grenze zwischen innen und außen, sodaß innerhalb der Komplexität der Welt Inseln von geringerer Komplexität entstehen. So entstandene soziale Systeme können relativ autonom werden, eigene Regeln entwickeln und Systemstrukturen ausbilden. Diese Strukturen bilden den Handlungsrahmen, aufgrund dessen systemkonformes Verhalten erwartet werden kann. Systeme können sich weiterentwickeln, indem sie in sich selbst weitere Systeme ausbilden, man spricht von Interner Differenzierung. Luhmann unterscheidet folgende verschiedene Systemtypen: 1. Interaktionssysteme: kommt dadurch zustande, daß Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen, wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum System. Man kann nur mit den Anwesenden sprechen, die Umwelt kann aber thematisiert werden. Interaktionssysteme können keine sehr hohe Komplexität erreichen, da Kommunikation nur nacheinander, nicht parallel möglich ist. 2. Organisationssysteme: die Mitgliedschaft ist an verschiedene Bedingungen gebunden, durch den Eintritt in eine Organisation werden Mitglieder zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichtet. 3. Gesellschaftssysteme: das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen, die Grenzen des Systems sind also die Grenzen möglicher und sinnvoller Kommunikation. Die Systemebenen sind ineinander verschachtelt, Handlungen können gleichzeitig mehreren Systemen angehören. Systeme als autopoetische Systeme Luhmann unterscheidet psychische Systeme und soziale Systeme. Die Komponenten des psychischen Systems nennt Luhmann Gedanken bzw. Vorstellungen. Durch den ständigen Gebrauch von Gedanken entwickeln sie sich weiter, verbinden sich mit anderen oder gehen verloren, das System bildet sich von selbst immer wieder neu. Psychische Systeme sind von den sozialen Systemen getrennt, auch wenn sie nicht ganz unabhängig von ihnen sind. 17 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Auch die sozialen Systeme werden als geschlossene autopoetische Systeme aufgefaßt. Sie sind Kommunikationssysteme, die sich dadurch reproduzieren, daß ständig kommuniziert wird. Wenn eine Kommunikation keine Nachfolgekommunikation nach sich zieht, hört das System auf zu existieren. Organisationen sind soziale Systeme, deren Grundelemente Entscheidungen sind. Durch diese Entscheidungen erzeugt sich das System ständig selbst. Dem sozialen und dem psychischen System gemein ist, daß beide Sinn konstituieren und verwenden. Sinn bedeutet, aus verschiedenen Möglichkeiten eine auszuwählen und stellt eine Form des Umgangs mit der Komplexität dar. Das psychische System verarbeitet Sinn durch Bewußtsein, das soziale System durch Kommunikation. Luhmann unterscheidet drei Sinndimensionen: Die Sachdimension: was Die Zeitdimension: wann Die Sozialdimension: wer Jedes System entwickelt eigene Regeln, welche Informationen verwertet werden sollen und welche nicht, welche also sinnhaft sind. Gesellschaft und funktionale Differenzierung Die Gesellschaft wird ebenfalls als autopoetisches System begriffen, es umfaßt alle sozialen Systeme, die in ihm eingebettet sind. Auch Gesellschaften weisen bestimmte Strukturen auf, das heißt, daß auch hier Komplexität reduziert wird. Die Theorie soziokultureller Evolution behandelt das Entstehen von Gesellschaftsstrukturen. Luhmann unterscheidet drei Stufen der gesellschaftlichen Evolution, die jeweils einen unterschiedlichen Grad an interner Differenzierung aufweisen: Die segmentäre Gesellschaft: Zugehörigkeit zu einem Teilsystem besteht in der Anwesenheit, die Gesellschaft ist also durch geringe Komplexität gekennzeichnet. (Zb. Stämme) Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften: nach Schichten gegliedert, die einzelnen Teilsysteme stehen in einer hierarchischen Beziehung, einer „gottgewollten Ordnung“ Die funktionale Differenzierung: beginnt am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Politik löst sich von der Religion und wird zu einem eigenen Teilsystem, dann entwickeln sich für andere Funktionsbereiche weitere Teilsysteme heraus: Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Rechtssystem, Religion... Heute leben wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die kein einheitliches Ganzes mehr ist, sondern aus vielen verschiedenen Teilsystemen besteht. Diese Teilsysteme sind für bestimmte gesellschaftliche Funktionen exklusiv zuständig. Die Steuerung der Teilsysteme funktioniert über binäre Codes, nach denen das System seine Auswahl trifft (zb. zahlen/nicht zahlen im Wirtschaftssystem; wahr/unwahr im Wissenschaftssystem,...). Die einzelnen Teilsysteme interessieren sich aber sehr wohl füreinander, die Systemtheorie spricht von der „Resonanz“, die ein gewisses Thema aus der Umwelt im System findet oder nicht. 18 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Das Problem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften besteht darin, daß sowohl die Abhängigkeiten (Interdependenzen) der Funktionssysteme als auch ihre Unabhängigkeit (Independenzen) durch ihre Geschlossenheit zunehmen. Nicht in die Systeme integrierbare Probleme werden in die Umwelt abgewälzt, so hat zb. das Umweltproblem sehr wenig Resonanz in den einzelnen Teilsystemen. Der Symbolische Interaktionismus Wurde um die Jahrhundertwende in den USA entwickelt, das zu dieser Zeit mit der rasch fortschreitenden Industrialisierung und der damit verbundenen massiven Einwanderung und Urbanisierung zu kämpfen hatte. Es kam zu erheblichen Unruhen und völlig neuen sozialen Problemen wie Bandenbildung etc. Besonders die Chicagoer Schule betrieb qualitative Forschungen zu den Lebensumständen in den Großstädten. Der Begründer des Symbolischen Interaktionismus war George Herbert Mead (18631931), der Begriff stammt von einem seiner Schüler, Herbert Blumer. Zentrale Thesen Es geht darum, zu verstehen, wie soziales Handeln abläuft und strukturiert ist. Dazu werden gesellschaftliche Vorgänge aus einer distanzierten und verfremdeten Perspektive betrachtet. Gesten und signifikante Symbole Im Mittelpunkt steht die soziale Interaktion, wobei zwischen nicht-symbolischer (Mead: Konversation von Gesten) und symbolischer (Mead: Gebrauch signifikanter Symbole) Interaktion unterschieden wird. Die symbolisch vermittelte Interaktion ist für Mead die für Menschen typische Kommunikationsform, weil nur Menschen Symbole verwenden. Um sich bei symbolischer Interaktion verstehen zu können, muß die Bedeutung dieser Gesten für beide Interaktionspartner möglichst gleich sein, nach Mead hat die Bedeutung einer Geste immer drei Ebenen: Sie zeigt an, was der Empfänger tun soll Sie zeigt an, was der Sender tun wird Sie zeigt die gemeinsame Handlung an, die aus der Verbindung der Handlungen beider hervorgehen soll Gesten werden zu signifikanten Symbolen, wenn sie von beiden Interaktionspartnern gleich interpretiert werden und sie einen allgemeinen Charakter besitzen, das heißt, daß eine signifikante Geste in jeder Situation das Gleiche bedeutet (zb. Hilferuf). Es kann sich dabei sowohl um non-verbale als auch um sprachliche Gesten handeln. Die Bedeutung der Dinge Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, daß Menschen aufgrund von Bedeutungen handeln, die Dinge für sie haben. Diese Bedeutung von Dingen ist ein Produkt der Interaktion, sie werden vom Individuum ständig erneuert, geändert, verworfen. Die Bedeutungen müssen immer wieder neu interpretiert werden. 19 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die interaktionistische Rollentheorie Im Gegensatz zur struktur-funktionalistischen Theorie orientieren sich die Handelnden im symbolischen Interaktionismus nicht an fixen Erwartungen, die an ihre Rolle gestellt werden. Vielmehr können diese Erwartungen in einer Interaktionssituation ausgehandelt werden. Im Prozeß der Rollenübernahme (role taking) versetzt sich der Interaktionspartner in die Rolle des anderen hinein und ist dadurch in der Lage, ihn zu verstehen. In den seltensten Fällen wird sich aber ein Interaktionspartner den Erwartungen des anderen völlig unterordnen, es tritt der Prozeß des „role making“ ein: die individuelle Ausgestaltung der angebotenen Rolle. Zu Beginn einer Interaktion werden sich die noch unbekannten Interaktionspartner abtasten, um genauere Informationen über den anderen zu erhalten. Mit der Zeit werden sie wissen, was der andere von ihnen erwartet, es kommt zu einer Konkretisierung der Rollen. Auch Rollendistanz kann geübt werden, das heißt, man kann sich bewußt von seiner Rolle distanzieren, um Situationen die Spannung zu nehmen oder um inneren Konflikten auszuweichen. Durch die ständige Ausübung von Rollen kommt es zur Entwicklung einer Identität. Diese besitzt eine sozial geprägte Struktur, weil sie durch Interaktion zustande kommt. Mead hat die Entwicklung von Identität und die Fähigkeit des Rollenhandelns bei Kindern untersucht und zwei Stufen unterschieden: play und game. Zuerst übernimmt das Kind beim Spielen die Rolle eines „bedeutsamen Anderen“ und lernt so, daß durch Rollenübernahme Identität zustande kommt. Dann eignet sich das Kind die Rollen der andern an und bekommt so die Fähigkeit, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen (der verallgemeinerte Andere). Mead unterscheidet zwei Stufen der Identität: „Me“: durch die Gesellschaft bestimmter Teil der Identität „I“: persönlicher Teil der Identität Aus der Auseinandersetzung des I mit dem Me entsteht dann das Selbst. Organisationssoziologische Aspekte Organisation ist eine soziale Einrichtung mit klaren Zielen. Der Symbolische Interaktionismus ist am Verhältnis der Organisation zu ihren Mitgliedern interessiert. Goffmann geht davon aus, daß jede Organisation von ihren Mitgliedern Anpassungsleistungen verlangt und sie diszipliniert. Um das herauszufinden untersucht er extreme Fälle, die er totale Institutionen nennt: Gefängnisse, psychiatrische Anstalten... In solchen totalen Institutionen kommt es zu einer Demütigung des Selbst in verschiedenen Formen: Rollenverlust Aufnahme- und Gehorsamsprozeduren um den Willen zu brechen Beraubung der Identitätsausrüstung zb. Wegnahme der persönlichen Sachen Die Person hat zwei Möglichkeiten damit umzugehen: Primäre Anpassung: man erfüllt die verlangten Pflichten 20 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Sekundäre Anpassung: man wendet unerlaubte Mittel an oder verfolgt unerlaubte Ziele, um die Erwartungen der Organisation zu umgehen. Dadurch entstehen Formen eines „Unterlebens“, die in jeder Organisation auftreten Anselm Strauss: „negotiated order approach“ Im Zentrum steht die Art und Weise, wie soziale Ordnung ausgehandelt wird, Strauss untersuchte in den 60ern Krankenhäuser, weil er annahm, daß dort klare Strukturen und Kompetenzverteilungen herrschen. Er bemerkte aber bald, daß das nicht so ist und kam zu dem Schluß, daß Regeln und Normen erst durch dauernde Reflexionen und Kommunikation erst hergestellt werden. Einige wesentliche Merkmale eines Aushandlungsprozesses sind: Die Zahl der Teilnehmer Deren Erfahrungen Ob sie nur für sich sprechen oder eine Gruppe repräsentieren Ob es nur eine oder mehrere Verhandlungsrunden gibt Das Machtgefälle zwischen den Akteuren Die Bedeutung, die die Verhandlung für die Akteure hat Anzahl und Komplexität der Verhandlungsgegenstände Optionen der Akteure, wenn die Verhandlungen scheitern Es lassen sich drei Hauptdimensionen unterscheiden: Der strukturelle Kontext: Rahmenbedingungen Der Verhandlungskontext: die Sichtweise der Akteure Die handelnden Akteure: das Bild, das der einen jeweils vom anderen hat, beeinflußt die Verhandlungen wesentlich. Es gibt vier mögliche Sichtweisen: Beide Parteien kennen genau Absichten und Ziele voneinander Beide Parteien kennen die Absichten, tun aber so, als wüßten sie nichts Eine Partei ist sich über die Absichten der anderen nicht klar oder weiß nicht, wie die andere Partei ihre Absichten einschätzt Wie vorher, nur daß die Partei Vermutungen anstellt und danach handelt Labeling-Theorie Beschäftigt sich damit, wie abweichendes Verhalten zu erklären ist, Hauptvertreter ist Howard Becker. Nach seiner Theorie stellt die Gesellschaft Regeln auf, gegen die jemand verstößt, der dann zum Außenseiter erklärt wird. Abweichendes Verhalten ist so gesehen nur eine soziale Konstruktion. Die Normsetzung allein reicht aber noch nicht aus, erst durch die Normanwendung, als einem Netz der sozialen Kontrolle, wird normenverletzendes zu abweichendem Verhalten. Die Entwicklung von Abweichung wird von Becker als Prozeß gesehen, den er als Karriere mit folgenden idealtypischen Schritten beschreibt: Entfremdung zur konventionellen Gesellschaft Durch abweichendes Verhalten kommt es zur Stigmatisierung 21 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Als Folge davon kommt es zum sozialen Ausschluß der Betroffenen, also zur Reduzierung konformer Handlungsmöglichkeiten Wird das abweichende Verhaltensmuster lang genug beibehalten, kann dadurch die Identität des Betroffenen verändert werden Der letzte Schritt ist der Eintritt in eine organisierte Gruppe Die Ethnomethodologie Befaßt sich mit den alltäglichen Handlungen der Menschen und möchte die Methoden aufdecken, die Menschen anwenden, um sich selbst und anderen eine reale Welt zu schaffen. Es geht nicht darum, warum Menschen bestimmte Handlungen setzen, sondern wie sie es zuwege bringen, einander zu verstehen. Die Mitglieder einer Gemeinschaft schaffen sich ihre soziale Realität selbst. Erst durch ihre Aktivitäten entsteht Wirklichkeit, weshalb von Vollzugswirklichkeit gesprochen wird. Das was man selbst für eine stabile Umwelt hält, ist in hohem Maß von eingespielten gemeinsam anerkannten Situationsdeutungen abhängig. Zentrale Konzepte Indexikalität Die Beziehung zwischen einer Handlung oder einem Text und dem zugrundeliegenden Muster. Wenn jemand etwas tut oder sagt, denkt der Interaktionspartner immer Dinge mit, er konstruiert den passenden Kontext, sodaß das Gesagte oder Getane verständlich wird. Fragiliät von Wirklichkeit Normalerweise wird die soziale Wirklichkeit als stabil wahrgenommen, manchmal ändert sich eine Situation aber und erscheint plötzlich nicht mehr als normal. Mit Hilfe von Krisenexperimenten versuchte Garfinkel, das zu zeigen indem er in routinisiert ablaufende Handlungen Störungen einbaute. Darstellungen Soziale Realität ist nicht nur fragil, sie muß auch erst einmal erzeugt werden, zb. wenn man in eine neue Position gerät. Garfinkel untersuchte, wie Geschworene ihre Rolle kompetent ausfüllen und sich gegenseitig bestätigen. Das geschieht mit Hilfe von accounts, einem sich-in-Szene-setzen. Marx und der Historische Materialismus Karl Marx (1818-1883) Auf die mit der Industrialisierung verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen gaben die damaligen Theorien keine Antwort. Marx war einer der wenigen bürgerlichen Theoretikern, die die Probleme nicht übersahen oder herunterspielten. 22 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Frühsozialismus Aus der utopischen Sozialkritik (Thomas Morus: Utopia; Tommaso Campanella: Der Sonnenstaat) entwickelte sich der Frühsozialismus, von dem Karl Marx die Idee einer gerechten Gesellschaftsordnung und die Kritik am Liberalismus übernahm. Weiters knüpfte er an den Deutschen Idealismus vor allem Hegels und an die Politische Ökonomie (Smith, Ricardo) an. Idealistische Philosophie Hegel thematisierte die Dynamik und Widersprüchlichkeit von Systemen, Dinge und Ereignisse dürfen niemals für sich genommen werden, sondern müssen immer im Kontext betrachtet werden. Geschichte betrachtete er als Prozeß, der zur Vervollkommnung führen muß. Marx übernahm von Hegel die Analyse der Verhältnisse auf ihren inneren Zusammenhalt und ihre Dynamik hin, allerdings in einem materialistischen Zusammenhang. Für ihn sind es die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die den Gang der Geschichte bestimmen. Produktivkräfte sind alle Mittel, mit denen Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen; Produktionsverhältnisse sind die ökonomische und die politische Dimension der Produktion. Diese Gedanken entnimmt er der Politischen Ökonomie. Politische Ökonomie Adam Smith (1723-1790) untersucht in „Wealth of the nations“ die Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung und analysiert die selbststimulierende und selbststeuernde Struktur des Marktes von Angebot und Nachfrage. Dieser Theorie der invisible hand stimmte Marx nicht zu, das Gleichgewicht des Marktes bestimmt seiner Meinung nach der, der Macht hat. Diese Macht, die zu sozialer Ungleichheit führt, resultiert aus dem Privateigentum von Produktionsmitteln. David Ricardo (1772-1823) beschäftigte sich mit der Frage, woher der Wert einer Ware stammt und hob besonders die Bedeutung der Arbeitskraft hervor. Arbeitswertlehre und Mehrwerttheorie Nach der Arbeitswertlehre besitzt jedes Produkt einen Gebrauchswert und einen Tauschwert, der objektive Wert des Produkts ergibt sich aber aus der Arbeit, die nötig ist, um es herzustellen. Stufen des Warentauschs: Ware gegen Ware Ware gegen Geld gegen Ware: Geld kann man aufheben, sparen, der Tauschwert löst sich von den Waren, der Tauschwert selbst kann so zum Ziel der Tausches werden Geld gegen Ware gegen Geld + Zugewinn Das entscheidende Merkmal des Produktionskapitalismus ist, daß Kapital nicht mehr in produzierte Waren, sondern in den Produktionsprozeß selbst investiert wird!!! Der Kapitalbesitzer investiert also in Produktionsmittel und Arbeitskraft; der 23 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Gebrauchswert der Arbeitskraft ist aber höher als der Tauschwert, den so produzierten Mehrwert eignet sich der Kapitalist an. Die Theorie der geschichtlichen Entwicklung Geschichte entwickelt sich aufgrund der Dynamik von Widersprüchen, besonders durch das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Marx geht davon aus, daß gewisse Produktionsverhältnisse eine Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichen, dann aber zum Hindernis dieser Entwicklung werden und schließlich von ihnen gesprengt werden. Demnach werden Herrschaftsverhältnisse immer dann abgeschafft, wenn sie der Entwicklung der Produktivkräften im Weg stehen. Diese Entwicklung sieht er als Dauerkonflikt bei dem sich die Produktivkräfte immer weiterentwickeln, während die Herrschaft immer weiter reduziert wird. Die Entwicklung des Kapitalismus führt zu Überakkumulation und Konzentration von Kapital, in der Folge zu Verwertungskrisen und zur Verschärfung des sozialen Gegensatzes bis zur Verelendung des Großteils der Bevölkerung. Die Lohnarbeit führt zur „Entfremdung“, das heißt, daß der Arbeiter durch die Arbeitsteilung in den Industriebetrieben jede persönliche Beziehung zum Produkt verliert, Arbeit kann damit für ihn nicht mehr Selbstverwirklichung bedeuten und wird zum stumpfsinnigen Mittel zum Zweck der Lebenserhaltung. Gleichzeitig kommt es zur „Verdinglichung“ der menschlichen Beziehungen, die der Marktlogik unterworfen werden. Trotz allem hat der Kapitalismus eine wichtige historische Funktion, weil er die Emanzipation der Produktivkräfte von traditionellen Bindungen erst ermöglicht und damit die Grundlage für die generelle Befreiung von Herrschaft geschaffen hat. An die Stelle der privaten Verfügung über die Produktionsmittel muß nur noch die öffentliche treten, damit wäre die tatsächliche Befreiung von allen Zwängen erreicht. Das Ergebnis wäre eine neue kommunistische Gesellschaft: es gibt kein Ausbeuten von Menschen durch andere Menschen mehr, jeder Mensch kann seine Anlagen optimal entwickeln, der Staat stirbt ab, weil die Menschen ihre Angelegenheiten selbst auf friedliche Weise regeln. Sein, Bewußtsein, Ideologie Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen war für Marx der Kampf gegen die Herrschaft überhaupt. Die Arbeiterklasse war sich aber dieser historischen Bedeutung nicht bewußt. In dem Zusammenhang fragte Marx nach dem Entstehen von Bewußtsein und dessen Verhältnis zur sozialen Realität. Dabei knüpfte er an Hegel an, der festgestellt hat, daß das Bewußtsein der Entwicklung der sozialen Realität hinterherhinkt. Marx bringt das Bewußtsein mit den materiellen Lebensbedingungen in Verbindung: das Denken hängt von den Bedingungen ab, aus denen es hervorgeht. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Sein, sondern das Sein bestimmt das Bewußtsein. 24 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Diese Erkenntnis stellt einen bedeutenden Schritt im Verständnis von Ideologien dar: verzerrte Vorstellungen von Realität sind Ausdruck bestimmter Interessen und Lebensbedingungen. Der Grund, warum die Arbeiterklasse keine eigenes Bewußtsein entwickelte, sah er im Warenfetischismus. Jede Ware hat einerseits einen materiellen Charakter, andererseits ist sie aber auch Ausdruck bestimmter Verhältnisse von Produktion und Herrschaft. Betrachtet man eine Ware, sieht man aber nur das Produkt selbst, nicht die dahinterstehenden Verhältnisse. Es geht also lediglich darum, die Arbeiterklasse aufzuklären, um ihnen die Entwicklung eines Bewußtseins zu ermöglichen. Er mußte aber schließlich zur Kenntnis nehmen, daß es soziale Umstände gibt, unter denen das objektive Erkennen der eigenen Bedürfnisse nicht möglich ist. Marx Theorie hat einige Entwicklungen nicht berücksichtigt: die Gesellschaft basierte auf neuen Formen der Organisation und Strukturbildung, die in der Systemtheorie Funktionale Differenzierung genannt wird. Das brachte auch neue, abstraktere Formen von Herrschaft mit sich. Weiters hat Marx im Zusammenhang mit Arbeit immer nur an manuelle, körperliche Arbeit gedacht und übersehen, daß die Rationalisierung eine Zunahme der geistigen Arbeit und der Dienstleistungen mit sich brachte. Die Kritische Theorie Entstand in den 20er Jahren in Frankfurt, weshalb sie oft auch die „Frankfurter Schule“ genannt wird. Sie knüpfte vor allem an folgende Traditionen an: Die Philosophie der Aufklärung: gegen die Verteilung von Macht und Vermögen aufgrund von Geburt und Abstammung, für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich Den Deutschen Idealismus: Kant und Hegel haben die Aufklärung auf philosophische Ebene gebracht Den Historischen Materialismus von Karl Marx: erklärte, warum es auch ohne Adel gesellschaftliche Ungleichheiten gibt. Einige Grundannahmen von Marx konnten nicht beibehalten werden, da sie nicht mehr der Zeit entsprachen, aber andere Grundgedanken entwickelte die Kritische Theorie fort: Die zentrale Bedeutung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, es wurde nun aber die Zwiespältigkeit der Modernisierung betont und auch die Möglichkeit des Scheiterns zugelassen Der systematische Zusammenhang der Gesellschaft, aber als Prozeß wechselseitiger Abhängigkeiten Die Ideologiekritik Die Psychoanalyse von Sigmund Freud: Freud betrachtete abnormales Verhalten nicht mehr wie bis dato übliche einfach als krankhaft, sondern kam zur Einsicht, daß dieses Verhalten durch psychische Störungen im Laufe der Entwicklung eines Menschen erworben und dann konserviert werden. Somit konnte erklärt werden, was für Marx immer unverständlich geblieben ist: wie die Fähigkeit zum Denken deformiert werden kann, sodaß Menschen sogar gegen ihre objektiven Interessen handeln. 25 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die Entwicklung der Kritischen Theorie 1924 wurde das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt gegründet. Wichtige Vertreter waren: Max Horkheimer Theodor W. Adorno Leo Löwenthal Erich Fromm Friedrich Pollock Herbert Marcuse Jürgen Habermas Die Entwicklung der Kritischen Theorie wurde stark von den historischen Ereignissen geprägt, die Integrationskraft von Wirtschaft, Staat und Kultur, das Absorbieren von Kritik und die Schwierigkeit von Widerstand beschäftigen sie bis heute. Das Institut arbeitete sowohl empirisch als auch theoretisch und strebte eine indterdisziplinäre Sozialforschung an. Mitte der 30er Jahre mußte das Institut mit seinen zahlreichen jüdischen Mitgliedern nach New York emigrieren, wo sie mit einer für sie neuen Form des Kapitalismus konfrontiert wurden. Für die glitzernde Warenwelt, in der es scheinbar keine Unterdrückung gab, prägten sie den Begriff „Kulturindustrie“. Die Grundthese ist, daß Menschen zunehmend an die Gesellschaft angepaßt werden, die Massenkultur bietet dabei Surrogate für ein besseres Leben an. Die Kritische Theorie entwirft das Bild einer total integrierten Gesellschaft, die sie „verwaltete Welt“ nennen. Ihre Entsprechung in der Literatur finden sie in George Orwells „1984“ und in Aldous Huxleys „Brave new world“. Die Aufgabe der Kritik ist es demnach, auf die Weiterexistenz von Unterdrückung, Leid und Unmenschlichkeit hinzuweisen. Die Kritische Theorie war aber immer eine eher negative Theorie, die es vermieden hat, positive Visionen der Zukunft zu entwickeln. Im Zuge der Studentenbewegung der späten 60er Jahre benutzten die Studenten die Texte der Kritischen Theoretiker gegen deren Überzeugung und Willen als Anleitung zur Revolution. Die Vertreter der Kritischen Theorie selbst waren jedoch der Meinung, daß die historischen Bedingungen für eine Verbindung ihrer Theorien mit der Praxis noch nicht gegeben wären. Grundpositionen der Kritischen Theorie Nach Max Horkheimer bestehen wesentliche Unterschiede zwischen der traditionellen und der kritischen Theorie: Die Traditionelle Theorie orientiert sich am Ideal der Naturwissenschaft, das Ziel ist die Formulierung allgemeiner Gesetze zur Beschreibung der Welt. Das Problem dieser Theorien liegt nach Horkheimer darin, daß sie Gesellschaft wie einen toten Gegenstand betrachten vertritt die Trennung von Wert und Forschung sowie die Trennung zwischen Wissen und Handeln 26 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Die Kritische Theorie geht davon aus, daß wissenschaftliche Tätigkeit nur im Zusammenhang mit Gesellschaft verstanden werden kann ist kritisch gegen eine ungerechte Gesellschaft gerichtet mit dem Interesse an einer künftigen Gesellschaft freier Menschen keine Trennung von Wertvorstellungen und Tatsachen, es gibt keine wertfreie Wissenschaft begreift Theorie und Praxis als Einheit verweist auf den historischen Charakter der Gegenstände und der Wissenschaft daraus ergeben sich folgende Konsequenzen für die Kritische Theorie: der Forscher ist selbst ein Teil der Gesellschaft, die er untersucht die Wertvorstellungen des Forschers sollen offengelegt werden nur Theorie und Empirie gemeinsam können die Gesellschaft beschreiben Selbstreflexion muß integraler Bestandteil der Forschung sein Es muß immer die Frage nach dem gesellschaftlichen Sinn von Phänomenen gestellt werden Die Studie zu Autorität und Familie 1936 ging Erich Fromm der Frage nach, wie es möglich ist, daß sich so viele Menschen Autoritäten unterwerfen, ihren eigenen Willen ausschalten und blinden Gehorsam zeigen. Er geht davon aus, daß äußere Zwänge von psychischen Mechanismen gestützt werden. Für Fromm ist es das Über-Ich die psychische Instanz, die das Gewissen und verinnerlichte Verbote repräsentiert; dieses Über-Ich wird im Zuge der Erziehung in der patriarchalischen Kleinfamilie vor allem durch den Vater sozialisiert. Das Über-Ich wird dann auf andere Autoritäten übertragen. Die Lust am Gehorchen, die Fromm im Hitler-Deutschland beobachten konnte, ist für ihn ein Zug der Struktur des masochistischen Charakters; während der autoritäre Charakter, den jeder hat, auch sadistische Züge aufweist. Der Autoritäre Charakter zeigt also Sympathien für den Mächtigen und Aggressionen gegen den Wehrlosen. Der sadomasochistische Charakter wird durch die ökonomische Struktur erzeugt: je schlechter die ökonomische Lage einer Person, desto größer ist die Angst. An diese Situation paßt sich das Individuum durch die Ausbildung einer sadomasochistischen Charakterstruktur an. Das erklärt auch, warum Hitler seine fanatischsten Anhänger im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum hatte. Die Furcht vor der Freiheit Die Individuation des Menschen ist ein Prozeß der Loslösung von primären Bindungen in der Kindheit. Dadurch wird einerseits das Selbst gestärkt, andererseits kommt es aber zur zunehmenden Vereinsamung. Fromm spricht vom Doppelgesicht der Freiheit. Derselbe Prozeß geht auch im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vor sich. Bei vielen Menschen kommt es angesichts der positiven aber auch negativen Seiten der Freiheit zu einer Flucht vor der Freiheit ins Autoritäre, ins Destruktive und ins Konformistische. 27 Erstellt von Pia Lichtblau Schülein/Brunner: Soziologische Theorien Geschichte und Fortschritt Horkheimer und Adorno legten mit der „Dialektik der Aufklärung“ die Grundlage für die Weiterentwicklung der Kritischen Theorie in der Nachkriegszeit. Sie stellten fest, daß es Hand in Hand mit der Aufklärung zu einer Unterwerfung der Natur unter menschliche Zwecke kam. Da der Mensch selbst aber auch Natur ist, gehen sie davon aus, daß er sich selbst unterwirft, indem er seinen Körper zahlreichen Disziplinierungsmaßnahmen unterzieht. Durch die hemmungslose Ausbeutung der Natur entfremdet sich der Mensch immer mehr von ihr, die Ausbreitung von Wissenschaft und Technik wird als Zerfall interpretiert. Die Beschädigungen, die die Psyche dadurch erleidet, machen die totalitären Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts überhaupt erst möglich. Kulturtheorie und Gesellschaft Kultur wird nicht abgehoben von der Gesellschaft, sondern immer im Zusammenhang mit ihr gesehen. Kunstwerke sind immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Tendenzen, sie können Sehnsüchte nach einer anderen Gesellschaft ausdrücken, die bestehenden Verhältnisse kritisieren etc. Im 20. Jahrhundert spaltet sich die Kultur in industriell erzeugte Massenkultur (Kulturindustrie) und der avantgardistischen Kultur. Massenkultur: alle utopischen Momente werden getilgt aus Kultur wird Unterhaltung. Sie führt nach Adorno zur Manipulation des Bewußtseins der Massen sie ist völlig der Ökonomie unterworfen. Nicht mehr künstlerische Leistungen zählen, sondern Vermarktung und Absatz dadurch, daß Kulturgüter zu Waren werden, büßen sie ihren ästhetischen Wert ein Massenkultur dient auch dazu, Menschen mit der Realität zu versöhnen, sie quasi ruhigzustellen und an die herrschenden Verhältnisse anzupassen. Herbert Marcuse beschreibt in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ die Auswirkungen des Massenkonsums, die auf den ersten Blick als sozialer Fortschritt erscheinen. Problematisch dabei ist die Möglichkeit der sofortigen Bedürfnisbefriedigung: kaum entsteht ein Bedürfnis, kann es auch schon befriedigt werden, sodaß man gar nicht mehr dazu kommt, über das Bedürfnis nachzudenken. 28