Liberalismus in Deutschland und in der Schweiz

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Liberalismus in Deutschland und in der Schweiz
Robert Nef, Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts in Zürich, Potsdam, den 22.
Sept. 2011, [email protected]
Ein satirischer Auftakt von Andreas Thiel (aus: Weltwoche Nr. 38, 11 vom 22.
September 2011)
„Schweizer: und wie geht es denn so in Deutschland?
Deutscher: Wir haben Probleme mit unserem Geld. Es ist nichts mehr wert. Und wie
geht es in der Schweiz?
Schweizer: Wir haben auch Probleme mit unserem Geld. Es ist zu viel wert.
Deutscher: Aber die UBS hat doch soeben ein paar Milliarden verloren.
Schweizer: Ja, das Geld musste weg. Wir haben zur Zeit einfach zuviel davon.
Schade ist bloss, dass die UBS dieses Geld ausgerechnet jetzt verloren hat, wo es
so viel wert ist. Das haben die Politiker mit dem Gold besser gemacht. Die haben die
Goldbestände aufgelöst als das Gold am wenigsten wert war. So tat es nicht so weh.
Deutscher: Und was machen sie hier in Deutschland?
Schweizer: Im Moment halten sich die meisten Schweizer in Deutschland auf. Es ist
zur Zeit billiger in Deutschland zu shoppen als in der Schweiz zu arbeiten.
Deutscher: Ist denn in der Schweiz gar niemand mehr am Arbeiten?
Schweizer: Doch, doch. Die Deutschen arbeiten noch in der Schweiz. Ich verstehe es
ehrlich gesagt nicht, weshalb Deutschland mit seinen hohen Steuern seine Arbeiter
ins Ausland vertreibt. Deutschland würde anstelle seiner Fachkräfte auch besser
seine Politiker fortschicken.
Deutscher: Meinen Sie?
Schweizer: Aber sicher. Schicken Sie doch Frau Merkel als Präfektin nach
Fukushima oder sonst in ein Erdbebengebiet, die kann ja nichts erschüttern. Sarkozy
ist ja auch nur in Libyen einmarschiert, um dort Gaddafi den Titel „König von Afrika“
streitig zu machen.
Deutscher: Ist das wahr?
Schweizer: Ja, Angela Merkel und Silvio Berlusconi haben sich auch schon
Gedanken über die Aufteilung Frankreichs gemacht: Angela kriegt Frankreich und
Silvio Carla Bruni.“
1. Die Fallstricke des Vergleichens
Wer typisiert, blendet Individualitäten aus und tut nicht nur vielen Individuen Unrecht,
sondern auch jenen, denen man die Zwangsjacke eines Typus verpasst. Vergleiche
sind darum gefährlich, weil sie auf unzulässigen Vereinfachungen beruhen. Je
spezifischer man die Vergleichskriterien wählt, desto mehr Unterschiede findet man.
Je genereller die Betrachtungsweise ist, desto mehr nähert man sich jenen
anthropologischen Gegebenheiten, bei denen nicht nur individuelle Eigenheiten,
sondern auch nationale Eigenschaften immer weniger relevant werden.
In der Geschichte der politischen Ideen und der darauf abgestützten Parteien gibt es
zwei typische Grundpositionen. Die einen fokussieren sich auf die Parteien als ein
politisches Phänomen, das frühestens auf die Entstehungszeit moderner
europäischer Territorialstaaten also im 17. Und 18. Jahrhundert zurückgeführt
werden kann und eigentlich erst seit der Einführung von Parlamenten nach der
Englischen, nach der Französischen und nach der Amerikanischen Revolution zum
Thema wird.
In dieser kurzfristigen Betrachtungsweise ist der Liberalismus als anti-rechte
Bewegung gegen die absolutistische Unterdrückung, gegen die klerikale
Bevormundung und gegen die konservative Erstarrung im 18. Jahrhundert im
aufsteigenden Bürgertum des Aufklärungszeitalters entstanden.Er hat dann im 19.
Jahrhundert im neu entstandenen Sozialismus einen zweiten Gegner zur Linken
gefunden und überlebt seither in der Mitte zwischen diesen beiden polarisierten
Grundströmungen als relativ elitäre Gruppierung mit schwindendem Einfluss.
Da die Geschichte der Unterdrückung, Bevormundung und Befreiung in Europa
durchaus unterschiedlich und nicht synchron verlaufen ist, sind die sich jeweils liberal
nennenden Parteien sehr unterschiedlich. Die Gegner der Freiheit sind keineswegs
überall dieselben und beim gemeinsamen Kampf um mehr Freiheit, sind sehr
unterschiedliche Koalitionen und Zweckbündnisse geschlossen worden und auch in
Zukunft denkbar.
Den typischen Deutschen Liberalen gibt es darum so wenig wie den typischen
Schweizer Liberalen. Der Liberalismus hat sich in Deutschland und in der Schweiz
als Partei der Mitte zwischen dem Konservatismus und dem Sozialismus etabliert
und hat sich in unterschiedlichen historischen und regionalen Umfeldern ebenfalls
unterschiedlich profiliert.
Eine längerfristige Betrachtungsweise des Liberalismus knüpft an einem
anthropologischen Urbedürfnis zur individuellen Selbstentfaltung und zur Ablehnung
von Zwang und von subtileren Formen der Fremdbestimmung an. In dieser Sicht ist
der Liberalismus als Ablehnung von Fremdherrschaft, Zwang und Bevormundung so
alt wie die Geschichte der Menschheit.
Ich neige zur zweiten Betrachtungsweise, und darum ist für mich die Schrumpfung
der freisinnigen Partei der Schweiz von über 60 Prozent Wähleranteil 1848 auf 17
Prozent 2008 noch kein Grund, den Untergang des Liberalismus zu prognostizieren.
Liberales Gedankengut ist zwar in den letzten 50 Jahren auch in andere
Parteiprogramme eingeflossen, aber insgesamt hat der Liberalismus gegenwärtig
auch in der Schweiz keine Hochkonjunktur.
Dasselbe gilt für mich beim Blick über die Nordgrenze. Die schlechten Wahlresultate
der deutschen FDP sind alarmierend und schockierend, aber kein Grund, eine
liberale Götterdämmerung zu prognostizieren.
Ich präsentiere heute kein Rezept für einen künftigen Wahlerfolg der FDP. Ich bin
auch kein Experte für liberale Wahlerfolge, obwohl ich in den 70er Jahren den in der
Schweiz damals erfolgreichen Slogan „Mehr Freiheit – weniger Staat“ lanciert habe.
Die FDP der Schweiz hat in der Folge allerdings ihren eigenen Slogan wenig
beherzigt, und sie hat den massiven Ausbau des Sozialstaates in der Achtziger- und
Neunzigerjahren aktiv mitgetragen.
Häufig sind Experten Personen, die andern auswärts Ratschläge erteilen, die sie
zuhause selbst nicht befolgen können oder wollen.
Ich möchte den Vergleich anhand eines Blicks in die Geschichte durchführen. Der
grosse liberalkonservative Basler Historiker Jacob Burckhardt hat in seinen
„Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ darauf hingewiesen, dass uns Geschichte zwar
nicht „klug für ein andermal“ aber „weiser für immer“ machen kann.
2. Der deutsche Liberalismus – von aussen gesehen
Ich werfe zuerst einen kurzen Blick in die deutsche Parteiengeschichte, wie ich sie
von aussen wahrnehme. Ich stütze mich dabei auf eigene Beobachtungen und auf
die Lektüre des originellen und selbstkritischen Buchs von Ralph Raico. (Die Partei
der Freiheit, Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Lucius, Stuttgart
1999).
Die Geschichte des deutschen Liberalismus ist für mich eine Geschichte der
verfehlten Koalitionen. Die Liberalen haben sich im Lauf der Geschichte immer
wieder ins falsche politische Lotterbett gelegt. Der gravierendste Fehler war die
Verknüpfung mit dem zentralistischen deutschnationalen Gedankengut im 19.
Jahrhundert, das sich anfangs des 20. Jahrhunderts mit einer antisemitisch
durchsetzten marktwirtschaftsfeindlichen Kapitalismuskritik in fataler Weise
verbunden hat.
Dieser grobe Verstoss gegen liberale Grundsätze hängt mit einer teils manifesten
und teils latenten Feindlichkeit gegenüber Handel und Spekulation zusammen, ja mit
einer generellen Verachtung für das rein Wirtschaftliche. Diese Geringschätzung
lässt sich in Kontinentaleuropa bis ins klassische Altertum zurückverfolgen. Die alten
Griechen überliessen die produktive Arbeit den Sklaven und nannten nicht
politisierende Privat- und Geschäftsleute „idiotes“.
Viele Deutsche (und auch viele Franzosen) distanzieren sich von der
angelsächsischen und auch von der schweizerischen „Krämerseele“ jenes homo
oeconomicus, der als zentralen Wert die Mehrung des materiellen Wohlstandes auf
offenen Märkten durch Tausch und horizontale Arbeitsteilung anstrebt. Als ehrlich
und produktiv gilt nur, was Bauern und Arbeiter an Mehrwert schaffen, der Handel,
die Finanzindustrie und die oft grenzüberschreitenden Dienstleistungen sind suspekt.
Diese Wirtschaftsskepsis hat sich in Deutschland seit Jahrhunderten mit einer
Glorifizierung des Begriffs der Ehre, der Gefolgschaft und der vertikalen
Subordination verbunden. Der höchste soziale Wert war bis in die Mitte des letzten
Jahrhunderts nicht die Mehrung des materiellen Wohlstandes für alle, sondern eine
disziplinierte Solidarität, die sich in der vorbehaltlosen Pflichterfüllung manifestiert:
Freiheit als Möglichkeit, seine Pflichten freiwillig zu erfüllen.
Trotzdem haben Deutsche zur Geschichte der Freiheitsidee grosses und bleibendes
beigetragen. Ich erwähne hier acht persönlich ausgewählte „Leitsterne“ von
unterschiedlichem Bekanntheitsgrad. Besonders nahe steht mir als Eidgenosse
Friedrich Schiller, der in seinem Wilhelm Tell nicht nur den tiefsinnigen und immer
noch tragfähigen Schweizer Staatsmythos geschaffen hat, sondern mit dem
Rütlibund auch seine idealisierte liberal-konservative Alternative zur Französischen
Revolution dichterisch gestaltet hat.
Immanuel Kant (1724 -1804)
Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835)
Friedrich Schiller (1759 – 1805)
Ludwig Bamberger (1823 – 1899)
Eugen Richter (1838 – 1906)
Walter Eucken (1891 – 1950)
Wilhelm Röpke (1899 – 1966)
Ludwig Erhart (1897 – 1977)
Dazu vier exemplarische Zitate, die ich für besonders aktuell halte:
„Der Staat arbeitet vielleicht, wenn er neue Institutionen einsetzt, mit einer gewissen
Schärfe. Regelmässigkeit und Strammheit, aber dass ihm auf die Länge der Stimulus
fehlt, der aus der Konkurrenz entspringt, die Verbesserungslust, die Lust das
Publikum heranzuziehen, und sich dessen Dankbarkeit durch wachsende
Dienstwilligkeit zu erwerben – dass ihm dies fehlt, ist doch keine Frage.“
Ludwig Bamberger, Stenographische Berichte des Reichstags, 1881 I b, S. 704, zit
in: Ralph Raico, Die Partei der Freiheit, Stuttgart 1999, S. 167
Den rechten Kämpfer jedoch für die Rechte und Freiheiten des Volkes erkennt man
daran, dass er auch in den für den Liberalismus ungünstigen Zeiten auf dem Platze
bleibt.
Eugen Richter, stenographische Berichte des Reichstages, 1884 d, S. 1115, zit in:
Ralph Raico, Die Partei der Freiheit, Stuttgart 1999, S. 87
„Manchesterpartei. Manchester ist eine Stadt in England, in welcher seiner Zeit die
Ideen und Interessen des Freihandels vorzugsweise vertreten waren. Die
Schutzzöllner legen den deutschen Freihändlern gern diesen ausländischen Namen
bei, obwohl die deutschen Freihändler nicht um englische Interessen, sondern um
deutsche Interessen willen für den Freihandel eintreten. Abgesehen von Freihandel
und Schutzzoll wird auch diejenige Richtung als Manchesterpartei bezeichnet,
welche den Gegensatz zum Staatssozialismus und zur Sozialdemokratie bildet und
in erster Reihe überall für die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft auf
wirtschaftlichem Gebiet eintritt und Beschränkungen dieser Freiheit nur soweit
zulassen will, wie die Notwendigkeit und Nützlichkeit derselben im Einzelnen
unzweifelhaft erwiesen werden kann.
Das Programm der wirtschaftlichen Freiheit für die Gesetzgebung stammt nicht aus
Manchester, der englischen Fabrikstadt, sondern aus der preußischen
Gesetzgebung von Stein und Hardenberg aus den Jahren 1808 und 1810. Die
Gegner werfen dem Prinzip vor, daß es die Förderung der Selbstsucht bezwecke.
Gerade umgekehrt! In der Freiheit findet die Selbstsucht eine Schranke in der
Selbstsucht des Andern. Derjenige, der möglichst teuer verkaufen will, findet ein
Hindernis in den Bestrebungen derjenigen, die möglichst vorteilhaft kaufen wollen.
Wird dem einen mit dem andern Teil die Freiheit gelassen, so müssen beide ihre
Selbstsucht dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Wenn aber jemand behindert
wird, so billig wie möglich zu kaufen, z. B. durch Zollbeschränkung der Einfuhr aus
dem Auslande, während der andere Teil nicht verhindert wird, so teuer wie möglich
zu verkaufen, beispielsweise durch Ausfuhr nach dem Auslande, so wird gerade die
Selbstsucht des Einen auf Kosten des Andern unterstützt und statt der Gerechtigkeit
ein System der Ungerechtigkeit begünstigt.“
Eugen Richter, Politisches ABC, 9. Auflage, 1896, S. 236
The European, 19. 07. 2010. Interview mit Götz Aly: „Hätte ein echter Liberalismus
die Deutschen vor der Nazi-Diktatur bewahren können?
Götz Aly: Das wäre die einzige politische Kraft gewesen, die das im Angesicht der
Weltwirtschaftskrise hätte leisten können. Nur war der echte Liberalismus da schon
50 Jahre lang tot. Man muss sich immer klarmachen, dass die antisemitischen
Organisationen, die seit 1880 in Deutschland entstanden, nicht einfach Bewegungen
waren, die das Ziel verfolgten, Juden zu entrechten, zu enteignen oder zu vertreiben.
Vielmehr zielten die antisemitischen Parteien allesamt auf eine aktive Sozialpolitik
zugunsten der kleinen Leute. Adolf Stoecker, der berühmt-berüchtigte antisemitische
Hofprediger am Berliner Dom, war ein bedeutender Vorkämpfer des Bismarck‘schen
Sozialversicherungssystems. Viele deutsche Demokraten, Freiheitshelden und selbst
manche Sozialisten, die aus verschiedenen Gründen zu Recht in unseren
Geschichtsbüchern geehrt werden, taten sich gleichzeitig als Judengegner hervor.
Wir können das Gute und Böse in der deutschen Geschichte nicht genau trennen.“
3. Die deutsche Seele und die Ökonomie
Dazu einleitend ein Zitat:
Roland Tichy, Anmerkungen zur Zukunft des Kapitalismus. Schweizer Monatshefte,
Ausgabe Nr. 943, August 2009
«Denk' ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht». So
formulierte es der Romantiker Heinrich Heine 1844 («Deutschland. Ein
Wintermärchen»), wobei es ihm weniger um die wirtschaftliche Lage Deutschlands in
der Mitte des 19. Jahrhunderts ging, sondern um seine geistige und politische
Verfassung in der reaktionären Ära Metternich.
Das ist ja das Seltsame in Deutschland: Der aufgeblähte Sozialstaat nährt längst
nicht mehr die Armen, auch nicht mehr die Mittelschicht, sondern fast ausschliesslich
sich selbst. Sozialdemokraten und Grüne haben das zu Schanden geritten, wofür sie
angeblich kämpfen: Die soziale Absicherung der schwächeren
Bevölkerungsgruppen. Es ist eine ungeheuerliche Bilanz der Scheiterns an den
eigenen Massstäben und Ansprüchen.
In Deutschland fehlt erstens die Tradition einer echten Freiheitspartei, wie sie in fast
allen anderen demokratischen Ländern vorhanden ist. Die regierende SPD fällt aus,
weil in ihr die «Freiheit von Not und Sorge» als Paradigma des politischen Handelns
immer das Versorgungskollektiv voranstellt und den ebenso fürsorgenden wie
bevormundenden bürokratischen Staatsapparat als unabdingbar hält. Aber auch die
CDU fällt weitgehend aus, weil sie sich selbst gefesselt hat mit der Betonung des
Sozialen in der «sozialen Marktwirtschaft». Auch die FDP ist allenfalls eine Partei des
Gefälligkeitsliberalismus, die zwar in hehren Worten die richtigen Ziele preist, aber im
politischen Alltag mit der Freiheit schon vor so einfachen Dingen wie dem
Versorgungsprivileg der Apotheken oder der mittelalterlichen Handwerksordnung
Halt macht. Gelegentliche Anfälle von Wirtschaftsliberalismus sind begrüssenswert,
aber verlangt ist sehr viel mehr: Eine Stärkung unterschiedlicher gesellschaftlicher
Kräfte und ihrer Aufgabenfelder, damit diese mit unterschiedlichen gedanklichen,
sozialen und wirtschaftlichen Konzepten in Wettbewerb treten können.“
Die Frage, was denn zum „harten Kern“ der desLiberalismus gehört und was sich im
Lauf der Geschichte mit guten und weniger guten, z.T. historischen z.T. auch
tagespolitischen Gründen zu partei- und machtpolitischen Koalitionen
zusammengefunden hat, darf, ja, muss gestellt werden. Ich benütze für die
Bestimmung des „harten liberalen Kerns“ die englischen Adjektive von Antony de
Jasay, der zwischen „strict“ und „loose“ unterscheidet. Die „strict liberals“ gehen von
einem negativen Freiheitsbegriff aus, während die „loose liberals“ nach einer vom
Staat vermittelten (oder gar gewährten und gestalteten!) positiven Freiheit Ausschau
halten.
Die anti-imperialistischen, pazifistischen und freihändlerischen Manchester-Liberalen
waren „strict liberals“ und man hat sie in der Ideengeschichte – selbst unter „loose
liberals“ - voreilig als „asozial“ und „vaterlandslos“ diffamiert. Ihre Ablehnung des
„Interventionismus zugunsten verschiedener Lobbies“ hatte neben freiheitlichen echt
soziale Motive. Namen wie Cobden, Bright und Bastiat sind heute zu Unrecht nur
noch wenigen Spezialisten bekannt.
Die „liberals“ in den USA sind sozialdemokratisiert, weil sie an einem positiven, vom
Staat vermittelten Freiheitsbegriff anknüpfen. Die grösste Verwirrung hat in
Deutschland Friedrich Naumann mit seinen christlich-demokratisch, national – sozialimperialistischen Parteibündnissen angerichtet.
Noch heute klingt der Begriff „wirtschaftsliberal“ in Deutschland eher abwertend. Der
von den deutschen Idealisten favorisierte Freiheitsbegriff bezieht sich auf „das
Wahre, das Schöne und das Gute“, während die auf die Wirtschaft abgestützte (und
in der Schweiz durchaus geschätzte) Trias des Nützlichen, Praktischen und
Tauglichen in der Werteskala tiefer rangiert werden.
4. Non-Zentralismus – ein zentrales liberales Anliegen
Die Liberalen des 19. Jahrhunderts waren sowohl in Deutschland als auch in der
Schweiz und in Italien mehrheitlich Anhänger des nationalen Zusammenschlusses
durch Zentralisierung. Hätten diese Liberalen doch etwas mehr Benjamin Constant
gelesen! Mit seiner originellen 5-Gewalten- Lehre, bricht der „pouvoir municipal“ und
der „pouvoir neutre“ jene politische Macht, die sich in den drei Gewalten heute auf
allen Stufen immer mehr zugunsten der zentralen Exekutiven akkumuliert.
Die Vermischung von Liberalismus und nationalem Zentralismus im 19. Jahrhundert
halte ich nach wie vor nicht für ein Essentiale des historischen Liberalismus, sondern
für eine bedauerliche und folgenreiche Verirrung. Die leider nur teilweise erfolgte
Trennung von Kirche und Staat war aus liberaler Sicht für beide Beteiligten hingegen
ein Fortschritt, die damit verknüpfte weitgehende Ersetzung des Gottesglaubens
durch den Glauben an den Staat ein folgenreiches Unglück. Die ebenfalls strikt
liberale Trennung von Staat und Wirtschaft, bzw. Staat und Kultur ist leider im 20.
Jahrhundert, einem Jahrhundert der (Welt)Kriege und Krisen, bisher (aus liberaler
Sicht: leider) nicht vorangekommen.
Dass der politische Liberalismus sich im 19. und 20. Jahrhundert mit dem nationalen
Zentralismus verbündet hat, ist eine historische Tatsache und wohl auch einer der
Gründe für den damaligen Erfolg in den USA und in der Schweiz. Die Liberalen
waren zwar in Koalition mit den Befürwortern der nationalen Einheit erfolgreich. Sie
haben aber einen Überschuss an nationalistischer Energie entfesselt und tragen eine
Mitverantwortung an den Katastrophen der Weltkriege, die ja Nationenkriege waren.
Rückblickend war es m. E. ein Fehler, dass sich die Liberalen im 19. Jahrhundert mit
Nationalisten und Zentralisten ins ideologische Lotterbett gelegt haben.
Die Manchester-Liberalen waren mit ihrer seinerzeit auch innerliberal als „überholt“,
„vaterlandslos“ und „asozial“ angeprangerten antiinterventionistischen und
antiimperialistischen Politik nicht rückständig, sondern hellsichtig. Sie befürworteten
schon damals den globalen Freihandel und kritisierten die wachsende Staatsmacht,
die zwangsweise Umverteilung, den Interventionismus, den Zentralismus, die
Bürokratie, die Hochbesteuerung, den Imperialismus und den Bellizismus. Sie waren
nicht „paläoliberal“, sondern postnationalistisch. Nationalismus führt – vor allem in
Kriegs- und Krisenzeiten - zu einer nationalen korporatistischen Ökonomie und, in
Kombination mit progressiver Besteuerung und dem Mehrheitsprinzip, zum
entmündigenden Sozialstaat. Dies ist ein Verrat an den liberalen Ideen des globalen
Freihandels und der zivilgesellschaftlichen Eigenständigkeit.
Die Koalition der Liberalen mit den Nationalisten war erfolgreich, aber aus
ideengeschichtlicher Sicht verfehlt. Nationale Vereinheitlichung und Zentralisierung
schafft mehr Macht, und diese Macht kann als Gegenmacht tatsächlich auch gegen
Freiheitsfeinde eingesetzt werden. Was in der Startphase aussenpolitisch das
Überleben in einem freiheitsfeindlichen Umfeld ermöglicht, trägt den Keim des
ebenfalls freiheitsfeindlichen innenpolitischen Etatismus in sich.
Freiheit kann auf die Dauer nicht durch den Staat von oben erzwungen und nach
aussen verteidigt werden. Sie entsteht in vielfältigen experimentell offenen
kommunikativen Lern- und Wettbewerbsprozessen immer wieder neu. Auch die von
Liberalen gehandhabte nationale Zentralmacht korrumpiert die Regierenden, vor
allem wenn das Mehrheitsprinzip ohne wirksame Bremsen etabliert ist.
Das Gegenmittel ist ein Wettbewerb von kleinen politischen Einheiten, der
konsequente Minderheitenschutz und der Vorrang der Privatautonomie vor dem
politischen Zwangsapparat. Die Idee der Freiheit, die von den Freunden der
nationalen Einheit lanciert wurde, muss also aus der Umklammerung des nationalen
und übernationalen Zentralismus gelöst werden. Die permanente Entgiftung der
Macht ist durch friedlich konkurrierende kleine politische und fiskalische
Gebietskörperschaften (mit Exit-option) zu gewährleisten und durch eine möglichst
wenig politisierte offene Zivilgesellschaft. Diesen Weg habe ich in meinen Büchlein
“Lob des Non-Zentralismus” (St. Augustin, 2002) zu skizzieren versucht.
Ich war bei der Niederschrift dieser Collage von Zitaten und Selbstzitaten vor gut 8
Jahren noch unsicher, ob die Idee des Non-Zentralismus genuin liberal und mit
einem zeitgemässen politischen Liberalismus voll kompatibel sei, oder ob sie als ein
eigenständiges, „teils ergänzendes, teils konkurrierendes Prinzip“ begriffen werden
müsse. Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Liberalen des 19. Jahrhunderts die
Idee der zentralistischen, nationalen Einheit in Abweichung von Grundprinzipien der
Freiheit (Machtkritik, Individualismus, Vielfalt, Minderheitenschutz und Wettbewerb)
propagiert haben. Sie taten dies als Alternative zur konservativen, feudalistischen
(aber - mindestens in der Donaumonarchie und im Vor-Bismarck’schen Deutschen
Reich - immerhin pluralistischen) Reichsidee und zur geschlossenen Zunft- und
Klientelwirtschaft. Die Liberalen wurden so – möglicherweise ohne dies zu wollen –
von der Idee des bürokratisch-zentralistischen und demokratisch-egalitären
Etatismus gravierend infiziert.
Eine Aussöhnung mit den konservativen Föderalisten und Lokalisten (auf der Basis
des Subsidiaritätsprinzips mit strenger Beweislast bei den Etatisierern und
Zentralisierern) und den pazifistischen, anti-imperialistischen Manchester-Liberalen
wäre zukunftsträchtiger gewesen als wechselnde Koalitionen mit zentralistischen
Nationalisten und Sozialdemokraten, durch die sich liberale Parteien in Europa
mindestens teilweise an der Macht beteiligen konnten. In der Schweiz konnten sie,
trotz schwindender Wählerzahlen, ihre Vormachtstellung relativ lange behaupten.
Die Liberalen konzentrierten sich am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Europa
auf den bürgerlichen Anti-Sozialismus und Anti-Marxismus und ignorierten die
anarchistische und die marxistische Staatskritik, wie sie etwa vom Austromarxisten
Franz Oppenheimer in seinem Standardwerk, „Der Staat“, bereits 1907 formuliert
worden ist.
Die nach den nationalistisch-zentralistischen Verirrungen des 19. Jahrhunderts fällige
ideologische Neuausrichtung eines freiheitlichen, staatsskeptischen Liberalismus hat
der kollektive nationalistische Wahnsinn des Ersten Weltkrieges vereitelt. Dieser
Krieg, den Georg F. Kennan mit guten Gründen eine politisch-zivilisatorische
Katastrophe grössten Ausmasses genannt hat, hatte auch ideengeschichtlich und
ökonomisch schlimme Folgen, die bis heute nachwirken. Jeder Krieg führt zu einer
Etatisierung und Nationalisierung von Wirtschaft und Kultur. Auch eine europaweit
mögliche staatsskeptische Neuausrichtung des Sozialismus fand in der Folge nicht
statt. Eine Mehrheit der Arbeiter (bzw. ihrer Führer) verrieten die internationale
Solidarität, und wurden sehr schnell zu sozialistischen Nationalisten.
Ein Dialog zwischen staatsskeptischen Liberalen und ebenfalls staatsskeptischen
Linken hätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglicherweise zu neuen
konstruktiveren und zentralismus-kritischeren Koalitionen geführt als der gegenwärtig
vorherrschende, von niemandem wirklich aktiv getragene (und auch nicht nachhaltig
weiter praktizierbare) sozialdemokratische Mittelinks-Kompromiss im zunehmend
verschuldeten Wohlfahrtsstaat. Der kollektive Wahn des etatistischen Nationalismus
in Kombination mit dem sozialistischen Umverteilungsstaat ist m. E. eine Folge der
Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die partei- und ideengeschichtlich bis heute
noch nicht überwunden ist.
Die USA leiden ihrerseits an den Flügelkämpfen ihrer beiden Massenparteien und
unter einem politischen System, das die politische Macht beim jeweiligen
Präsidenten personalisiert und zentralisiert. Dabei steht immer noch die
zunehmenden Rolle (und Verschuldung) des Central Government im Mittelpunkt der
Konflikte. Dies ist ein Problem, das seit dem blutigen amerikanischen Bürgerkrieg,
den die Zentralisten des Nordens gewonnen haben, ungelöst geblieben ist.
Mein Non-zentralismus - Mentor ist der Schweizer Historiker Adolf Gasser (mit
seinem Buch „Die Gemeindefreiheit als Rettung Europas“, Basel 1947). Ich habe ihn
in den 70er Jahren in einer Subkommission der FDP zum Thema Totalrevision der
Bundesverfassung noch persönlich kennengelernt, bin aber seinem
beeindruckenden, originellen und zu wenig beachten historisch-politischen Werk erst
später begegnet.
5. Zur Geschichte des Liberalismus in der Schweiz:
Der Übergang vom lockeren Staatenbund zum Bundesstaat ist das Resultat eines
historischen Prozesses, der sich zwischen 1798 und 1948 abgespielt hat und der
1847 zu einem Bürgerkrieg zwischen konservativen Föderalisten und liberaldemokratischen Unitariern führte. Der Oberkommandierende der siegreichen
Antiföderalisten war der liberal-konservative Genfer Henri Dufour. Er war ein
militärisches Genie mit viel Sympathie für seine militärischen Gegner, d.h. für die
föderalistischen Sonderbündler. Sein ziemlich unblutiger Sieg in jenem
„Sonderbundskrieg“ genannten Bürgerkrieg und sein politischer Respekt vor seinen
antizentralistischen Gegnern ist eines der Erfolgsgeheimnisse des in der Folge
gegründeten Bundesstaates: tatsächlich ein geschichtlicher Sonderfall.
Die Gründer des Schweizerischen Bundesstaates von 1848 waren Pragmatiker, die
ausser dem Text der amerikanischen Verfassung wenig gelesen hatten.
Die 12 Erfolgsgeheimnisse der 1848er- Schweiz lassen sich wie folgt auflisten:
1. Funktionierende non-zentrale, nicht funktionierende zentrale Strukturen.
2. Diskriminierung von aussen, keine anhängig-machende Hilfe, aber keine
militärische Aggression.
3. Kostengünstige Verteidigung und Zentralverwaltung, niedere zentrale Abgaben.
4. Wettbewerb der Systeme durch friedliche Vielfalt, Nebeneinander, Kommunikation,
Mehrsprachigkeit.
5. Offenheit für Immigranten.
6. Günstige Industriestandorte mit gutem Humankapital, Fabriken auf dem Land, kein
städtisches Proletariat.
7. Gutes Humankapital, kleine urbane Zentren, Bildung, Fleiss.Hoher Gruppenethos,
fleissige vorbildliche Eliten, die einfachen Lebensstil pflegen.
8. Politische Strukturen die nicht polarisieren; Strukturen welche die Eigeninitiative
fördern, Selbstverwaltung, Selbstorganisation, Verunmöglichung von Extremismus
und Machtballung bei einzelnen Personen und Familien.
9. Keine wohlfahrtsstaatliche Umverteilung, weder interpersonell noch interregional.
10. Keine Professionalisierung der Politik. Kein Berufsbeamtentum. Niedere
Spezialisierung, Polyvalenz der Eliten, Milizprinzip in allen Bereichen.
11. Brauchbarer, tiefsinniger, identitätsstiftender Staatsmythos: Wilhelm Tell/Rütli.
Nach der Gründung des Bundesstaates war die Zusammensetzung des Parlaments
während mehr als 70 Jahren von der vorherrschenden freisinnigen Partei geprägt.
Sie hatte im Nationalrat die Mehrheit der Sitze. Diese Vormachtstellung ist im
Wesentlichen auf das damals gültige Majorzwahlsystem zurückzuführen, welches die
grossen Parteien stärkte und die Teilnahme der kleineren Parteien an der
eidgenössischen Politik behinderte.
Sozialdemokraten und Konservativ-katholische versuchten zweimal, das als
gerechter geltende Proporzsystem einzuführen, scheiterten aber sowohl 1900 als
auch 1910. Erst 1919, nach dem ersten Weltkrieg und dem Generalstreik von 1918,
wurde eine entsprechende Vorlage vom Volk angenommen.
Der Wechsel des Wahlsystems hatte unmittelbare Auswirkungen auf die
Zusammensetzung des Nationalrats. Bei den Nationalratswahlen vom Oktober 1919
verloren die Freisinnigen 46 ihrer 104 Sitze, während die Anzahl Sitze der
sozialdemokratischen Partei von ursprünglich 19 auf 41 stieg. Gleichzeitig nahm eine
neue politische Gruppierung im Bundeshaus Einzug: die Bauern- Gewerbe- und
Bürgerpartei, Vorgängerin der SVP.
Seit der Einführung des Proporzsystems ist die Sitzverteilung im Nationalrat von
grosser Stabilität gekennzeichnet, mit 4 Parteien (FDP=Freisinnig- demokratische
Partei), CVP = Christlich- demokratische Volkspartei, SP = Sozialdemokratische
Partei und SVP= Schweizerische Volkspartei), die über mehr als 80 Prozent der
Sitze verfügen. Während Jahrzehnten blieb die Sitzverteilung unter diesen Parteien
praktisch gleich, mit zwei Dritteln bei den bürgerlichen Parteien und einem Drittel bei
den Sozialdemokraten.
Seit dem Jahr 2000 wird jedoch eine für die Schweiz ungewöhnliche Verschiebung
der politischen Kräfteverhältnisse registriert. Unter den vier grossen Parteien, die
weiterhin die absolute Mehrheit der Sitze inne haben, hat sich die Sitzverteilung
deutlich verändert: Die SVP hat ihren Wähleranteil zwischen 1995 und 2007 von 15
Prozent auf 29 Prozent verdoppelt. Trotz der Spaltung innerhalb der Partei mit der
Gründung der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) im Jahr 2008 bleibt die SVP
die stärkste politische Kraft im Parlament.
Die sozialdemokratische Partei hat zwar bei den eidgenössischen Wahlen im Jahr
2007 3,5 Prozent der Wählerschaft verloren. Trotzdem ist sie mit 19.5 Prozent der
Parlamentssitze die zweitstärkste Partei. Auch die grossen Mitteparteien (CVP und
FDP) mussten einen Wählerschwund hinnehmen und haben es nicht mehr geschafft,
die 20-Prozent-Quote im Nationalrat zu erreichen.
Den politischen Einfluss deutlich verstärken konnte jedoch die Grüne Partei Schweiz
(Grüne). Seit Anfang der Neunzigerjahre ist diese Partei in der nationalen Politik
präsent und ist in wenigen Jahren zur wichtigsten Nichtregierungspartei der Schweiz
geworden. Seit 2007 stellt die Partei fast 10 Prozent der Abgeordneten im
Nationalrat.
(Zit. nach www,ch.ch, Das Schweizer Portal)
6. Zur aktuellen Situation des Liberalismus und der FDP in
der Schweiz
Ein Interview mit der Zeitung „Finanz und Wirtschaft“, 30. Juli 2008 (Die
Fragen stellte Peter Kuster)
Herr Nef, FDP und SVP behaupten beide von sich, den wahren Liberalismus zu
vertreten. Welche Partei ist liberaler?
Robert Nef: Es gibt keine Partei, die mit guten Gründen sagen kann, sie sei in dieser
Hinsicht führend. Der Liberalismus ist kein geschlossener Block, es gibt Bandbreiten.
Ich würde weder der SVP noch der FDP – und den anderen Parteien schon gar nicht
– den ersten Rang geben. Geht es um Steuern und weniger Staat, ist die SVP häufig
liberaler. In Bezug auf Weltoffenheit und Freizügigkeit schwingt die FDP obenaus.
Ist die Breite der liberalen Bewegung eine Stärke oder eine Schwäche?
Für die Idee ist das eine Stärke, in der Tagespolitik eine Schwäche. Vielfalt hat zur
Folge, dass man nie geschlossen dasteht. Das ist in Abstimmungen und Wahlen
hinderlich. Es verleiht aber auch eine gewisse Immunität. Es können sich
verschiedene Leute dazu bekennen, und es kann wechselnde Mehrheiten geben.
Für die Schweiz ist auch die grössere Bandbreite innerhalb der Parteien eine Stärke.
Stehen sich die liberalen Kräfte nicht oft selbst im Weg? Im Wettbewerbsrecht will
der eine Flügel eine strenge Gesetzgebung, der andere verabscheut jegliche
staatlichen Eingriffe.
Im Wettbewerbsrecht ist das eine sehr komplexe Angelegenheit. Die aus meiner
Sicht modernere Schule vertritt eine weniger rigorose Wettbewerbspolitik und will nur
schädliche Kartelle verbieten. Lange hat man gesagt, das sei die veraltete Form,
doch herrscht in der neueren amerikanischen Literatur die Meinung vor, Kartelle
müssten vom Staat nicht bekämpft werden. Ein Wettbewerb der
Wettbewerbspolitiken ist besser als eine zentrale oder internationale Gesetzgebung.
Das ist ein innerliberaler Disput, der seit Jahrzehnten geführt wird. Mir scheint heute
eine offene Grenze für eine kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz ohnehin die beste
Hüterin eines funktionierenden Wettbewerbs zu sein.
Ist Ihr Liberales Institut ein ideologisches Feigenblatt für die Interessen der
Schweizer Wirtschaft?
Nein. Wir sind nicht aus der Wirtschaft entstanden. Vor allem am Sonntag geben sich
grosse Unternehmen liberal, bereits am Montag kooperieren sie mit den
Regierungen. Ein Beispiel ist die Pharmaindustrie, die in einem gemischten, staatlich
regulierten und subventionierten Gesundheitssystem mehr Medikamente verkaufen
kann als auf einem freien Gesundheitsmarkt. Ein anderes Beispiel ist der
Strassenbau, wo vermutlich mehr gebaut wird, als die Benützer finanzieren würden.
Im Prinzip sind die grossen Gesellschaften schon liberal, fürs eigene Geschäft neigt
man jedoch gerne zum Korporatismus. Liberal eingestellt sind eher die kleinen und
die mittleren Unternehmen.
Widerspricht das nicht der gängigen Auffassung, wonach die multinationalen
Unternehmen von möglichst grosser Offenheit profitieren, während KMU lieber in
geschützten Märkten werkeln?
Es geschieht häufig, dass ich eine Meinung vertrete, die nicht der herrschenden
Lehre entspricht. Liberale Ideen im Sinn einer tiefgehenden Macht-, Staats- und
damit Steuerskepsis sind gemäss meiner Lebenserfahrung unter den eigenständigen
mittelständischen Unternehmen am besten verankert.
Gibt es deshalb keinen prominenten ‹Club der Freunde des Liberalen Instituts› à la
FDP?
Es gibt diesen Club. Wir verfügen über 800 Adressen, die Einladungen zu unseren
Veranstaltungen erhalten möchten, vom Rentner bis zum Hochschulassistenten.
Diese Leute interessiert unsere Arbeit, und sie bezahlen 80 bis 150 Fr. pro Jahr. Das
Gros der Beiträge stammt nicht von grossen Unternehmen. Keine Gabe übersteigt
20000 Fr., und das Gesamtbudget beläuft sich auf 250000 Fr. Wir sind nicht der
Think tank der Wirtschaft, doch sind wir sehr wirtschaftsfreundlich.
Sind Sie auch ein Neoliberaler?
Mir gefällt der Begriff Neoliberalismus prinzipiell nicht, weil er ideengeschichtlich
falsch ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete sich der linke Flügel der Liberalen
als Neoliberale. Ich bin klassisch liberal oder – so sagte man damals – paläoliberal.
Wenn heute neoliberal mit markt- und wirtschaftsfreundlich gleichgesetzt wird, habe
ich nichts dagegen einzuwenden. Neo heisst neu und ist hoffnungsvoll. Ich ziehe
radikalliberal vor. Radikalliberale sind nicht staatsfeindlich, sondern staatsskeptisch.
Wir misstrauen dem Staat, besonders dann, wenn er uns bevormundet, um uns
zwangsweise Gutes zu tun.
Seit einiger Zeit fordern weite Kreise mehr Wirtschaftswachstum. Gehören Sie auch
dazu?
Wachstum ist an sich für jede Institution und auch für die Wirtschaft ein gutes
Zeichen. Allerdings ist Wachstum immer eine Folge und nicht per se ein Ziel. Heute
wollen sogar die Linken mehr Wachstum. Nur so können sie die Umverteilung
finanzieren. Weil die Leute trotz oder gerade wegen der Umverteilung nie zufrieden
sind, wird sie zum Fass ohne Boden. Für mich ist Wachstum kein Selbstzweck.
Hatten die schlechten Wachstumszahlen der letzten Jahren ihr Gutes, weil der
Umverteilungsstaat in Frage gestellt wurde?
Ja, ich würde so weit gehen. Die Stagnation hat die Probleme des
Umverteilungsstaats spürbar gemacht. Ich bin gegen jede Form der Stagnation, doch
ich könnte mir vorstellen, dass eine Wirtschaft funktioniert, die sich zwar permanent
wandelt, aber insgesamt nicht immer höhere Erträge schreibt.
Alarmiert es Sie denn nicht, wenn die Schweiz in Wohlstandsranglisten zurückfällt?
Ich bin skeptisch gegenüber Rankings, da ich selbst in einer solchen Institution
mitmache. Alle Vertreter drängen jeweils darauf, dass ihr Land ein möglichst hohes
Rating erzielt. Ich bin der Einzige, der vor einem zu guten Rating des eigenen
Landes warnt und auf die versteckte Besteuerung hinweist. Tatsache ist, dass die
Schweiz in vielen Bereichen zurückgefallen ist. Sie ist ein softsozialistischer Staat
geworden. Die EU hat Ländern, die früher sehr stark reguliert waren, einen
Liberalisierungsschub gebracht. Gewisse Staaten haben uns überholt. Die Schweiz
hat ihre Stärken im ersten Jahrhundert sorgsam gepflegt, aber in den letzten
Jahrzehnten schrittweise aufgegeben.
Muss die Schweiz deshalb der EU beitreten?
Das gäbe keinen Wachstumsschub, sondern generell zusätzliche fiskalische
Abschöpfung und Regulierung. In gewissen Bereichen würde der Beitritt indes
deregulierend wirken. Nein, das ist für mich kein Grund beizutreten. Das Richtige
kann und soll man aus eigener Kraft tun.
Ist Wachstum nicht unerlässlich für die Finanzierung der Sozialwerke?
Ich lasse mich gerne angenehm überraschen, teile aber den Glauben an den Deus
ex machina nicht. Auf die Dauer kann das Wachstum demographische
Veränderungen nicht kompensieren. Politik ist zu kurzfristig ausgelegt. Nur ein paar
Statistiker rechnen über dreissig Jahre.
Wurden seinerzeit die Sozialwerke nicht gerade deshalb geschaffen, weil man
glaubte, nur der Staat – und nicht das einzelne Individuum – sei in der Lage, so
langfristig zu denken?
Das war der Fall. Leider ist Staatsskepsis keine sehr alte liberale Tugend. Die
Schweizer Liberalen waren immer sehr staatsgläubig, sie hatten diesen Staat ja
gegründet. Den blinden Glauben an die Problemlösungsfähigkeit des Staates haben
sie mindestens dreissig Jahre zu lange gepflegt. Sie hätten viel früher die Notbremse
ziehen und sagen müssen, wir identifizieren uns nur noch teilweise mit diesem Staat.
Es gab solche Stimmen wie Ständerat Brunner aus Zug, der abgewählt wurde. Er
wollte die AHV als Auffangnetz statt als Giesskanne konzipieren. Der Mann verdient
ein Denkmal.
Hat nicht der Staat dem Bürger versprochen, dass er ihm die Altersvorsorge
abnimmt? Verstehen Sie den Frust, den Rentner verspüren, wenn es jetzt heisst, die
Höhe der Rente sei nicht sakrosankt?
Ich habe dafür Verständnis. Verträge auf eine solche Dauer sind aber immer mit der
Klausel ‹es sei denn, die Verhältnisse ändern sich so, dass die Erfüllung des
Vertrags unmöglich wird› versehen. In der ersten Säule vertrauten die Leute zu sehr
dem Staat, in der zweiten Säule setzten sie zu viel Vertrauen in die Börse.
Wurden die Bürger nicht bis vor kurzem durch Bundesräte und Amtsdirektoren in
ihrem Irrglauben an die Sicherheit ihrer Renten bestärkt?
Das ist in der Tat skandalös. Ich frage mich jeweils, ob diese Personen selbst daran
glauben. Dann sind sie unglaublich schlecht informiert. Behaupten sie das dagegen
wider besseres Wissen, ist dies nahe an der Lüge.
Welche Rolle spielt die Bevölkerungsgrösse fürs Wachstum?
Wirtschaftswachstum ist für jede Gesellschaft angenehm, die selbst wächst.
Interessant ist, wie früher das Bevölkerungswachstum als Gefahr für die Welt
betrachtet wurde eine Sichtweise, die ich nie teilte.
Heute hat die Schweiz Angst davor, dass die Bevölkerung schrumpft. Zu Recht?
Ein Bevölkerungsschwund wäre ein schlechtes Signal, aber kein Alarmzeichen. Die
Einwohnerzahl ist eine ganz heikle Grösse. Daher ist jede politische Beeinflussung
strikte abzulehnen.
Und wenn ein Bundesrat dazu aufruft, mehr Kinder zu kriegen?
Geschieht es in Form eines Appells an die Gesellschaft, ist es nicht das Dümmste,
was er machen kann. Dafür Staatsmittel einzusetzen, ist aber komplett falsch.
Vielmehr wäre zu prüfen, ob es nicht eine ganze Reihe kinderfeindlicher
Regulierungen gibt. Möglicherweise trägt der Wohlfahrtsstaat etwas in sich, was
Kinder überflüssig macht.
In der Theorie sind liberale Ideen überzeugend. Wann können sie sich in der Politik
durchsetzen?
Viele meiner Freunde in Deutschland vertreten das Crash-Szenario. Das System
bricht irgendwann zusammen, die Erzliberalen triumphieren und nehmen ihre
Rezepte aus der Schublade heraus. In der Schweiz ist ein geordneter Rückzug aus
Fehlstrukturen noch möglich. Wenn ich dafür plädiere, das Gesundheitswesen und
weite Teile des Bildungswesens in den Markt zu entlassen, weiss ich, dass das ein
ganz langfristiges Projekt ist. Es beginnt nicht in der Volksschule, aber vielleicht mit
einer privaten Universität. Sie muss beweisen, dass privat flexibler, leistungsfähiger,
günstiger et cetera bedeutet. Voraussetzung für die Reformfähigkeit ist, dass das
System Wettbewerb zulässt. Die Mehrheit der Menschen kann nicht abstrakt
erkennen, was für die Zukunft besser ist, sie ist hingegen in der Lage zu vergleichen.
Ich glaube an die politische Rationalität des Vergleichs.
Ist die direkte Demokratie dabei eine Hilfe oder eine Bremse?
Förderlich, wenn sie mit Nonzentralismus kombiniert wird. Auf
gesamtschweizerischer Ebene habe ich Vorbehalte, allerdings gelten die ebenso
oder noch mehr für die indirekte Demokratie. Wenn Demokratie, dann direkt und am
besten limitiert.
Was heisst limitiert?
Für die Lösung der Umverteilungsproblematik ist Demokratie nicht nur ungeeignet,
sondern kontraproduktiv. Mehrheiten plündern Minderheiten aus. Das Geld wird über
den Fiskus umverteilt, statt für Investitionen, Forschung und Entwicklung verwendet.
Die direkte Demokratie bringt in der Schweiz auch gute Resultate hervor, wie etwa
die Ablehnung der Kapitalgewinnsteuer.
Ist denn Umverteilung per se des Teufels?
Nein. Umverteilung heisst Geld, Mittel und Fähigkeiten von einer Person zu einer
anderen zu übertragen. Sie ist ein elementarer Bestandteil der Wirtschaft. Geld fliesst
auch so von Reich zu Arm. Heute ist Umverteilung immer staatlich und mit Zwang
verbunden. Umverteilung ist eine traditionelle Staatsaufgabe, auf die wohl nicht ganz
verzichtet werden kann. Die Vorstellung, der Staat sei dazu da, eine gerechtere
Wirtschaftsordnung herzustellen, ist aber gefährlich. Gerechtigkeit bezieht sich auf
gleichmässige Anwendung der Regeln und ist nicht darauf ausgelegt, dass jeder
gleich viel haben muss. Wirtschaftliche Ungleichheit ist der Prüfstein, ob Menschen
miteinander umgehen können. Reiche sind immer in der Minderheit. Wenn der Staat
die Minderheit aus Neid kaputtmacht oder vertreibt, leistet er auch den Armen einen
ganz schlechten Dienst.
Sie sind gegen Umverteilung, damit die Reichen einfach alles für sich behalten
können?
Nein. Ich bin dagegen, weil Umverteilung ein Fass ohne Boden ist und die
Demokratie beeinträchtigt. Zudem löst die Entreicherung der Reichen das Problem
nicht. Umverteilung führt zu paradoxen Ergebnissen: Ganz Reiche können
ausweichen. Das Geld fliesst von der oberen zur unteren Mittelklasse, die ganz
Armen profitieren kaum. Ich wüsste gerne, wo genau der Umverteilungsfranken in
Bildung und Verkehr landet. Zudem ist der staatliche Apparat, der alles organisiert
und erzwingt, sehr teuer. Umverteilung sollte nur über eine explizite Sozialpolitik
betrieben werden. Überall sonst, beispielsweise im Verkehr oder im
Gesundheitswesen, hat sie nichts zu suchen.
7. Auf der Suche nach dem liberalen Profil
Die Liberalen konnten sich im Lauf der Geschichte stets besser profilieren, wenn sie
sich als Gegenkraft gegen Fehlentwicklungen anbieten konnten, und den internen
Konsens auf das gemeinsame Nein zum rechten Konservatismus und zum
linken Sozialismus, d.h. zu „roten und brauen Fäusten“ konzentrieren konnten möglichst ohne zentrale Koalition mit einem der beiden Erzgegner.
Es gibt immerhin heute mindestens drei Tendenzen, die quer durch alle Parteien und
jenseits aller Populismen politisch unbeliebt sind: Verschuldung, Bürokratisierung
und Inflation. Demzufolge müsste man sich als Grundbestanteil eines liberalen
politischen Programms auf Folgendes einigen: Weniger Staatsverschuldung
(Schuldenbremse), weniger Staatsapparat (Personalstop) und weniger
Geldentwertung (Inflationsbekämpfung).
Persönlich würde ich auch noch auf die Karte „Weniger Zentralismus“ setzen, auch
wenn die Liberalen in dieser Frage im Lauf der Geschichte - auch in der Schweiz häufig auf der falschen Seite standen.
Alle Parteien wollen in Wahljahren eine möglichst grosse Wählerschaft ansprechen.
Darum sind die Wahlplattformen als "Giesskanne" konzipiert, die eine Plantage von
vielfältigen Interessen bewässert. Damit hält und gewinnt man kurzfristig Stimmen,
verliert aber möglicherweise längerfristig den potentiellen Nachwuchs, der Profil
erwartet und sich an Ideen und Vorbildern orientiert. Dieser Nachwuchs ist im
liberalen Lager stets eine kleine Minderheit, die stimmenmässig zunächst nicht ins
Gewicht fällt, die aber persönlichkeitsmässig die künftigen liberalen Kaderleute stellt
(Zeithorizont: 10 -20 Jahre).
Für diese - losgelöst vom vorherrschenden Zeitgeist - stets vorhandene potentielle
Elite zählen liberale Werte wie Offenheit, Vielfalt, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit
(anstelle von einheitlichen Kollektivlösungen), Leistung (anstelle von gegenseitiger
Ausnützerei), Ehrlichkeit (anstelle von hohlen Versprechungen), Sachlichkeit
(anstelle von ideologischem Pathos und Schwulst), Beschränkung auf das
Notwendige (anstelle des Giesskannenprinzips), offener Markt (anstelle von
Reglementiererei), Sparsamkeit beim Staat, niedrige Steuern und niedrige
Verschuldung (anstelle des Ausbaus der Bürokratie und des Leistungsangebots),
mehr Konsequenz beim Ordnungsstaat (Verbrechensbekämpfung) weniger
Bevormundung und Verschwendung im „Daseinsvorsorgestaat“.
Jede Partei hat rechte und linke Flügel, und in jeder Partei hat es Junge auf beiden
Flügeln. Bürgerlichen Parteien haben in der Regel zwei rechte und zwei linke Flügel,
was oft Anlass vielfältigster Begriffsverwirrungen ist: Auf der einen rechten Seite
stehen am Rand die national-konservativen, tendenziell xenophoben Exponenten,
auf der andern, ebenfalls als "rechts" bezeichneten, die konsequent marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker, Positionen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben
und nur im undifferenzierten "Feindbild" der Linken verknüpft werden. Auch auf der
linken Seite (bzw. in Linksparteien) gibt es zwei sehr unterschiedliche "Brennpunkte":
die interventions-, reglementierungs- und umverteilungsfreundlichen Etatisten
(Gewerkschafter und Alte Linke) einerseits, sowie die spontanistischen, anarchosozialen Antietatisten (Neue Linke) anderseits.
Letztere stehen dem Liberalismus ideell näher als erstere, während das "vernünftige
Gespräch" mit den zum Teil stark "verbürgerlichten" Etatisten leichter fällt. Die antietatistische "Neue Linke" hat sich grösstenteils "entpolitisiert", und das was von ihr
übrig blieb, ist teils zu den "Grünen" und teils zu den "Etatisten" ab- bzw. zurückgewandert. Die "Grünen" wären aufgrund ihrer Ziele eher konservativ, d.h. rechts,
aber sie verbinden sich - z.T. paradoxerweise - meist mit den linken Interventionisten,
deren Struktur- und Umverteilungspolitik die industrielle Produktion und den
Güterkonsum anheizt und damit auch die ökologischen Belastungen tendenziell
vergrössert...
Ich vertrete die Auffassung, dass sich ein mittel- und langfristig zukunftstauglicher
Liberalismus von allen xenophoben Tendenzen (selbst wenn sie bei sogenannten
Rechts- oder Nationalliberalen und zunehmend auch bei Jungen populär sind) aber
auch von den wohlfahrtsstaatlich-interventionistischen Tendenzen (selbst wenn sie
bei den sogenannten Linksliberalen und den Linken populär sind) aktiv und klar
distanzieren sollte.
Eine engere Kooperation mit wirklich marktwirtschaftlich orientierten Grünen und
linken Antietatisten sowie mit wertkonservativen, Eigentum und Wettbewerb bejahenden Christdemokraten hat grundsätzlich keinen Verlust an liberaler Substanz zur
Folge. Die Frage ist also nicht "Wie links oder wie rechts soll der Liberalismus
taktieren oder lavieren, um bei Jungen attraktiv zu sein?" sondern: "Welche
traditionell als "links" bzw. als "rechts" bezeichneten Tendenzen sind in grundsätzlicher Hinsicht Liberalismus-verträglich?"
Die bei Liberalen stets - oft im Übermass - vorhandene Koalitions- und
Kooperationsbereitschaft darf nicht zu jener Grundsatzlosigkeit und zu jenem
wahltaktischen Opportunismus führen, welcher letztlich einen totalen Profilverlust zur
Folge hat, und der die ihrem Wesen nach radikalen liberalen Ideen verwässert und vor allem bei den Jungen - diskreditiert.
Bürgerliche Politik verlangt überschaubare Rechte und Pflichten, transparente
Verhältnisse bezüglich gemeinsamen Einnahmen und Ausgaben und eine
Vergleichbarkeit von persönlichen Nutzen und Opfern. Die "Flucht in den grösseren
Verband" in welchem auch die Schulden - wenigstens für eine weitere Galgenfrist fusioniert werden können, und die Chance steigt, dass für die eigenen
Sonderinteressen auch noch etwas herauszuholen wäre, ist antibürgerlich. Die Linke
konzentriert sich heute darauf, Politik unter dem Motto „mehr soziale Gerechtigkeit
für alle“ als umfassendes Projekt der Umverteilung darzustellen. Politik als Prozess
des Ausgleichs, bei dem man den einen (vorzugsweise einer Minderheit) etwas
nimmt, und den andern (vorzugsweise einer Mehrheit) etwas gibt und dabei seine
Popularität steigert und seine Macht stabilisiert. Die Produktivität, welche die Basis
des gemeinsamen Wohlergehens ist, entsteht aber nicht durch Gleichmacherei,
sondern durch Leistungsbereitschaft, Risikobereitschaft, Sparwillen und Wettbewerb.
Das sind bürgerliche Werthaltungen, die nur in einem freiheitlichen Umfeld gedeihen,
das Ungleichheit nicht nur zulässt, sondern voraussetzt.
Der Umverteilungsstaat ist heute in einer Schieflage, weil in den Sozialwerken mehr
umverteilt wird, als die Produktivität zulässt. Mit andern Worten: Wir betreiben
Umverteilung auf Pump. Die junge Generation fragt sich heute, wie sie es anstellen
muss, um gleichzeitig das verschuldete Erbe auszuschlagen und trotzdem auf die
Rechnung zu kommen - eine Rechnung die nicht aufgehen kann. Politik wird
zunehmend zu einem mehr oder weniger konstruktiven Umgang mit Frustrationen
aller Art: Politik als Protest. Gibt es in diesem Klima noch eine Chance für eine neue
Bürgerlichkeit, eine neue Geborgenheit in einer transparenten Gemeinschaft
Verbündeter und Verbundener, welche bereit sind die eigenem Probleme
eigenständig zu lösen und gleichzeitig die Kosten gemeinsamer Einrichtungen
gemeinsam zu tragen ohne damit einen Anspruch an „soziale Gerechtigkeit“ zu
verbinden?
Die Linke erreichte im Lauf der Geschichte ihre Erfolge durch ihren Ruf nach
Veränderung, durch den „grossen Sprung nach vorn“ oder durch ein Schritt für Schritt
erkämpftes besseres Leben für alle. Die Bevölkerung in Westeuropa spürt instinktiv,
dass die bisherige Politik in Sackgassen mündet und dass wir vor einem grossen
technisch-zivilisatorisch bedingten Veränderungsbedarf stehen, der grundlegende
wirtschaftlich-politische Folgen hat. Die Bürgerlichen sind damit in einer für sie
ungewohnten Situation. Um ihre Ideale zu verwirklichen genügt es heute nicht mehr
strukturkonservativ zu sein und sich mit dem Staat, sowie er heute ist, zu
identifizieren.
Der Gegensatz zwischen "bürgerlicher" und "sozialdemokratischer" Parteipolitik ist
angesichts dieser Herausforderung nicht mehr so eindeutig feststellbar. Ein bisschen
„sozialdemokratisch“ sind heute alle Parteien, denn in einer Massendemokratie
tendieren alle politischen Gruppierungen dazu, ihrer Wählerschaft ein bestimmtes
Paket von Vorteilen zu offerieren, einen Nutzen zu versprechen und die Kosten, so
gut es eben geht, zu verschleiern, dem politischen Gegner anzulasten oder zeitlich
bzw. räumlich auszulagern.
Der subtile Umgang mit der Angst vor der Veränderung und dem Versprechen von
„mehr von allem für alle“ prägt heute alle Parteiprogramme. Populär ist heute die
Kombination von konservativen Reflexen mit dem Versprechen nach sozialem
Ausgleich durch Abschöpfung des „ungerechten Reichtums“. Man will heute zwar
den Mut zur Veränderung und zum Aufbruch ansprechen, aber gleichzeitig auch den
konservativen Ängsten vor dem Neuen Rechnung tragen, indem breiten Schichten
die Weiterführung oder gar der Ausbau der bisherigen sozialstaatlichen
Sicherungsnetze versprochen wird - vermutlich wider besseres Wissen der
Parteieliten.
8. Vertrauen in die kreative Dissidenz der jungen
Generation
„Junge Menschen interessieren sich für Techno-Musik für Sportanlagen und Parkplätze, für liberale Grundsätze interessieren sie sich überhaupt nicht mehr"...So
lautet die Feststellung, mit welcher eine freisinnig-demokratische Ortspartei kürzlich
ihre Anfrage an das Liberale Institut eingeleitet hat. Die Parteileitung wollte wissen,
ob und wie es möglich wäre, junge Leute vermehrt für liberales Gedankengut zu
begeistern. Wenn dies nicht gelinge, wurde mit guten Gründen beigefügt, so sei es
um die Zukunft des Liberalismus schlecht bestellt...
In dieser Form ist die Frage nicht in wenigen Sätzen zu beantworten, und es dürfte
ohne empirische Grundlagen sehr schwierig sein, eine brauchbare "Marktanalyse" für
das ideelle "Produkt" Liberalismus (mit oder ohne eine "parteipolitische Verpackung")
zu liefern. Die folgenden Ausführungen stützen sich lediglich auf persönliche
Beobachtungen im beruflichen und familiären Umfeld. Ganz allgemein ist die
Nachfrage nach programmatischen politischen Stellungnahmen bei jungen Leuten
eher gering.
Das Zeitalter der Ideologien, der Demonstrationen und heissen akademischen
Diskussionen ist vorbei. Die Gruppe, die sich überhaupt für politische Grundsatzfragen interessiert, ist - unabhängig von der ideellen Ausrichtung nach "links"
oder nach "rechts" - ein ganz kleiner Bruchteil der Stimmbürgerschaft. Aus liberaler
Sicht ist dieser "Rückzug ins Private" an sich nichts Negatives, aber er überlässt
eben die politische Bühne jenen Aktivisten, die den Staat für den alleinkompetenten
Problemlöser halten. Der Liberalismus kann auf eine Präsenz im parteipolitischen
Machtkampf nicht verzichten, denn der Abbau und Umbau des unliberalen und unbezahlbar gewordenen Bevormundungsstaates verlangt mehr als ein politisches "Laissez-faire".
Eine besondere Schwierigkeit für die Attraktivität des Liberalismus bei Jungen
besteht darin, dass er in verschiedener Hinsicht eine Position der "Mitte" und des
"Kompromisses" sowie des Lernens in kleinen Schritten favorisiert, so etwa im
Umweltschutz, in der Drogenpolitik, in der Europapolitik und bei Themen wie
"Gleichberechtigung" und "Arbeitslosigkeit". Die Forderung nach einem "geordneten
Rückzug" des Staates aus Bereichen, wo er mehr schadet als nützt, hat zudem
überhaupt nichts Heroisches an sich. Wer die berechtigte Forderung nach "mehr
Freiheit" erhebt, muss ehrlicherweise auf zahlreiche - durchaus auch für Mehrheiten unbequeme Folgen aufmerksam machen. Aus dieser Sicht hat der Liberalismus im
Umfeld des auf zunehmender Verschuldung basierenden, gegenwärtig aber noch
leidlich funktionierenden demokratischen Sozialstaats, der auf Parteikoalitionen
basiert, keine "frohe Botschaft" zu verkünden, von der sich junge Menschen
begeistern liessen.
Viele Jugendliche fühlen sich eher von einem prononciert rechten Gedankengut
(Stichworte: Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus) oder von linken Strömungen
(Stichworte: Solidarität mit den Bedürftigen, gegen "die Mächtigen", gegen die
"Männerherrschaft", gegen "den Krieg", gegen "die Ausbeutung der Drittweltländer"
etc.) angesprochen oder von ökologischen Aktionsgruppen, die eine Antwort auf
Katastrophen-Szenarien offerieren. Immer häufiger ist auch die Tendenz zum
Rückzug auf eine einzige Fragestellung, welche eher zur Mitgliedschaft in einer
Clique oder in einem Verein mit klar abgegrenzten Zwecken und konkreten Zielen
motiviert als für den Einsatz in einer politischen Gruppierung, die sich mit komplexen
und vernetzten Problemen befassen muss. Die wenig zahlreichen Jungen, die sich
aus Überzeugung politisch aktiv engagieren möchten, werden dies also links oder
rechts der Mitte tun, d.h. an irgend einem "Flügel" des parteipolitischen Spektrums. In
der Mitte bleiben lediglich die vorsichtigen Karrieristen, von denen keine Impulse zu
erwarten sind.
Jede Partei hat rechte und linke Flügel, und in jeder Partei hat es Junge auf beiden
Flügeln. Bürgerlichen Parteien haben in der Regel zwei rechte und zwei linke Flügel,
was oft Anlass vielfältigster Begriffsverwirrungen ist: Auf der einen rechten Seite
stehen am Rand die national-konservativen, tendenziell xenophoben Exponenten,
auf der andern, ebenfalls als "rechts" bezeichneten, die konsequent marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker, Positionen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben
und nur im undifferenzierten "Feindbild" der Linken verknüpft werden. Auch auf der
linken Seite (bzw. in Linksparteien) gibt es zwei sehr unterschiedliche "Brennpunkte":
die interventions-, reglementierungs- und umverteilungsfreundlichen Etatisten
(Gewerkschafter und Alte Linke) einerseits, sowie die spontanistischen, anarchosozialen Antietatisten (Neue Linke) anderseits. Letztere stehen dem Liberalismus
ideell näher als erstere, während das "vernünftige Gespräch" mit den zum Teil stark
"verbürgerlichten" Etatisten leichter fällt. Die anti-etatistische "Neue Linke" hat sich
grösstenteils "entpolitisiert", und das was von ihr übrig blieb, ist teils zu den "Grünen"
und teils zu den "Etatisten" ab- bzw. zurückgewandert. Die "Grünen" wären aufgrund
ihrer Ziele eher konservativ, d.h. rechts, aber sie verbinden sich - z.T. paradoxerweise - meist mit den linken Interventionisten, deren Struktur- und Umverteilungspolitik
die industrielle Produktion und den Güterkonsum anheizt und damit auch die ökologischen Belastungen tendenziell vergrössert...
Ich vertrete die Auffassung, dass sich ein mittel- und langfristig zukunftstauglicher
Liberalismus von allen xenophoben Tendenzen (selbst wenn sie bei sogenannten
Rechtsliberalen und zunehmend auch bei Jungen populär sind) aber auch von den
wohlfahrtsstaatlich-interventionistischen Tendenzen (selbst wenn sie bei den
sogenannten Linksliberalen und den Linken populär sind) aktiv und klar distanzieren
sollte.
Eine engere Kooperation mit wirklich marktwirtschaftlich orientierten Grünen und
linken Antietatisten sowie mit wertkonservativen, Eigentum und Wettbewerb bejahenden Christdemokraten hat grundsätzlich keinen Verlust an liberaler Substanz zur
Folge. Die Frage ist also nicht "Wie links oder wie rechts soll der Liberalismus
taktieren oder lavieren, um bei Jungen attraktiv zu sein?" sondern: "Welche
traditionell als "links" bzw. als "rechts" bezeichneten Tendenzen sind in grundsätzlicher Hinsicht Liberalismus-verträglich?"
Die bei Liberalen stets - oft im Übermass - vorhandene Koalitions- und
Kooperationsbereitschaft darf nicht zu jener Grundsatzlosigkeit und zu jenem
wahltaktischen Opportunismus führen, welcher letztlich einen totalen Profilverlust zur
Folge hat, und der die ihrem Wesen nach radikalen liberalen Ideen verwässert und vor allem bei den Jungen - diskreditiert.
Dazu ein immer noch aktuelles Zitat:
„Deutschland fehlt der Nachwuchs, nicht den USA. Besitzt hierzulande der
Sozialismus eine Zukunft, dann wird Deutschland verarmen. Es kann aber auch
anders kommen, wenn die Einsicht weiter wächst, dass vor allem die Jugend ihr
Schicksal nicht den Handlungen einer Regierung überlassenkann, sondern ihr
Geschick in die eigenen Hände nehmen muss.Der Staat ist unproduktiv und kann nur
geben, was er vorher nahm. Nicht einmal das, denn er muss seine Bürokraten
undInstitutionen erhalten. Wenn sich diese Erkenntnis vor allem in der Jugend weiter
durchsetzt, dann gibt es durchaus auch Hoffnung auf ein Deutschland mit
Wettbewerb, Vertragsfreiheit, freiem Unternehmertum und solidarischen
Bündnissender gegenseitigen Hilfe. Ein pluralistisches Deutschland, heute noch ein
Traum, das ich meinen Enkeln wünsche.“
Uwe Timm, in: Eigentümlichfrei, Nr. 68, Dezember 2006
Es wächst nach meinen Beobachtungen eine junge erfreulich unideologische
Generation heran, die nicht in erster Linie Ansprüche stellt und nach mehr sozialer
Gerechtigkeit durch mehr Umverteilungspolitik strebt, sondern nach weniger
Regulierung, nach einer Ordnung die offener ist und in der sich nicht alle gegenseitig
dauernd dreinreden, nach informellen Kommunikationsnetzten, die nicht fesseln,
sondern gegenseitig bereichern, kurz: nach mehr Freiheit, nach mehr Spielräumen
eigenständiger Lebensgestaltung, weniger Zwangssparen und weniger
Bevormundung.
Ich traue dieser Generation zu, in Sackgassen umzukehren und bei Engpässen
durchzuhalten und die beiden Situationen voneinander zu unterscheiden, - nicht
ohne Fehler, aber mit der ständigen Bereitschaft zum Lernen. Es ist zwar keine
Mehrheit, die so denkt und fühlt, aber das ist auch gar nicht nötig.
Eine Partei kann Wählerverluste und Sitzverluste dann verkraften, wenn sie ihren
eigenen Nachwuchs, der an die tragenden Ideen glaubt, nicht verliert.
Möglicherweise müssen wir als Liberale in Europa nicht mehr das Motto
„Weniger Staat“ und „Weniger Steuern“ ins Zentrum stellen, sondern noch
radikaler: „Weniger Politik“.
Das trifft die politikverdrossene Stimmung vieler junger Menschen. Politik wird immer
mehr als das „Schlamassel“ wahrgenommen, das die (Berufs)politiker gemeinsam
(und in unterschiedlichen Koalitionen anrichten, und das macht sie europaweit nicht
besonders populär. Vielleicht sollte man diesen engeren und zunehmend negativ
besetzten Wortgebrauch von „Politik“ akzeptieren und das liberale
Bürgerengagement in Zukunft dort ansiedeln, wo es seit Wilhelm von Humboldt
schon immer war: Als Versuch, dem Staat (und damit der Politik und der ganzen
etatistischen Bevormundung) insgesamt Grenzen zu setzen.
Staatsbegrenzung einerseits und eine klare Trennung von Politik und
Gesellschaft, von Politik und Kultur und von Politik und Wirtschaft anderseits
ist m.E. ein aktuelles liberales Programm.
Das entscheidende für die Zukunft einer liberalen Partei ist die nächste Generation:
der qualifizierte Nachwuchs bei den ökonomisch politisch, kulturell und sozial
engagierten jungen Leuten. Deren Qualität misst sich nicht am Ehrgeiz, möglichst
rasch als Berufsliberale im politischen System Erfolg zu haben, sondern an der
langfristigen Perspektive für die Zukunft einer weltoffenen Zivilgesellschaft, in der
sich das Lernen und das Leisten lohnt und in der es genügend Spielräume gibt, um
dem eigenen Leben nach eigenen Vorstellungen einen Sinn zu geben.
Die freie Zugänglichkeit zum Wissen und die freie Wählbarkeit der
Kommunikationsnetze und –partner und die permanente Möglichkeit weltweit
gleichzeitig Sender und Empfänger, Produzent und Konsument von Ideen zu sein,
stellt nicht nur den Staat, sondern alle hierarchischen und bürokratischen
Organisationen in Frage. Auf dem Internet herrscht Selbstbestimmung vor, und
niemand hat das Bedürfnis, die andern grenzenlos Vernetzten „politisch
mitbestimmen“ zu wollen. Mitbestimmung ist out, Selbstbestimmung ist in.
Ich glaube, dass es diese qualifizierte liberale Wählerschaft und diesen
Parteimitgliedschafts-Nachwuchs der Internet-Generation auch in Deutschland gibt.
Junge Leute wissen, oder sie ahnen es wenigstens, dass sich viele politische
Probleme allein durch Weiterwursteln und neue Kompromisse und „dritte Wege“ nicht
mehr lösen lassen. Eigentlich sollten sich diese Politik- und
Kompromissverdrossenen für einen strikten und staats- und politikskeptischen
Liberalismus gewinnen lassen.
Wenn dies der Fall ist, ist der Liberalismus in der Politik nicht am Ende,
sondern dann ist am Ende der Politik der Liberalismus.
Bekannt ist das eher pessimistische aber sehr realitätsnahe Zitat von Hölderlin:
„Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel
machen wollte.“
Ich schliesse ebenfalls mit Hölderlin, nicht kritisch analytisch, sondern tröstend
optimistisch
„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.
(Der Text dieses Vortrags basiert auf verschiedenen Artikeln des Verfassers,
die hier z.T. wörtlich übernommen worden sind.)
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