Gedichte 05.11.2008 Konstanze Fliedl Friedrich Schiller - Nänie Friedrich Schiller: Erstveröffentlichung 1800 mit Schillers Gedichten: Philologie Schwierigkeiten --> für emphatische Studienräte; galten als blutleer, abstrakt, zu philosophisch "Nänie" --> Interpreten sind vollkommen einverstanden, wird als Meisterwerk, schönstes lyrisches Gedicht Schillers, herrlichstes Klagelied über die Vergänglichkeit des Schönen bezeichnet Form Gedicht Ende 1799 entstanden, 1800 veröffentlicht (zweiteilige Ausgabe) halbes Jahrhundert zw. ihm und Klopstocks Zürchersee (Mitte 18. Jhdt.) Aufnahme in dt. metrischen Kanon (Kanon der Literatur), Umgang mit dichterischen Metren Gedicht: Schiller verwendet Metrum nicht in geläufiger Routine (wie z.B. Xenien = Spottgedichte, Schiller und Goethe, 1799 veröffentlicht) Bezug zur Antike: thematisch Titel: Nänie ---> im antiken Rom: bedeutet die zur Flöte gesungenen Totenklage bei Leichenzug Metrum: 7x 2 Zeilen 1. Zeile jeweils Hexameter, 2. Zeile Pentameter --> beides trotzdem sechshebige Verse (dt.: beginnt mit Hebung) Griechisch, lateinisch: Schema auf Zettel (Hexameter: 5 Daktylen, 1 Spondeus --> 2 lange Silben nebeneinander im letzten Fuß: Spondeus) Daktylen (lang-kurz-kurz): konnten fallweise durch Trochäus (lang-kurz) ersetzt werden, mit Ausnahme des 5. Fußes 5. Fuß musste immer Daktylus bleiben lange Silben waren durch betonte, kurze Silben durch unbetonte wiederzugeben im Deutschen: Problem des letzten Fußes (kein Wort, bei dem 2 betonte Silben im selben Wort zusammentreffen) dt. Übersetzer: Problem --> was macht man mit Spondeus? man kann Komposita bilden (z.B. Heerschar, geWÖLK ZEUS --> falsche Spondeen --> Basteleien) eingebürgert: im letzten Fuß des Hexameter --> Spondeus Pentameter: kurze Silben entfallen nach 3. und 6. Hebung (keine Senkung mehr, weil Vers verkürzt ist --> Fünffuß, sind noch 6 Füße, fehlt kurze Silbe - Senkung); Daktylen können durch Trochäen ersetzt werden, besonders bei beiden ersten Füßen; Mitte des Verses: Einschnitt (dt.: Dihärese) --> Zäsur; Hexameter + Pentameter --> zweizeilige Strophe (elegisches Distichon) Distichon (= metrische Form): zur Form zweizeiliger Sinnsprüche (Xenien; Epigramme) zusammengesetzt (Griechisch) Epigramm: Sinnspruch in 2 Zeilen warum elegisches Distichon? mehrere Distichen ergeben Strophen ---> Elegie (Strophenform, die sich aus Distichen zusammensetzt) --> ursprünglich nicht für traurige Gedichte traurige Bedeutung: in Antike langsam entwickelt; Mittelalter: Elegien als Gattung reserviert für Trauergesänge usw. vor Klopstock: deutscher Alexandriner (6-hebiger Jambus, Metrum, Versmaß) --> Zäsur in Mitte; Alexandriner lässt sich schön symmetrisch teilen Einführung antike Metren: nicht Korsett des strengen metrischen Schemas Hexameter, Pentameter: Daktylen mit Trochäen abwechseln (?) zweiteliger Sinnspruch = Epigramm Xenien = Epigrammsammlung von Goethe und Schiller Elegie = Gattung, sehr viele berühmte Bsp. (Goethe: Römische Elegien, Marienbader Elegie (tatsächlich); Hölderlin - Brot und Wein, Der Wanderer) Nereus = Meergott (griech.: Poseidon) Inhalt Gedicht will uns auf alte Geschichten hinweisen "Styx": Grenzfluss des Totenreiches stygischer Zeus = Hades (Herrscher der Unterwelt) nicht nur das Hässliche, auch das Schöne muss sterben (obwohl es Unsterblichen gefällt) --> Anspruch an Dauer, "ewig" eherne = empfindungslos (eisern) Hades verkörpert Schrecken des Todes, der sich nicht erweichen lässt; gestattet keinen Toten die Rückkehr ins Reich der Lebenden --> auch nicht wegen Schönheit antike Mythen bei Homer und Ovid überliefert (Bsp. für Schrecken des Todes, Klage von Überlebenden über Toten) „Schattenbeherrscher“ = Hades Namen werden nicht genannt, aber: Rede ist vom Mythos von Orpheus und Eurydike Orpheus --> tragischer Sänger, spielte Harfe so schön Eurydike starb an Schlangenbiss; Orpheus spielte an Eingang zu Unterwelt so schön --> Hades bekam Mitleid, einmal wurde er berührt --> ausnahmsweise wurde erlaubt, dass Frau wieder leben darf; Orpheus darf sich nicht umdrehen, während Eurydike heraufgeführt wurde; Orpheus drehte sich um, Eurydike verschwand für immer; Eurydike „Geschenk“ an Orpheus "Metamorphosen" - Ovid (siehe Folien) Eumeniden = Göttinnen der Unterwelt, eig. "Freundliche", oft mit Erinnyen identifiziert "sie hat für den Gatten keinerlei Tadel ... als daß er sie liebe?" Arno Breker (Nazi, Bildhauer) - "Orpheus und Eurydike" vor Tod: Liebe und Kunst machtlos 3. Distichon (3. "Strophe"): Hexameter: 1., 2. und 4. Fuß Trochäus Rhythmus: stetiger Wechsel (wirkt viel besser als Alexandriner) Aphrodite: Göttin der Schönheit und der Liebe Adonis: für Jünglingsschönheit Adonis und Aphrodite (lat.: Venus) Adonis: Rückkehrer aus dem Schattenreich, außer Aphrodite noch Frau des Hades in ihn verliebt (musste eine Hälfte des Jahres bei ihr und eine Hälfte bei Aphrodite verbringen) John William Waterhouse: The Awakening of Adonis (ca. 1900) mehrere solche Erzählungen, alte Vegetationsmythen --> warum gibt es Frühling, Sommer, Herbst, Winter? Frühling: Aphrodite küsst Adonis wach (aus Tod), im Winter muss er zurück ins Totenreich christliche Erzählung: Christus stieg hinab zu den Toten, am 3. Tage wieder auferstanden von den Toten (geht von griech. Vegetationsmythen zurück) Adonis von wildem Eber getötet, verschwindet endgültig in Unterwelt (Amone sprießt --> Blume), Kapitulation vor Tod 4. Distichon: skäische Tor: Westtor von Troja trochäischer Fuß am Beginn des Hexameters göttlicher Held: Achill, strahlendster Held der Antike unsterbliche Mutter des Achil: Göttin Thetis, Tochter des Meergottes Mutter und Sohn, göttliches Paar (?) Thetis heiratet Sterblichen, Achill ist nur Halbgott -> Thetis versucht, ihn unverletzlich zu machen (Überlieferungen: Herdfeuer, Fluß Styx --> hält Achill hinein, hält ihn an Füßen fest --> verletzbare Stelle, Achillesferse --> an der trifft ihn Schicksal vor Troja, wird getötet von Pfeil des trojanischen Königssohns Paris) auch Heldentum vermag nichts gegen Tod Johann Heinrich Füssli - "Thetis beweint den toten Achilleus (1780) Distichen: II: Orpheus und Eurydike III: Adonis und Aphrodite IV: Achill und Thetis (Mutter und Sohn) weder Kunst, noch Schönheit noch Heldentum vermögen etwas gegen Tod anaphorisches Nicht: zusammengebunden, stilistische Gleichheit 1. Pentameter: "Nicht" 3. Distichon: "Nicht 4. Distichon: "Nicht" --> unermüdliches Schicksal kommt zum Ausdruck 5. Distichon Beginn: "Aber" 3.+4. Fuß: Trochäus 1. Fuß: Pentameter, rhythmischer Wechsel sie = Mutter des Achill, Thetis weinen um Achill (Homer, Erzählsituation: Agamemnon (griech. König) kehrt nach Ende des troj. Krieges in Heimat zurück, wird durch Frau und Geliebten getötet; Odysseus auf Irrfahrten, steigt lebendig ins Totenreich --> was geschah nach Tod des Achill? --> Folien) Achäer, Argeier = von Achaia und Argos, von Homer metonymisch für alle Griechen verwendet es klagen auch Musen, Repräsentatinnen der Künste 6. Distichon durch schöne Stimmen: Trauer, Klagen Götter weinen erst bei Klage Hexameter: einziger vollständige Hexameter, keine Verkürzung zu trochäischem Fuß (daktylisch vollständiger Vers) Vers stellt vollendete Klage her Götterwelt stimmt ein in Klage der 1. Zeile --> sehen, dass das Schöne vergeht Orpheus: nicht Tod hat Götter gerührt, sondern erst das Lied (wie bei Orpheus) es rührt sie das Lied 7. Distichon: verklammert "Auch" --> auch schön sein, ein Klagelied im Mund der Geliebten zu sein (Plural oder Singular --> "Geliebten") "Gemeine" = Allgemein, dem Durchschnitt Orkus = Unterwelt (Hades) Schönes --> "herrlich", Klage der Schönheit wird hergestellt Ovid - "Metamorphosen" --> "Da vernimmt sie von fern des Sterbenden Stöhnen: ..." --> es bleibt das Gedächtnis Weitergabe des Gedächtnisses im Lied, Bsp. von Schillers Nänie (Johannes Brahms, Vertonung - Opus 82, 1881 --> 12 Minuten) Meer --> Rauschen des Meeres es weinen die Göttinnen alle --> mehrere Textwiederholungen, Ausdruck des Weinens Chormusik endet nicht auf letzte Worte, vorletzte Zeile: ausgesungen --> "herrlich": letztes Wort des Chores, soll auf "herrlich" Enden -> Rezeption des Textes --> gewundene Rezeption kunsthistorische Bsp. sind für die Mythen Rezeptionsansicht (?) spätromantisches Vorspiel: noch einmal rezitiert BRAHMS Gedächtnis: es bleibt meines Leides Gedächtnis welche Funktion Klage? hat sie Funktion? Was muss ich wissen, um zu verstehen? einfachster Sinn: mythologische Anspielungen welcher Wirkungsanspruch? Eingangszeile: das Schöne muss sterben --> "das Schöne" physische Schönheit? ein darüber hinausgehendes Konzept? Vorstellung von Unwiederbringlichkeit der Antiken Welt, Einheit von Schönheit und Wahrheit habe existiert Idealbild: Natur und Geist in Harmonie miteinander (Projektionen der Klassik, in Kunst abgebildet) versucht, Versöhnung herbeizuführen, Idee der antiken Schönheit kann gemeint sein Schönheit kann hier alles bedeuten: Klassik, eigene Dichtwerke, usw. --> auch: beim Dichten entsteht was Schönes Tod des eigenen Schönheitsideals, das untergegangen ist (Klage) --> versucht zu beschwören Distichon eignet sich auch besonders gut zur Darstellung von Sachverhalten (?) Friedrich Schiller: "Musterdistichon" "Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab." "Nicht" Vollkommenheit - Gemeinheit, Menschen - Götter, eherne Brust - rühren (erweichen), streng - erweichen, zierlich - grausam (Antithesen) Strukturell: Antithetik auf Komposition bezogen letzte 3: Gegensatz "aber" auch Klagelied ist schön, Gedächtnis dieser Schönheit Tatsache des dialektischen Verhältnisses Interpreten verschiedene Schlüsse (Deutungsgeschichte): a) einfache Dialektik auch das Schöne muss physisch sterben, das Schöne ist unvergängliche Kunst (überlebt ästhetisch in der Kunst) Klage nicht Ausdruck des Leids, sondern rühmende Gedenkfeier --> Tod kann überwunden werden (Schneider 1967) Verstorbener --> man bedichtet jemanden; einfache Dialektik --> Deutungen aus 50er- und 60-er-Jahren (Nachkriegsgermanistik) man versuchte, klassisches Bildungsgut zu retten/sichern Trostfunktion, Gedächtnisfunktion: man soll sich um Mythen, kulturhistorischen Bestand, Menschheitsschatz kümmern ab 1968: mit solchen Deutungen vorbei b) skeptische Rezeption Walter Muschg: unnachsichtiger Pessimist, Schweizer Literaturwiss.sch. Eingangssatz dominiert ganzes Gedicht, Rest: tragische Rolle des Dichters Glaube an absolute Gültigkeit des Schönen aufgegeben --> Göttliches, ewige Dauer ist Enttäuschung Schiller meint es ernst, das Schöne kann nicht überleben --> kein Überleben des Schönen Joachim Fest: das Schöne muss sterben, aber im Klagelied wird Dahingegangenes zum Leben erweckt; gegen Produzenten Schiller in Erinnerungslosigkeit abgesunken, er werde nicht mehr rezipiert --> Schönheit meint Gedicht selbst, wenn keine Leser: Gedicht fährt zum Orkus hinab Auffassung setzt sich in Interpretationen fort Norbert Oellers: gewöhnliche Interpretation nicht haltbar; Elegie ihrer Selbst, Abschied von Vollkommenheit, Klage lässt sich nicht in idealisch Schöne verwandeln anderer Kritiker: Schwanengesang, endgültige Desillusionierung --> ideales Schönes nicht einzuholen; Schönheit ist nicht tot, aber amputiert, Schattenexistenz im Orkus Winfried Freund: Schillers Nänie ist elegisches Bekenntnis zu Schönheit und Kunst, zugleich Wirkungslosigkeit dieser Idee Joachim Wohlleben: schwacher Trost, Kollaps eines edlen Kulturprogramms, große Illusion findet ihren Abschluss, deutsche Traum vom Griechentum vorbei Dialektik des Gedichtes wird begradigt: Klage, Abschied vom Schönheitsideal der Klassik, Macht- und Wirkungslosigkeit von Kunst c) Kunst als Möglichkeit der Erinnerung Befund: ohne Mythenkommentar nicht mehr lesbar, museales Stück; Gedicht bestätigt Zustand als Klage Norbert Oellers gab sich mit Befund nicht zufrieden; aufmerksam: Schein des idealischen Menschen, Abschnitt wird im Gedicht reflektiert und bewusst gemacht; bei aller Skepsis: gibt Mensch Auskunft über sich selbst; Beschwörung des vergeblichen Widerstandes gegen den Tod; Mensch wird menschlicher gemacht; gemeine Gültigkeit der Dinge; ein Moment: es kann darüber nachgedacht werden, Aufklärung; Einsicht in die moderne Entfremdung vom Schönen Ernst Osterkamp: Ansatz wird ausgeführt, nicht mehr im Sinn von Antithät, Schönes stirbt, aber lebt in Kunst --> dialektisch verlorene Illusionen des Dichters; in Kunst sei Gedächtnis des Schönen tatsächlich enthalten; Komplexität des Gedichtes, des Sachverhaltes gerecht werden kulturelles Gedächtnis: nicht etwas, was wir einfach aus Computer aufrufen, nicht überall, jederzeit, für jeden immer verfügbar Gedächtnis, Erinnerung: wartet auf Realisierung --> wenn man sie abrufen will; Inhalte immer präsent, aber abrufbar niemand muss Nänie parat haben oder gleich verstehen --> historische Ausformung einer Idee (wie Celans Gedicht; Sterben, es hilft nichts, "Nichts stockt." --> Kunst stockt bei Celan); Schiller: Schrecken über Tod wird beredet, von denen Abschied genommen werden muss; wir sehen Achill, Adonis zu, wie sie ins Totenreich steigen; Leser: Beobachter, antike Schönheit für ihn/sie unerreichbar Gedächtnis an Menschheitskulturgeschichte, Gedächtnis, das wir abrufen können, wenn wir wollen; Möglichkeit des Zugangs Wissen ist nicht parat, abrufbar -> aber: Hilfsmittel