Jürgen Treffeisen, Zum aktuellen Stand der archivischen Bewertungsdiskussion in Deutschland: Trends und Perspektiven. Vortrag im Rahmen des 160. Institutsseminars am Institut für Österreichische Geschichtsforschung am 23. März 2015. Zusammenfassung von Helga Penz Jürgen Treffeisen, Stellvertretender Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe, eröffnete seine Ausführungen mit einer Referenz auf Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift, 240 (1985) 529–570. Viel mehr als Kriege und Katastrophen, so Esch, wären Menschen verantwortlich für die Vernichtung von Schriftgut und für die Chance auf Überlieferung. Im Folgenden erörterte Treffeisen Aspekte von Überlieferungsbildung und Bewertung, die ihm für den derzeitigen Diskussionsstand bedeutend erscheinen: 1. Verrechtlichung der Überlieferungsbildung Seit den 1980er Jahren gibt es für Bundes-und Landesarchive Archivgesetze, darin wird auch die Überlieferungsbildung behandelt. Der früher häufige Rechtfertigungszwang von Archiven gegenüber Provenienzstellen ist durch Archivgesetzgebung obsolet geworden. Das hat auch zu einer Professionalisierung in diesem Bereich geführt. Anstehende Fragen, die auch in einer Archivgesetzgebung zu regeln sein werden, betreffen insbesondere den Datenschutz und die Überlieferung elektronischer Unterlagen. 2. Beginn der modernen Überlieferungsdiskussion Seit 1989 ist sichtbar geworden, dass es in deutschen Archiven eine Ost- und eine Westtradition gibt. Im Westen lebte die Tradition des Historikerarchivars fort, der auf den Verwaltungsarchivar eher herabblickte. Im ehemaligen Osten hingegen wurde die große preußische Archivtradition weiter gepflegt. Dieses Spannungsverhältnis führte in den 1990er Jahren in der BRD zu einer Verwissenschaftlichung archivischer Fragestellungen. An die Stelle des archivarischen „Fingerspitzengefühls“ traten archivwissenschaftlich fundierte Bewertungsmethoden. 3. Vertikale-horizontale Bewertung Diese verbindet inhaltliche und formale Bewertung in einer Analyse der Aufgaben der abgebenden Stellen, von der obersten zur untersten Behörde (vertikal) und im Austausch der Behörden untereinander (horizontal). Aus dieser Analyse erfolgt eine Bewertung nach drei Kategorien: zu kassieren, archivwürdig oder zu bewerten. Es handelt sich hier um eine prospektive, also vorausschauende Bewertung bei gerade erst entstehenden Unterlagen in Perspektive zukünftiger Archivwürdigkeit bewertet werden. Bewertet werden nicht die einzelnen Akten, sondern ganze Verwaltungszweige. 4. Dokumentationsprofil Seit den 1960er Jahren gab es in den Archiven der DDR den politischen Auftrag, eine Dokumentation des sozialistischen Staats zu sein. Die Überlieferungsbildung wurde dieser 1 politischen Vorgabe unterworfen. In den westlichen Archiven gab es ebenfalls Versuche, ein Dokumentationsprofil zu erstellen. Die Erstellung solcher inhaltlicher Kriterien für die Überlieferungsbildung war auch gegen das vorherrschende formale Bewertungsmodell gerichtet. Insbesondere die Regionalarchive diskutierten Dokumentationsprofile, vor wenigen Jahren wurde von Irmgard Becker ein Dokumentationsprofil für Kommunalarchive vorgelegt. Ein Dokumentationsprofil entspricht ebenfalls einer prospektiven Bewertung: Es dient der Erarbeitung eines Quellenfundus, dabei wird Lebenswelt in Kategorien eingeteilt (Gesellschaft, Politik etc. mit jeweils weiteren Untergliederungen) und entsprechend Überlieferung bewertet. 5. Transparenz der Bewertung Heute ist es im archivischen Arbeiten selbstverständlich geworden, dass Entscheidungen in der Überlieferungsbildung transparent gemacht werden. Diese Dokumentation von Bewertung dient einerseits der Kontinuität in der Arbeit des Archivs, andererseits ist sie für die Forscher, die wissenschaftlich an Archivgut arbeiten. Diese Dokumentation von Bewertungsentscheidungen ist aber auch wichtig für die abliefernden Stellen. 6. Überlieferungsbildung im Verbund Seit den 1980er Jahren ist es in deutschen Archiven üblich geworden, dass sich ArchivarInnen, die mit Bewertung befasst sind, beraten und besprechen. Auslöser dafür war das Bemühen um ein einheitliches Vorgehen gegenüber abgebenden Stellen. Es folgte eine Beratung auch zwischen einzelnen Archiven, zur Abgrenzung von Überlieferungsbildung zwischen kommunaler und staatlicher Überlieferung, beispielsweise das Schulwesen betreffend. Seit der Jahrtausendwende besteht im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VDA) ein Arbeitskreis Überlieferungsbildung. Er erarbeitet Positionen in Bewertungsfragen auch über Archivsparten hinweg. 7. Die Rolle des Datenschutzes Das Datenschutzgesetz erlaubt zwar den Zugriff der Archive auf fast alle Unterlagen, aber immer öfter löschen die abgebenden Stellen ihre Daten, bevor ein Archivzugriff erfolgen kann, bzw. wird die Argumentation gegenüber diesen Stellen, die Verletzungen des Datenschutzes befürchten, insbesondere personenbezogene Unterlagen betreffend, immer schwerer. Die in Archivgesetzen geregelten Anbietungsfristen sind auch als datenschutzrechtliches Problem zu erörtern: Bei elektronischen Unterlagen muss schon während der Entstehung der Unterlagen die Beratung über die Bewertung erfolgen. 8. Der Einfluss elektronischer Anwendungen In der Überlieferungsbildung stellen Hybridakten, in denen einem Papierakt ein anderes Medium zugefügt ist, eine besondere Herausforderung dar. Hybridakten kommen besonders oft in der Justiz und im Kulturbereich vor. Treffeisen berichtet, dass man in seinem Archiv bemüht ist, Hybridakten zu vermeiden, und entweder reine Papierakte zu übernehmen (Ausdruck von nur digital vorliegenden Unterlagen) oder reine digitale Akten (Scannen von nur als Papier vorhandenen Unterlagen). Bevorzugt wird die rein elektronische Überlieferung, denn die Entwicklung geht dorthin, dass die Verwaltungen nur mehr elektronische Akten produzieren. Die elektronische Überlieferung stellt natürlich eine Herausforderung für die digitale Archivierung dar, nicht nur was Speicherkapazitäten betrifft, sondern auch in Hinblick auf die Wahrung von Authentizität. 2 Elektronische Unterlagen haben auch in anderen Aspekten Bewertung geändert: In den 1990er Jahren gab es eine rege Diskussion, wie mit gleichförmigen Massenakten umzugehen ist. Für die Überlieferungsbildung wurden Samples erstellt nach formalen Kriterien (Geburtsjahre, Anfangsbuchstaben von Namen), das wurde aber nie als wirklich ideal empfunden. Hier helfen die neuerdings gebrauchten Datenbanken, die alle Grunddaten zu Massenakten enthalten, etwa Personaldaten zu Serien von Personalakten. In Karlsruhe werden solche Datenbanken zur Gänze erhalten (gelöscht werden nur einzelne nicht archivwürdige Datenfelder wie etwa Telefonnummer und E-Mail-Adresse). Was an Akten als archivwürdig bewertet sind, wird inhaltlich ausgewählt: es sind zum Beispiel Personalakten von besonderen Personen. Auch für diese Auswahl liefert die EDV neue Werkzeuge. Namenslisten aus der Datenbank werden abgeglichen mit Listen berühmter Personen oder mit Wikipedia-Artikeln. Die Bewertung in Karlsruhe erfolgt seit 2008 unter dem Kriterium der Benützung in folgenden fünf Varianten: 1. Grundsicherung der Daten (komplette Übernahme) 2. Statistisch auswertbare Teilmenge 3. Typische Einzelfälle (auch als Sample) 4. Herausragende Einzelfälle (Herausziehen von Einzelakten) 5. Evidenzwert (nur wenn auf 1 bis 4 verzichtet wird) Treffeisen bringt das Beispiel der Bewertung der Unterlagen der Agentur für Arbeit, die zentral die Daten der Arbeitssuchenden in der gesamten Bundesrepublik verwaltet. Überlieferungsbildung und Bewertung wurden in einer Arbeitsgruppe von Archivaren gemeinsam mit leitendem Personal entwickelt. Es war langwierig, bis vom Personal Einsicht in diese personenbezogenen Daten als Grundlage für eine Bewertungsentscheidung gestattet wurde, weil datenschutzrechtliche Bedenken groß waren. Als archivwürdig wurde die Datenbank eingestuft (Statistik-Datenpool), für die einzelnen Akten wurden Bewertungsfragen diskutiert. Elektronische Aktenführung hat dazu geführt, dass Behörden viel vernetzter sind, ein Archiv allein kann hier gar nicht allein bewerten. Die Entwicklung geht von der dezentralen zu einer zentralen Bewertung. Ausblick – Wohin geht die Überlieferungsbildung? Die Verrechtlichung nimmt weiter zu und fordert Anpassungen von den Archiven. Die Erweiterung archivwissenschaftlicher Analysen ist geboten. Bewertungsmodelle bilden die Grundlage moderner Überlieferungsbildung. Die Transparenz der Bewertungsentscheidung ist die Praxis jeder Überlieferungsbildung. Diskussion und Lösungen von Bewertungs- und Überlieferungsbildungsfragen erfolgen verstärkt im Verbund. Die weitere Zunahme der Bedeutung des Datenschutzes fordert Antworten seitens der Archive. Das Ende der Papierakte verändert die Bewertung und Überlieferungsbildung. 3