Planet wissen 9-4-06 Sophie Scholl und Christoph Probst DIE WEISSE ROSE Die Weiße Rose ist heute wohl die bekannteste Widerstandsgruppe des Dritten Reiches. Kern der Gruppe waren die Geschwister Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell und Professor Kurt Huber. Zwischen 1942 und 1943 verbreitete die Gruppe sechs Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen das NSRegime aufrief. Ihren Mut und ihre Entschlossenheit, sich gegen die Nazi-Diktatur zur Wehr zu setzen, bezahlten die sechs mit dem Leben. >> Die Entstehung der Weißen Rose >> Beginn des Widerstands >> "Es wird Zeit, dass jemand dagegen fällt" >> Das Erbe der Weißen Rose Die Entstehung der Weißen Rose Die Weiße Rose war eher ein Freundeskreis als eine Organisation. Christoph Probst und Alexander Schmorell waren seit ihrer Schulzeit befreundet. Sie lernten Willi Graf und Hans Scholl während ihres Medizinstudiums 1941/42 an der Münchner Universität kennen. 1942 begann auch Sophie Scholl ihr Philosophie- und Biologiestudium und kam mit den Freunden ihres Bruders in Kontakt. Sie trafen sich zu Lese- und Diskussionsabenden. Gemeinsam besuchten sie auch die Vorlesungen des Philosophie-Professors Kurt Huber, der schon mit den Nazis in Konflikt geraten war und der später ebenfalls ein aktives Mitglied der Gruppe werden sollte. Anfänglich waren zumindest die Geschwister Scholl vom Nationalsozialismus durchaus noch angetan gewesen. Es waren die gemeinsamen Fahrten der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädels, das Gemeinschaftserlebnis und die Vorstellungen von Vaterland, die die jungen Leute ansprachen. Doch ihre frühe Begeisterung wich schnell grundsätzlicher Kritik. Grundlage ihrer Aktionen waren christliche und humanistische Wertvorstellungen. Sie beschäftigten sich mit den Kirchenlehrern Augustinus und Thomas von Aquin sowie der Existenzphilosophie des dänischen Denkers Kierkegaard. Hans Scholl ging es darum, ein "sichtbares Zeichen des Widerstandes von Christen zu setzen". Er wollte am Ende des Krieges nicht "mit leeren Händen vor der Frage stehen, was habt ihr getan". Beginn des Widerstands Im Juni 1942 nach dem großen Luftangriff auf Köln schreiben und verteilen Hans Scholl und Alexander Schmorell die ersten Flugblätter. In schöngeistiger, literarischer Sprache rufen sie darin zu passivem Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft auf und beklagen die Mitschuld der Deutschen an den Verbrechen der Nazis. Die Mitglieder der Weißen Rose wollen ihre Landsleute über den wahren Charakter des Regimes aufklären. Abgesehen von den geistigen Werten sind es die zunehmende Radikalisierung des Hitler-Regimes und die Brutalität des Krieges, die ihre Ablehnung des braunen Terrorregimes begründen. An der Ostfront beobachten die jungen Männer der Weißen Rose im Sommer 1942, wie ausgezehrte jüdische Frauen zur Zwangsarbeit getrieben werden. Oder sie hören von Massenhinrichtungen vieler unschuldiger Menschen. Das bestärkt sie darin, nach ihrer Rückkehr im November weiter Widerstand zu leisten, indem sie die Bevölkerung, vor allem andere Jugendliche, aufklären. Zu Hause in München erfährt Sophie Scholl von einer Freundin, dass geistig behinderte Kinder einer Heilanstalt von SS-Männern abgeholt wurden und auf immer verschwunden seien. In den weiteren Flugblättern der Weißen Rose werden die scheußlichen und menschenunwürdigen Verbrechen des Regimes angeprangert, so die Ermordung von 300.000 polnischen Juden. Die Weiße Rose knüpft Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen. Ihr fünftes Flugblatt erscheint in einer Auflage von 6000 bis 9000 Exemplaren und wird in mehreren süddeutschen und österreichischen Städten verteilt. "Mit mathematischer Sicherheit führt Hitler das deutsche Volk in den Abgrund", schreiben Hans Scholl und Alexander Schmorell mit Blick auf die Kriegslage im Januar 1943. Erstmals rufen sie ihre Landsleute dazu auf, den NS-Staat aktiv zu bekämpfen und fragen sie: "Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? … Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestoßene Volk sein?" "Es wird Zeit, dass jemand dagegen fällt" Ab Februar 1943 tritt die Gruppe auch durch nächtliche Aktionen an die Öffentlichkeit. Sie malen auf Münchner Hausfassaden Anti-NaziParolen wie "Nieder mit Hitler", "Hitler Massenmörder" oder "Freiheit". Das sechste Flugblatt wird der Gruppe zum Verhängnis. Geschrieben von ihrem Mentor Kurt Huber, einem Professor für Philosophie und Musikwissenschaften, geißelt es die Kriegspolitik Hitlers, welcher in Stalingrad allein auf deutscher Seite 300.000 Soldaten zum Opfer gefallen sind. Ein Hausmeister erwischt die Geschwister Scholl, als sie die Flugblätter im Lichthof der Universität verteilen, hält sie fest und übergibt sie der Gestapo. Vier Tage später, am 22. Februar, werden sie vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und noch am selben Tag mit dem Fallbeil hingerichtet. Mit ihnen stirbt Christoph Probst. Um den jungen Familienvater zu schützen, hat die Gruppe ihn zuletzt weitgehend aus ihren Aktivitäten herausgehalten. Das einzige Beweismittel gegen ihn ist ein handschriftlicher Entwurf zu einem Flugblatt, den Hans Scholl bei sich trug, als er verhaftet wurde. Im April wird 14 weiteren Mitgliedern der Weißen Rose der Prozess gemacht. Alexander Schmorell, Professor Kurt Huber und Willi Graf werden ebenfalls zum Tode verurteilt, die anderen zu Haftstrafen. In den folgenden Monaten verhaftet die Gestapo weiterhin Freunde und Unterstützer der Weißen Rose, und der Freiheitsstrafen. Volksgerichtshof verhängt Todes- und hohe Noch zwei Tage vor ihrer Verhaftung sagte Sophie Scholl: "Es fallen so viele Menschen für dieses Regime. Es wird Zeit, dass jemand dagegen fällt". Während ihres Verhörs wollte der Gestapobeamte ihr eine "goldene Brücke" bauen, mit der sie die Todesstrafe hätte umgehen können: Sie sollte sich von ihrem Bruder distanzieren und erklären, dass seine und ihre Handlungen und Überzeugungen verurteilenswert seien. Darauf antwortete Sophie Scholl laut Vernehmungsprotokoll: "Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen." Das Erbe der Weißen Rose Nachdem der innerste Kreis der Weißen Rose ermordet worden war, wurde ihre Arbeit zunächst noch fortgeführt und ihr Gedankengut weitergetragen. So vervielfältigte der Münchner Chemiestudent Hans Leipelt gemeinsam mit gleichgesinnten Freunden das letzte Flugblatt und verteilte es, versehen mit dem Zusatz "Und ihr Geist lebt trotzdem weiter", in Hamburg. Außerdem organisierte er eine Spendensammlung für die Witwe Kurt Hubers. Diese Aktivitäten wurden verraten, Hans Leipelt, seine Freundin Marie-Luise Jahn und andere Unterstützer im Herbst 1943 verhaftet. Leipelt wurde am 29. Januar 1945 hingerichtet, Marie-Luise Jahn wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die Medizinstudentin Traute Laufrenz hatte bereits im November 1942 Flugblätter von München nach Hamburg mitgebracht. Ihr Freund Heinz Kucharski, ein Student der Philosophie und Orientalistik, verteilte sie dort mit Hilfe anderer oppositioneller Studenten. Ende 1944 kam die Gestapo auch Mitgliedern der Hamburger Gruppe auf die Spur. Am 17. April 1945, kurz vor Kriegsende, wurden auch sie vom Volksgerichtshof verurteilt. Heinz Kucharski konnte auf dem Weg zur Hinrichtung fliehen. Die anderen starben während der Haft. Über den Hamburger Zweig war das letzte Flugblatt der Weißen Rose ins Ausland gelangt und im Dezember 1943 von britischen Bombern über Deutschland abgeworfen worden. Thomas Mann sprach in einer nach Deutschland ausgestrahlten Rede in der BBC über die Mitglieder der Weißen Rose als Vertreter eines besseren, anderen Deutschlands, so klein ihre Zahl auch gewesen sei, und versicherte: "Ihr sollt nicht umsonst gestorben sein, sollt nicht vergessen sein." (Autorin: Sabine Kaufmann / Meike Meyer) (Stand vom 10.03.2006) KINDHEIT UNTER HITLER "Meine Pädagogik ist hart", so formulierte Hitler seine Erziehungsideale, "Das Schwache muss weggehämmert werden. Es wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich ..." Damit diese Pädagogik Erfolg haben sollte, wurden die Kindheit und die Jugend unter Hitler durchorganisiert und die Kinder von klein auf für den Kampf und für den Krieg erzogen. >> Von einer Parteijugend zur Staatsjugend >> Wandern und singen >> Kriegsvorbereitungen >> Kriegsende Von einer Parteijugend zur Staatsjugend 1926 gründete die NSDAP die Hitlerjugend (HJ) als Jugendorganisation der Nationalsozialisten, vier Jahre später den Bund Deutscher Mädel (BDM). Doch erst seit 1933, seit die NSDAP die Macht ergriffen und andere Jugendverbände verboten hatte, wurde die Jugendorganisation der Nationalsozialisten zu einer Massenorganisation. Leiter der Hitlerjugend war seit 1932 Baldur von Schirach. Grundlage für die Organisation wurde das HJ-Gesetz von 1936. Der Beitritt zur HJ und zum BDM wurde zur Pflicht, aber nicht jeder durfte Mitglied werden. Die Kranken und Schwachen wurden zurückgewiesen und die Juden waren von der Zugehörigkeit zur Hitlerjugend ausgeschlossen. Auch wenn einige Eltern es nicht gerne sahen, wenn ihre Kinder in die HJ gehen wollten, sie davon abzuhalten war nicht leicht. Wer dies dennoch versuchte, dem drohten Geld- und Gefängnisstrafen. 1939 hatte die Hitlerjugend deshalb fast neun Millionen Mitglieder. Die zehn- bis 14-Jährigen dienten im "Deutschen Jungvolk" oder beim "Jungmädelbund", die 14- bis 18-jährigen in der HJ oder im BDM. Wandern und singen "Pimpfe", so nannte man die Kinder im Deutschen Jungvolk. Jeder Junge und jedes Mädchen sollte von zu Hause eine Uniform bekommen und wurde feierlich in den neuen Verband eingeführt. Manche Kinder hatten schon lange darauf gewartet, endlich mit dabei sein zu können. Man traf sich an Wochenenden und an Heimabenden, um gemeinsam Sport zu treiben, Mutproben zu bestehen und im nationalsozialistischen Denken geschult zu werden. "Hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder", so sollten die Kinder werden und viele wollten es auch. Das Erlernen kriegstauglicher Übungen ging spielerisch vor sich, aber unter strenger, militärischer Disziplin. Die meisten Kinder merkten nicht, wie ihnen ihr Wille und Charakter gebrochen und im Sinne der Nationalsozialisten geformt werden sollte. "Deutschland, sieh uns, wir weihen dir den Tod als kleinste Tat. Grüßt er einst unsre Reihen, werden wir die große Saat. Drum lasst die Fahnen fliegen in das große Morgenrot, das uns zu neuen Siegen leuchtet oder brennt zum Tod." Solche Lieder sangen sie, und als der Krieg ausbrach sangen sie mit noch mehr Inbrunst, denn sie fühlten sich wichtig. Sie wurden gebraucht um Deutschland zu retten. Kriegsvorbereitungen Heldenhaft zu werden, ein Teil des kämpfenden Volkes, das wurde das Ziel vieler Kinder in der Hitlerjugend. Für sie war es ein gutes Ziel: gemeinsam für das Volk kämpfen oder als Mädchen jederzeit hilfreich bereitzustehen um den Soldaten unter die Arme zu greifen. Krieg war etwas, wo man seinen Mut beweisen und "ein ganzer Mann" sein konnte. Schließlich hatte man ja auch gelernt, dass der Feind böse war und den guten Deutschen Schaden zufügen wollte. Schon in Kinderbüchern wurde diese Ideologie weitergegeben - genauso wie die von dem bösen Juden, der auf den Kinderzeichnungen immer grimmig, bösartig und finster aussah. Gefahren, denen sie trotzen wollten. Viele Kinder freuten sich deshalb sehr, als sie mit zunehmendem Alter immer mehr von dem lernten, was sie als Erwachsene auszeichnete - sie lernten das Kriegshandwerk kennen. Zunächst wurden sie bei Ernteeinsätzen, bei Sammelaktionen für das Winterhilfswerk oder als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Der spielerische Umgang mit Geländeübungen wurde allmählich ernst, der Umgang mit der Waffe gehörte zum Lernprogramm dazu. Schon Zwölfjährige lernten damals das Schießen mit Karabinern und später auch den Umgang mit der Panzerfaust. 1943 waren die meisten Flakgeschütze mit Hitlerjungen besetzt. Mit der Ausrufung des "Totalen Krieges" Anfang 1943 führten die Nationalsozialisten das Notabitur ein, das es ermöglichte, dass nun auch Halbwüchsige in den Krieg ziehen konnten. Kriegsende Als der Krieg sich schließlich dem Ende zuneigte, waren die Jungen und jungen Männer erneut verloren. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Sie waren groß geworden in dem festen Glauben, dass alle bis zum letzten Mann kämpfen würden um Deutschland zum Sieg zu verhelfen. Und auch der Sieg stand für sie nicht in Frage. Doch nun mussten sie erleben, dass Erwachsene kniffen, dass die Soldaten sich ergaben, anstatt bis zum letzten Mann zu kämpfen - "hart wie Kruppstahl". Und sie griffen selbst zur Waffe um endlich ihrer Bestimmung nachzugehen. In einer Verordnung aus dem Jahre 1934 hieß es: "Diese charakteristische Schulung des jungen Deutschen findet in der HJ ihren äußeren Ausdruck in seiner freiwilligen Unterordnung, seinem Gehorsam gegenüber seinen Führern, in seinem Pflichtbewusstsein, seiner Kameradschaftlichkeit, seiner Liebe zu seinem Führer, seinen Volksgenossen und seinem Vaterland, in dem jederzeit freiwilligen Einsatz des eigenen Lebens für die Idee des Nationalsozialismus." Im September 1944 wurde der Volkssturm gebildet, der zumeist an der "Heimatfront" "bis zum Endsieg" kämpfen sollte. Vor allem Jugendliche und alte Männer wurden nun in Schnellkursen ausgebildet um über die anstehende Niederlage hinwegzutäuschen. Zehntausende von Soldaten starben in diesen letzten Gefechten, viele von ihnen waren 17 oder 16 Jahre alt oder gar jünger. Einige überlebten. Das größte alliierte Gefangenenlager für minderjährige Soldaten beherbergte zehntausend Jungen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren. WEITERFÜHRENDE LINKS HJ-Dienst: Leibesübungen, Schießen, Geländesport Die Verordnung aus dem Jahre 1934 beschreibt die Ziele der nationalsozialistischen Jugendarbeit und gibt Anleitungen zu deren Durchsetzung. >> http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/hjverordnung/index.html (Autorin: Sine Maier-Bode) (Redaktion: Birgit Keller-Reddemann) (Stand vom 26.05.2004) VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG "Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen waren Juden lange Zeit das schlechthin Andere, das beispielhafte Gegenbild des eigenen Selbst, des eigenen Kollektivs. Diese Grundhaltung hat die deutsch-jüdische Geschichte über Jahrhunderte bestimmt - bis heute", so urteilt Dr. Salomon Korn, Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland. Und: Mit der Vertreibung und Vernichtung der Juden sei dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen "nicht wirklich etwas verloren" gegangen. Er spricht von einer "geteilten Erinnerung", die sich bis in die zweite und dritte Generation von Tätern wie Opfern fortgesetzt hat. >> Verdrängung ist Ost- und Westdeutschland >> Persönliche Verdrängung Verdrängung ist Ost- und Westdeutschland 1945, als die Verbrechen der Deutschen für alle Welt sichtbar wurden und die Deutschen selbst die Augen nicht mehr verschließen konnten, schien eine Rückkehr in den Alltag kaum denkbar. Und doch setzte bald ein Prozess der "Normalisierung", ein Weitermachen, Nachvorwärtsschauen, die Vergangenheit ruhen lassen, ein. Und nicht allzu lange hat es gedauert, bis die ersten Stimmen laut wurden, "endlich einen Schlussstrich zu ziehen". Eine Forderung, die bis heute periodisch wiederkehrt, so vor einigen Jahren aufgestellt vom Schriftsteller Martin Walser, der die "Auschwitz-Keule" beklagte. Beschwiegen und verdrängt wurde im öffentlichen wie im privaten Leben. In Ost wie West. In beiden deutschen Staaten wurden Mitläufer und das riesige Heer der ehemaligen NSDAP-Mitglieder rasch in die neuen Gesellschaftsordnungen integriert Und vielfach konnten gar diejenigen, die schon unter Hitler Karriere gemacht hatten und überzeugte Nationalsozialisten gewesen waren, erneut in Amt und Würden kommen. In der jungen Bundesrepublik glaubte man, ohne das Wissen der alten, belasteten Fachleute sei kein neuer Staat zu machen, sei die Wirtschaft nicht wiederaufzubauen und hätte man kein Personal für die neue Bundeswehr, die im Kalten Krieg so dringend gegen die "kommunistische Gefahr" gebraucht wurde. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen verlief schleppend, oft gleich im Sande. Erst mit den spektakulären Frankfurter Auschwitzprozessen der Sechziger Jahre, in denen Mitglieder des Lagerpersonals vor dem Richter standen, begann zögerlich eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Persönliche Verdrängung Auch in den Familien wurde geschwiegen. Die weitergegebenen und erzählten Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Krieg kreisten um Themen wie Erfahrungen in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel, den Bombenkrieg und die Flucht bei Kriegsende. Erinnerungen an die Judenverfolgung wurden hingegen eher verdrängt ("wir haben das alles nicht gewusst"). Manch ein ehemaliger Volksgenosse verschwieg lieber ganz sein aktives Mittun oder die Tatsache, dass er sich an den enteigneten Besitztümern der Juden bereichert hatte. Und so genau wollten es auch die Töchter und Söhne der Nachkriegsgeneration nicht wissen. Wenngleich seit den Siebziger Jahren Schulen und andere Bildungseinrichtungen, die Medien und die Forschung die Kenntnisse über den Holocaust vertieft haben und heute mehr Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus vorhanden ist, so scheuen sich doch auch heute noch viele, genau nach dem Verhalten der Eltern und Großeltern zu fragen. Was sich aber heute durchgesetzt hat, ist eine öffentliche Erinnerungskultur, sind Institutionen, die sich um die deutschjüdische Geschichte kümmern, die über 50 Jahre nach Kriegsende Zeitzeugen befragen, Zeugnisse und Quellen suchen und die Geschichte dokumentieren. (Gabriele Trost) (Stand vom 30.09.2002) AUSCHWITZ Der Name "Auschwitz" steht für die Unmenschlichkeit, die fabrikmäßige Ermordung von Menschen. Ab 1940 bauen die Nationalsozialisten vor den Toren der polnischen Stadt Oswiecim ein riesiges Konzentrationslager. Dieses KZ soll der Schauplatz des organisierten Massenmordes an den europäischen Juden werden. Nur die wenigsten, die ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt wurden, haben überlebt. >> Die Stadt Auschwitz früher und heute >> Das Zentrum der Vernichtung >> Das Leben im Lager >> Die Befreiung Die Stadt Auschwitz früher und heute Auschwitz ist der deutsche Name der polnischen Kleinstadt Oswiecim, die zwischen Kattowitz und Krakau liegt. Die Stadt hat eine bewegte Geschichte hinter sich, gehörte mal zu Deutschland, mal zu Österreich, mal zu Polen. Juden siedelten schon früh in Oswiecim, und die blühende jüdische Gemeinde prägte über lange Zeit das Leben in der Stadt mit. Diese Welt ist für immer verloren gegangen. Als Deutschland 1939 Polen angriff, war die Hälfte der Bevölkerung Oswiecims Juden, heute gibt es in Oswiecim keine jüdische Gemeinde mehr. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers wurde 1947 auf Initiative überlebender Häftlinge das "Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau" gegründet. Jährlich kommen etwa 500.000 Menschen aus über 90 Ländern hierher. Auch wenn die Deutschen noch kurz vor der Befreiung des Lagers versuchten, alle Spuren zu verwischen, so sind zahlreiche Beweise und Zeugnisse ihrer Vernichtungsmaschinerie erhalten geblieben. Das Zentrum der Vernichtung Auschwitz war nicht das erste Konzentrationslager, das die Deutschen errichtet haben. Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück existieren schon, als 1940 mit dem Bau von Auschwitz begonnen wird. Jüdische Bewohner aus Oswiecim werden gezwungen, das Lager aufzubauen. Zunächst ist es als Gefangenenlager für politische Gegner aus den eroberten Gebieten geplant. Als Lagerkommandant ernennt Heinrich Himmler den SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß, der vorher schon Blockführer in Dachau und Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen war. Unter seiner Leitung wird die Vernichtung der Juden systematisch betrieben. Doch schon lange bevor Auschwitz zum Massenvernichtungslager wird, morden Einsatzgruppen rücksichtslos Juden, Sinti und Roma sowie Kommunisten. Millionen von Menschen werden so im Laufe der nächsten Jahre ermordet oder sterben unter den katastrophalen Bedingungen in den Ghettos und bei Arbeitseinsätzen. Seit dem Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 treiben die Nationalsozialisten die so genannte "Endlösung der Judenfrage" voran. Auschwitz wird ausgebaut: Ein zweites Lager entsteht im drei Kilometer entfernten Birkenau. Auschwitz soll das Zentrum der Vernichtung werden. Insgesamt besteht Auschwitz aus drei Haupt- und über 40 Nebenlagern. Die ersten Gaskammern werden 1942 gebaut. Etwa 80 Prozent der aus ganz Europa nach Auschwitz deportierten Menschen wird direkt in die Gaskammern geschickt. Nur diejenigen, die - so die nationalsozialistische Sprachregelung - noch "verwertet" werden können, werden aussortiert: Wer noch arbeiten kann, wird zur Arbeit gezwungen. In den nahe gelegenen Buna-Werken, beim Bau neuer Strassen, Krematorien oder Siedlungen sterben die meisten der Arbeiter und Arbeiterinnen innerhalb weniger Monate unter den katastrophalen Arbeitsbedingungen. Das Leben im Lager "Man kann es eigentlich nicht in Worte fassen, denn es dürfte so etwas nicht geben und niemals gegeben haben," erklärt eine Überlebende zum Leben im Lager Auschwitz: "Das schlimmste für mich persönlich war die konstante menschliche Erniedrigung, das, was den Menschen vom Tier normalerweise unterscheidet – bzw. einem Tier ist es bedeutend besser gegangen als einem Menschen ... man hat uns einfach wie Dreck und Ausschuss behandelt." Die Unterkünfte der Häftlinge waren Baracken und ehemalige Pferdeställe, in die die Menschen gepfercht wurden. Die Enge, die fehlende Hygiene, Hunger und Kälte führten zu Krankheiten und Epidemien. Täglich starben Menschen in den Häftlingsunterkünften. Die Überlebenden waren umgeben von Menschen, die nur noch dahinvegetierten, von Sterbenden und von Leichen. Wer Schwäche zeigte, wurde schikaniert und, wenn er nicht von allein starb, zum Sterben aussortiert. Viele Häftlinge wurden für Experimente missbraucht: Ärzte, die in Auschwitz arbeiteten, führten Frauen chemische Mittel ein, um neue Methoden der Sterilisation zu testen. Die meisten starben daran, die Überlebenden wurden getötet, um ihre Leichen zu untersuchen. Zwillingspaare und Menschen mit angeborenen Anomalien wurden vermessen, Experimenten ausgesetzt und meistens ebenfalls getötet, um die toten Körperteile weiter zu untersuchen oder für Demonstrationszwecke zu konservieren. Ungeachtet dieser Grausamkeiten führten die Täter in Auschwitz ein geradezu gespenstisch normales Leben: Das Personal, die Ärzte, die Kommandanten und SS-Bewacher gingen nach ihrer Arbeit nach Hause zu ihren Familien, um Abendbrot zu essen und mit den Kindern zu spielen. In der SS-Siedlung gab es ein Kaffeehaus, ein Schwimmbad, eine Bibliothek, Kindergärten, Schulen und verschiedene Veranstaltungen zur Unterhaltung der hier lebenden deutschen SS-Familien. In den Gärten und im Haushalt der Familien arbeiteten nicht selten KZ-Häftlinge als Gärtner oder Dienstboten. Die Befreiung Während der ganzen Jahre versuchte die SS ihr grausames Treiben geheim zu halten. Als im Juli 1944 sowjetische Truppen das weiter im Osten gelegene Lager Majdanek befreiten, begann die SS das Lager Auschwitz aufzulösen. Damals lebten dort etwa 155.000 Menschen. Die Hälfte von ihnen wurde in andere Lager weiter im Westen gebracht. Auf den "Todesmärschen" nach Mauthausen, Sachsenhausen, Bergen-Belsen oder in andere Lager starben die meisten von ihnen. In Auschwitz wurden erst im November die Vernichtungsaktionen endgültig eingestellt, noch im Oktober 1944 wurden 40.000 Menschen vergast. Die anderen wurden gezwungen, die Spuren der Vernichtungsmaschinerie zu beseitigen. Nicht alles wurde zerstört, brauchbares Material der Krematorien wurde zu anderen Lagern im Westen transportiert. Mitte Januar 1945 begannen die letzten Todesmärsche von Auschwitz in Richtung Westen, und auch die Wachmannschaften verließen nun allmählich das Lager, unter ihnen der für seine brutalen medizinischen Experimente berüchtigte Josef Mengele. Als sowjetische Truppen am 27. Januar 1945 Auschwitz befreiten, lebten dort noch etwa 7000 Häftlinge, viele von ihnen so schwach, dass sie selbst die Befreiung nicht mehr überlebten. Holocaust Ausführliche Informationen zum NS-Völkermord finden Sie auf den Seiten des Deutschen Historischen Museums. >> http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/holocaust/index.html (Autorin: Sine Maier-Bode) (Redaktion: Christoph Teves) (Stand vom 27.01.2005) 9. NOVEMBER 1938 Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938: Überall in Deutschland werden Synagogen in Brand gesetzt, mehr als 7000 jüdische Geschäfte und unzählige Wohnungen demoliert und geplündert. Menschen werden verhaftet, gefoltert und getötet. An den Aktionen beteiligten sich SAund NSDAP-Mitglieder, aber auch Angehörige der Hitler-Jugend (HJ) und anderer NS-Organisationen. Die nichtjüdische deutsche Bevölkerung verhielt sich zwar distanziert gegenüber den Aktionen, aber nur wenige halfen den bedrängten Menschen. Die Juden waren dem Terror meist schutzlos ausgeliefert. Die Vorgeschichte Was die nationalsozialistische Propaganda unter Joseph Goebbels als spontanen Ausbruch des Volkszorns darzustellen versuchte – als Reaktion auf die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch den 17-jährigen Juden Herschel Grünspan am 7. November 1938 – war in Wirklichkeit eine von langer Hand geplante Aktion. Ausgelöst wurde das Pogrom durch eine Hetzrede Goebbels auf der Versammlung der Führerschaft der NSDAP in München, der "Hauptstadt der Bewegung". Das Treffen fand alljährlich statt, um die "Gefallenen der Bewegung", also die getöteten Teilnehmer des missglückten Hitlerputsches vom 9.November 1923, pompös zu ehren. Unmittelbar nach der Rede gaben die anwesenden Parteifunktionäre ihren Dienststellen die Anweisungen zu den Ausschreitungen, wobei nach außen hin die Partei nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten sollte. Höhepunkt und doch nur Vorbote Die Reichspogromnacht, die damals wegen der vielen Fensterscheiben, die zu Bruch gehen, Reichskristallnacht genannt wurde, schien der Höhepunkt des Antisemitismus, der Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Bevölkerung in Nazi-Deutschland zu sein. Und doch war sie "lediglich" ein Vorbote dessen, was kommen sollte: des Holocausts, der systematischen, millionenfachen Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas. (Gabriele Trost) (Stand vom 30.09.2002) 20. JULI 1944 - DAS ATTENTAT Am 20. Juli 1944 versuchte eine Handvoll deutscher Offiziere, Hitler durch einen Staatsstreich zu beseitigen. Geplant war ein Sprengstoffanschlag während einer Besprechung in der "Wolfsschanze", Hitlers Hauptquartier. Doch der Staatsstreich scheiterte. Hitler wurde nur leicht verletzt. Die Attentäter bezahlten die Tat dagegen mit ihrem Leben. Der Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Mann, der gegen Hitler aufgestanden war und ihn beinahe beseitigt hätte, ist zur Symbolfigur des deutschen Widerstands geworden. >> Attentat auf Hitler >> Stauffenberg leitet den Staatsstreich >> Operation Walküre >> Aufstand der Offiziere >> Vernichtung des Widerstands >> Bilanz des Schreckens Attentat auf Hitler 20. Juli 1944, 12h42: Rastenburg, Ostpreußen. In der Wolfsschanze, dem streng abgeriegelten Führerhauptquartier beugt sich Adolf Hitler während einer Lagebesprechung über den schweren Eichentisch. Um ihn herum stehen mehre Generäle. Gemeinsam beraten sie das weitere militärische Vorgehen an der Ostfront. Plötzlich erschüttert eine ohrenbetäubende Explosion die Lagebaracke. Durch die Druckwelle stürzt die Decke ein, der schwere Tisch wird regelrecht in die Luft gehoben. Fast alle der ins Freie wankenden Männer sind leicht oder schwer verwundet. Vier Männer sterben. Stauffenberg leitet den Staatsstreich Zwei Männer fahren an der zerstörten Baracke vorbei: Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg und sein Adjutant Werner von Haeften. Sie sehen das Chaos, die Verwundeten. Sie sind die einzigen, die wissen was vor sich geht. Denn Stauffenberg hat soeben versucht mit einer Bombe Adolf Hitler zu töten. Im sicheren Glauben, dass Hitler der Explosion zum Opfer gefallen ist, gelingt es ihnen die Sperrkreise der Wolfsschanze zu verlassen, obwohl der Alarm schon ausgelöst ist. Obwohl Stauffenberg während des Afrikafeldzuges 1943 schwer verwundet wurde - er besitzt nur noch ein Auge und eine Hand mit drei Fingern - hat er ein Attentat auf Hitler verübt. Ziel des Anschlags ist es, Deutschland vom Joch des Nationalsozialismus zu befreien. Stauffenberg, dem Titel nach Chef des Generalstabs beim Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, gehört zu den wenigen Offizieren, die an den Lagebesprechungen im Führerhauptquartier teilnehmen dürfen. In einer Aktentasche hatte Stauffenberg eine präparierte Bombe in die Baracke geschmuggelt und dort unter dem Tisch, möglichst nahe bei Hitler abgestellt. Daraufhin verließ er unauffällig die Lagebaracke um der drohenden Explosion zu entgehen. Stauffenberg wird in Berlin noch gebraucht. Dort soll unter seiner Leitung die Operation "Walküre" starten, der zweite Teil des Attentats mit dem Ziel das Deutsche Reich von der Herrschaft der Nazis zu befreien. Was Stauffenberg nicht weiß: Der "Führer" lebt. Hitler, der sich eben noch über die Tischplatte gelehnt hat, wird durch die Wucht der Explosion nur leicht nach oben geschleudert. Der schwere Tisch rettet ihm das Leben. Seine Trommelfelle sind geplatzt, er trägt Prellungen und einige wenige Verbrennungen davon. Operation Walküre Unmittelbar nach dem Attentat sind Stauffenberg und von Haeften auf dem Rückflug nach Berlin. Dort befindet sich in der Bendlerstraße, dem Sitz des Allgemeinen Heeresamtes, das militärische Zentrum der Verschwörung. Plan der Verschwörer ist es, den Staatsstreich mit der Operation "Walküre" zu tarnen. Ursprünglich war der "Walküre"-Plan dazu gedacht, im Falle innerer Unruhen das in der Heimat stehende Heer zu mobilisieren. Doch die führenden Köpfe des militärischen Widerstands haben im Bendlerblock die Operation "Walküre" modifiziert. Nun soll das machtvolle Instrument Operation "Walküre" dazu genutzt werden, den Nationalsozialisten die Macht zu entreißen. Zu Beginn des Staatsstreichs steht der Anschlag auf Hitler. Nach Hitlers Ableben wären die Soldaten der Wehrmacht vom Eid auf den "Führer" entbunden. Das Attentat wollen die Verschwörer als innerparteilichen Machtkampf der SS, SD und Gestapo in die Schuhe schieben. Mit Auslösung der Operation "Walküre" sollen daraufhin in der Heimat stehende Verbände der Wehrmacht innerhalb von 36 Stunden die vollziehende Gewalt im Staat übernehmen. Die Wehrmacht soll die Institutionen der NS-Diktatur, Partei, Regierung, Gestapo und SSVerbände nach und nach ausschalten und Deutschland zu einer politischen Neuordnung verhelfen. Aufstand der Offiziere Noch während Stauffenberg das Flugzeug zurück nach Berlin besteigt, informiert der in die Verschwörung eingeweihte General Fellgiebel von der Wolfsschanze aus die in Berlin wartenden Verschwörer, dass Hitler überlebt habe. Unsicher geworden, unternehmen die in Berlin wartenden Beteiligten keine weiteren Schritte zur Operation "Walküre". Stauffenberg landet in Berlin-Rangsdorf gegen 15.45 und übermittelt General Olbricht telefonisch den Tod Hitlers. Dabei ererfährt er, dass wertvolle Stunden vergangen sind, ohne dass der Staatsstreich vorangetrieben wurde.Als er um 16.30 im Bendlerblock eintrifft, sind schließlich durch das beherzte Vorgehen Albrecht Mertz von Quirnheims Teile der Operation "Walküre" doch noch in Gang gekommen. Stauffenberg gelingt es, mit Hilfe der Mitverschwörer Generaloberst Friedrich Fromm, den Befehlshaber des Ersatzheeres, festzunehmen. Von nun an beginnt Stauffenberg mit Hilfe der am Staatsreich beteiligten Offiziere bis um 22.30 ein aussichtsloses Rennen gegen die Zeit. Mit einer Lawine von Fernschreiben und Telefonaten versuchen sie die Operation "Walküre" durchzuführen und Wehrkreise im Deutschen Reich und den besetzen Gebieten zum Staatstreich zu bewegen. Doch bis um 19.00 Uhr sind der Rundfunk, die Reichskanzlei, das Reichspropagandaministerium und das Reichssicherheitshauptamt immer noch nicht besetzt. Fatalerweise wird im Rundfunk bereits mehrfach vom fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler berichtet. Am Abend entgleitet den Verschwörern die Operation endgültig aus den Händen. Ihre Befehle werden kaum mehr befolgt, die ersten Gegenbefehle aus der Wolfsschanze dringen durch. Major Remer, glühender Nationalsozialist und Kommandeur des Berliner Wachbataillons, will sich von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels den angeblichen Tod des "Führers" bestätigen lassen. Goebbels erkennt sofort die Chance und stellt ein Blitzgespräch zwischen Remer und Hitler persönlich her. Hitler befördert Remer auf der Stelle durchs Telefon zum Oberst und befiehlt ihm mit seinen Truppen den Putsch niederzuschlagen. Gegen 22.40 belagert Remers Wachbataillon den Gebäudekomplex der Bendlerstraße. Die Verschwörer sind eingeschlossen, der Staatsstreich ist gescheitert. Vernichtung des Widerstands Mit unvorstellbarer Grausamkeit übt das nationalsozialistische Regime Vergeltung an den Verschwörern. General Ludwig Beck, der nach dem Putsch das neue Staatsoberhaupt werden sollte, wird am selben Abend in den Selbstmord getrieben. Um Mitternacht werden im Hof des Bendlerblocks Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht im Scheinwerferlicht der Wehrmachtsfahrzeuge standrechtlich erschossen. An der Ostfront nimmt sich der Mitverschwörer Henning von Tresckow einen Tag später mit einer Handgranate das Leben. Die übrigen Verschwörer werden fast ausnahmslos festgenommen, tagelang verhört und gefoltert. Eine Welle der Verfolgung setzt ein, die den militärischen und zivilen Widerstand gegen das Regime endgültig bricht. Ziel der Nationalsozialisten ist es, die Widerständler nicht nur zu beseitigen, sondern sie bis in den Tod zu demütigen und jedes Andenken an sie zu vernichten. In einem beispiellosen Schauprozess werden die Männer des militärischen Widerstands vor dem Volksgerichtshof einzeln vorgeführt und des Hochverrats bezichtigt. Der berüchtigte vorsitzende Richter Roland Freisler schreit ihnen die vorher festgelegten Todesurteile förmlich ins Gesicht. Oft werden die Todesurteile nur wenige Stunden nach der Verkündung vollstreckt. Hitler will die Männer "wie Schlachtvieh aufgehängt" sehen. In der Hinrichtungsstätte Plötzensee werden die Verschwörer und Mitlieder des Widerstands in Drahtschlingen langsam erhängt. Ihre Familien fallen der Sippenhaft zum Opfer. Zwei Wochen nach dem Stauffenberg-Attentat kündigt Himmler auf der Gauleitertagung in Posen an, er werde "eine absolute Sippenhaftung einführen... Sie brauchen bloß die germanischen Sagas nachzulesen.Wenn... eine Blutrache in einer Familie war, dann war man maßlos konsequent. Wenn die Familie vogelfrei erklärt wird und in Acht und Bann getan wird, sagten sie: Dieser Mann hat Verrat geübt, das Blut ist schlecht, da ist Verräterblut drin, das wird ausgerottet. Und bei der Blutrache wurde ausgerottet bis zum letzten Glied in der ganzen Sippe. Die Familie Graf Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied." Doch das nahende Ende des Krieges verhindert die Pläne der kollektiven Auslöschung durch das NS-Regime. Die meisten Angehörigen der Verschwörer überleben. Bilanz des Schreckens Die Bilanz des gescheiterten Attentats lässt sich in ihrer Tragweite kaum beziffern. Nach dem 20. Juli 1944 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sterben fast ebenso viele Menschen wie in den ganzen Kriegsjahren zuvor. Die letzte Gelegenheit dem Morden in Konzentrations- und Vernichtungslagern, dem Sterben an den Fronten, der Zerstörung durch Bombenangriffe und den großen Fluchtbewegungen Einhalt zu gebieten, war gescheitert. Himmler gelangte erst durch den 20. Juli 1944 auf den absoluten Höhepunkt seiner Macht, als er einen Tag nach dem Attentat zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt wurde. Hitler wurde wie nie zuvor, als von der Vorhersehung begünstigt, eine fast kultische Verehrung zuteil. Doch dem Triumph der Nationalsozialisten zum Trotz war durch das Attentat des 20. Juli sichtbar geworden, dass es im Dritten Reich noch Vertreter eines anderen, nicht gleichgeschalteten Deutschland gab. (Gregor Delvaux de Fenffe) (Stand vom 14.06.2004) nach oben