Manuelle Methoden Nerven – die geheimen Entscheider im Körper Ein chiropraktischer Blick auf Ernährung und Verdauung | Jaan-Peer Landmann Gut essen ist eine Sache, gut verdauen manchmal eine andere. Das vegetative Nervensystem übernimmt die Kontrolle nach der Nahrungsaufnahme quasi automatisch. Wieviel korrektiver Einfluss ist bei den Verdauungsvorgängen möglich? Chiropraktik nutzt das informative Wechselverhältnis von nervlichen und organischen Prozessen, um eine gestörte Verdauung wieder in die Balance zu bringen. Wie wichtig eine ausgewogene Ernährung ist, zeigt die EPIC-Studie mit 520.000 Europäern, an der auch das Deutsche Institut für Ernährungsforschung beteiligt ist: Sich abwechslungsreich und ausgewogen ernähren, Obst und Gemüse in größeren Mengen, Fleisch und vor allem Milchprodukte eher selten – all das senkt das Risiko zahlreicher Krankheiten und kann das Leben verlängern. Eigentlich scheint also alles ganz einfach. Fehlen nur noch Ruhe beim Essen, ein nicht zu spätes Abendbrot sowie weitestgehender Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Und trotzdem passiert es gelegentlich: Die Verdauung hält sich nicht an eine gute Vorarbeit. Kein Wunder, denn das Problem hat seine Ursache teilweise gar nicht im Verdauungstrakt. Chiropraktik setzt hier an. Der chiropraktische Ansatz basiert auf der medizinischen Tatsache, dass das Nervensystem alle Körperprozesse koordiniert und kontrolliert: Das zentrale Nervensystem verläuft durch das Rückenmark bzw. durch die Wirbel unserer Wirbelsäule. Wird ein Nerv durch die Fehlstellung eines Rückenwirbels gestört, kann sich das aufgrund des entstehenden Nervendrucks auf den gesamten Körper auswirken. Es kommt zu einem so genannten vertebralen Subluxations-Komplex. Die World Health Organization definiert den chiropraktischen Subluxations-Komplex wie folgt: „Eine Läsion oder Dysfunktion in einem Gelenk oder Bewegungssegment, in dem Ausrichtung, Bewegungsintegrität und / oder physiologische Funktion verändert sind, obwohl der Kontakt zwischen den Gelenkflächen intakt bleibt. Es ist im Wesentlichen eine funktionale Entität, die biomechanische und neuronale Integrität beeinflussen kann.“ Alte Erkenntnis mit weitreichender Wirkung Schon 1910 veröffentlichte der Begründer der Chiropraktik, Daniel David Palmer, in seinem Werk „The Chiropractor’s Adjuster“ Abb. 1: Gesunder Darm, gesunder Mensch? Das greift nicht weit genug, auch das Nervensystem muss intakt sein. 46 das Konzept der drei Ts als Ursache für Subluxationen: Gedanken (thoughts), Traumen (trauma) und Gifte (toxins). Damit legte er den Grundstein für das Verständnis, dass eine Subluxation im gesamten Nervensystem Veränderungen auslösen kann, nicht nur an dem betroffenen Wirbelsegment oder den dort austretenden Nervenbahnen. Bereits in seinen Grundüberzeugungen bezog er die Ernährung im Rahmen der Betrachtungen zu Giften mit ein. Emotionaler Stress, Negativität (thoughts) und schädliche chemische Substanzen (toxins) waren für ihn genauso Krankheitsverursacher wie körperliche Traumen. Die Erklärung dafür lautet, dass kein Stressfaktor vom Körper unbemerkt bleibt und jeder eine Entsprechung auf Körperebene hat. Muskeln verspannen sich bei Gefühlen genauso wie bei mentaler Anstrengung oder eben körperlicher Belastung. Der Körper reagiert auf schweres Essen, Alkohol und Nikotin oder andere Gifte. Und jede Muskelreaktion ist gesteuert durch das Nervensystem. Sind die Spannungszustände zu stark, beeinflussen sie über Haltungsstörungen und Fehlstellungen der Wirbelsäule auch das vegetative Nervensystem. Darunter leiden ggf. die Atmung, der Stoffwechsel- und Wasserhaushalt – und eben auch die Verdauung. Denn neben den Vitalfunktionen kontrolliert das Nervensystem auch Organe wie den Magen. Dabei fungiert das System als eine Art Postbote, der zwischen Gehirn und Organ (und umgekehrt) Meldungen übermittelt. Es muss nicht einmal zum Streik – also zum Vollausfall – kommen, damit in diesem System Störungen auftreten. Ein kleiner Engpass reicht bereits aus, um spürbare Folgen zu erzeugen: Blähungen, Verstopfung, Durchfall, Bauchschmerzen, Krämpfe und mehr können auftreten, wenn der Informationsfluss zwischen Gehirn und Verdauungstrakt beeinträchtigt ist. Einflussmöglichkeiten gibt es natürlich: Vermeiden von Stress, Anspannung, Unruhe oder einfach Situationen, die einen überfordern – dann geht es auch dem Nervensystem tendenziell besser. Es steht – auch sprichwörtlich – weniger unter Druck. Allerdings ist das im heutigen Alltag ein für viele nahezu kaum erreichbarer Zustand. August | 2016 CO.med Manuelle Methoden Vegetatives Nervensystem im Überblick Der Mensch verfügt über das vegetative und das somatische Nervensystem. Während wir das somatische System größtenteils willkürlich kontrollieren können – z. B. koordinieren wir mit diesem System unsere Motorik und steuern bewusst Bewegungen –, fungiert das vegetative Nervensystem als nahezu unabhängige Schaltzentrale. Es lässt sich in drei unterschiedliche Systeme unterteilen: 1. Sympathikus Dieser Teil unseres Nervensystems versetzt den Körper in Stresssituationen oder bei Gefahr in Alarmbereitschaft. Wir fangen z. B. an zu schwitzen, unser Herz schlägt schneller und auch unsere Verdauung wird gehemmt. Die Nervenzellen des Sympathikus entspringen im Rückenmark der Brust- und Lendenwirbelsäule. Wird er aktiviert, schickt er den Botenstoff Noradrenalin zu den Organen und sorgt für den höheren Puls, die geweiteten Pupillen und die gestoppte Verdauung. 2. Parasympathikus Auch bekannt als der Gegenspieler des Sympathikus, denn er bringt unseren Körper in einen Ruhezustand. Die Herzfrequenz sinkt, wir verdauen wieder. Die Neuronen des Parasympathikus haben ihren Ursprung zu 75 Prozent im Hirnstamm, die restlichen 25 Prozent beginnen im sakralen Rückenmark. Bei der Aktivierung setzt der Parasympathikus den Botenstoff Acetylcholin frei und leitet diesen an die Organe weiter – mit den beschriebenen Folgen. 3. Das enterische Nervensystem Dieses komplexe Geflecht aus Nervenzellen durchzieht nahezu den gesamten Magen-Darm-Trakt. Es wird auch als „Gehirn des Verdauungskanals“ oder „Bauchhirn“ bezeichnet. Weitestgehend unabhängig steuert es unsere Verdauung und erhöht beispielsweise die Darmperistaltik. ABER: Sympathikus und Parasympathikus beeinflussen die Nervenfasern des enterischen Systems; sie führen von Gehirn und Rückenmark aus hin zu den Organen und enden beispielsweise an den Muskelzellen der Darmwand. CO.med August | 2016 Die Folgen können Verdauungsbeschwerden genauso sein wie Kopfschmerzen oder Verspannungen. Besonders anfällig für Störungen im Informationsfluss ist unser Nervensystem genau dort, wo die Nerven aus der das Rückenmark schützenden Wirbelsäule austreten. Kommt es hier zu Fehlstellungen einzelner Wirbel, zum Beispiel im Brust- oder Lendenbereich, kann sich das unmittelbar auf den Verdauungstrakt auswirken. Denn die hier entspringenden Nerven versorgen die Verdauungsorgane mit Informationen und steuern so ihre Funktion. Ist also der Informationsfluss durch eine Fehlstellung in einem Wirbelsäulensegment gestört, kommt der gesendete Impuls nur unvollständig oder womöglich gar nicht an. Mit anderen Worten: der Verdauungsprozess verläuft nicht so, wie er sollte. Ein System, drei Einheiten Das vegetative Nervensystem des Menschen besteht aus drei Einheiten: Sympathikus, Parasympathikus und enterisches Nervensystem, auch ENS genannt. Zwar arbeitet das enterische Nervensystem vollständig autonom. Sympathikus und Parasympathikus haben jedoch Einfluss auf das ENS, um den Gesamtorganismus zu harmonisieren. Wenn also Wirbelblockaden den Informationsfluss im Nervensystem hemmen bzw. blockieren, können Sympathikus und Parasympathikus gestörte Signale an das ENS und damit auch an die einzelnen Verdauungsorgane senden. Vom Fötus zum Senior Der entwicklungsbiologische Zusammenhang zwischen Nervensystem und Verdauung liegt auf der Hand: Etabliert ist die medizinische Überzeugung, dass sich beim Fötus im Mutterleib das, was wichtig ist, zuerst ausbildet. Die ersten vollständig entwickelten Organsysteme beim Fötus sind die Wirbelsäule und der Verdauungstrakt. Daraus kann bereits auf einen engen Wirkungszusammenhang zwischen den Systemen geschlussfolgert werden. Viele Säuglinge und Kleinkinder weisen – beispielsweise aufgrund von Geburtstraumen – eine Subluxation im Atlas-Occipitalgelenk, dem Übergang zwischen Wirbelsäule und Kopf, auf. Daran verläuft unter anderem der Nervus vagus (Parasympathikus). Dieser ist an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. Die Verdauung solcher Kinder ist mehrheitlich gestört. Auch sogenannte KiSSSyndrom-Kinder haben daher in der Regel Verdauungsproblematiken. Ein weiterer Aspekt ist, dass bei der Bildung der biomechanischen Kompensationskette, die der ersten Grundsubluxation folgt (siehe Atlas), unter anderem auch ein Beckenschiefstand entsteht. Einerseits übt dies mechanischen Druck auf die Verdauungsorgane aus, andererseits führt die Verdrehung der Lendenwirbelsäule zu Irritationen der Nervenwurzeln in diesem Segment, die wiederum zu Störungen der Verdauungsaktivität führen können. Zusammengefasst bedeutet das: Eine Subluxation beeinflusst die Fähigkeit zu reibungslosen Stoffwechselabläufen im menschlichen System, gleich welchen Alters. Aufgrund einer solchen Störung können sich auch früh Nahrungsmittelunverträglichkeiten aufbauen. Diese wirken sich wie- Manuelle Methoden derum auf das System aus, da sie chronische Entzündungen vermitteln. Die Folge davon ist, dass die Aktivitäten des Nervengeflechts im Darmbereich, welche an der Serotoninproduktion beteiligt sind, dadurch negativ beeinflusst werden können. Der Pegel des Wohlfühlhormons Serotonin wird also direkt über die Darmaktivität beeinflusst. Unter anderem hat Dr. Ralf Kirkamm mehrfach dokumentiert, dass chronische Inflammationen durchaus zu Depressionen führen können. Hieraus lässt sich schlussfolgern: Ernährung, Nervensystem, Umwelteinflüsse, Medikamente, Nahrungsmittelzusätze und vieles mehr bilden ein komplexes Netz an Wechselbeziehungen. B. J. Palmer hatte, wie oben erwähnt, schon in den Anfangszeiten der chiropraktischen Bewegung ein Verständnis dafür entwickelt, dass die Gesundheit des Menschen von der Wechselwirkung Struktur, Psyche und Chemie bedingt wird (chiropraktisches Dreieck). Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Chiropraktikers, neuronale Differenzen auf allen Ebenen des Körpers zu erkennen und zu beseitigen. Die chiropraktische Behandlung stellt so Patienten auch für weitere therapeutische Interventionen besser auf. Ob Darmtherapie, Ernährungsumstellung etc.: Sie profitieren erheblich davon, wenn der neurologische Stress chiropraktisch minimiert wird. Um Störungen bei der Verdauung darüber hinaus gezielt zu behandeln, setzen Chiropraktiker begleitend natürlich auch auf naturheilkundliche Darmdiagnostik und Programme zur Ernährungsumstellung. Ein Bild fasst den Grund einleuchtend zusammen: Hängen die Blätter und Blüten einer Pflanze, kann man sie chiropraktisch aufrichten, aber ohne die richtige Erde, das gesunde Maß an Wasser sowie Licht und Wärme hängen die Blätter bald wieder. Ohne umfassende Sorge wird die Pflanze eingehen. Chiropraktik ersetzt keine gesunde Ernährung, sondern ergänzt sie. Atlas (C1) und Kopfgelenke C0/1/2: Einflussnahme auf den Parasympathikus Nervus Vagus / Hirnstamm: parasympathische Nerven mit Einfluss auf den Magen-Darm-Trakt Jaan-Peer Landmann (T1 bis L1/2): sympathische Nerven mit Einfluss auf das gesamte Verdauungssystem Sakraler Rückenbereich (S2 bis S4): sympathische Nerven mit Einfluss auf das gesamte Verdauungssystem www.der-querschnitt.de/archive/7778 (Infos aus: „Schauen wir genauer hin“) Abb. 2: Verdauungssystem: Übersicht beteiligter Wirbel 48 ist seit 1994 praktizierender Chiropraktiker, seit 1999 in seiner Praxis in Rosengarten bei Hamburg. In seiner langjährigen Tätigkeit als Chiropraktiker hat Jaan-Peer Landmann an zahlreichen nationalen und internationalen Aus- und Weiterbildungen rund um das Thema Chiropraktik teilgenommen. Zudem ist Jaan-Peer Landmann Vorstand und Mitgründer von Chiropraktik Campus, der neben chiropraktischen Weiterbildungen seit Oktober 2014 zudem einen Studiengang zum Master of Science Chiropractic anbietet. Ferner ist Herr Landmann Mitbegründer und erster Vorsitzender der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft für Chiropraktik e.V. Kontakt: Deutsch-Amerikanische Gesellschaft für Chiropraktik Ehestorfer Straße 3 D-21224 Rosengarten [email protected], www.dagc.de August | 2016 CO.med