Plädoyer für eine Institutionalisierung Praktischer Ethik

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In: Klaus Steigleder, Dietmar Mieth (Hg.), Ethik in den Wissenschaften. Ariadnefaden im technischen Labyrinth?,
Tübingen (Attempto), 1990, S. 257-269.
Plädoyer für eine Institutionalisierung Praktischer Ethik∗
von CHRISTOPH FEHIGE und GEORG MEGGLE
Praktische Ethik ist die rationale Auseinandersetzung mit praxisrelevanten moralischen Fragen. Will sagen: mit solchen moralischen Fragen, wie sie sich einzelnen Menschen (z.B. als
Privatleuten, Forschern,1 Konsumenten, Politikern, Ärzten, Autofahrern, Eltern) oder Gruppen von ihnen (wie Regierungen, Gerichten, Universitäten, Staaten, Kirchen, Firmen, Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Parlamenten) in ihren Entscheidungsprozessen stellen, kurzoder langfristig.
Sowohl in der Forschung und Lehre als auch in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik stehen im Bereich der Praktischen Ethik Bedarf und Angebot (letzteres quasi inexistent)
in einem eklatanten Mißverhältnis, auch im internationalen Vergleich. Wir weisen auf dieses
Defizit und seine Folgen hin und plädieren dafür, es zu beheben: Wir schlagen die Einrichtung
eines Instituts für Praktische Ethik vor.
I. Ethische Fragen
Ethische Fragen stellen sich überall, denn entschieden werden muß dauernd. Vernünftige Entscheidungen beginnen mit der Frage, was man will; und der Wille, in einer guten Welt zu
leben, ist unter unseren Präferenzen eine der prominentesten: Wir wollen eine Welt, in der
niemand verhungert oder verdurstet, in der jeder, der will, Arbeit findet, die ihn erfüllt, in der
Menschen nicht nur friedlich und frei, sondern solidarisch zusammenleben. In der die Menschen- und Bürgerrechte gewahrt sind. In der niemand unfreiwillig früher stirbt als nötig. In
der die Ressourcen gerecht verteilt sind und in der
Menschen von allem, was sie technisch machen können, nur genau das tun, was sie glücklich
macht.
Klingt das zu schön? Rationales Entscheiden erfordert den Blick auf das Mögliche. Aber
damit ist die Ethik nicht erledigt. Egal, wie weit die perfekte Lösung auch außer Reichweite
sein mag – dann wollen wir ihr eben so nahe kommen wie möglich. Dem Realismus ist Genüge getan, und Ethik verliert nicht an Dringlichkeit, wenn wir moralische Probleme als Maximierungsprobleme sehen. Das Beste ist das Bestmögliche.
∗
Gekürzte Fassungen dieses Plädoyers sind erschienen in: Information Philosophie 3 (1989) und Universitas 11
(1989).
1
Müßte es nicht heißen »Forschern und Forscherinnen«? Auch die Frage, ob hier sprachlicher Sexismus vorliegt, wäre von einer Praktischen Ethik zu thematisieren.
2
Zur Eruierung des Bestmöglichen aber, dessen also, das anzustreben und zu tun unter gegebenen Bedingungen in gegebenen Handlungssituationen geboten ist, müssen erstens die
Zielvorstellungen präzisiert werden: Wie stelle ich mir mein Leben genau vor? Genau wie soll
die Gesellschaft von morgen aussehen? Das Anführen vager Grundwerte und -rechte, vielleicht nur wegen ihrer Vagheit trivialerweise konsensfähig und vielzitiert, reicht dazu nicht
hin. Und zweitens muß die Auseinandersetzung mit genuin moralischen Problemen in Angriff genommen werden. Diese tauchen bereits bei der Präzisierung der Zielvorstellungen auf.
Und sie tauchen auf, wo Maßnahmen zur Herbeiführung guter Ziele selbst wieder moralisch
relevante Folgen und Nebenfolgen haben: Das haben fast alle solche Maßnahmen.
Sicher ist ceteris paribus die Welt besser, in der weniger Menschen an AIDS sterben. Sicher ist
aber auch ceteris paribus diejenige Welt besser, in der niemandes Persönlichkeitsrechte verletzt werden, beispielsweise durch Zwangsuntersuchungen.
Sicher ist ceteris paribus die Welt besser, in der wir sorglos und wohlhabend leben können.
Aber wie wohlhabend dürfen wir sein, wenn gleichzeitig Menschen verhungern?
Sicher ist ceteris paribus die Welt besser, in der unsere Wirtschaft floriert. Aber auch die, in
der jeder Arbeitswillige Arbeit findet. Und die, in der keine Rüstungswirtschaft
mehr vonnöten wäre; und die, in der es trinkbares Wasser gibt.
Sicher ist ceteris paribus die Welt besser, in der ich als Frau nur dann ein Kind bekomme,
wenn ich mir eines wünsche. Sicher aber auch die, in der niemandes Recht auf Leben
verletzt wird.
Sicher wollen wir in einem bestimmten Wortsinn nicht ›rot‹ sein. Und auch nicht tot. (Läßt sich
dazu vielleicht noch Geistreicheres sagen?)
Sicher wollen wir preiswerten Strom haben. Sicherlich wollen wir aber auch überleben. Wie
risikobereit sind wir?
Sicher wollen wir Erbkrankheiten bekämpfen. Sicher in unseren Labors keine Monster züchten. Wie risikobereit sind wir in diesem Punkt?
Sicher soll ceteris paribus jeder tun und genießen dürfen, was er mag. Sicher sollen aber auch
unsere Kinder geschützt, eine Verrohung unserer Mitmenschen verhindert werden:
Wieviel Gewaltszenen und wieviel Pornographie wollen wir in welchen Kontexten
zulassen?
Hier tauchen irreduzibel moralinterne Probleme auf. Es geht nicht um die beliebte (und ohnehin meist verfehlte) Gegenüberstellung von Machbarkeit und Moral. Selbst bei perfekter
Information und Einhelligkeit betreffs der technischen Details der Situationen und der Effizienz der jeweils erwogenen Maßnahmen stünden in all diesen Kontexten noch spezifisch moralische Güterabwägungen an: dieser Wert versus jener Wert. Diese Rechte (der einen Gruppe
oder des einen Menschen) versus jene Rechte (der anderen Gruppe oder des anderen Menschen). Diese potentielle segensreiche Technik versus das Risiko jener Katastrophe: Unumgängliche Fragen, die uns zu klaren Gedanken darüber zwingen, was wir wollen, und zwar
nicht in abstracto wollen, sondern in aller uns ganz einfach durch die Entscheidungssituation
3
diktierten Konkretion. Fernab von allem Wenn-und-aber ist Ethik simpel, aber nutzlos. Ethik
angesichts allen Wenn-und-abers ist knifflig, aber nötig.
Zahllos sind die Themen, die uns mit solchen Fragen konfrontieren. Hier nur ein Ausschnitt, weder trennscharf gegliedert noch erschöpfend, aus den Stichworten unserer zur (zumindest bibliographischen) Erfassung des Forschungsumfanges und -standes angelegten Kartei.
Leben und Tod: abortion, capital punishment, euthanasia, infanticide, criteria of the value of life,
organs (transplantation), vegetarianism, vivisection. Reproduktion, Genetik, Medizin: artificial insemination, genetic engineering / eugenics, in vitro fertilisation, reproduction techniques, sex selection, surrogate motherhood; methadon, paternalism in medicine, telling patients the truth, the
blood market.
Rechte: animal rights, Citizens’ rights, censorship / freedom of the press, civil disobedience, compensations, equality rights, human rights, IQ differences, past generations, paternalism (with the
disabled / with children), pornography, property rights.
Soziale Fragen: aborigines, AIDS and actions against it, computer ethics, discrimination (in general
/ male-female) and actions against it, environmental ethics, freedom of science, families and their
status, future generations, health politics, income, information politics, justice, law, liability, media, nuclear technology, poverty in the civilized world, professional ethics, punishment, showing
violence, technology, traffic: individual and public, universities and their neutrality, urban planning, work (quality / right to / duty to; unemployment).
Internationale Beziehungen: business ethics, deterrence, international ethics, military ethics,
nuclear weapons, political ethics, racism and actions against it, refugees, reparations, Third
World, war ethics.
Lebensführung: friendship, sharing life, love, lying / deceiving, the meaning of life, morality
under pressure, the philosopher’s responsibility, the scientist’s responsibility, sex, suicide,
supererogatory actions, the worker’s responsibility.
II. Wissenschaftliches Schweigen
Moralische Fragen stellen sich also an allen Ecken und Enden, sie tangieren uns, und oft genug
sind sie verteufelt schwierig. Für alle anderen Fragen mit diesen drei Eigenschaften leisten
wir uns Wissenschaften mit forschenden und lehrenden Experten, häufig zusätzlich mit Praktikern zur Wissensvermittlung und -anwendung. (Für unsere Präferenz, gesund zu sein: die
Medizin. Für unsere Präferenz, daß die Wirtschaft floriert: die Wirtschaftswissenschaft. Für
unsere Präferenz, daß unsere Kinder gut erzogen werden: die Pädagogik. Etc.) Ja, selbst zahllose, weit weniger präsente Fragen mit weit weniger Handlungsrelevanz lassen wir extensiv
erforschen und studieren. Warum dann nicht die Praktische Ethik?
Daß noch niemand auf die Idee gekommen sei, kann bestenfalls eine partielle Erklärung
sein. Teils nur latent, teils explizit stehen der öffentlichen Erforschung konkreter moralischer
Fragen lautere Bedenken und mitunter weniger lautere handfeste Interessen entgegen.
4
(1) Da ist zunächst die sich in bester aufklärerischer Tradition wähnende Konzeption des
wertfreien Staates: Wertfragen seien daher keine öffentlichen und damit auch keine öffentlich
zu behandelnden.
Doch bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß niemand von uns dieser Konzeption
anhängt. (Ihr konsensfähiger Kern ist einfach die Forderung, daß der Staat sich in bestimmte
Fragen der Lebensführung des einzelnen nicht einmischen soll, daß jeder etwa glauben darf,
lieben darf, verreisen darf, was, wen und wohin er will.) Jeder, der für ein Tierschutzgesetz,
für staatliche Entwicklungshilfe oder für Sozialhilferegelungen ist, hat bereits Abschied genommen vom Konzept des wertfreien Staates und steht sofort mit (öffentlichen) Fragen der
Praktischen Ethik da. (Übrigens hat, wie die einschlägige Fachdiskussion zeigt, selbst der Verfechter eines Minimalstaates à la Robert Nozick noch genügend öffentlich praktisch-ethische
Probleme: Nämlich alle Fragen des Typs, was genau noch unter das minimalstaatlich Rechtfertigbare fällt und was nicht mehr.) Aber selbst wenn moralische Probleme essentiell individuelle wären – über die Pflicht des Staates, ihre Erforschung zu sichern, wäre damit noch
nichts gesagt: Der Wunsch nach Gesundheit ist auch ein essentiell individueller; dennoch ist
er verbreitet genug, um staatliche medizinische Forschung und Lehre zu rechtfertigen.
(2) Der wissenschaftstheoretische, besonders Humesche und Webersche Zweig der gleichen aufklärerischen Tradition trägt Zweifel daran vor, daß Wertfragen überhaupt wissenschaftsfähig, ja überhaupt rational diskutierbar sind. Die resultierende Dichotomisierung von
Werten und Fakten ist heute ein von unseren Wissenschaftsbetrieben durchgängig akzeptiertes Dogma.
Sofern sie nicht gerade ethische Rationalisten sind, die im Anschluß an Kant glauben,
Argumente für substantielle Moralprinzipien zu haben, die kein Vernunftwesen widerspruchsfrei ablehnen kann, würden heute die meisten Philosophen die Weberschen Zweifel in
einer sehr grundsätzlichen Dimension teilen. Werturteile, im handlungsrelevanten Sinn des
Wortes, müssen (zumindest auch) Aussagen über Präferenzen sein, und man kann nicht voraussetzungsfrei jemandem ›andemonstrieren‹, daß er dies oder das will: Denn wenn er’s nicht
will, dann will er’s eben nicht. Aber wieviele Fakten würde das Kriterium voraussetzungsfreier Demonstrierbarkeit als NichtFakten vor der Tür lassen? Es ist einfach zu eng.2 Denn
›voraussetzungsfreie‹ Beweise gibt es auch in der Physik nicht, und die Akzeptanz eines Systems von empirischen Evidenzen, induktiven Schlußprinzipien und mathematischen Regeln
ist auch evaluativ: denn wenn einer seinen Augen nicht traut, dann traut er ihnen eben nicht.
Nur mit so einem System im Rücken ist ein Themenbereich wissenschaftsfähig, und die
Frage an die Praktische Ethik lautet, ob sie so ein quasi-konsensuelles Gerüst vorweisen kann
oder ob in ihr alles Geschmackssache und Willkür ist, so wie der eine eben Spinat mag und der
andere nicht. Dieses Gerüst jedoch hat sie ohne Zweifel. (Vgl. die Listen dessen, worin wir
uns alle einig sind, auf Seite 257f.) Unabhängig von unseren religiösen, ideologischen, philosophischen Hintergründen sind wir ja so gut wie alle für Gleichberechtigung, Wahrung der Menschenrechte und Frieden und gegen Hunger, Rassismus, entfremdete Arbeit und Gewalt. Und
in zahlreichen Fällen, in denen es um die Gewichtung der resultierenden prima-facie2
Vgl. besonders HILARY PUTNAM, Reason, Truth and History. Cambridge 1981.
5
Gebote geht, sind wir uns ebenfalls einig. Bliebe zu zeigen, daß der scharfsinnige Umgang mit
diesem Gerüst uns tatsächlich eine rationale Handhabe auch für zunächst unklare oder nicht
konsensuelle Angelegenheiten gibt. Wer dies bestreiten würde, kann sehr einfach widerlegt
werden: durch Gegenbeispiele. Etwa durch die Arbeiten von Forschern wie Richard M.
Hare, Anthony Kenny, Amartya Sen, Peter Singer, Judith Jarvis Thompson, Mary Warnock,
Bernhard Williams.3 Der Beweis ist längst erbracht und anerkannt, nur eben außerhalb der
Bundesrepublik: die Disziplin Praktische Ethik, hilfreich, undogmatisch, wissenschaftlich, ist
eben nicht nur nötig, sie ist möglich.
Daß andernorts diese Disziplin existiert und floriert, mit Instituten, Kongressen, Sammelbänden, Monographien, Fachzeitschriften, Berufsverbänden4 und Buchreihen,5 ergänzt
den auf weitreichender Handlungsrelevanz basierenden Bedarfsnachweis um ein vergleichsweise unwichtiges, aber nicht zu vernachlässigendes Argument: Diese Disziplin bei uns zu
etablieren, ist auch ein forschungspolitisches Desiderat. Deutsche Veröffentlichungen zur Praktischen Ethik betreffen bislang allenfalls einzelne Teilgebiete, beispielsweise die Wissenschaftsethik. Zumindest in den analytisch ausgerichteten Teil der internationalen Diskussion ist die deutsche Diskussion noch nicht integriert. Einige der hierzu gelegentlich Veröffentlichenden entstammen anderen Einzeldisziplinen als der Philosophie (Wirtschaftswissenschaft, Jura, Biologie, Medizin, Physik), ohne daß eine institutionalisierte Anlaufstelle für die
Forschungskoordination auch nur auf nationaler Ebene existieren würde. Mithin gilt bei allem
Respekt vor der Handvoll einzelner Kollegen, die der Praktischen Ethik einen so guten Weg
zu bahnen suchen, wie es der einzelne eben kann: von einer deutschen Forschungsrealität auf
diesem Feld kann im quantitativ ernstzunehmenden Sinne bislang keine Rede sein.
(3) Verlangt nicht die wissenschaftliche Lauterkeit, mit der Behandlung konkreter moralischer Angelegenheiten bis zur Lösung der ethischen Grundlagenfragen zu warten?
Erstens gebietet die wissenschaftliche Lauterkeit dem Ethiker, die ethische Dimension seines Schaffens im Blick zu halten. Und die besagt klar, daß die moralische Praxis nicht warten
kann, bis Aristoteles, Hare, Hobbes, Hume, Kant, Moore, Platon, Putnam und Weber sich
einig geworden sind. Wie es häufig unmoralisch wäre, statt zum Handeln zu kommen, beim
Moralisieren zu verbleiben, so wäre es häufig unmoralisch, statt zu konkreten moralischen
3
Das für den deutschsprachigen Leser zugänglichste Beispiel dafür, daß und wie Praktische Ethik funktionieren
kann, ist PETER SINGER, Praktische Ethik. Stuttgart 1984 (deutsche Übersetzung von Jean-Claude Wolf; engl.
zuerst 1979). Musterbeispiele praktisch-ethischen Argumentierens sind auch Singers andere Bücher, darunter:
The Reproduction Revolution. Oxford 1984 (zusammen mit DEANNE WELLS) – sowie, von ihm herausgegeben:
Applied Ethics. Oxford 1986.
– Aus der Fülle der Literatur seien hier weiterhin angeführt: AMARTYRA SEN, POverty and Famines: An Essay
on Entitlement and Deprivation. Oxford 1981; JUDITH JARVIS THOMPSON, Rights, Restitution, and Risk. Cambridge / Mass. 1986.
– Das dem bundesdeutschen haushoch überlegene Niveau der angelsächsischen Debatte um die Ethik der Abschreckung, generell um militärische Ethik, findet sich u.a. dokumentiert in: GREGORY S. KAVKA, Moral Paradoxes of Nuclear Deterrence. Cambridge / Mass. 1987; ANTHONY KENNY, The Logic of Deterrence. A Philosopher
Looks at the Arguments for and against Nuclear Disarmament. London 1985; MARSHALL COHEN et al.
(eds.), War and Moral Responsibility. Princeton 1974. – Allgemein zum Warum und Wie der Praktischen Ethik
siehe etwa RICHARD M. HARES konzisen Beitrag »Why Do Applied Ethics?«, in: P. JOSEPH et al. (eds.), The Challenge of Applied Ethics. New York 1986.
4
Z.B. der Society of Applied Philosophy in Großbritannien.
5
Z.B. der 1988 gegründeten, praktisch-interdisziplinär angelegten Serie »Moral Philosophy« der Oxford University Press.
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Problemen zu kommen, bei den abstrakten zu verbleiben, wie wichtig letztere auch sein mögen. Dringlichkeit selber generiert das moralische Gebot: in medias res! Auch die philosophische Tugend des ›Aufsletztedringens‹ kann unmoralisch sein, wo sie dieses Gebot verletzt.
Entscheidungen warten nicht auf Theorien, bevor sie akut werden.
Zweitens lehrt die Erfahrung in der philosophischen Ethik, daß insgesamt erstaunlich wenige Grundsatzdifferenzen auf die material-ethische Ebene durchschlagen. Der Kantianer,
der Intuitionist, der Aristoteliker und der Emotivist können ganz einfach Praktische Ethik
gemeinsam betreiben. Ihre verschiedenartigen Fundierungsstrategien jedenfalls müssen sie
nicht daran hindern.
Drittens leistet die Praktische Ethik immer auch Beiträge zur ethischen Grundlagenforschung. Zum einen stößt sie in der ethischen Praxis auf ungelöste Grundsatzprobleme, die sie
der Grundlagenforschung als Desiderate namhaft machen kann. Zum anderen bemißt sich die
Adäquatheit einer ethischen Theorie nicht selten auch daran, ob sie unseren materialethischen Überzeugungen gerecht wird. So sind Ergebnisse der Praktischen Ethik selbst
wiederum Prüfsteine für Ergebnisse der theoretischen Ethik.
(4) Selbst wenn wir die Möglichkeit dieser Wissenschaft und den öffentlichen Bedarf
anerkennen – ist die öffentliche Trägerschaft der optimale Rahmen? Kann sie die nötige
Unabhängigkeit sicherstellen?
Nun, wenn sie nicht, wer dann? Bei jeder nicht-öffentlichen Lösung wäre die Gefahr der
Beeinflussung größer. Mit logischer Sicherheit kann keine denkbare Trägerschaft Einflußnahme auf die Schaffenden ausschließen. Wer dieses Risiko scheut, müßte auch Dieter
Hildebrandt raten, sich von der ARD zu trennen. Soll dieses Risikos wegen die Sache
platzen, das gesamte politische Kabarett, die gesamte Disziplin Praktische Ethik? Das wäre
wohl ein noch größeres Risiko.
Aber nicht nur die objektive Gefahr von Abhängigkeiten gilt es zu berücksichtigen, auch
die öffentliche Meinung hinsichtlich dieser Gefahr, kurzum: die Glaubwürdigkeit. »Eine im
Auftrag des Verbandes für XY vom unabhängigen Institut Soundso durchgeführte Studie
kam jetzt zu dem Ergebnis, daß ...« – hören wir eine so beginnende Rundfunkmeldung, so
leuchtet bei uns schon ein Warnlämpchen auf: klar, daß die Studie pro-XY ausgefallen ist. Beträchtlich weniger hell leuchtet das Lämpchen, wenn von einer Studie der Universität Soundso die Rede ist, und wenn etwa das Center for Human Bioethics in Monash etwas veröffentlicht, dann weiß zumindest der Insider: Hier lese ich einen unabhängigen Beitrag, nicht einfach die Meinung der Pharma-Industrie, von Greenpeace, der katholischen Kirche, der und
der Partei oder anderer Gruppen.
Der öffentliche (z.B. universitäre) Rahmen, letztlich der demokratischen Legitimierung
fortwährend ausgesetzt, bietet dem Institut für Praktische Ethik das Maximum erstens an
Unabhängigkeit, zweitens an der zugehörigen Reputation, religiös, ideologisch und wirtschaftlich unabhängig zu sein. In jedem Fall muß das Institut, ob es nun selber universitär ist oder
nicht, an der ihm nächstgelegenen Universität auf die dortige Massierung von (vom Praktischen Ethiker fortwährend genutzten) Fachbibliotheken anderer Fächer und auf die Chance zur hautnahen Interdisziplinarität zurückgreifen können.
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(5) Es wäre naiv zu leugnen, daß die nüchterne Untersuchung bestimmter Fragen auch den
Interessen verschiedener Kräfte im Staat entgegenlaufen könnte: Gut möglich, daß klare Analysen etwa der Rechte von Tieren, der moralischen Fragen nach unseren Beziehungen zu Südafrika, nach der (kommerziellen) Nutzung dieser oder jener Technologie oder nach Aspekten
der ökologischen Ethik Ergebnisse hätten, die deutliche Fragezeichen hinter einzelne Momente unserer gesellschaftlichen Praxis und hinter sie stützenden Schein-Argumentationen setzen
würden, auch hinter solche Momente, für die es klar benennbare Nutznießer gibt.
Solche Analysen und deren Veröffentlichung, versehen mit Prestige und Multiplikatoreneffekt einer nicht-privaten (vielleicht sogar universitären) Institution, würde die kritisierten
Momente gefährden und damit den Interessen der Nutznießer potentiell schaden. Die Frage,
warum es in der Bundesrepublik Praktische Ethik als Wissenschaft nicht gibt, könnte also
auch eine ganz unakademische Antwort haben. Die in einer solchen Antwort anzuführenden
gesellschaftlichen Kräfte sind, nebenbei gesagt, auch genau die, die einer individualistischen
Verkürzung von Moral das Wort reden, also den Gesamtbereich des moralisch Beurteilbaren
auf essentiell private Problemkreise beschränkt haben möchten.
III. Öffentliche Desorientierung
Daß eine Wissenschaft der Praktischen Ethik in unserer Republik nicht existiert, wäre dann
nicht weiter schlimm, wenn der öffentliche Prozeß ethischen Deliberierens auch ohne sie
befriedigend liefe. Das aber ist nicht der Fall. (Und kann es vielleicht auch gar nicht sein:
Denn wo sollten die Argumente und Methoden herkommen? – vom Himmel fallen sie selbst
in der Ethik nicht.)
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Zahlreiche drängende ethische Fragen werden in der politisch-medialen Öffentlichkeit
gar nicht erst thematisiert.
Parlamente laden in Enquete-Kommissionen einige wenige Probleme auf die Schultern
überarbeiteter Abgeordneter, ohne daß es für deren besondere-qua-AbgeordnetenQualifikation zur Lösung ethischer Fragen ein gutes Argument gäbe.
Noch spärlicher sind Ethik-Kommissionen auf der Ebene gesät, auf der die meisten der
lebenswichtigen ethischen Probleme angesiedelt sind, auf der globalen nämlich, auf der es
etwa um Ökologie, Rüstung, Flüchtlingsprobleme und Maßnahmen gegen verbrecherische Regierungen geht respektive gehen sollte.
Klerikal (oder auch nur religiös) gebundene Arbeiten und Verlautbarungen zur Moral
enthalten oft ernstzunehmende Gedanken und Resultate; aber den theologischen Prämissen dieser Argumentationen fehlt es heute in weiten Teilen der Bevölkerung an Zustimmung. Aus Gründen dieser Art will Praktische Ethik in den Grenzen des Möglichen
die Diskussion ja gerade auf vergleichsweise konsensfähigem material-ethischem Input
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aufbauen und sie so von kontroversen systematischen Fundierungsfragen weitestgehend unabhängig machen.
Heroische Einzelfiguren wie Hoimar von Ditfurth, Robert Jungk oder Hans-Peter
Dürr treten als mahnende Rufer in der Wüste auf; aber die mangelnde institutionelle
Rückendeckung und gerade das Auftreten als Einzelperson zwingen sie in die eher
signalhafte Rolle dessen, der die moralische Flagge überhaupt hochhält; die Öffentlichkeit sieht sie eher als Problemanmahner denn als in verantwortlichen Handlungszusammenhängen mitdenkende Problemlöser.
Von Seiten der akademischen Philosophie gibt es kaum die Bereitschaft, die Ebene des
allgemeinen (oft auch nur: des schwammigen philosophischen Kauderwelsch) bis hinab in die Niederungen der Sachkundigkeit über einen gerade verhandelten Problembereich zu verlassen. In einschlägigen Kommissionen, Debatten, Fernsehdiskussionen etc.
liefern theologische und philosophische Beiträge des dort vertretenen Typs gerade einmal
den humanistischen Kontrapunkt, der es allen Beteiligten warm ums Herz werden läßt –
Argumentationshilfe jedoch sind sie für niemanden. Metaethik gar versteht sich explizit
als rein begriffliche Untersuchung und rechnet sich ihre Neutralität in Fragen der materialen Ethik als Tugend an. Nun, in vielen Kontexten sicher zu Recht. Nur ist sie halt vom
Brückenschlag zur moralischen Entscheidungspraxis damit oft nicht weniger weit entfernt als ihre nichtanalytischen Konkurrenten. Die deutliche Unterrepräsentation
praktisch-ethischer Forschungsprojekte selbst im schon interdisziplinär angelegten
Schwerpunktprogramm der DFG »Philosophische Ethik – Interdisziplinärer Ethikdiskurs« ist bezeichnend dafür, wie schwer sich die deutsche Philosophie mit der Praktischen Ethik derzeit noch tut.
Chancenreiche Foren für klärende Debatten sind Programmdiskussionen der demokratischen Parteien; doch auch sie weisen ernsthafte Defizite auf. Programme sind allgemein, oft auch zu allgemein formuliert, während es allein der Organisation wegen bei
auch nur halbwegs konkreteninhaltlichen Fragen fast unweigerlich eher zu einem topdown-Procedere als zu einer offenen Diskussion kommt. (Der Vorstand läßt ausarbeiten und schlägt vor, Basis-Delegierte stimmen ab.) Zudem kann es sich kaum eine Partei
erlauben, die Augen von den ihr nächststehenden Wählerpotentialen, von deren Interessen und Interessenvertretern abzuwenden. Hier müssen die Gewerkschaften zufriedengestellt werden, dort die Vertriebenen und das Großkapital, an anderem Orte die
Zahnärzte und wieder anderswo die NATO-Gegner. So sind einige Grenzen des Nachdenkens immer schon abgesteckt, die Fragestellung ist nicht mehr universal und unbefangen, und wieder kommt es zu lobbyistischen Verzerrungen.
Auch die Medien liefern uns so gut wie keine Beiträge, die phrasenfrei, argumentativ klar
und korrekt, einigermaßen erschöpfend und nicht als Hahnenkämpfe aufgezogen
wären. (Sie tun es erst recht nicht mit Themen, die nicht ohnehin gerade en vogue
sind.) Dazu fehlt es ihnen an Unabhängigkeit, Platz, Sendezeit und kompetenten Mitarbeitern. Kommt Report aus München, ist er rechts, kommt er aus Baden-Baden, ist er
ein bißchen links: In diesem Klima kann seriöse Ethik nicht gedeihen.
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Und wo lernen unsere Kinder moralisches Problemlösen? Wir könnten darauf bauen,
daß sie clevere Ethiker als Eltern haben (wo haben die es gelernt?); aber auf solche Zufälle bauen wir bei der Lehre mathematischen Problemlösens ja auch nicht.
Lernen sie es nur im Religionsunterricht? So begreifen sie Moral als wesentlich religionsgebundenes Unterfangen, und bei den zahlreichen Menschen, denen als Halbwüchsigen oder später der Gottesglaube verloren geht oder die anderen als den christlichen
Religionsgemeinschaften angehören, geht die Ethik gleich mit den Bach ’runter: Auf
eigenen Beinen, anders als argumentativ auf das Wort Gottes gestützt, anderswo als
im Religionsunterricht, in der Predigt, im Wort zum Sonntag oder der Morgenandacht
im Radio haben sie lauter betriebene Ethik ja nur allzu selten erlebt.
Sollten die Schüler es im Philosophieunterricht lernen? Aber wie viele Jugendliche
haben schon Philosophieunterricht? Und wo ist dies etwas anderes als Unterricht in
Philosophiegeschichte? In der Philosophie, im Ersatzunterricht für die sich vom Religionsunterricht abmeldenden Schüler – überall stellt sich die Frage: wo sind die entsprechend ausgebildeten Lehrer, wo die Lehrpläne, wo die Bücher für eine Unterrichtseinheit ›Praktische Ethik‹?
Die Verwendungsfrequenz moralischer Wertprädikate jedoch verhält sich zu ihrem eigenen
argumentativen Back-up umgekehrt proportional. Sie inflationiert, während letzteres fehlt.
Kein Wahlprogramm, keine Beziehungskisten-Diskussion, keine Politikerrede, keine Predigt,
kein Leitartikel, kein Flugblatt, kein Kinderausschimpfen, bei dem nicht, mit einschlägiger
Intonation in den moralischen Topf gegriffen würde: soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde,
Freiheit, Frieden, Recht auf Arbeit, Recht auf Leben, Selbstverwirklichung, Vertrauen, Offenheit, Gleichberechtigung, lebenswerte Umwelt, Zukunft unserer Kinder, gib-dem-Onkeldas-gute-Händchen, das sind die Hurrah-Wörter; und die Negativliste enthält unter anderem:
menschenfeindliche Politik, Rassismus, Ausbeutung, Unterdrückung, Chauvinismus, Egoismus, Grausamkeit, Rücksichtslosigkeit, pfui.
Diese Antiproportionalität ist instabil und gefährlich. Sie ist nicht nur eine technische
Erschwernis beim Nachdenken über lebenswichtige Fragen; sie ist dazu angetan, jedes solche
Nachdenken in Mißkredit zu bringen und letztlich sein Unterbleiben zu verursachen.6 Denn
wenn für ein Prädikat wie ›gerecht‹ keine deutlichen, anwendbaren Maßstäbe zu existieren
scheinen (oder präsent sind), wenn die Behauptbarkeitsbedingungen moralischer Urteile (und
die Methoden ihrer Eruierung) im dunkeln bleiben, dann scheinen alle mit gleicher Berechtigung jedwede Maßnahme als gerecht oder ungerecht bezeichnen zu dürfen. Das Wort ›gerecht‹
wird bedeutungslos oder behält bestenfalls eine emotive, ansonsten kriterienlose Semantik.
Wenn der Redner seinen Vorschlag »sozial gerecht« nennt, sagt er also, rhetorisch aufgemotzt:
»Irgendwie sagt mir diese Maßnahme mehr zu, und ich will Sie Ihnen, liebe Zuhörer,
schmackhaft machen«. Wenn moralische Urteile nichts als so etwas sind – welcher vernünftige
Mensch gibt dann noch einen Pfifferling auf sie? Das Reden von Moral ist dann ausgehöhlt, der
6
Ein in ALASDAIR MACINTYRES polemisch »After Virtue« betitelter Studie brillant diagnostizierter Prozeß;
London 21985.
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Mangel an anwendbaren Kriterien führt zum semantischen de facto-Emotivismus, der wieder
auf schnellstem Wege zur moralischen Indifferenz.
Dann kommen die Diagnostiker: Sinnverlust. Dann der Therapiemarkt, auf dem ein billiger Jakob mit dem anderen um die Kunden wetteifert. Am simpelsten ist die Rationalitätsflucht
in New Age-Mystizismen, angeboten in allen Geschmacksrichtungen. Freudig erregt quält sich
nun auch die Geisteswissenschaft aus dem Krankenbett direkt ins Feiertagsgewand und eilt
ins Freie: Daß sie das auf ihre alten Tage noch erleben durfte! Man hat nach ihr verlangt! Orientierungswissenschaft möge sie sein! Endlich sich wieder in wohltönenden Worten über das
Woher und Wohin des Menschen ergehen! Identität, Sinn, Heimat, Telos, Mutter Erde! Argumente? Ja, fühlt ihr’s denn nicht?
Neue drängende Probleme für die Ethik? Ach, wie démodé – und wohl auch harte Arbeit.
Sind die Probleme neu, dann ist die Zeit reif für: die Neue Ethik (die zu fundieren uns zum
Glück leider wieder für ein paar Jahre von den Problemen abhält, die ihre Neufundierung so
dringend nötig machten). Aber Neue Ethik ist nichts Halbes und nichts Ganzes, kreieren
wir doch gleich: die Neue Rationalität! Schluß mit der szientifizistischen Verkürzung des
Vernunftbegriffes, jetzt kommt die Rache! Sein! Wesen! Wiedergeburt! Hopsassa!
Es ist zum Heulen. Der Teufel, nämlich der gängige de facto-Emotivismus, wird mit dem
Beelzebub ausgetrieben, mit einem neuen Emotivismus, nämlich mit weltweisem, irrationalem, euphorischem Gerede, das bereits den gleichen Aushöhlungsmechanismus in sich trägt
wie das abzulösende. Wir stoßen auf Probleme, die mit größter Vernunftanstrengung zu beackern uns dringend geboten ist, und umgeben uns mit Gurus, die uns zu was raten? Ausgerechnet zum Ausstieg aus der Rationalität.
Eine Kette von Ablösungen eines jeweils ausgehöhlten Redens über Moral durch ein neues,
genauso wenig tragfähiges Vokabular bringt uns der dringend benötigten Kultur praktischethischen Deliberierens keinen Schritt näher. Zu ihr führt uns nur ein Weg: her mit den rationalen Anwendungskriterien, deren Mangel am Beginn des Aushöhlungsprozesses stand! Dadurch Wertprädikate mit in der Verwendungspraxis zugänglichem und überprüfbarem kognitiven Gehalt füllen! Durch diesen Überprüfbarkeitsgewinn lobbyistischen Scharlatanen, die
des emotiven Flairs wegen Moralurteile gern vor den eigenen Karren spannen, den emotivistischen Boden unter den Füßen fortziehen! So fällt mit dem Kognitivitätsgewinn die geschmäcklerische Beliebigkeit von Werturteilen fort, damit ist eine Ursache für Indifferenz gegenüber diesen Urteilen aus der Welt geschafft. Nach bestem Wissen und Gewissen sind Exempel praxisbezogener ethischer Vernunftarbeit anzuliefern: Wie sollten denn auch die Standards, deren öffentliche Nichtbeachtung zu beklagen ist, den Sprung ins Bewußtsein, geschweige denn in den öffentlichen Diskurs schaffen, wenn nicht einfach irgendwo begonnen
wird, sie zu praktizieren? Ein Institut für Praktische Ethik kann den Stein ins Rollen bringen.
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