Delir Neurologie Delir Neurologie - Deutsche Gesellschaft für Geriatrie

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H 64122
ISSN 1439-1139
2/2010
April
12. Jahrgang
Delir
Neurologie
@ D E L I R I M A LT E R
Pathophysiologie, Ursachen, Therapieansätze
@ I N F E K T I O LO G I E
Infektionen des zentralen Nervensystems
@ N E U R O LO G I E
Therapie der Multiplen Sklerose
@ N E U R O LO G I E
Störungen des Ganges
Lesen Sie mehr
dazu ab
Seite 33
EDITORIAL
Erkrankungen des ZNS,
Gangstörungen und Delir
G
eriatrie: Quo vadis?“ lautete der Titel eines Artikels im GERIATRIE JOURNAL 1/2010. Er befasste sich mit der
aktuellen Situation der Geriatrie und verdeutlichte das Spannungsfeld, in dem sie
sich derzeit befindet. Ein Blick zurück kann
Anregungen geben – für die Betrachtung der
Gegenwart und für den Blick nach vorn. Vor
diesem Hintergrund hat die Redaktion ein
Interview mit Prof. Meier-Baumgartner geführt und mit ihm darüber gesprochen, wie
er während seiner Berufstätigkeit Ziele, Ideen
und Visionen erarbeitet und umgesetzt hat.
Seine Antworten und seine Geriatrie-Visionen finden Sie in diesem Heft ab Seite 11.
Einen Schwerpunkt dieser Ausgabe bilden
Erkrankungen des Zentralen Nervensystems
(ZNS). Die Inzidenz von Infektionen des
ZNS liegt bei alten Menschen höher als bei
jüngeren Erwachsenen. Das Erregerspektrum erstreckt sich neben den üblichen
Mikroorganismen auch für Immunsupprimierte typische Pathogene. In dem Artikel
ab Seite 14 beschreiben Prof. Roland Nau,
Dr. Sandra Ebert und Prof. Helmut Eiffert,
alle Göttingen, exemplarisch drei Krankheitsbilder: die bakterielle Meningitis, der
spinale epidurale Abszess sowie durch Varizella-zoster-Virus (VZV) verursachte ZNSErkrankungen.
Mit der Therapie der Multiplen Sklerose
beim älteren Patienten befasst sich der Beitrag von Prof. Jörn Sieb, Stralsund. Der
Autor weist darauf hin, dass die Erkrankung,
die eher selten nach dem 50. Lebensjahr beginnt, im höheren Lebensalter meist ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium erreicht hat.
Vor diesem Hintergrund kommt es bei der
Behandlung häufig weniger auf eine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch eine
Immunmodulation an, sondern auf eine individuell ausgerichtete symptomatische Therapie. Hinweise dazu finden Sie ab Seite 19.
Weitere Schwerpunkte bilden Gangstörungen und das Delir. Die Häufigkeit von
Störungen des Ganges nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu und zählt zu den häufigsten Ursachen für Stürze. Gangstörungen
stellen im Alter oft keine homogene Krankheitsentität dar, sondern sind in der Regel
multifaktoriell determinierte Syndrome
unterschiedlichster Herkunft. PD Dr. Herbert F. Durwen, Düsseldorf,
zeigt ab Seite 27 die im Alter relevanten Krankheitsbilder auf, stellt Strategien
zur Diagnostik vor und erläutert allgemeine Ansätze
zur Behandlung.
Das Delir zählt zu den
häufigsten zerebralen Funktionsstörungen bei älteren
Menschen. Es gehört zu den
häufigsten Komplikationen
hospitierter geriatrischer
Patienten und ist oft mit
schwerwiegenden Komplikationen, einem daraus reFoto: fuxart – Fotolia.com
sultierenden verlängerten
Krankenhausaufenthalt und einer erhöhten
Mortalität verbunden. Unter der Federführung von Dr. Hans-Jürgen Heppner, Nürnberg, beleuchteten mehrere Autoren die Erkrankung aus verschiedenen Blickwinkeln.
Die Artikel beginnen ab Seite 33 und befassen sich mit Pathophysiologie, Symptomen,
Ursachen, Therapieansätzen sowie den Besonderheiten, die in der Pflege deliranter Patienten zu berücksichtigen sind.
Eine informative Lektüre wünscht Ihnen
Jola Horschig
Redakteurin GERIATRIE JOURNAL
I N H A LT
EDITORIAL
Erkrankungen des ZNS, Gangstörungen und Delir
3
NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
Wichtige Informationen in Kürze
6
Foto: Andrew Gentry – Fotolia.com
Die Inzidenz von Infektionen des
zentralen Nervensystems (ZNS) liegt
beim alten Menschen höher als beim
jungen Erwachsenen. Der Artikel befasst sich mit drei Krankheitsbildern:
der bakteriellen Meningitis, dem
spinalen epiduralen Abszess sowie
durch Varizella-zoster-Virus (VZV)
verursachten ZNS-Erkrankungen.
Seite
14
L I T E R AT U R : R E F E R I E R T & K O M M E N T I E R T
Protein- und Energie-Supplementierung: Neue Metaanalyse zur
Trinknahrung bei älteren Menschen
Chronisch-Lymphatische Leukämie: Vorstufen und Risiken der CLL
8
9
A K T U E L L : G E R I AT R I E F O R U M
(Selbst-)Vernachlässigung im Alter
ADK
10
AKTUELL: INTERVIEW
„Aus den Bedürfnissen der Patienten Ziele entwickeln“
Interview mit Professor H.-P. Meier-Baumgartner
11
Foto: BMBF
Die Therapie der Multiplen Sklerose
im Senium weist Besonderheiten auf.
In höherem Lebensalter ist meist ein
fortgeschrittenes Krankheitsstadium
erreicht, so dass es weniger auf eine
Beeinflussung des Krankheitsverlaufs
durch eine Immunmodulation ankommt, sondern auf eine individuell
ausgerichtete symptomatische
Therapie.
Seite
4
19
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
Infektionen des zentralen Nervensystems
Roland Nau, Sandra Ebert und Helmut Eiffert, Göttingen
N E U R O LO G I E : C H R O N I S C H E E R K R A N K U N G
Therapie der Multiplen Sklerose in der Geriatrie
Jörn Peter Sieb, Stralsund
14
DES
ZNS
19
GERIATRIE JOURNAL 2/10
I N H A LT
Foto: AOK-Mediendienst
Die Häufigkeit von Gangstörungen
nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu
und zählt zu den meisten Ursachen
für Stürze. Es handelt sich dabei in
der Regel nicht um eine homogene
Krankheitsentität, sondern um multifaktoriell determinierte Syndrome
unterschiedlichster Herkunft.
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
Störungen des Ganges
Herbert F. Durwen, Düsseldorf
27
Seite
27
SCHWERPUNKT: DELIR
Delir – Epidemiologie und Pathophysiologie
Katrin Singler, Martina Hafner und Cornel Sieber, Nürnberg/Basel
33
Therapieansätze und medikamentöse Intervention
Thomas Frühwald, Wien, und Hans Jürgen Heppner, Nürnberg
34
Delir in der Intensivmedizin
Hans Jürgen Heppner, Michael Christ und Cornel Sieber, Nürnberg
37
Das Postoperative Delir
Boris Singler, Erlangen
41
Pflegeplanung und Pflegeintervention
Frank Basedow-Klier, Nürnberg
43
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Depression: Neuer Therapie-Ansatz: Zirkadiane Rhythmik als
therapeutisches Target
Therapie des alten Tumorpatienten: Geriatrische Patienten profitieren
in hohem Maße von Krebstherapie
43
GERIATRIE JOURNAL 2/10
Das Delir ist die häufigste zerebrale
Funktionsstörung bei älteren Menschen und oftmals mit schwerwiegenden Komplikationen, einem daraus
resultierenden verlängerten Krankenhausaufenthalt und einer erhöhten
Mortalität verbunden: Pathophysiologie, Symptome, Ursachen, Therapieansätze sowie die Besonderheiten in
der Pflege ab
Seite
33
44
DIVERSES
Termine/Impressum
Foto: fuxart – Fotolia.com
Titelbild
47
Wally Stemberger – Fotolia.com
5
NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
Demenz: Stiftung fördert Weiterbildungen im Ausland
Die Robert Bosch Stiftung Stuttgart unterstützt Hospitationen, Fort- und Weiterbildungen sowie Studiengänge im Ausland
zum Thema Demenz. Die Unterstützung
ist finanzieller, aber auch fachlicher Art bei
der Planung und Umsetzung der Vorha-
ben. Das „Internationale Studien- und
Fortbildungsprogramm Demenz“ der Stiftung richtet sich an Pflegefachkräfte, Ärzte, Sozialarbeiter, Pädagogen, Architekten
oder Ingenieure, die Menschen mit Demenz begleiten. Mithilfe des Programms
Förderpreis „Geriatrische Onkologie“
Die Arbeitsgruppe Geriatrische Onkologie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie
(DGG) e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO)
e. V. haben für das Jahr 2010 den Förderpreis „Geriatrische Onkologie“ ausgeschrieben. Er wird für eine herausragende wissenschaftliche Publikation oder ein
Forschungsprojekt aus dem Bereich der geriatrischen Onkologie (Diagnostik, Therapie, Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation) vergeben. Mit dem Preis
sollen insbesondere jüngere forschende Kollegen in der Geriatrie und Onkologie
angesprochen werden. Bewerber/Innen sollten daher das 45. Lebensjahr noch nicht
überschritten haben.
Eine Jury, bestehend aus Vertretern aus Geriatrie und Onkologie, entscheidet
über die Prämierung. Die Preisverleihung wird im Rahmen Jahreskongresses der
Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Österreichischen Gesellschaft
für Gerontologie und Geriatrie (ÖGGG) vom 16.-18. September 2010 in Potsdam
stattfinden.
Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird von der Firma medac gestiftet.
Bewerbungsschluss ist am 30. Juni 2010. Antragsunterlagen können unter dem
Stichwort „Förderpreis Geriatrische Onkologie DGG/DGHO 2010“ angefordert
werden bei: Prof. Dr. Dr. Gerald F. Kolb, St. Bonifatius Hospital, Wilhelmstr. 13,
49808 Lingen, eMail: [email protected]
sollen die Kompetenz der Helfer demenzkranker Menschen verbessert, das Wissen
durch Bildungsangebote im Ausland erweitert und die Versorgung an wissenschaftlich fundierten Grundlagen verbessert werden.
Jeder Bewerber wählt das Gastland und
die Gasteinrichtung selbst aus und begründet seine Wahl. Der Aufenthalt muss
selbstständig organisiert werden, bei Fragen steht die Stiftung beratend zur Seite.
Studien- und Seminargebühren werden
bis zu 100%, Reise- und Aufenthaltskosten bis zu 75% übernommen. Die Teilnahme an Vor- und Nachbereitungsseminaren ist verbindlich. Die Stiftung erwartet von den Bewerbern berufliche
Erfahrung mit demenzkranken Menschen,
Sprachkenntnisse in Englisch oder des
Gastlandes und die Befürwortung durch
den Arbeitgeber.
Neue Bewerbungen können bis zum Ende eines Quartals (31.12., 31.3., 30.6.,
30.9) eingereicht werden. Alle nötigen
Informationen sind unter www.g-plus.org
zu finden.
Quelle: Robert Bosch Stiftung Stuttgart
Mehr Tumorerkrankungen und sinkende Mortalitätsraten
In diesem Jahr werden Urologen bei mehr
als 116.000 Menschen in Deutschland die
Diagnose Krebs stellen. Diese Prognose
geht aus Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin hervor. In seiner neuen „Krebs in Deutschland“-Broschüre hat
das Institut Krebsregisterdaten von 1980
bis 2006 ausgewertet und hochgerechnet.
Danach wird in diesem Jahr zwar bei gut
6% mehr Menschen als noch 2006 ein
bösartiger urologischer Tumor entdeckt
werden. Gleichzeitig sinken die Mortalitätsraten von Prostata-, Hoden-, Nieren-,
Harnleiter- und Blasenkrebs weiterhin
leicht.
Mindestens jede vierte aller Krebsneuerkrankungen wird als urologischer Tumor
lokalisiert. 2006 waren es nach Berechnung des RKI rund 109.000 der insgesamt 426.000 Neuerkrankungen. „Die
Entwicklung beim Prostatakrebs ist, bei
6
rückläufigen Sterberaten, durch einen erheblichen Anstieg der alterstandardisierten Erkrankungsraten gekennzeichnet“, so
das RKI zur häufigsten Krebsart beim
Mann. Trotz steigender Erkrankungsraten
sank die Mortalitätsrate bei Tumoren der
Prostata auf 10% aller Krebssterbefälle.
Die altersstandardisierte Sterberate ist laut
RKI gegenüber 1980 um 20% gefallen.
Häufigere Früherkennung und die Fortentwicklung der therapeutischen Möglichkeiten haben dazu beigetragen, dass
sich die Quote der Patienten, die nach der
Krebsdiagnose noch mindestens fünf Jahre leben, insgesamt erheblich verbessert
hat. Bei Prostatakrebs liegt die relative 5Jahres-Überlebensrate laut RKI inzwischen
bei rund 90%.
Die jährliche Zahl der Neubefunde für
Prostatakrebs stieg laut RKI für 2006 auf
60.100 Fälle. Dies ist außer auf Früher-
kennung und neue Methoden der Diagnostik besonders auch auf die demografische Entwicklung zurückzuführen. Der
Anteil älterer Männer an der Gesamtbevölkerung ist deutlich gestiegen.
Zu den häufigsten weiteren urologischen
Tumoren zählt der Blasenkrebs mit 27.450
Neuerkrankungen im Jahr 2006. Mehrheitlich Männer erkranken an dieser Krebsart, für die das durchschnittliche Erkrankungsalter mit deutlich über 70 Jahren relativ hoch liegt. Solange ein Blasenkarzinom
noch nicht auf Lymphknoten abgesiedelt
ist, hat das RKI bei Männern eine 5-Jahres-Überlebensrate von 75% ermittelt. Die
Sterbehäufigkeit bei Männern ist seit etwa
zehn Jahren rückläufig, bei Frauen stagnierend.
In die 16.490 Nierenkrebs-Neuerkrankungen des Jahres 2006 haben die RKI-Statistiker Nierenbecken- und Harnleiterkrebs
GERIATRIE JOURNAL 2/10
NACHRICHTEN: TRENDS & THEMEN
mit einbezogen, die etwa 10% der Fälle
ausmachten. Die Häufigkeit der Erkrankung hat sich gegenüber 2004 nicht wesentlich verändert, gleiches gilt jedoch auch
für die Häufigkeit, mit der Nierenkrebs
zur Todesursache wird. Bei Männern geht
weiterhin jeder sechste Krebstodesfall auf
Nierentumoren zurück, bei Frauen 2006
jeder neunte. Deutlich besser sieht es für
Männer mit Hodenkrebs (2006: 4960
Neuerkrankungen) aus. Die meisten Fälle treten in einem Patientenalter zwischen
25 und 45 Jahren auf. Die ohnehin geringe Mortalitätsquote ist weiter abnehmend,
und die relative 5-Jahres-Überlebensrate
liegt höher als 95%.
Die Broschüre „Krebs in Deutschland“,
die das Robert Koch-Institut alle zwei Jahre gemeinsam mit der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (Lübeck) herausgibt, ist jetzt in
der 7. Ausgabe veröffentlicht. Darin werden auf 120 Seiten für 21 Krebsarten, differenziert nach Geschlecht und Alter der
Patienten, neben Erkrankungshäufigkeit
und Sterblichkeit auch die wichtigsten Risikofaktoren sowie erstmals eine Projektion der Schätzungen auf das Veröffentlichungsjahr dargestellt. Die Broschüre ist im
Internet unter http://www.rki.de/nn_22
7180/DE/Content/GBE/gbe__node.html
zu finden.
Quelle: DGU
NRW-Fortbildungskongress
Am 12. Juni 2010 veranstaltet die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) in
der Universitätsklinik Köln den diesjährigen NRW-Fortbildungskongress Geriatrie.
Themenschwerpunkte sind:
@ Demenz S 3 Leitlinien
@ Nachwuchsförderung und
Geriatrieausbildung in NRW
@ Entwicklung der Geriatrie in NRW
Die Veranstaltung beginnt um 9.00 Uhr in Gebäude LFI, Säle LFI 1 und LFI 2.
Der Eintritt ist kostenlos, die Zertifizierung durch die Ärztekammer ist beantragt.
Nähere Informationen: gerikomm Media GmbH, Reiner Münster, Winzerstr. 9,
65207 Wiesbaden, Tel. 0 61 22/705-236, eMail: [email protected]
2008: 263 Mrd. Euro für Gesundheit
ausgegeben
Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, betrugen die Ausgaben für Gesundheit in
Deutschland im Jahr 2008 insgesamt 263,2
Mrd. Euro. Sie stiegen gegenüber dem Vorjahr um 9,9 Mrd. Euro (3,9%). Auf jeden
Einwohner entfielen damit Ausgaben in
Höhe von rund 3.210 Euro (2007: 3.080
Euro). Die Gesundheitsausgaben entsprachen 10,5% des Bruttoinlandsproduktes.
Dieser Anteil wird für das Jahr 2009 vermutlich auf über 11% ansteigen.
Größter Ausgabenträger im Gesundheitswesen war im Jahr 2008 die gesetzliche Krankenversicherung. Sie trug mit
das für die Augenheilkunde nicht zugelassene Medikament Bevacizumab (Handelsname: Avastin) eingesetzt. Diesen
„off-label-use“ von Avastin außerhalb der
Zulassung bezeichnen die Forscher als
„problematisch“. Wirksamkeit und Sicherheit des Medikamentes bei der AMD
seien wissenschaftlich unzureichend belegt.
Der Bericht liegt seit Ende September
2009 vor. Er kann im Internet unter
www.hta.uni-bremen.de/ abgerufen werden.
151,5 Mrd. Euro rund 57,5% der gesamten Gesundheitsausgaben (im Vergleich
zum Vorjahr +4,2%). Den stärksten Zuwachs verzeichnete mit +6,2% die private
Krankenversicherung. Ihre Ausgaben erhöhten sich um 1,4 rd. auf 24,9 Mrd. Euro. Damit entfielen im Jahr 2008 gut 9,5%
der Gesundheitsausgaben auf dieses Versicherungssystem.
Fast die Hälfte der Ausgaben für Güter
und Dienstleistungen im Gesundheitswesen wurde in ambulanten Einrichtungen
erbracht (130,9 Mrd. Euro bzw. 49,7%).
Die Ausgaben in diesen Einrichtungen sind
mit +4,5% überdurchschnittlich stark gestiegen. Die vom Ausgabenvolumen her bedeutsamsten ambulanten Einrichtungen
waren die Arztpraxen mit 40,2 Mrd. Euro
und die Apotheken mit 38,5 Mrd. Euro.
Den stärksten prozentualen Anstieg im
Vergleich zum Jahr 2007 verzeichneten die
ambulanten Pflegeeinrichtungen mit
+8,0%, deren Leistungen um 600 Mio.
auf 8,6 Mrd. angewachsen sind. Im (teil-)
stationären Sektor wurden im Jahr 2008
mit 94,6 Mrd. Euro 3,3% mehr aufgewendet als im Vorjahr. Zu den (teil-)stationären Einrichtungen gehören Krankenhäuser (66,7 Mrd. Euro; +3,5%), die Einrichtungen der (teil-)stationären Pflege (19,9
Mrd. Euro; +2,5%) sowie die Vorsorgeund Rehabilitationseinrichtungen, auf die
8,0 Mrd. Euro (+3,6%) entfielen.
Quelle: PRO RETINA Deutschland e.V.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Therapie der Altersabhängigen
Makula-Degeneration
Das Deutsche Cochrane Zentrum in Freiburg, das HTA-Zentrum in der Universität Bremen und die Augenklinik des
Universitätsklinikums Freiburg haben geprüft, wie gut Wirksamkeit und Sicherheit der Behandlungsverfahren belegt
sind, die zur Therapie der feuchten Form
der Altersabhängigen Makula-Degeneration eingesetzt werden. Für die Behandlung dieser Erkrankung zugelassen
sind die Photodynamische Therapie mit
Verteporfin (Handelsname: Visudyne),
Ranibizumab (Handelsname: Lucentis)
und Pegaptanib (Handelsname: Macugen). Aus Kostengründen wird aber auch
GERIATRIE JOURNAL 2/10
@ Osteoporose – Prävention und
Therapie
@ Geriatrie und Pflege
@ Mangelernährung
7
L I T E R AT U R : R E F E R I E R T & K O M M E N T I E R T
Protein- und Energie-Supplementierung
Neue Metaanalyse zur Trinknahrung
bei älteren Menschen
Protein- und Energie-Supplementierung führt bei mangelernährten
älteren Menschen zu positiven Therapieeffekten. Ein neues Cochrane-Review
ermittelt außerdem eine Reduktion der Mortaliät um 21%
Schmerzen nach
der Nahrungsaufnahme
Appetitlosigkeit
Einseitige
Ernährung
Ursachen von
Mangelernährung
bei Senioren
(ab 65 Jahre)
Kau- und Schluckstörungen
Erkrankungen der
Zähne und des Mundes
nach Pfrimmer Nutricia
Mangelernährung: Viele Gründe – ein Krankheitsbild
I
m Jahre 2009 wurde von Milne et al. [1]
ein neues Cochrane-Review zum Effekt
von Nahrungssupplementen bei älteren
Personen publiziert. In dieser Metaanalyse kommen die Autoren zu folgenden –
nicht nur für Geriater und Ernährungsmediziner – interessanten Ergebnissen: In
den 62 berücksichtigten randomisierten
Studien mit insgesamt 10.187 Probanden
findet sich zwar ein signifikanter Gewichtszuwachs von im Mittel 2,2% des
Körpergewichts in der Interventionsgruppe
und eine signifikante Reduktion der Komplikationsrate um 14% (RR 0.86, 95% CI
0.75 0.99), die in 24 Studien erfasst wurde, jedoch keine signifikante Reduktion der
Mortalität (RR = 0,92; 95% CI 0,811,04). Allerdings fand sich in der Subgruppenanalyse bei den als mangelernährt
klassifizierten Probanden (n = 2.461) eine signifikante Reduktion der Mortalität
um 21% (RR = 0,79; 95% CI 0,64-0,97)
und in den Studien, in denen mindestens
400 kcal/d angeboten wurden (n = 7.307),
eine grenzwertig signifikante Reduktion
der Mortalität um 11% (RR = 0,89; 95%
CI 0,78-1,00). Auf Grund der unzurei-
8
chenden Datenlage ist eine evidenzbasierte
Aussage zur funktionellen Verbesserung
der Patienten nicht möglich. Gleichzeitig
fand sich ein nicht signifikanter Trend zu
Senkung der Krankenhausverweildauer,
der auf Grund der Heterogenität der Daten jedoch ebenfalls nicht valide analysiert werden konnte.
Wie in den ersten beiden Versionen dieses Reviews aus den Jahren 2002 und
2005 mahnen die Autoren weiterhin die
geringe methodische Qualität der vorliegenden Studien an. Neben einer oft nicht
transparenten Randomisierungstechnik
werden die meist kurze Studiendauer, die
mangelhafte Darstellung des Probandenkollektivs, der Therapie-Compliance und
der Energieaufnahme kritisiert. Zudem
räumen die Autoren ein, dass die vorliegende Metaanalyse ganz wesentlich von
den Ergebnissen der FOOD-Studie dominiert wird, die 4.023 der 10.187
(39,5%) analysierten Probanden beisteuert. Diese Studie [2] untersuchte den Effekt von Trinknahrung bei unselektierten
Schlaganfallpatienten. Bemerkenswert ist
hierbei, dass die Patienten in dieser Stu-
die kein besonderes Ernährungsrisiko aufwiesen und nur 7,8% der Probanden als
mangelernährt klassifiziert wurden. 92,2%
der Patienten wiesen also einen normalen
Ernährungsstatus auf. Gleichzeitig wurde der Ernährungsstatus in dieser Studie
mit keinem etablierten Messinstrument
erfasst, sondern lediglich subjektiv von
nicht speziell geschulten Ärzten beurteilt.
Die Problematik dieses Vorgehens ist wohl
jedem Ernährungsmediziner bewusst. So
wundert es also nicht, dass in der FOODStudie kaum ein Effekt der Gabe von
Trinknahrung nachweisbar war, was natürlich auf Grund der zahlenmäßigen Dominanz des FOOD-Studienkollektivs in
der hier vorliegenden Metaanalyse erhebliche Auswirkungen auf deren Ergebnisse hat.
Trotzdem ließ sich hier ein eindeutiger
Effekt der Protein- und Energiesupplementierung bei Patienten mit Mangelernährung nachweisen. Eine 21%-ige Reduktion der Mortalität ist bemerkenswert
und übertrifft die Ergebnisse vieler positiver pharmakologischer Therapiestudien.
Es bleibt also zu fragen, warum trotz dieser guten Evidenz die Beurteilung des Ernährungsstatus und entsprechende Therapieinterventionen nicht längst Einzug
in die allgemeine medizinische Routine
der Behandlung älterer Menschen gehalten haben.
Fazit: In der vorliegenden Metaanalyse konnte dargestellt werden, dass die Protein- und Energie-Supplementierung
mangelernährter älterer Menschen zu positiven Therapieeffekten führt, die sich
zum Teil auch bereits beim Risikokollektiv nachweisen lassen, insbesondere dann,
wenn mindestens 400 kcal pro Tag zusätzlich angeboten werden.
Literatur:
1. Milne AC, Potter J, Vivanti A, Avenell A. Protein and
energy supplementation in elderly people at risk
from malnutrition. Cochrane Database of Systematic
Reviews 2009, Issue 2. Art. No.: CD003288.
DOI: 10.1002/14651858.CD003288.pub3.
2. Dennis M, Lewis S, Cranswick G, Forbes J. FOOD:
a multicentre randomised trial evaluating feeding
policies in patients admitted to hospital with a
recent stroke. Health Technol Assess 2006; 10 (2).
Kommentar der Arbeitsgruppe
Ernährung der Deutschen
Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
GERIATRIE JOURNAL 2/10
L I T E R AT U R : R E F E R I E R T & K O M M E N T I E R T
Chronisch-Lymphatische Leukämie
Vorstufen und Risiken der CLL
Vorstufen von Tumorerkrankungen sind interessante Phänomene zum Studium
der inneren und äußeren Bedingungen, die zur Entstehung von Tumorerkrankungen
beitragen, ebenso aber auch der Schutzmechanismen, die die Ausbildung eines
Tumors hindern. B-Cell-Lymphome scheinen dabei eine besondere Rolle zu spielen,
so kennen wir die monoklonale Gammophathie unklarer Signifikanz (M-Gus) als
Risikofaktor und Prä-Tumor des multiplen Myeloms, das ebenso wie die ChronischLymphatische Leukämie (CLL) ein typischer hämatologischer Alterstumor ist.
Die B-CLL als häufigstes niedrig-malignes Non-Hodgkin-Lymphom ist Gegenstand
der nachfolgend beschriebenen Untersuchung über die Rolle von monoklonalen
B-Zell-Klonen als frühe Marker für die Entstehung einer CLL.
S
eit längerem gibt es die Vorstellung,
dass gesunde Personen mit zirkulierenden monoklonalen B-Zell-Lymphozyten (monoklonalen B-Cell-lymphocytosis – MBL) ein erhöhtes Risiko haben,
im Verlauf ihres weiteren Lebens eine
manifeste CLL zu entwickeln. Diese Hypothese wurde nun im Rahmen der laufenden Populationsstudien zum Screening von Prostata-, Bronchial-, kolorektalem und Ovarialkarzinomen-Screening
(PLCO) überprüft.
Die Studie und ihre Ergebnisse: Zum
Zeitpunkt der Auswertung waren 77.469
gesunde Erwachsene in die PLCO-Screening-Studie aufgenommen. Unter diesen
Teilnehmern befanden sich 45 Personen,
die im Verlauf (6,4 Jahre) der Beobachtung
eine CLL entwickelt hatten. Dies ent-
sprach auch der statistischen Erwartung.
Interessant war der Zusammenhang mit
dem Vorkommen einer vorauslaufenden
MBL. Dazu wurde mittels Flow-Zytometrie mit den Antikörpern CD45,
CD19, CD5, CD10 sowie Antikörpern
gegen Immunglobulin-Leichtketten Kappa und Lambda sowie mittels Immunglobulin-Schwerketten Gen-Re-arrangement (IGHV) durch die Reverse-Transkiptase-Polimerase-Kettenraktion, das
Vorkommen von MBL untersucht. Dabei
zeigte sich, dass 44 der 45 Patienten mit
CLL (98%, 95% Confidence-Intervall
[CI]) die Kriterien des MBL aufwiesen. Bei
41 Patienten (91%/95% CI) wurden
monoklonale B-Zell-Klone mit beiden
Methoden Flow-Zytometrie und ReverseTranskiptase-Polimerase-Ketten-Reaktion
800
700
600
500
400
300
200
100
0
1519
2024
2529
3034
3539
4044
4550- 556049
54
59
64
Altersgruppen in Jahren
6569
7074
7579
8084
85+
Quelle: Hellenbrecht A., Messerer D., Gökbuget N.: Leukämien in Deutschland – Häufigkeit von Leukämien bei Erwachsenen in Deutschland;
www.kompetenznetz-leukaemie.de
Geschätzte CLL-Fälle pro Jahr in Deutschland
GERIATRIE JOURNAL 2/10
nachgewiesen. In 35 der 45 Erkrankten
wurden spezielle Immunglobulin-Schwerketten-Genvariablen festgestellt, wobei 27
(77%) Mutationen entwickelten und zwar
in der Phase zwischen der prä-diagnostischen Zeit (bezogen auf die Manifestation der CLL) und Sicherung der Diagnose CLL.
Diskussion: Wichtig für die Kinetik
der CLL-Entstehung: Nahezu die Hälfte
der Blutproben war drei oder mehr Jahre
vor der Ausbildung einer CLL gesammelt
worden und alle 25 Patienten, in deren präpostdiagnostischen Proben die B-Lymphozyten eine Leichtkettenrestriktion zeigten, wiesen in der prädiagnostischen Blutprobe die identische Restriktion auf.
Somit gilt als bewiesen, dass bereits Jahre vor dem klinischen Manifestwerden der
CLL eine MBL die Erkrankung ankündigt. Da jedoch gemessen an der Gesamtzahl aller MBL-Träger (3-5% aller
gesunden Menschen über 50 Jahre) nur in
einer kleinen Minderheit eine CLL entsteht, kann ein Screening auf MBL außerhalb von Studien natürlich nicht empfohlen werden.
Schlussfolgerung: Monoklonale B-Zellen-Klone sind durch eine prospektive Studie nunmehr eindeutig als Vorstufen der
Chronisch-Lyphatischen-Leukämie (CLL)
identifiziert. Sie reihen sich damit ein in
Phänomene wie die monoklonale Gammophatie unklarer Signifikanz (M-Gus).
Die Frage, inwieweit Alterungsprozesse
der Zelle selbst Ursache oder Risiken dieser Phänomene sind, kann zum jetzigen
Zeitpunkt nur statistisch beantwortet werden, da ein Zusammenhang mit ihrem
Auftreten und dem Alter besteht. Die Frage wird in Zukunft bei steigender Lebenserwartung zur Abschätzung von häufigen Tumorrisiken jedoch von zunehmender Wichtigkeit sein.
Prof. Dr. Dr. Gerald F. Kolb, Lingen (Ems)
Ola Landgren, M.D., Ph. Maher Albitar, M. D., Wanlong Ma, M. S., Fatima
Abbasi, M. S., M. P. H., Richard B.
Hayes, Ph. D., Paolo Ghia, M. D., Ph.
D., Gerald E. marti, M. D., Ph. D., and
Neil E. Caporaso, M. D. "B-Cell Clones
as Early Markers for Chronic Lymphocytic Leukemia". N Engl J Med 2009;
360: 659-667
9
A K T U E L L : G E R I AT R I E F O R U M
(Selbst-)Vernachlässigung im Alter
Am Mittwoch, den 10. März 2010, fand im Agaplesion Diakonissen Krankenhaus das achte Geriatrieforum
unter der Leitung von Chefarzt PD Dr. Rupert Püllen statt. Das Thema lautete in diesem Jahr „(Selbst-)Vernachlässigung im Alter“ und wurde von namhaften Referenten unter verschiedenen Aspekten beleuchtet.
D
er Fokus der Veranstaltung
„(Selbst-)Vernachlässigung im Alter“ zielte auf Menschen ab, die
sich nicht nur selbst vernachlässigen, sondern auch von ihrer Umwelt vernachlässigt werden. Da oft beides ineinander greift
und sich sogar verstärken kann, wurde
beiden Aspekten beim diesjährigen Geriatrieforum der Medizinisch Geriatrischen
Klinik des Agaplesion Diakonissen Krankenhauses Raum gegeben.
Viele Krankheiten Grund von
Selbstvernachlässigung
Prof. Dr. Dr. DP Rolf D. Hirsch, Chefarzt der Fachabteilung Gerontopsychiatrie und Psychotherapie der LVR-Klinik,
Bonn, referierte zum Thema „Psychiatrische Aspekte von (Selbst-)Vernachlässigung älterer Menschen“ und legte dar, in
welcher Form sich Vernachlässigungen bei
älteren Menschen zeigen. Angefangen von
der Vermüllung der eigenen vier Wände
oder der Verwahrlosung von sich selbst,
würden viele ältere Menschen Dinge bei
sich Zuhause horten, bis die Wohnräume
nicht mehr adäquat benutzbar seien. „Bei
diesen Menschen sind soziale Kontakte
sind stark eingeschränkt und bei Veränderungen reagieren diese Menschen mit
Panikattacken und Widerstand“, erklärte
Prof. Hirsch. Viele leiden an Abhängigkeit
(z.B. Alkohol), Demenz oder Schizophrenie. Um diese Selbstvernachlässigung behandeln zu können, muss laut Hirsch erst
einmal die Grunderkrankung mit Medikamenten, Psychotherapie etc. therapiert
werden. Weitere Schritte sind dann u.a. die
Organisation von Entrümpelung und Hilfediensten und Teilnahme an Selbsthilfegruppen.
In seinem Vortrag „(Selbst-)Vernachlässigung in Alteneinrichtungen“ ging Volker Gussmann, Leiter des Fachbereiches
10
Pflege der Hessischen Heimaufsicht Gießen, auf die sog. „Selbstpflegevernachlässigung“ ein. Bei dieser Form der Vernachlässigung werden Handlungen, die zur
Erhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens erforderlich sind, von den Betroffenen gezielt und bewusst nicht ausgeübt bzw. abgelehnt. Mögliche Ursachen
sind hierbei Schmerzen, körperliche
Schwäche, Depressionen, Unsicherheit
oder Resignation. Mögliche Präventionsmaßnahmen in der Pflege seien beispielsweise ausreichendes Fachpersonal und Kooperation der verschiedenen Fachbereiche
wie Ärzte- und Pflegepersonal.
Rechtliche Bestimmungen müssen
beachtet werden
Ein weiteres wichtiges Thema waren die
juristischen Aspekte, die Christian Braun,
LL.M. (Dublin), Betreuungsrichter am
Amtsgericht Frankfurt, vorstellte. Hierbei
spielten rechtliche Handlungsmöglichkeiten, die Betreuerbestellung, freiheitsentziehende Unterbringung sowie sonstige Einschränkungen der Selbstbestimmungsfreiheit eine Rolle. „Bevor über eine
Handlungsmöglichkeit für eine von Selbstvernachlässigung betroffenen Person entschieden wird, sollten die rechtlichen Vorschriften und Konsequenzen ganz genau
abgewogen werden und die betroffene Person in die Entscheidung einbezogen werden, sofern das möglich ist“, plädierte
Braun.
Mit neuester Technik weiterhin
selbstbestimmt zu Hause leben
Einen innovativen Ansatz zur Eingreifung
bei drohender Selbstvernachlässigung stellte Rolf H. van Lengen, Fraunhofer Institut Experimentelles Software Engineering,
Kaiserslautern, vor. „Ambient assisted li-
ving Technologien“ sollen älteren Menschen in ihrer häuslichen Umgebung den
Alltag erleichtern. Mit dieser Technologie
können beispielsweise alle Funktionen der
Haustechnik gesteuert werden. Hierzu
zählen die Steuerung von Licht, Fenster,
Rollläden, Türen, Fernseher etc. mittels
Sprachsteuerung, die älteren Menschen
die komplizierte Bedienung oder kräftezehrende Tätigkeiten im Haushalt erspart.
Mit dem Ambient assisted living-Ansatz
können zudem akute Ereignisse, wie Stürze oder akut kritische Vitalparameter, gemeldet oder manuell als Alarm ausgelöst
werden und den Menschen die Angst nehmen, alleine zu wohnen. „30% der über
65-Jährigen und 50% der über 80-Jährigen stürzen jährlich zu Hause, 40.000 Seniorinnen und Senioren sterben an Sturzfolgen. Mit unseren Ambient assisted living Technologien sorgen wir dafür, dass
die älteren Menschen länger selbstbestimmt zu Hause leben und ihre Lebensqualität erhalten und steigern können“,
so van Lengen.
Die Vorträge und Ansätze des Geriatrieforums 2010 machten die Risiken einer Selbstvernachlässigung deutlich, zeigten aber auch Wege auf, damit umzugehen. „Viele Bereiche müssen sich auf diese
Art der Erkrankung einstellen – in medizinischer oder rechtlicher Sicht. Da sich
Selbstvernachlässigung schleichend zeigt
und es verschiedene Krankheiten als Auslöser gibt, ist es für alle Disziplinen schwierig, damit umzugehen. Beim diesjährigen Geriatrieforum wurde uns dies erneut vor Augen geführt und es ist
spannend zu sehen, dass auch moderne
Technologie auf das Problem der Selbstvernachlässigung reagiert“, sagte der Chefarzt der Medizinisch-Geriatrischen Klinik
des Agaplesion Diakonissen Krankenhauses, PD Dr. Rupert Püllen, zum Ende der Veranstaltung.
ADK
GERIATRIE JOURNAL 2/10
AKTUELL: INTERVIEW
„Aus den Bedürfnissen
der Patienten Ziele entwickeln“
Interview mit Professor H.-P. Meier-Baumgartner
„Geriatrie – Visionen“ lautete der Titel eines Vortrags von
Prof. Hans-Peter Meier-Baumgartner. Das GERIATRIE JOURNAL sprach
mit ihm darüber, wie er Visionen entwickelt und welchen Stellenwert sie für ihn besitzen.
Professor Meier-Baumgartner, Sie können auf eine erfolgreiche geriatrische Tätigkeit zurückblicken. Sie waren Gründer
und ärztlicher Leiter des Schulungszentrums
für Bobath-Therapie. Sie waren ebenso lange Jahre Chefarzt und zum Schluss Direktor des Albertinen-Hauses in Hamburg, das
sich unter Ihrer Leitung zu einem der führenden Zentren für Geriatrie und Gerontologie
entwickelt hat. Was war Ihre treibende Kraft?
Meier-Baumgartner: Das ist schwierig zu
sagen. Ich denke, dabei spielen mehrere
Faktoren eine Rolle. Da ist zunächst einmal die Trias von Praxis, Forschung und
Lehre. Es war mir immer wichtig, klinisch
zu forschen, die Erkenntnisse zu evaluieren und die Ergebnisse zu kommunizieren,
sei es in der Lehre oder in Form von Vorträgen und Fachartikeln. Dann war es von
Anfang mein Anliegen, mit einem interdisziplinären Team zusammen zu arbeiten, denn Teams sind erfolgreicher als Einzelgänger. Außerdem war die umfassende
Versorgung mein Ziel. Dazu gehören Angebote für akut Kranke, für chronisch Kranke und für die Kranken in Pflegeheimen
sowie die ambulante Behandlung. Also die
Kombination von kurativer und rehabilitativer Behandlung. Ich wollte eine integrierte Geriatrie bzw. habe versucht, ein Integrationsmodell anzubieten und nicht nur
Krankheiten, sondern auch Behinderungen zu behandeln. Es ist ja die Mischung
aus Krankheiten und Behinderungen, die
sich im Alter hochschaukelt.
?
Sie hatten während Ihres Berufslebens
Ziele, die Sie erreichen wollten. Wie haben Sie Ihre Vorstellungen entwickelt?
?
GERIATRIE JOURNAL 2/10
Meier-Baumgartner: Eigentlich aus den
Bedürfnissen der Patienten. Ihr Ziel ist es,
wieder möglichst selbstständig zu werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, sollte man Instrumente haben. Es gibt Patienten, die
möchten so unabhängig wie möglich sein,
und es gibt Angehörige, die für eine gewisse
Zeit Entlastung suchen. Also muss man ein
Angebot kreieren, das möglichst kostengünstig die Bedürfnisse mit den möglichst
besten Mitteln und in möglichst kurzer
Zeit befriedigt. Deshalb muss man sich
überlegen, ob man vielleicht noch eine Tagesklinik braucht, weil das stationäre AnHans Peter MeierBaumgartner wurde
am 5. August 1945 in
Zürich geboren.
Nach dem Studium
der Medizin folgten
Weiterbildungsjahre
in Basel, Bern, Zürich, den USA und
Großbritannien. 1980 wurde er zum
Chefarzt des Albertinenhauses –
Medizinisch-Geriatrische Klinik und
Tagesklinik, Hamburg, berufen. Unter
seiner Leitung entwickelte sich das
Albertinenhaus durch Gründung einer
Akademie für gerontologische Weiterund Fortbildung, eines Schulungszentrums für Bobath-Therapie, einer eigenen Forschungsabteilung und einer
speziellen Einrichtung für Demenzkranke zu einem der führenden Zentren für Gerontologie und Geriatrie in
Deutschland. 1990 erfolgte die Habilitation im Fachbereich Innere Medizin
an der Universität Hamburg. Seit
2005 ist er im Ruhestand.
gebot nicht reicht. Dann braucht man einen Fahrdienst, damit der Patient nachts
zu Hause ist. So etwas habe ich in England
gesehen und dann versucht, in Deutschland einzuführen. Wobei wir nicht die ersten waren, denn es gab bereits die geriatrische Tagesklinik in Frankfurt.
Die Idee für die Spezialklinik für Demente habe ich aus Zürich mitgebracht. In
Hamburg haben wir zuerst versucht, das
Konzept in einer Krankenstation des Albertinen-Hauses umzusetzen und festgestellt, dass das nicht geht. So entstand die
Idee für das Max Herz-Haus mit Pflegeheim und Tagesheim. Wichtig ist, die Bedürfnisse der Patienten zu sehen, ein Angebot dafür zu entwickeln und dann versuchen, dafür Gelder zu bekommen.
Sie sagten, Sie hätten die Idee für die
Tagesklinik aus England mitgenommen.
Sie haben also auch geschaut, wie andere arbeiten?
Meier-Baumgartner: Ja. Sicher spielt auch
die Tatsache eine Rolle, dass ich in einem
Altenheim aufgewachsen bin. Kurz nach
meiner Ausbildung haben meine Frau und
ich eine geriatrische Entdeckungsreise gemacht. Wir sind sechs Monate durch Amerika, Schottland und England gereist und
haben alle damals bekannten Namen aufgesucht. Ich glaube, es waren 80 Häuser.
In dieser Zeit habe ich sehr viel gesehen
und gelernt. Eine hoch professionelle gerontologisch-geriatrische Versorgung mit
sehr viel Technik in den USA und eine sehr
liebevolle, zugewandte Versorgung in
Großbritannien. Da gab es ein einfaches
Pflegeheim mit zehn Betten in einem Zimmer. Das ist für uns unvorstellbar, doch ich
sehe diese Frauen heute noch vor mir. Sie
saßen in einem Tagesraum an einem künstlichen Kamin, hatten einen Hund und eine Katze und waren wirklich glücklich
und zufrieden. Glück und Zufriedenheit
?
11
AKTUELL: INTERVIEW
waren auch das Ziel, das Cicely Saunders
mit dem St. Christopher’s Hospice verfolgte. Ich erinnere mich noch sehr gut,
wie sie zu mir sagte: „Wissen Sie, was der
Patient braucht? Wir müssen ihn soweit
bringen, dass er wieder in seinem Pub sitzen kann“.
Es war eine sehr interessante Reise und
es war faszinierend, dass all diese Koryphäen bereit waren, mit diesem jungen, etwas verrückten Geriater zu reden. Ich war
damals noch keine 30. Das brauchte natürlich auch ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und Selbstverständnis.
Und sicher ein gewisses Maß an Mut
und Unbekümmertheit?
Meier-Baumgartner: Das ist richtig. Ich habe immer gerne gespielt und im Sinne des
Spielens kann ich den Ernst der Lage genau analysieren. „Der Mensch ist da ganz
Mensch, wo er spielt“, meinte schon Schil-
?
Geriatrie – Visionen
Grundlage und Identifikation geriatrischen Handelns ist der Begriff der Menschenwürde. Er besagt, dass alle Menschen, unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften und ihrer Stellung
in der Gesellschaft die gleiche Würde
zukommt. Die Würde gilt bis zum Tod
und kann nicht durch Krankheit verloren
gehen. Geriatrie nimmt die Vergänglichkeit als normalen Prozess hin und sieht
im Alter etwas Normales.
Das ambulant tätige Team, die Angehörigen, die Pflegekräfte und die Ärzte,
die geriatrische Patienten betreuen,
verfügen über modernes geriatrisches
Know-how. Dazu errichten Hausärzte
und Geriater gemeinsame Aus-, Weiterund Fortbildungskonzepte. Es entsteht
ein Schwerpunkt Geriatrie beim niedergelassenen Arzt.
Wir finden Schwerpunkt-GeriatriePraxen für niedergelassene Ärzte, die
mit Pflegeheimen und geriatrischen
Kliniken zusammen arbeiten. In der
Leitung der Pflegeheime ist ärztlichgeriatrischer Sachverstand vorhanden.
Die unselige Zerstückelung des Gesundheitssystems ist überbrückt.
Das Pflegeheim ist auch ein Ort der
Langzeitrehabilitation und in ihm wird
vor allem im Bereich Demenz, besonders wenn sie zusammen mit körperlichen Erkrankungen auftritt, rehabilitativ gearbeitet. In Pflegeheimen wird im
Sinne des Teaching Nursing Home Aus-,
Weiter- und Fortbildung für Pflegeberufe, Ärzte und Studenten angeboten.
Jeder Medizinstudenten, jeder Arzt und
jeder klinisch tätige Geriater kennt die
Bedingungen, unter denen die Patienten, die Pflege und die Medizin trotz
oder wegen der Pflegeversicherung
existieren.
In jedem großen Krankenhaus ist eine
Geriatrie etabliert und ist in sinnvoller
Weise mit der Abteilung für Frührehabilitation verknüpft. Die Zusammenarbeit
mit der Aufnahmestation ist die Regel.
Hier erfolgt die Triage auf Grund der Bedürfnisse der Patienten und nicht der
Bettenlage des Krankenhauses.
12
Die Abteilung für Geriatrie ist involviert
@ in die Mitarbeit auf der Notaufnahme
des Krankenhauses
@ in die Mitentscheidung über die Übernahme des Patienten
@ in die Mitentscheidung bei der Weiterbehandlung in einer geriatarischen
Rehabilitation.
Sie hat Mitspracherecht bei der so genannten Pflegefall-Entscheidung oder
Übersiedlung in ein Pflegeheim. Die Abteilung für Geriatrie hat genügend Zeit für
ein Assessment des Patienten und einen
Therapie- und Frührehabilitationsversuch. Die Abteilung ist geprägt durch
@ ein rehabilitatives Milieu,
@ ein interdisziplinär arbeitendes qualifiziertes Team der unterschiedlichsten
Fachberufe,
@ eine behindertengerechte Architektur,
@ eine dauernd präsente fachärztliche
Leitung und
@ einen leistungsgerechten standardisierten Personalschlüssel.
Die Professionalisierung des Mediziners
und der Fach-Pflegekraft sind Grundlage
der Arbeit auf der geriatrischen Station.
Der Geriater ist mit dem biomedizinischen Krankheitsmodell vertraut und
kann kausal orientierte Therapien durchführen. Er beherrscht auch das ganzheitlich orientierte Krankheitsmodell, das
biopsychosoziale Krankheitsmodell. Dadurch können auch Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen
diagnostiziert und therapiert werden.
Es gibt keine Abteilungen mehr, die
wegen mangelnder zeitlicher und personeller Ressourcen die Pflege und Therapie nicht leisten können, die wir in der
Geriatrie für angemessen halten. Es gibt
somit keinen Leidensdruck mehr bei den
Mitarbeitern und den kaum lösbaren
Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der früher dazu führte, dass viele
ihren Beruf verlassen. Wo Geriatrie drauf
steht, ist auch Geriatrie drin.
Die Kostenträger werden nicht mehr
unter finanziellen Gesichtspunkten eine
Aufnahme in einer Rehabilitationsabteilung der Geriatrie ablehnen. Die Diskus-
sionen um das Thema ‚Was ist ein geriatrischer Patient’ sind beendet. Über Aufnahme oder Nichtaufnahme entscheiden die durch Geriater festgestellten
Bedürfnisse der Patienten – analog der
akzeptierten Entscheidung eines Kardiochirurgen zur Operation.
Die Geriatrie-Abteilung hat einen
Assessment-Schwerpunkt, in der geriatrische Syndrome abgeklärt werden. Zu
ihr gehören eine Tagesklinik und eine
ambulant geriatrische Rehabilitationsabteilung. Es gibt Verbindungen zwischen der Abteilung für Geriatrie, den
geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen und den Pflegeheimen der Umgebung im Sinne des Teaching Nursing
Homes.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die
Gerontopsychiatrie. Für dementiell
Erkrankte bietet die klassische Geriatrie
spezielle Unterkunfts- und Behandlungsmöglichkeiten, z.B. in Zusammenarbeit mit dem Pflegeheim, an.
Als Kristallisationspunkt und Quelle
für die Praxis in der Geriatrie gibt es
Geriatriezentren mit Lehrstühlen und
Universitätskliniken mit geriatrischen
Abteilungen, an denen Geriatrie gelehrt
wird, von denen Impulse für die Forschung ausgehen. Hier finden wir auch
den Spezialisten für typische Krankheiten und Syndrome im Alter. Jeder Medizinstudent bekommt geriatrische Inhalte vermittelt. Gemeinsames Auftreten
der Ordinarien erleichtert es, die Anliegen der Geriatrie gegenüber den Fachgesellschaften der Politik und den Kostenträgern zu vertreten.
Die Geriatrie besitzt durch verbindliche Weiterbildung und Standards ein
geschärftes Profil. Ihr Einsatzgebiet ist
die ambulante Versorgung durch den
weitergebildeten Hausarzt, das Pflegeheim, die geriatrische Fachabteilung im
Krankenhaus, die Rehabilitationsklinik
und das Center of Excellence.
Quelle: Prof. H.-P. Meier Baumgartner,
Verleihung des Ignatius-Nascher-Preises 2009, Auszüge
GERIATRIE JOURNAL 2/10
AKTUELL: INTERVIEW
ler in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Ich denke, sonst
hätte ich vieles nicht gemacht. Ich spiele
kein Spiel, meine Arbeit ist mein Spiel.
Wo bleiben der Ernst und die Verantwortung?
Meier-Baumgartner: Das bleibt natürlich,
aber es läuft leichter. Man kann besser mit
den Anforderungen des Berufslebens umgehen, wenn man es als Spiel betrachtet.
Man kann auch mehr wagen, wenn man
nicht an den Vorschriften klebt und an allem, was gegen etwas Neues spricht. Ein
Haus für Demente zu bauen, ohne zu wissen, ob die Kassen die Leistungen auch bezahlen und wir kostendeckend arbeiten
können, war schon wagemutig. Auf der
anderen Seite braucht es einen Träger, der
Geld und ebenfalls den Wagemut hat, eine entsprechende Summe einzusetzen. Natürlich haben Bund und Land einen Teil
übernommen, doch auch die Restsumme
war noch erheblich für die spinnerte Idee
eines Geriaters.
Dann braucht man noch Vorbilder. Meine Lehrer waren Paul Jucker und Bernhard Steinmann, die damals die aktivierende Pflege die spezielle Altenpflege geschaffen haben.
?
Ich schließe daraus, dass Sie erst das Ziel
vor Augen hatten und dann versucht haben, es umzusetzen, bevor Sie sich um die Regularien gekümmert haben.
Meier-Baumgartner: Hilfreich war natürlich, dass es zum einen ein Bundesmodellprogramm gab und zum anderen Menschen in Bonn und Berlin, die Geld gaben,
soweit sie es konnten. Dann haben wir natürlich immer geforscht und konnten über
Drittmittel und Stiftungen, wie die Langbein-Stiftung, Buch-Stiftung, Herz-Stiftung und Robert-Bosch-Stiftung, Projekte realisieren.
?
Welche Rolle spielt Networking
dabei?
Meier-Baumgartner: Eine große. Beziehungen sind ungemein wichtig. In der
Stadt, zu den Kassen und natürlich zur Politik. Networking ist wichtig, sowohl auf
lokaler Ebene als auch auf der Ebene BonnBerlin. Dafür muss man auch viel reden
und Vorträge halten, nicht nur hoch me-
?
GERIATRIE JOURNAL 2/10
dizinisch-fachlich, sondern auch gerontologisch-fachlich. Man muss auch bereit
sein, für die Organisationen von Parteien
zu reden. Man muss auch mal nach Bonn
oder Berlin fahren und für die Grünen
Damen einen Vortrag halten.
Ich fasse einmal zusammen: Sie waren
Chefarzt, haben aktiv Networking betrieben und Vorträge gehalten. Wie haben
Sie das alles in einen 24-Stunden-Tag gekriegt?
Meier-Baumgartner: Ich glaube, es hat etwas mit Struktur, Delegation und einem
guten Team zu tun. Ich hatte immer sehr
gute Oberärzte und immer einen Mitarbeiter für die Verwaltung. Trotzdem braucht
es eine gute disziplinierte Tagesstruktur,
halb acht auf der Station, Privatvisite, acht
Uhr Klinikbesprechung, um halb neun die
Besprechung mit der Sekretärin, die den
ganzen Tag organisiert hat. Dann habe ich
alles diktiert und nie selber geschrieben.
Wichtig sind natürlich meine Frau und
meine Familie, die immer mitgezogen haben.
?
Welche Bedeutung haben Visionen für
Sie?
Meier-Baumgartner: Visionen kann man
gar nicht genug hoch einschätzen. Wenn
man keine Visionen hat, dann bleibt man
im Alltag. Man muss sich etwas vorstellen,
was es noch nicht gibt. Ein Zitat von Erich Fromm drückt meine ganz persönliche
Geisteshaltung als Geriater aus: „Wenn das
Leben keine Vision hat, nach der man
strebt, nach der man sich sehnt, die man
verwirklichen möchte, dann gibt es auch
kein Motiv, sich anzustrengen.“
?
Wie findet man
so etwas?
Meier-Baumgartner: Vielleicht muss man
spielerisch sein, Phantasie haben und sich
das Unmögliche denken. In der Medizin
haben wir ja das Schubladenprinzip – ambulant, stationär, chronisch Kranke und was
es da alles gibt. Diese Schubladen interessieren mich nicht, ich befasse mich mit
anderen Gedanken. Wie wäre es beispielsweise, wenn jeder Medizinstudent in einem
Pflegeheim ein Praktikum machen müsste
oder Pflegeheime analog der USA zu Academic Nursing Homes, zu Teaching Nur-
?
sing Homes der Geriatarie würden? Oder
wie wäre es, wenn Pflegeheime auch Aufgaben der Langzeit-Rehabilitation übernähmen und dabei geriatrisch weitergebildete Ärzte Verantwortung tragen würden?
Wie ich bereits sagte: Mich interessieren
die Bedürfnisse der Patienten und wie wir
die lösen können. Ist die Struktur dagegen,
dann muss ich meine Pläne adaptieren,
dass es eben doch geht.
Visionen brauchen Kreativität und Kreativität braucht Mut und Freiraum zum
Denken. Wie haben Sie sich Freiraum geschaffen?
Meier-Baumgartner: Solange man arbeitet, hat man in der Regel keinen Freiraum.
Das ist das Problem. Dennoch muss man
sich Freiraum schaffen. Beispielsweise durch
Assistenten, die über Stiftungsgelder finanziert werden. Dann braucht man Stunden, in denen man nicht gestört werden
darf. Man muss lernen, dass man Zeit zum
Denken braucht, also Zeit, in der man eigentlich nichts tut. Und man muss lernen,
seinen Mitarbeitern zu vertrauen und zu
delegieren.
?
Das bedingt ein gegenseitiges
Vertrauen.
Meier-Baumgartner: Ja, das bedingt auch,
dass man im Fall der Fälle bedingunglos
hinter seinen Mitarbeitern steht.
?
Herr Professor Meier-Baumgartner, was
würden Sie heute anders machen?
Meier-Baumgartner: Die Geriatrie noch
weiter in die Abläufe integrieren, damit
nicht ein nicht geriatrisch weitergebildeter
Internist entscheidet. Die Geriatrie gehört
an die Aufnahmestation, so dass die alten,
multimorbiden, schwer Kranken direkt
zum Geriater kommen, damit nicht der
Internist entscheidet, wer zum Geriater
geht und wer nicht. Ich habe ja mal von
Überflussmedizin gesprochen. Damit meine ich, wenn die internen Betten voll sind,
dann fließen die Patienten in die Geriatrie
herüber. Also bei der Akut-Medizin stärker mitmachen, auf der Notaufnahme präsent sein und auf der anderen Seite im Pflegeheim aktiver sein.
?
Herzlichen Dank für dieses Gespräch.
13
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
Infektionen des
zentralen Nervensystems
Roland Nau1,2, Sandra Ebert2 und Helmut Eiffert3, Göttingen
Zu den wichtigsten Ursachen der Zunahme der Häufigkeit von ZNS-Infektionen im Alter zählt eine
Schwächung sowohl der innaten als auch der erworbenen humoralen und zellulären Immunität [3].
Das Erregerspektrum von ZNS-Infektionen beim alten Menschen erstreckt sich neben den üblichen
Mikroorganismen auch auf für Immunsupprimierte typische Pathogene. Im Rahmen dieses Artikels
werden exemplarisch drei Krankheitsbilder besprochen: die bakterielle Meningitis, der spinale
epidurale Abszess sowie durch Varizella-zoster-Virus (VZV) verursachte ZNS-Erkrankungen.
D
Geriatrisches Zentrum, Evangelisches Krankenhaus
Göttingen-Weende,
Abteilungen Neurologie und
3
Medizinische Mikrobiologie,
Universitätsklinik Göttingen
1
2
14
Die bakterielle
Meningitis ist in entwickelten Ländern
vorwiegend eine
Erkrankung des
Erwachsenenalters
Foto: Andrew Gentry – Fotolia.com
ie Epidemiologie bakterieller
ZNS-Infektionen, insbesondere
der bakteriellen Meningitis, hat
sich in den letzten 20 Jahren dramatisch
verändert. Das ist insbesondere die Folge der Impfung von Kindern gegen Haemophilus influenzae Typ b sowie der Einführung von Konjugatvakzinen gegen
Streptococcus pneumoniae und Neisseria
meningitidis, die bei Kindern unter zwei
Jahren bereits wirksam sind. Nachdem
früher etwa zwei Drittel der bakteriellen Meningitiden im Kindesalter als Folge der noch nicht ausgereiften Immunantwort auftraten, ist seit Einführung
der neuen Impfstoffe für Kinder in den
entwickelten Ländern die bakterielle
Meningitis eine Erkrankung vorwiegend
des Erwachsenenalters.
Streptococcus pneumoniae ist der häufigste Erreger von bakteriellen Meningitiden bei alten Menschen [4]. Die Inzidenz der Streptococcus pneumoniae-Meningitis ist bei Personen ≥ 60 Jahre etwa
viermal höher als bei Personen im Alter
von 2-29 Jahren [22]. Auf Grund der
fehlenden Meldepflicht sind die epidemiologischen Daten in Deutschland unzulänglich. In Barcelona waren im Zeitraum von 1997-2006 55% der bakteriellen Meningitiden bei ≥ 65-Jährigen
durch Streptococcus pneumoniae verursacht, 17% davon verliefen tödlich [4].
Die Inzidenz von Infektionen des zentralen Nervensystems (ZNS) liegt beim alten
Menschen höher als beim jungen Erwachsenen.
Die Listeriose ist eine typische Infektion des sehr jungen und des alten Menschen sowie von Schwangeren (Abb. 1).
Die Inzidenz der Listeria monocytogenesMeningitis ist bei Personen ≥ 60 Jahre
im Vergleich zu Personen im Alter von
2-29 Jahren um den Faktor 15 erhöht
[22]. Besonders betroffen sind über 80Jährige [21]. Die Erreger werden in der
Regel mit der Nahrung aufgenommen,
insbesondere durch kontaminierte Rohmilchkäse. Die Daten der ListerioseSurveillance, die seit Einführung des
Infektionsschutzgesetzes erhoben wurden, zeigen eine kontinuierliche Zunahme der Erkrankungen in Deutschland. Personen außerhalb der Schwangerschaft entwickeln in 32% eine
ZNS-Infektion, in 26% steht eine Sepsis im Vordergrund [21]. Die ZNS-Infektion verläuft in ca. 90% unter dem
Bild der Meningitis oder Meningoenzephalitis, in ca. 10% als Hirnstammenzephalitis oder Hirnabszess [15]. Die
Letalität liegt bei über 70-Jährigen mit
26,5% etwa doppelt so hoch wie im
GERIATRIE JOURNAL 2/10
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
Gesamtkollektiv der außerhalb von
Schwangerschaft und Geburt Erkrankten [7].
Demgegenüber ist die Meningokokken-Erkrankung (Meningitis, Sepsis)
trotz Impfung weiter eine Erkrankung
vorwiegend des Kindesalters. Die Vakzine bietet keinen Schutz gegenüber
Meningokokken der Gruppe B, die in
Deutschland für etwa zwei Drittel der
Infektionen verantwortlich sind. Die
Inzidenz liegt bei Kindern unter einem
Jahr mit 5,38/100.000 am höchsten,
während sie bei über 65-Jährigen mit
0,69/100.000 nur geringfügig über der
Inzidenz in der Altersgruppe 25-64 Jahre (0,28/100.000) liegt [5].
bei Immunschwäche reaktiviert werden.
Das Virus affiziert an erster Stelle die
peripheren sensiblen Neurone in den
Spinalganglien bzw. im Ganglion
Bei der bakteriellen Meningitis
geniculi des N. trigeminus (Herpes Zoster). Darüber hinaus kann
kommt es im Alter früher zu
das VZV diverse ZNS-ManifeVerwirrtheit und Bewusstseinsstationen verursachen (Enzephatrübung als bei jungen Menschen
litis, Myelitis, Vaskulitis), die
nicht immer mit dem für Herpes
raum. Das geschätzte Risiko eines spi- Zoster typischen Exanthem einhergehen
nalen epiduralen Abszesses nach spina- [11, 14, 20]. Die Inzidenz von Kranler Anästhesie inkl. Therapie mit Peri- kenhausbehandlungen wegen eines Herduralkatheter liegt zwischen 1:1.000 pes Zoster und seiner Komplikationen
und 1:100.000. Neben der epiduralen liegt in entwickelten Ländern zwischen
Injektion von Kortikoiden stellen hier 16,1 und 4,4 pro 100.000 Einwohner
[6]. Die altersabhängige relative Häufigkeit von Krankenhausbehandlungen
wegen Herpes Zoster steigt stark mit
Männer Frauen
dem Alter an, insbesondere jenseits des
Alters von 50 Jahren. Bei 80-Jährigen
und Älteren liegt sie bei über 50 Krankenhausaufnahmen pro 100.000 Personen. Die Letalität aller Patienten ≥ 30
Jahre lag bei 4,6%, die der ≥ 80-Jährigen bei 7,2% [6].
5
Erkrankung pro 100.000 Einwohner
tienten wiesen Risikofaktoren auf [18],
insbesondere begleitende Infektionen,
Diabetes mellitus, Immunsuppression
oder eine Injektion in den Epidural-
4
3
2
Klinik und Therapie
1
0
<1
1-19
20-29
30-39
40-49
Altersgruppen in Jahren
50-59
60-69
ab 70
Quelle: Robert-Koch-Institut: Listeriose. Epidemiologisches Bulletin Nr. 49, 8.12.2006
Abb. 1: Inzidenz der Listeriose in Abhängigkeit vom Alter
Infektionen im Bereich der Mundhöhle werden als Ursache systemischer
Infektionen einschließlich ZNS-Infektionen unterschätzt. Auch auf Grund ihres häufig sanierungsbedürftigen Zahnstatus sind ältere Menschen diesbezüglich besonders gefährdet [16].
Die Inzidenz epiduraler spinaler Abszesse liegt bei etwa 1 pro 100.000 Personen-Jahre. In einer Populations-basierten Studie traten spinale Abszesse
bei Personen im Alter von 40-80 Jahren auf (mittleres Lebensalter 56 Jahre).
Obwohl valide epidemiolgische Daten
fehlen, scheint auch bei dieser bakteriellen ZNS-Infektion die Inzidenz im
Alter anzusteigen [18]. Fast alle PaGERIATRIE JOURNAL 2/10
eine traumatische Katheterplatzierung,
mangelnde Sterilität bei der Platzierung
sowie eine lange Liegedauer des Periduralkatheters (> 5 Tage 4,3% Infektionen!) zusätzliche Risikofaktoren dar
[19].
In ca. 70% wird der epidurale spinale Abszess durch Staphylococcus aureus
verursacht.
Der häufigste virale Erreger bei Infektionen des Nervensystems im Alter
ist das Varizella-zoster-Virus (VZV).
Bei 60-Jährigen besteht ein Durchseuchungsgrad von nahezu 100%. Nach
durchgemachten Windpocken oder
inapparenter Infektion persistiert das
Virus im Körper des Wirts und kann
Bakterielle Meningitis. Bei typischer
klinischer Symptomatik (Fieber, Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, Bewusstseinstrübung) ist die Diagnose einer
bakteriellen Meningitis nicht schwierig. Ältere oder/und immunsupprimierte Patienten werden dem Arzt hingegen wie Neugeborene und Säuglinge
mit einer unspezifischen Symptomatik
vorgestellt [10], die eine korrekte Diagnose erschwert (Fieber und Nackensteife bei Aufnahme 70% bzw. 85%) [4].
Wenn ein Meningitis-Verdacht besteht, müssen in jedem Fall sofort in einem Arbeitsgang mit der Anlage der venösen Verweilkanüle Blutkulturen abgenommen werden. Der Liquor soll
möglichst ohne Verzögerung gewonnen, mikroskopisch untersucht und kultiviert werden. Die antibiotische Behandlung muss bei typischer Klinik unmittelbar nach Entnahme der Blut- und
Liquorkultur begonnen werden. Wird
bei V.a. schweres Hirnödem, Mittellinienverlagerung oder erheblicher Ge-
15
rinnungsstörung die Liquorpunktion
unterlassen oder erst später durchgeführt, ist eine Verschieben der Antibiose nicht indiziert. Eine verzögerte antibiotische Therapie verschlechtert die
Prognose [2].
Bei etwa drei Viertel der Patienten, die
später einen positiven kulturellen Befund aufweisen, lässt sich auf Grund
des mikroskopischen Befundes in der
Gram-Färbung die bakterielle Genese sichern. Bleiben die Kulturen ohne Erregernachweis, kann über zusätzliche
mikrobiologische Spezialverfahren wie
den Antigennachweis oder die Polymerase-Kettenreaktion der Versuch einer
Erreger-Identifikation unternommen
werden. Bleibt auch dies ohne Erfolg,
stützt sich der klinische Verdacht einer
bakteriellen Ätiologie außer auf die klinische Symptomatik auf folgende Parameter:
@ Leukozytose im Liquor (> 1.000/µl),
@ erhöhte Liquor-Laktatkonzentration
(> 3,5 mmol/l),
@ ausgeprägte Blut-Liquor-Schrankenstörung mit einem Liquor-Gesamteiweiß von > 1.000 mg/l,
@ verminderter Liquor/Serum GlukoseQuotient von < 30%,
@ Leukozytose im peripheren Blut
> 12.000/µl bzw. Leukopenie < 4.000/
µl oder Linksverschiebung im Differential-Blutbild,
@ erhöhtes C-reaktives Protein.
Wenn eines dieser Kriterien erfüllt ist,
behandeln wir sicherheitshalber antibiotisch, auch wenn hierdurch eine Reihe von Patienten mit einer viralen Meningitis eine antibiotische Behandlung
erhält. Die zytologische Beurteilung des
Liquors dient u.a. dem Ausschluss bzw.
Nachweis einer Meningeosis carcinomatosa, die auch als meningitisches
Krankheitsbild imponieren kann. Der
Nachweis neoplastischer Zellen grenzt
die Meningeosis von der tuberkulösen
Meningitis ab. Mit einer Reaktivierung
einer latenten Tuberkulose muss im höheren Alter gerechnet werden.
Obligate Zusatzuntersuchungen
(CCT bzw. C-MRT, NNH-CT, Röntgen-Thoraxaufnahme) dienen dem
Nachweis von ursächlichen Begleiterkrankungen bzw. Komplikationen
16
Quelle: Autoren
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
Abb. 2: Vaskulitis bei bakterieller Meningitis (Streptococcus pneumoniae). Hirninfarkte im Stromgebiet der A. cerebri anterior bds.. Links: kraniale Computertomografie. Rechts: MRT des Schädels, T2-Wichtung
(Abb. 2). Je nach klinischer Präsentation
und Erreger sind zusätzlich ein HNOoder zahnärztliches oder internistisches
Konsil oder ein Echokardiogramm indiziert. Infektionsherde in der Nachbarschaft des ZNS sollen rasch saniert
werden.
Eine Splenektomie (z.B. bei Milzruptur nach Bauchtrauma) ist mit einem
lebenslang erhöhten Risiko einer Sepsis oder purulenten Meningitis (in 80%
der Fälle Pneumokokken) vergesellschaftet. Daher müssen die Patienten
über ihr erhöhtes Infektionsrisiko aufgeklärt und prä- bzw. postoperativ bei
Milzentfernung gegen S. pneumoniae,
H. influenzae und N. meningitidis
geimpft werden. Insbesondere bei älteren Menschen, die vor Jahrzehnten
splenektomiert wurden, sind die Kenntnisse über das erhöhte Infektionsrisiko
und der Impfstatus nicht selten mangelhaft.
Die Behandlung der bakteriellen Meningitis wird bei unbekanntem Erreger
und bei außerhalb des Krankenhauses
erworbener Meningitis mit Ampicillin
3 x 5 g/d i.v. + Cefotaxim 3 x 2-4 g/d
i.v. oder Ceftriaxon 1 x 4 g/d i.v. eingeleitet [9]. Nach Erregeranzucht wird
gezielt weiterbehandelt. Die Therapiedauer beträgt bei unkompliziertem Verlauf bei Pneumokokken 14 Tage und bei
Listerien 21 Tage.
Bei außerhalb des Krankenhauses erworbenen bakteriellen Meningitiden
wird unter den Bedingungen der industrialisierten Länder der routinemäßige Einsatz von Kortikosteroiden auch
beim alten Menschen grundsätzlich
empfohlen: Bei klinisch eindeutiger
Symptomatik sollen bei Erwachsenen
10 mg Dexamethason i.v. 15 min vor
oder zeitgleich mit der ersten Antibiotikadosis gegeben werden, dann über
vier Tage eine Tagesdosis von 4 x 10 mg
[9]. Bei Kindern verbessert eine begleitende Behandlung mit Glyzerin p.o. die
Prognose. Weitere im Tierexperment
wirksame adjuvante Verfahren [13] haben noch keinen Eingang in die klinische Praxis gefunden.
Spinaler Abszess. Die klinische
Symptomatik lässt sich typischerweise
in vier Phasen einteilen:
@ Rückenschmerzen,
@ radikuläre Schmerzen,
@ Parese und
@ Plegie.
In der Regel bestehen gleichzeitig Fieber, Abgeschlagenheit und eine erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit bzw.
ein erhöhtes C-reaktives Protein. Eine
Leukozytose im peripheren Blut kann
insbesondere bei älteren Patienten fehlen. Fast immer ist der betroffene Abschnitt der Wirbelsäule klopfschmerzGERIATRIE JOURNAL 2/10
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
haft. Bei der häufigeren akuten Verlaufsform treten binnen 2-4 Tagen radikuläre Schmerzen und nach weiteren
4-5 Tagen Paresen, Sensibilitäts- und
Blasen-Mastdarm-Störungen auf. Wird
zu diesem Zeitpunkt nicht interveniert,
schreiten die Lähmungen rasch zur Plegie fort. Beim seltenen chronischen Abszess kann sich der oben beschriebene
charakteristische Ablauf der Symptome
auf Wochen bis Monate erstrecken.
Apparative Methode der Wahl zur
Diagnose eines spinalen epiduralen Abszesses ist das MRT. Hiermit lässt sich der
Abszess in seiner gesamten Ausdehnung
darstellen. Die lumbale Myelografie, ggf.
mit post-Myelografie-CT, ist nur indiziert, wenn kein MRT durchgeführt werden kann (z.B. bei Patienten mit Herzschrittmacher). Die Punktion des lumbalen Subarachnoidalraums muss
vorsichtig erfolgen: die Nadel wird in
kleinen Schritten unter häufiger Aspiration vorgeschoben. Wenn Eiter aspiriert wird, ist damit die Verdachtsdiagnose bestätigt und die Punktion des
Subarachnoidalraums in dieser Höhe
kontraindiziert, um eine Einschleppung
der Erreger in den Subarachnoidalraum
zu verhindern. Die Untersuchung des
lumbalen Liquors ergibt häufig eine Erhöhung der Leukozytenzahl auf 5 bis
1.000/µl und in der Regel eine starke Erhöhung des Liquor-Gesamteiweißes.
Nach Durchbruch des Abszesses in den
Subarachnoidalraum werden Liquorveränderungen wie bei der bakteriellen
Meningitis gefunden. In einem solchen
Fall lässt sich auch der Erreger nicht selten aus dem Liquor anzüchten.
Die Behandlung des spinalen epiduralen Abszesses besteht in der sofortigen
chirurgischen Dekompression in Verbindung mit einer adäquaten antibiotischen Therapie. Bei Verzögerung können Paresen zu einer irreversiblen Plegie fortschreiten. Bei sich über zahlreiche
Segmente erstreckenden Abszessen ist
die Platzierung von zwei epiduralen
Drainagen an verschiedenen Punkten
im Epiduralraum und die Anlage einer
Spül-Saug-Drainage Therapie der Wahl.
Während der Operation muss Material zur mikroskopischen und kulturellen
Untersuchung auf Mykobakterien und
GERIATRIE JOURNAL 2/10
Pilze sowie auf aerobe und anaerobe oder Spinalganglien entlang der periBakterien (seltener als beim Hirnab- pheren Nerven zu den Nervenendiszess!) asserviert werden.
gungen in den entsprechenden DermaDie ungezielte antibiotische Thera- tomen. Zu Beginn treten brennende
pie muss immer ein gegen Staphylo- Schmerzen und Missempfindungen im
kokken gut wirksames Antibiotikum Verteilungsgebiet einer spinalen Nereinschließen. Zusätzlich müssen Gram- venwurzel oder eines Hirnnervs auf. 3negative Erreger abgedeckt werden. Ob 4 Tage später erscheint im selben Areal
auch Anaerobier durch die ungezielte das typische Exanthem. Wie bei den
Behandlung abgedeckt werden müssen, Windpocken ist es zunächst makulös,
ist umstritten. Bei noch nicht identifi- dann papulös, später treten Bläschen
ziertem Erreger geben wir die Kombi- und Krusten auf. In den nächsten 2-4
nation Rifampicin (600 mg/d i.v.) + Wochen heilen die Krusten aus. Zoster
Cefotaxim (6-12 g/d i.v.) + Metronida- sine herpete nennt man eine Zostererzol (1,5 g/d i.v.). Wird Pseudomonas ae- krankung ohne Zoster-Effloreszenzen.
ruginosa (z.B. bei Infektionen nach Pe- Das Leitsymptom sind lokalisierte brenriduralanästhesie) als Erreger vermutet, nende Schmerzen und Dysästhesien bei
muss Cefotaxim durch Ceftazidim er- gleichzeitig bestehender Hypästhesie
setzt werden. Wird
und Hypalgesie. WeDer häufigste virale Erreger niger als 5% aller Zosein Oxacillin-resistenter Staphylococterkranken erleiden
bei Infektionen des
cus aureus vermutet
segmentale motoriNervensystems im Alter ist
(z.B. bei Patienten
sche Paresen.
das Varizella-zoster-Virus
aus einer EinrichBei stark Immungetung der Altenpfleschwächten kann der
ge), wird Rifampicin durch Vancomy- zunächst lokalisierte Zoster über eine
cin (2 x 1 g/d i.v.) ersetzt. Das gut li- ausgeprägte Virämie kutan oder viszequorgängige Linezolid (2 x 600 mg/d ral generalisieren (Zoster generalisatus).
i.v.) kann im Rahmen eines HeilverNach der Reaktivierung kann es auch
suchs angewendet werden, wenn die Be- zu einer Aszension durch die Hinterhandlung mit Vancomycin nicht er- wurzel bzw. im sensiblen Hirnnerven in
folgreich ist.
das Rückenmark oder Gehirn kommen
Häufigkeit und Schwere von Spät- (Zoster-Myelitis, -Meningitis, -Enzeschäden sind vom Ausmaß der präope- phalitis). Eine Liquorpleozytose ist oft
rativ bestehenden neurologischen Symp- bereits beim unkomplizierten Zoster
tome abhängig. Besteht präoperativ nachweisbar, bei der Myelitis, Meninnoch keine Plegie, kann in der Mehr- gitis und Enzephalitis ist sie die Regel.
zahl der Fälle mit einer weitgehenden
Die meisten Zoster-Enzephalitiden
oder vollständigen Rückbildung der beginnen einige Tage nach Ausbruch
Ausfälle gerechnet werden.
des Exanthems, selten können zentralnervöse Symptome vor Auftreten des
Varizella-zoster-Virus-assoziierte Exanthems und bis zu mehreren WoErkrankungen. Meist erst Jahrzehnte chen danach beginnen. Klinische Zeinach der Primärinfektion kommt es zu chen sind Fieber, Kopfschmerzen, Ereiner klinisch sichtbaren Reaktivierung brechen und Bewusstseinstrübungen,
der VZV-Infektion (Ganglionitis) be- ferner Meningismus, epileptische Anfäldingt durch ein geschwächtes Immun- le, Lähmungen und psychische Veränsystem. In etwa 20% manifestiert sich derungen. Relativ häufig prädominieren
der Zoster im Kopfbereich. Die häu- Symptome einer zerebellären Ataxie.
figste Lokalisation ist hier der N. oph- Höheres Lebensalter, Immunsuppresthalmicus (Zoster ophthalmicus) ge- sion und Zosterbefall mehrerer Derfolgt vom N. facialis (Zoster oticus) matome gehen mit einem erhöhten Ri[12].
siko, eine Enzephalitis zu entwickeln,
Nach der Reaktivierung im Ganglion einher. Wie bei der Herpes-simplex-Engelangt das VZV von den Hirnnerven- zephalitis ist auch bei der Zoster-Enze-
17
I N F E K T I O LO G I E : B A K T E R I E L L E Z N S - I N F E K T I O N E N
phalitis das kraniale MRT sensitiver als
das CCT, um Entzündungsherde darzustellen.
Die Zoster-Myelitis entsteht am häufigsten nach einem Zoster der Thorakalsegmente und bei Immunsupprimierten. Die Symptomatik tritt im
Mittel zwölf Tage nach dem Exanthem
auf und befällt bevorzugt dasselbe
Rückenmarkssegment. Das häufigste
Initialsymptom ist ein Harnverhalt, häufig kombiniert mit Paresen und Sensibilitätsstörungen. Die Erkrankung kann
bis zu einem vollständigen Querschnittsyndrom fortschreiten. In den
betroffenen Rückenmarksabschnitten
zeigen sich im MRT in der T2- und
FLAIR-Wichtung häufig Hyperintensitäten.
Die VZV-assoziierte Vaskulitis tritt
meistens als Folge eines Zoster ophthalmicus auf und manifestiert sich als
kontralaterale Hemiparese. Als Ursache
wird eine Virusausbreitung vom Ganglion trigeminale zur A. carotis interna
vermutet. Histologisch finden sich
nekrotisierende granulomatöse Arteriitiden oder Thrombosen mit Gefäßverdickungen ohne entzündliche Reaktionen.
Bei der postherpetischen Neuralgie
handelt es sich wahrscheinlich um eine
kombinierte Störung der peripheren
und zentralen Schmerzverarbeitung. Sie
tritt insgesamt bei etwa 10% der Patienten auf und ist damit die häufigste
Komplikation des Zoster. Die Inzidenz
steigt mit dem Lebensalter. Die frühzeitige Gabe eines Virustatikums verringert Häufigkeit und Schwere dieser
Komplikation. Patienten mit postherpetischer Neuralgie leiden unter einer
Vielfalt sensorischer Beeinträchtigungen (Parästhesien, Dysästhesien, neuralgiforme Schmerzen, ziehende Dauerschmerzen). Regelmäßig kommt eine
Hypo- oder Hyperästhesie vor. Im Extremfall entwickelt sich eine Anaesthesia dolorosa. Die Schmerzen werden oft
als sehr quälend beschrieben.
Mittel der Wahl für alle durch VZV
verursachten Infektionen (außer Windpocken) ist Aciclovir. Die Dosierung
richtet sich nach der Indikation: bei unkomplizierten Zosterfällen inkl. Zoster
18
oticus und Zoster ophthalmicus bei immunkompetenten Patienten jeden Alters
wird Aciclovir 5 x 800 mg/d p.o. (bzw.
Valaciclovir 3 x 1 g/d p.o. oder Ganciclovir 3 x 0,25 g/d p.o.) verabreicht.
Bei Enzephalitis, Myelitis, Vaskulitis,
komplizierten Zosterfällen und allen
VZV-Infektionen bei immunsupprimierten Patienten wird Aciclovir 3 x/d
in einer Dosis von 10 mg/kg KG i.v. infundiert [9].
Bei eingetretener postherpetischer
Neuralgie wirken Carbamazepin (6001200 mg/d), Gabapentin (900-3000 mg/
d) oder Pregabalin (150-450 mg/d) auf
einschießende neuralgiforme Schmerzen. Antidepressiva (z.B. Duloxetin 6090 mg/d) wirken eher gegen länger anhaltende dumpfe Schmerzen. Die lokale Anwendung von Capsaicin-Salbe führt
bei etwa der Hälfte der Patienten zu einer Schmerzlinderung.
Zur Prophylaxe von Herpes Zoster
und dadurch verursachte postherpetische Neuralgien ist in Deutschland seit
Oktober 2009 einen Lebend-Impfstoff
für Personen ab einem Alter von 50 Jahren zugelassen worden [17].
Danksagung. Dr. Sandra Ebert wird
durch ein Forschungsstipendium Geriatrie der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt. Die Arbeiten von Prof. Roland
Nau und Prof. Helmut Eiffert werden
von der Else Kröner-Fresenius-Stiftung
gefördert.
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Roland Nau,
Chefarzt des Geriatrischen
Zentrums,
Evangelisches Krankenhaus
Göttingen-Weende,
An der Lutter 24,
37075 Göttingen
GERIATRIE JOURNAL 2/10
N E U R O LO G I E : C H R O N I S C H E E R K R A N K U N G
DES
ZNS
Therapie der Multiplen Sklerose
in der Geriatrie
Jörn Peter Sieb, Stralsund
Foto: BMBF
Sturzgefährdete Patienten sollten
rechtzeitig an den Gebrauch von
Hilfsmitteln herangeführt
werden, um Sekundärkomplikationen wie Schenkelhalsfrakturen oder degenerative
Gelenkschäden durch
Fehlbelastungen zu
vermeiden.
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Bei einer geschätzten Zahl von 120.000-140.000 MS-Erkrankten in Deutschland wird
auch der Geriater häufiger in die Behandlung von MS-Erkrankten mit einem fortgeschrittenen
Lebensalter eingebunden. Die Erkrankung beginnt jedoch nur bei zirka 6% nach dem 50. Lebensjahr.
Die Therapie der MS im Senium weist Besonderheiten auf, die in dieser Übersicht dargestellt werden.
In höherem Lebensalter ist meist ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium erreicht, so dass es
weniger auf eine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch eine Immunmodulation ankommt,
sondern auf eine individuell ausgerichtete symptomatische Therapie.
D
urch das unter Federführung der
Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) im Jahr 2001
eingerichtete MS-Register stehen eingehende Informationen zur Versorgungssituation von MS-Kranken in Deutschland zur Verfügung [3]. Der Beginn einer
MS-Erkrankung nach dem 50. Lebensjahr ist die Ausnahme. Das Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn unter
den in das deutsche MS-Register aufge-
GERIATRIE JOURNAL 2/10
nommenen Kranken beträgt 31,4 ± 10,2
Jahre. Lediglich 4,9% dieser Patienten
erkrankten nach dem 50. Lebensjahr. Ein
Beginn nach dem 60. Lebensjahr ist mit
0,9% noch seltener.
Die diagnostische Sicherung einer sich
spät manifestierenden MS in Abgrenzung zu neurodegenerativen oder vaskulären Erkrankungen ist auch für den Neurologen häufig eine Herausforderung. Bei
geriatrischen Patienten sollte immer er-
wogen, ob eine gegebenenfalls vor Jahrzehnten gestellte MS-Diagnose überhaupt
zutrifft. Die Einführung der Kernspintomographie und die Etablierung eindeutiger Diagnosekriterien haben die diagnostische Sicherheit erheblich verbessert.
Bislang ist die MS mit einer Spätmanifestation jenseits des 50. Lebensjahrs
nur in einer überschaubaren Anzahl von
Studien untersucht worden [6, 7, 9, 10,
19
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DES
ZNS
14, 17]. Die initiale Symptomatik unter- wurde. Der Rückgang der MS-Sterb- Herzkrankheit, chronisch-obstruktive
scheidet sich bei einem späten Erkran- lichkeit begann bereits in den 1950-er Lungenerkrankungen und Diabetes melkungsbeginn von derjenigen bei einer Jahren, also weit vor
litus, signifikant selManifestation im jüngeren Erwachse- Einführung der mo- Auf dem Uhthoff-Phänomen tener bei MS-Patiennenalter [7]. Häufiger als in jungen Jah- dernen Immunmoduten als Entlassungsberuhende Pseudoschübe
ren finden sich bei einem Krankheitsbe- latoren und ist verdiagnose zu finden als
müssen von MS-Schüben
ginn nach dem 50. Lebensjahr initial py- mutlich auf die verin der Kontrollgrupabgegrenzt werden
ramidal-motorische Defizite mit Para- besserte Prävention
pe. In einer aktuellen
oder Tetraparese und wesentlich seltener von Komplikationen
Untersuchung ebensensible Funktionsstörungen oder eine durch rehabilitative Maßnahmen und die falls aus den USA war das Risiko einer
einseitige Sehnervenentzündung. Die Einführung symptomatischer Therapie- Hospitalisierung auf Grund einer ischäKrankheitsprogression ist keineswegs ra- maßnahmen zurückzuführen.
mischen Herzerkrankung bei MS-Pascher als bei einem Krankheitsbeginn im
Nicht einheitlich sind die Literaturan- tienten vermindert, jedoch erhöht auf
jüngeren Erwachsenenalter [14].
gaben zum Risiko von begleitenden Er- Grund eines ischämischen Schlaganfalls
Die MS ist allgemein eine fortschrei- krankungen bei MS. Zirka jeder zweite [1]. Gemäß der bereits erwähnten dänitende Erkrankung mit einem im Krank- MS-Erkrankte wird an Komplikationen schen Untersuchung [2] soll sich aber bei
heitsverlauf zunehmenden Behinde- der MS versterben [13]. In einer ameri- MS-Kranken eine vermehrte kardiovasrungsgrad. Aus einem Erkrankungsbe- kanischen Studie bei über 5.000 MS-Pa- kuläre Mortalität finden und die Sterbginn in einem jüngeren Lebensalter tienten mit einem Alter von mindestens lichkeit durch eine maligne Erkrankung
resultiert daraus
65 Jahren wurde die vermindert sein.
häufig eine deutlialterstypische KoWeiterhin zeigen einige, jedoch keiEs zeigt sich, dass die
che Behinderung im
morbidität unter- neswegs sämtliche Untersuchungen eine
Empfehlungen der
Alter. Im Alter von
sucht [4] (Tab. 1). erhöhte Suizidrate unter MS-Kranken
DGN-Leitlinien zur medika50 Jahren konnten
Im Vergleich zu ei- [12]. Zu Suiziden soll es eher im jüngeunter den Patienten
ner Kontrollgruppe ren Erwachsenenalter und in den ersten
mentösen Therapie von
des deutschen MSgleichaltriger Kran- fünf Jahren nach der Diagnosestellung
MS-Symptomen für junge
Registers noch 60%
kenhauspatienten kommen [12]. Trotzdem besteht gerade
Patienten aufgestellt wurden
eine Gehstrecke von
fanden sich bei den beim älteren MS-Kranken ein erhebli100 Metern ohne
MS-Patienten häu- ches Risiko einer Depression auch mit
Hilfe bewältigen – im Alter von 60 Jah- figer Harnwegsinfekte (30,7%), Dekubiti Suizidalität, das durch das Fehlen soziaren waren es noch 40%[3]. Insgesamt (9,2%) sowie Pneumonien und Blasen- ler Unterstützung bei Einsamkeit und
zeigt sich jedoch im Vergleich zu älteren entleerungsstörungen. Bemerkenswer- sozialer Isolation noch verstärkt wird [16].
Untersuchungen, dass die Erkrankung terweise waren in dieser Untersuchung Gelegentlich wird von MS-Kranken gar
häufig gutartiger verläuft als angenom- ansonsten typischerweise im Alter auf- der Wunsch nach aktiver Euthanasie vormen wurde.
tretende Erkrankungen, wie arterielle gebracht. Leider wird allzu häufig eine deIn der Altersgruppe der 55- bis 64-Jäh- Hypertonie, Herzinsuffizienz, koronare pressive Entwicklung bei MS-Kranken
rigen waren noch 14,2% voll berufstätig
übersehen und eine notwendige antideund bereits 61,3% erhielten eine Erpressive Therapie nicht eingeleitet.
Erkrankung
Häufigkeit
werbsminderungsrente [3]. Auch zeigt
Osteopenie
37,0%
das deutsche MS-Register, dass eine BeSymptomatische Therapie
Harnwegsinfekt
30,7%
rentung häufig bereits frühzeitig im
Dekubiti
9,2%
Mit dem Fortschreiten einer MS und eiKrankheitsverlauf zu einem Zeitpunkt
Malignome
6,8%
ner damit zunehmenden Behinderung
noch uneingeschränkter Gehfähigkeit erwird eine an die individuellen Notwenfolgt. Selbstredend wirkt sich ein frühArterielle Hypertonie
7,4%
digkeiten ausgerichtete, symptomatische
zeitiger Zeitpunkt der Berentung erhebPneumonie
6,3%
Therapie im Rahmen eines umfassenden
lich auf die soziale Situation im Alter aus.
Herzinsuffizienz
5,4%
Behandlungskonzepts immer wichtiger.
Gemäß einer dänischen Studie [2] verBlasenfunktionsstörungen
4,9%
Wesentliche Ziele sind die Beseitigung
sterben MS-Kranke durchschnittlich zirChronisch-obstruktive
oder Reduktion von Krankheitssymptoka 10 Jahre früher als nicht an MS erLungenerkrankung
4,6%
men, wie Spastik, Ataxie, Blasenstörung
krankte. Jedoch zeigte diese UntersuKoronare Herzkrankheit
3,8%
oder Schmerzen/Dysästhesien, die die
chung, dass sich in den vergangenen
funktionellen Fähigkeiten der MS-BeJahrzehnten die Lebenserwartung der
Diabetes mellitus
3,1%
troffenen und deren Lebensqualität häuMS-Kranken zunehmend verbessert hat
(nach Krankenhausdiagnosen) [4]
fig maßgeblich beeinträchtigen. Weiterund zunehmend eine Angleichung an
hin muss besonders auf das Bestehen von
diejenige der Gesamtbevölkerung erreicht Tab. 1: Komorbiditäten bei MS im Alter
20
GERIATRIE JOURNAL 2/10
N E U R O LO G I E : C H R O N I S C H E E R K R A N K U N G
DES
ZNS
kognitiven Defiziten z.B. mit einer Stö- spiel wird gegen chronische Par- und DysDie derzeit verfügbaren Präparate für
rung von Konzentration und Aufmerk- aesthesien das trizyklische Antidepressi- eine Immunmodulation zeigen im Allsamkeit, beziehungsweise von Fatigue vum Amitriptylin in einer Tagesdosis von gemeinen nur in frühen Phasen der Prooder einer Depression geachtet werden. 25-150 mg empfohlen, das jedoch auf gredienz mit persistierender SchubaktiDie vom Arzt wahrgenommenen Symp- Grund seiner anticholinergen Wirkung vität eine klinische befriedigende Wirtome sind dabei nicht immer diejenigen, beim Älteren häufig mit unerwünschten kung, was sich in den jeweiligen
die auch den Patienten am meisten be- Wirkungen verbunden ist. Gabapentin Zulassungen dieser Präparate widerspielasten [11].
soll gemäß DGN-Leitlinien gegen gelt. Beim geriatrischen Patienten ist die
Fieber, z.B. im Rahmen von Harn- schmerzhafte Paroxysmen in einer Dosis Wahrscheinlichkeit jedoch hoch, dass die
wegsinfekten, kann vorübergehend neu- bis zu 2.400 mg täglich eingesetzt wer- Multiple Sklerose nach einem initial
rologische Defizite bei MS-Kranken der- den. Gabapentin wird renal eliminiert. schubförmigen Verlauf in einen sekundär
artig verschlechtern, dass eine stationäre Entsprechend besteht bei Niereninsuffi- chronisch-progredienten Verlauf übergeBehandlung notwendig wird. Die passa- zienz die Möglichkeit einer Kumulation, gangen ist. Bei einem Erkrankungsbegere Verschlechtewenn Gabapentin in ginn nach dem 50. Lebensjahr nimmt
Beim geriatrischen Patienten einer höheren Tages- der Anteil derjenigen mit einer primärrung bei einer Erhöhung der Kör- muss intensiv geprüft werden, dosis eingesetzt wird. progredienten Verlaufsform (PP-MS)
pertemperatur ist
Auch für das gegen deutlich zu, während unter jungen Paob bei der medikamentösen
seit langem bekannt
Fatigue empfohlene tienten lediglich 10% der Fälle diesen
Therapie nicht Kontraund wird als UhtAmantadin stellt eine Verlaufstyp aufweist. In einer aktuellen
indikationen bestehen …
hoff-Phänomen bekompensierte Nieren- Untersuchung aus Deutschland wiesen
zeichnet. Klinisch
insuffizienz eine rela- sogar 80% derjenigen mit einer Erkranmüssen auf dem Uhthoff-Phänomen be- tive Kontraindikation dar auf Grund der kung nach dem 50. Lebensjahr eine PPruhende Pseudoschübe von MS-Schü- dann bestehenden Kumulationsgefahr MS auf [7]. Für die PP-MS sind die derben abgegrenzt werden.
mit konsekutivem Delir, zumal es unter zeit verfügbaren Immunmodulatoren
Auf Grund der meist vorhandenen Amantadin kardial zu einem gegebenen- nicht zugelassen. Weiterhin erfolgten die
Beinspastik und Ataxie sind viele der äl- falls gefährlichen Anstieg der QTc-Zeit Zulassungsstudien für diese Präparate tyteren Patienten sturzgefährdet und soll- kommen kann. Es zeigt sich, dass die pischerweise mit 18- bis 55-jährigen Paten rechtzeitig an den Gebrach von Hilfs- Empfehlungen der DGN-Leitlinien zur tienten, worauf in den Fachinformatiomitteln (dynamische Peronaeusschiene, medikamentösen Therapie von MS- nen hingewiesen wird.
Gehwagen oder Rollstuhl) herangeführt Symptomen für junge
Beim jüngeren Pa… und die Möglichkeit
werden, um Sekundärkomplikationen Patienten aufgestellt wurtienten mit einer bewie Schenkelhalsfrakturen oder degene- den. Beim geriatrischen
sonders raschen Krankindividuell besser verrative Gelenkschäden durch Fehlbelas- Patienten muss beträglicher Alternativen heitsprogression erfolgt
tungen zu vermeiden.
eine Therapieeskalation,
sonders intensiv geprüft
erwogen werden
Es gibt Evidenz-basierte Empfehlungen werden, ob nicht Kontrawobei derzeit immunzur Behandlung wichtiger und häufiger indikationen bestehen,
suppressiv-zytostatisch
Symptome im Rahmen einer MS, die und die Möglichkeit individuell besser oder mit Natalizumab (Tysabri®) beauch von der Website der Deutschen Ge- verträglicher Alternativen erwogen wer- handelt wird. Das Zytostatikum Mitsellschaft für Neurologie (DGN) abruf- den, auch wenn für diese die Studienla- oxantron (Ralenova®) ist zugelassen für
die Behandlung von nicht-rollstuhlbar sind (www.dgn.org) [5]. Darunter ist ge schlechter ist.
pflichtigen Patienten mit sekundär-proder Wert einer gezielten Physiotherapie
gredienter oder progressiv-schubförmizur Vermeidung von Sekundärfolgen und
Immunmodulatorische Therapie
ger Multipler Sklerose, wobei die Karzur Verbesserung funktioneller Einschränkungen bei MS-Patienten mit Geh- Die Möglichkeit durch immunmodula- diotoxizität den Einsatz von Mitoxantron
behinderung, Koordinationsstörungen torische Maßnahmen, also durch den beim Älteren besonders einschränkt. Zu
und Spastik auch für den geriatrischen Pa- Einsatz eines Interferon-beta-Präparats Azathioprin gibt es kaum Studien. Natienten sicher unstrittig. Donepezil (Avonex®, Betaferon®, Extavia®, Rebif®) talizumab ist ein monoklonaler Anti(10 mg/Tag) hat sich als wirksam auch oder von Glatiramerazetat (Copaxone®), körper, der gegen Oberflächen-Rezepbei MS-assoziierten Gedächtnisstörun- den Verlauf einer schubförmigen MS gün- toren auf Leukozyten (Integrine)
gen erwiesen und der diesbezügliche Ein- stig zu beeinflussen, ist in der Geriatrie gerichtet ist und verhindert, dass Absatz wird in den Leitlinien der DGN kaum gegeben. Die absehbare Zulassung wehrzellen die Bluthirnschranke überweiterer Medikamente für eine Verlaufs- winden. Der Einsatz von Natalizumab ist
empfohlen [8, 15].
Andere Empfehlungen der DGN-Leit- beeinflussung der MS wird daran vor- mit dem Risiko einer progressiven mullinien sind dagegen aus geriatrischer Sicht aussichtlich bis auf weiteres nichts än- tifokalen Leukenzephalopathie verbunden, die unbehandelt tödlich verläuft,
keineswegs unproblematisch. Zum Bei- dern.
GERIATRIE JOURNAL 2/10
21
N E U R O LO G I E : C H R O N I S C H E E R K R A N K U N G
DES
und er wird mutmaßlich nie eine Option prädiabetischen Stoffwechsellage unter
in der Geriatrie sein.
Steroiden und auf den SerumkaliumDagegen ist auch für den älteren MS- spiegel zu achten. Auch sollte die psychoPatienten eine Kortikosteroid-Pulsthe- trope Wirkung von Kortikosteroiden in
rapie häufig eine wirksame und gut ver- derartig hoher Dosis nicht unterschätzt
trägliche Therapiewerden. Jedes Zeioption. Sie wird Die Möglichkeit durch immun- chen einer akuten
entweder bei SchüPsychose, wie Demodulatorische Maßnahmen
ben oder bei chropression, Halluzinaden Verlauf einer schubnischer Progredienz
tionen, formale oder
intermittierend z.B.
inhaltliche Denkstöförmigen MS günstig zu
in dreimonatigen
rung, erfordert eine
beeinflussen, ist in
Abständen durchpsychiatrische Inder Geriatrie kaum gegeben
geführt. Nach Austervention. Auch
schluss eines akukommt es nicht selten Infektes und Beachtung der Kontra- ten zu einer Ruhe- und Schlaflosigkeit
indikationen wird dabei intravenös in unter einer hochdosierten Kortikosteroeiner Dosierung von 500-1000 mg Me- id-Therapie.
thylprednisolon an drei bis maximal fünf
Vielmehr als beim jüngeren MS-Paaufeinander folgenden Tagen unter Ma- tienten müssen in der Geriatrie Vorbegenschutz und Thromboseprophylaxe reitungen für die letzte Lebensphase
morgens gegeben. Teilweise wird emp- getroffen werden. Rechtzeitig ist das
fohlen, im Anschluss an die intravenöse Gespräch über die gewünschten bezieTherapie über 14 Tage beginnend Me- hungsweise nicht gewünschten Maßthylprednisolon allmählich abzudosie- nahmen in lebensbedrohlichen Situatioren, wobei mit einer Tagesdosis von 80 nen unter Einbeziehung der Bezugsoder 100 mg begonnen wird. Während personen zu suchen. Gerade bei sich
der Pulstherapie müssen Blutdruck, Blut- abzeichnenden kognitiven Einschränzucker und Elektrolyte engmaschig kon- kungen muss rechtzeitig auf die Mögtrolliert werden. Beim älteren Menschen lichkeit von Willensäußerungen in Form
ist besonders auf die Entgleisung einer von Patienten- und Betreuungsverfügung
Broschüre „MS in Deutschland“
2001 existierten weder verlässliche Daten über die Häufigkeit der Multiplen
Sklerose (MS) in Deutschland noch über ihre Verteilung auf die verschiedenen
Verlaufsformen, die Häufigkeit der unterschiedlichen Symptome, die Schweregrade dauerhafter Behinderungen, die Versorgung mit verlaufsmodifizierenden
und symptomatischen Therapien oder die Arbeitsfähigkeit. Diese Daten sind
allerdings unerlässlich, um die Lebenssituation MS-Erkrankter, auch unter gesundheitsökonomischen Aspekten, zu verbessern. Aus diesem Grund wurde das
deutsche MS-Register ins Leben gerufen, das mittlerweile auch als Vorbild für
ein europäisches MS-Register gilt.
Nach Abschluss der zweijährigen Pilotphase (2002-2003) wurden der Basisdatensatz modifiziert und neue MS-Zentren für die Dokumentation rekrutiert. Diese
118 Zentren erhoben bis Mitte 2009 insgesamt 34.023 verwertbare Datensätze.
Die Auswertung dieser Daten hat interessante und aufschlussreiche Erkenntnisse, vor allem auch zur Versorgungssituation, erbracht. Trotz verbesserter
technischer Möglichkeiten dauert es im Schnitt immer noch 3,1 Jahre bis zur
Diagnosestellung. Mehr als 70% aller MS-Patienten werden immuntherapeutisch
behandelt. Im Gegensatz dazu werden symptomatische Therapien sehr viel seltener verordnet. So erhalten 75% der an Fatigue, 80% der an kognitiven Störungen und ein Drittel der an Spastik leidenden Patienten keine Therapie.
Auf 12 Seiten gibt die Broschüre „MS in Deutschland“ einen Überblick über
das MS-Register-Projekt, stellt die Verantwortlichen, die Teilnehmer, die Methodik und alle bis Mitte dieses Jahres erfolgten Auswertungen vor. Sie ist gegen
eine Schutzgebühr von 1,00 Euro erhältlich und kann bei der Deutschen Multiple
Sklerose-Gesellschaft unter www.dmsg.de bestellt werden.
22
ZNS
hingewiesen werden [11]. Immer sollte
versucht werden, die Angehörigen intensiv in die Kommunikation und Entscheidungen einzubeziehen.
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Korrespondenzanschrift:
Prof. Dr. med. Jörn Peter Sieb,
Chefarzt der Klinik für Neurologie,
Geriatrie und Palliativmedizin,
Hanse-Klinikum,
Große Parower Str. 47-53,
18435 Stralsund,
eMail: [email protected]
GERIATRIE JOURNAL 2/10
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
Störungen
des Ganges
Herbert F. Durwen, Düsseldorf
S
törungen des Ganges nehmen in
ihrer Häufigkeit mit dem Alter
kontinuierlich zu und gehen mit
einer nicht unerheblichen Einschränkung der Mobilität einher. Gangstörungen sind neben posturalen Beeinträchtigungen die häufigste Ursache für Stürze
im höheren Lebensalter. Außer der häufigen Disposition zu Stürzen und Verletzungen sind Gangstörungen auch mit
einer erhöhten Mortalität und Morbidität assoziiert [17]. Es ist anzunehmen,
dass etwa 10-15% aller Menschen jenseits des 60. Lebensjahres unter einer
Störung des Ganges leiden [13]. Jenseits
des 80. Lebensjahres steigt dieser Anteil
sogar auf ca. 25-30% an [12], bei über
85-Jährigen kann er bis zu 50% betragen [25]. Neben der Höhe des Lebensalters ist ein weiterer wesentlicher Risikofaktor für das Auftreten einer Gangstörung das Vorliegen eines demenziellen
Abbaus [23]. Darüber hinaus gibt es auch
noch häufige extrinsische Faktoren, die
eine Gangstörung induzieren oder verschlimmern können. Hierzu zählen beGERIATRIE JOURNAL 2/10
Foto: AOK-Mediendienst
Die Häufigkeit von Gangstörungen
nimmt mit dem Alter kontinuierlich
zu und zählt zu den häufigsten
Ursachen für Stürze. Doch Gangstörung ist nicht gleich Gangstörung. Der Artikel zeigt die im Alter
relevanten Krankheitsbilder von
Gangstörungen auf, stellt Strategien zur Diagnostik vor und erläutert allgemeine Ansätz zur
Behandlung.
stimmte Pharmaka (Tab. 1) ebenso wie
ein Alkoholabusus [25].
Eine Gangstörung ist definiert als eine Pathologie des natürlichen Ganges, die
über eine normale Reduktion der Gehgeschwindigkeit im höheren Lebensalter
hinausgeht. Im Alter stellen Gangstörungen oft keine homogene Krankheitsentität dar, sondern sind in der Regel multifaktoriell determinierte Syndrome unterschiedlichster Herkunft.
Krankheitsbilder im Alter, die häufig mit
Gangstörungen einhergehen, sind Morbus Parkinson und Parkinson Syndrome,
subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, Normaldruckhydrozephalus, Zustand nach Schlaganfall, zerebelläre und sensible Ataxien sowie Schmerz-
@ Neuroleptika
@ Antiepileptika
@ Benzodiazepine
@ Chemotherapeutika
Tab. 1: Gangstörungen induzierende
Pharmaka
Besonders effektiv scheinen auch multimodale Programme zu sein, so genannte „walking and talking-Programme“, in
denen der Patient neben der Gehübung
simultan eine kognitive Aufgabe bewältigen muss.
syndrome, vor allem im Zusammenhang
mit orthopädisch bedingten Gangstörungen. Aber auch Störungen des Sehens (visuelle Ataxie) und des Gleichgewichtsorgans (vestibuläre Ataxie) sowie
Erkrankungen der Muskulatur (myopathischer Gang) oder auch psychische Alterationen (psychogene Gangstörung)
können mit Beeinträchtigungen des Gehens verbunden sein. Die Komplexität
des physiologischen Ganges mit allen
beteiligten Strukturen des Nervensystems und anderen Organsystemen illustriert die Vielzahl an Möglichkeiten, die
zu einer Beeinträchtigung des Gangbildes im Alter führen können (Abb. 1)
[30]. Darüber hinaus werden typische
Merkmale des gestörten Gangbildes, insbesondere nach einem bereits erfolgten
Sturz, durch Ängste vor erneutem Stür-
27
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
Diagnostik von Gangstörungen
im Alter
Abb. 1: Beteiligte anatomische Strukturen des Gehens [nach 30, Abb. 1]
zen im Sinne einer sekundären ängstlichen Reaktionsbildung zusätzlich überlagert (fear of falling). Diese Störung
führt wiederum zu einer Gangstörung,
die als ängstlich-aufmerksame Störung
des Ganges („protektiver Gang“) bezeichnet wird. So muss die klinisch-phänomenologisch ganzheitlich beobachtete
Gangstörung als Ergebnis einer neurologischen oder anderweitigen Beeinträchtigung und einer funktionellen Anpassung verstanden werden [7].
Vor dem Hintergrund der multifaktoriellen Determination von Gangstörungen im höheren Lebensalter ist es daher von großer Bedeutung, eine möglichst genaue klinische Untersuchung
und pathoätiologisch orientierte diagnostische Zuordnung vorzunehmen,
um daraus im Interesse des Patienten
möglichst gezielte therapeutische Ansätze entwickeln zu können. Nachfolgend
werden in Grundzügen die wesentlichen
Strategien für eine pragmatische Diagnostik, die im Alter relevanten Krankheitsbilder mit Gangstörung und spezifische wie allgemeine Ansätze zur Behandlung von Gangstörungen aufgezeigt.
28
Bei der anamnestischen Erhebung schildern alte Menschen eher selten, dass sie
unter einer Störung des Gehens leiden.
Vielmehr wird eher unspezifisch angegeben, dass eine Schwäche, ein Benommenheitsgefühl, Unsicherheit, Gleichgewichtsstörung, Schmerz oder Schwindel bestehe. Oft wird dem Patienten auch
erst nach einem Sturz bewusst, dass eine Gangstörung vorliegen könnte. Vor
diesem Hintergrund muss der Patient
gezielt nach Begleitsymptomen, Beginn
und Verlauf des Beschwerdebildes befragt werden. So lässt eine plötzliche Verschlechterung der Symptomatik eher an
eine vaskuläre Genese denken. Ein begleitender Bewusstseinsverlust macht eine alleinige Gehstörung als Ursache eher
unwahrscheinlich. Ein Begleitsymptom
wie Harndrang oder -inkontinenz verweist eher auf eine spinale Erkrankung
oder einen Normaldruckhydrozephalus.
Ferner können Schmerzen beim Gehen
Ausdruck von sowohl spinalen als auch
vaskulären Auslösefaktoren sein [30].
Die klinische Untersuchung umfasst
neben der allgemeinen körperlichen und
neurologischen Befunderhebung, in der
bei dieser Fragestellung der Seiltänzergang, Zehen- und Hackengang sowie
der Romberg-Test stets enthalten sein
sollten, eine einfache Ganganalyse ohne
jedwede technische Hilfsmittel. Es handelt sich hierbei um die rein inspektorische Ganganalyse, in der die Gehgeschwindigkeit, die Symmetrie des Ganges und die Schrittlänge beurteilt werden.
Darüber hinaus ist es wichtig, das Mitschwingen der oberen Extremitäten zu
Spezifisches Basisprogramm
@ Anamnese
(Eigen- und Fremdanamnese)
@ Allgemeine körperliche
Untersuchung
@ Neurologische Untersuchung
@ Inspektorische Ganganalyse
@ Semiquantitatives Assessment
@ Erfassung basaler
Schrittparameter
Erweitertes spezifisches Programm
@ Videoanalyse
@ Laufband
@ Kraftmessplattform
@ Dreidimensionales
Bewegungsanalysesystem
Zusatzdiagnostik
@ Elektroneurographie
@ Elektromyographie
@ Evozierte Potenziale
@ Elektronystagmographie
@ Bildgebung (CCT, MRT)
@ Schellong Test
@ Langzeit Blutdruckmessung
@ Langzeit EKG
Tab. 2: Diagnostisches Abklärungsprogramm bei Gangstörungen im Alter
beurteilen, die Bewegungsabläufe auf
Hüft-, Knie- und Sprunggelenksebene zu
analysieren und sich einen Eindruck vom
Gangmuster als Ganzes zu verschaffen.
Für die semiquantitative Erfassung von
Balance und Lokomotion werden ubiquitär übliche Assessments wie Timedup-and-Go-Test [15] oder Tinetti-Score [27] zum Einsatz gebracht. Für die Erfassung quantitativer Daten werden in
der Regel die basalen Schrittparameter
(Abb. 2) wie Gehgeschwindigkeit,
Schrittlänge und Schrittfrequenz (Kadenz) registriert [24], was recht einfach
mit Hilfe einer Stoppuhr und eines Mess-
Abb. 2: Basale räumliche Parameter des menschlichen Ganges [nach 24, S.20, Abb. 2.1]
GERIATRIE JOURNAL 2/10
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
bandes möglich ist und auch zu verlässlichen Ergebnissen führt [20].
Weitere Stufen der verfeinerten Diagnostik sind dann Videoanalysen des
Gangbildes mit entsprechend standardisierten Videoprotokollen, Laufbandanalysen, Kraftmessplattformen und
nicht zuletzt die quantitative Ganganalyse unter Verwendung eines dreidimensionalen Systems zur Analyse von
Bewegungsabläufen, welches in der Umsetzung insgesamt schon etwas aufwändiger ist.
An differentieller Zusatzdiagnostik
kommen im Rahmen einer pragmatischen Abklärung innerhalb eines Klinikkontextes routinemäßig Elektromyographie, Elektroneurographie, Evozierte Potenziale, CCT, MRT sowie
Elektronystagmographie, Schellong Test,
Langzeit Blutdruckmessung und Langzeit EKG in Frage (Tab. 2).
Idiopathische Gangstörung im Alter
(„protektiver Gang“)
Natürlicherweise ändert sich mit den zunehmenden Lebensjahren auch beim gesunden alten Menschen das Gangbild,
was mit vielerlei neuronalen und nichtneuronalen Anpassungen von Einflussfaktoren zu tun hat. Im Wesentlichen
sind es eine Geschwindigkeits- und eine
Schrittlängenreduktion, die mit zunehmendem Alter normalerweise auftreten
[6]. Davon abzugrenzen ist jedoch die
idiopathische Gangstörung des Alters,
die auch als „klassischer“ seniler Gang
oder „protektiver Gang“ bezeichnet wird
[14]. Dieses Gangbild ist dadurch gekennzeichnet, dass sich ein breitbasiger
Gang mit verminderter Doppelschrittlänge und Schrittfrequenz (Kadenz) einstellt. Außerdem ist der Rumpf etwas
vorgebeugt, die Haltung versteift, das
Mitschwingen der Arme reduziert und
insgesamt die Rhythmizität von oberen
und unteren Extremitäten beeinträchtigt. Schrittinitiierung und Wendebewegungen sind hingegen ungestört. Es
handelt sich um den häufigsten Typus einer Gangstörung beim älteren Menschen.
Auch wenn die letztendlichen Pathomechanismen noch nicht endgültig verstanden werden, so ist es doch wahrGERIATRIE JOURNAL 2/10
scheinlich, dass die Hauptursache dieser
Störung in einer Veränderung der zentraler Anteile der für die Haltungsregulation verantwortlichen Long-loop-Reflexe begründet liegt [31].
Begriff der „frontalen Gangstörung“ verwandt.
Gangstörung bei
Normaldruckhydrozephalus (NPH)
Wie bereits dargelegt, zeigt die Gangstörung beim NPH im Sinne des „frontalen Ganges“ viele Gemeinsamkeiten
Das Gangmuster bei SAE ist im We- mit der Gangalteration bei SAE. Auch
sentlichen durch einen „frontalen Gang“ hier stehen die reduzierte Schrittlänge,
charakterisiert. Dieser zeichnet sich vor die stark variable Schrittbreite und die
allem dadurch aus, dass die Füße über massiv reduzierte Schritthöhe im Vorderden Boden streifen, die Schritte breitbasig grund. Allerdings kann der Oberkörper
gesetzt werden und in ihrer Länge ver- in der Regel gut aufrecht gehalten werkürzt sind [1]. Beim Wenden halten die den und auch das Mitschwingen der ArPatienten oftmals an, bei fortgeschritte- me zeigt keine Beeinträchtigungen [26].
ner Erkrankung kommt es zu einer wei- Andererseits besteht eine ausgeprägte
teren Schrittverkürzung und zum Trip- Haltungsinstabilität. Nach Punktion von
peln auf der Stelle. Darüber hinaus zei- ca. 30-40 ml Liquor kommt es zu einer
gen diese Patienten auch Probleme mit deutlichen Verbesserung der Gehgeder Initiierung des Ganges. Ein weiteres schwindigkeit [21]. Auch wenn die
häufiges Charakteristikum ist die Asym- Gangstörung meistens als erstes und am
metrie der Schrittlängen und das einsei- markantesten auftritt, so ist der Nortig verminderte Mitschwingen der Arme maldruckhydrozephalus dennoch in der
beim Gehen.
Regel durch die klassiEine plötzliche
Die therapeutischen
sche Trias von GangstöAnsätze fokussieren prirung, reversibler DeVerschlechterung der
mär auf die konsequenmenz und HarninkonSymptomatik lässt
te Durchführung von
tinenz gekennzeichnet.
eher an eine vaskuläre
krankengymnastischen
Die Behandlung des
Genese denken
Beübungen und auf die
NPH zielt im WesentVerhinderung weiterer
lichen auf die regelmäischämischer Ereignisse. Allerdings gibt ßige krankengymnastische Beübung und
es auch Hinweise dafür, dass sich phar- auf die Druckentlastung ab. Letztere wird
makologische Ansätze zur Beeinflussung entweder durch wiederholt durchgediese Form von Gangstörung ergeben. So führte Lumbalpunktionen oder durch
wirkt die Gabe von Amantadin positiv die Anlage eines ventrikuloperitonealen
sowohl auf die Schrittfrequenz als auch Shunts erreicht, die nach entsprechenden
auf die Variabilität der Gangzykluspha- zusatzdiagnostischen Maßnahmen neusen [2]. Nach eigenen klinischen Beob- rochirurgisch erfolgt. Eine pharmakoloachtungen ist nicht selten eine mäßige, gische Beeinflussbarkeit ist nicht gegeben.
jedoch funktionell relevante Harmoni- Auch lässt sich, anders als beim idiopasierung des Gangbildes bei vielen dieser thischen Morbus Parkinson, durch die
Patienten unter einer niedrigen Dosis Applikation externer Stimuli (z.B. Mevon L-Dopa festzustellen.
tronom, Stock etc.) keine relevante VerDie besonderen Merkmale des „fron- besserung erreichen [22].
talen Ganges“ sind nosologisch unspezifisch und daher neben der SAE auch
Gangstörung bei Morbus Parkinson
beim Normaldruckhydrozephalus und
deutlich seltener auch bei frontalen Hirn- Bei etwa 1% der über 55-Jährigen besteht
tumoren zu beobachten. Bezeichnungen ein idiopathisches Parkinson-Syndrom
wie „frontale Ataxie“, „lower-body-par- (IPS). Es ist damit eine der häufigsten Urkinsonism“ oder „Parkinsonoide Ataxie“ sachen für eine Gangstörung im höhewerden nicht selten synonym für den ren Lebensalter. Die Parkinson-ErkranGangstörung bei SAE (subkortikale
arteriosklerotische Enzephalopathie)
29
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
kung wird durch die Kernsymptomatik,
bestehend aus Hypokinesie, Rigor und
Tremor, charakterisiert. Dementsprechend zeigt sich ein verlangsamtes Gangbild mit vorgeneigter Haltung und
„schlurfendem“ Schritt. Das Mitschwingen der Arme ist in der Regel typischerweise reduziert, jedoch asymmetrisch verteilt, indem initial meistens die
subdominante Seite stärker betroffen ist.
Darüber hinaus sind die Arme leicht flektiert, was im übrigen in geringerer Ausprägung auch für die Beine gilt (Abb. 3).
Abb. 3: Das Gangmuster bei Morbus
Parkinson [aus 24, nach Murray et al.
1978, S.25, Abb. 2.3]
Die Haltungsstabilität im Stoßtest ist
deutlich gemindert. Beim Wenden oder
beim Umgehen von Hindernissen werden mehrere Schritte benötigt. Mit Fortschreiten der Erkrankung kann es sowohl zu Festinationen (recht plötzlich
einsetzende, trippelnde Beschleunigungen des Ganges mit konsekutivem Sturz)
als auch zu „Freezing-Phänomenen“, insbesondere beim Durchqueren von Engstellen oder Hindernissen, kommen [11].
Im Gegensatz zu den „frontalen Gangstörungen“ bessert sich das Gangbild
beim IPS durch externe Stimuli, die quasi die krankheitsbedingt fehlenden internen Schrittmacher ersetzen (Metronom,
Muster, Stock etc.). Zur weiteren Sicherung der Diagnose eines idiopathischen
Parkinson-Syndroms kann der so genannte L-Dopa-Test in Verbindung mit
der Unified Parkinson`s Disease Rating
Scale (UPDRS) eingesetzt werden.
Kommt es ca. 30-40 Minuten nach Ap-
30
plikation von L-Dopa zu einer Verbesserung in dieser Skala um ca. 30%, so
wird die Diagnose eines IPS weiter erhärtet [30].
Die Therapie der Parkinson-Erkrankung fußt im Wesentlichen auf den beiden Säulen der pharmakologischen und
krankengymnastischen Behandlung. Der
zugrunde liegende Mangel an Dopamin
wird in der Regel mit L-Dopa, Dopaminagonisten, Amantadin, MAO-Hemmern, COMT-Hemmern oder Anticholinergika behandelt. Unter der Gabe
von L-Dopa kommt es vor allem zu einer relevanten Verbesserung des Gangmusters, jedoch nicht der posturalen
Stabilität. Bei besonderer Relevanz der
Haltungsinstabilität kann ggf. eine Verbesserung durch Verfahren der beidseitigen tiefen Hirnstimulation (Globus
pallidus internus oder Nucleus subthalamicus) erreicht werden [4, 16]. Die
physiotherapeutischen Beübungen sollten in jedem Falle die Pharmakotherapie begleiten und regelmäßig durchgeführt werden. Erwünscht ist eine leichte bis mittelschwere körperliche
Inanspruchnahme im Sinne von Ausdaueraktivitäten (Gehen, Laufen, Radfahren, Schwimmen). Die Sportart oder
körperliche Aktivität, die dem Patienten
Freude bereitet und zu einer Verbesserung
der Beweglichkeit führt, ist nach Ausschluss von vor allem kardiopulmonalen
Kontraindikationen erlaubt [24].
Gangstörung bei Demenz
Bei dementen Patienten sind in der Regel die Gehgeschwindigkeit und die
Schrittlänge bei vermehrter Variabilität
gemindert [10]. Die Abnahme der Gehgeschwindigkeit korreliert dabei mit dem
kognitiven Abbau der Patienten. Dieser
Effekt ist jedoch deutlich ausgeprägter bei
Patienten mit einer vaskulären Demenz
als bei Alzheimer-Patienten. Ferner zeigen Studien, dass Patienten mit einem pathologischen Gangmuster ein relevant
erhöhtes Risiko haben, eine Demenz,
insbesondere eine Nicht-Alzheimer-Demenz zu erleiden [29].
Zur Therapie von Gangstörungen bei
Demenz liegen bisher keine wissenschaftlichen Arbeiten vor. Insofern exis-
tieren auch keine Angaben darüber, ob
möglicherweise Antidementiva einen positiven Einfluss auf die Gangstörungen
bei Demenz ausüben. Vor diesem Hintergrund verbleiben Krankengymnastik und
Ergotherapie als einzige therapeutische
Ansatzpunkte [24].
Gangstörung nach Schlaganfall
Gangstörungen nach Schlaganfall unterscheiden sich typischerweise von parkinsonoiden Störungen des Ganges. In
der Regel sind die Beeinträchtigungen
einseitig und spastisch. Beim klassischen
hemiplegischen Gangbild ist das betroffene Bein auf Grund der Spastik gestreckt
und der Fuß entweder in flacher oder in
Spitzfußstellung, sodass es zu einer funktionellen Verlängerung kommt, die in
der Schwungphase eine Zirkumduktionsbewegung erzwingt. Der Arm der
betroffenen Seite ist gebeugt und ebenfalls spastisch und schwingt beim Gehen in der Regel nicht mit. Bei tetraspastischen Bildern ist die Gehgeschwindigkeit erheblich vermindert und die
Gelenkexkursionen sind deutlich eingeschränkt. Auf Grund der Spastik, insbesondere der Adduktorenmuskulatur, sind
die Füße oftmals innenrotiert und die
Beine adduziert, bis hin zur Überkreuzung, sodass beim Gehen ein „Scherengang“ resultiert [24, 5].
Die Behandlungsansätze umfassen sowohl übend-therapeutische als auch medikamentöse Maßnahmen. Eine intensive Krankengymnastik stellt die unverzichtbare Basistherapie dar. Darüber
hinaus hat sich das Laufbandtraining als
sehr effiziente Maßnahme zur Verbesserung des Gangbildes nach Schlaganfall
erwiesen [8]. Ferner werden regelhaft
Antispastika zur Tonusreduktion und
damit funktionellen Optimierung eingesetzt. Die bekannteste Substanz ist das
Baclofen. Schließlich werden bei umschriebener Symptomatik auch noch Botulinumtoxin-Injektionen gezielt in die
Muskulatur appliziert, um damit ausgeprägte Tonuserhöhungen zu reduzieren
und das Gangbild funktionell zu optimieren. Allerdings ist bei jeder Form der
antispastischen Therapie zu beachten,
dass bei zu starker Dosierung der Tonus
GERIATRIE JOURNAL 2/10
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
so sehr reduziert werden kann, dass die
Haltefunktion nicht mehr gewährleistet
wird und daraus eher eine Verschlechterung von Steh- und Gehleistung resultiert [24].
Sensible Gangstörungen
Die sensible Ataxie ist im Wesentlichen
durch eine verbreiterte Schrittbreite mit
deutlich ausscherender Gangspur, vermehrte Variabilität in den Schrittparametern sowie durch eine Unsicherheit
beim Aufsetzen des Fußes charakterisiert. Ursachen für ein solches Gangbild
sind in der Regel Läsionen der propriozeptiven Afferenzen, die auf den verschiedenen Ebenen des peripheren und
zentralen Nervensystems (peripherer
Nerv, Hinterwurzel, Hinterstrang, Hirnstamm, Großhirn) angesiedelt sein können. Häufige Krankheitsbilder im Alter,
die zu einer sensiblen Ataxie führen, sind:
Polyneuropathie (insbesondere bei Diabetes mellitus), Vitamin B12-Mangel,
Paraproteinämie, Paraneoplasie, Zytostatika-Exposition [24]. Die Behandlung
einer sensiblen Gangstörung basiert im
Wesentlichen auf einer adäquaten Krankengymnastik mit Gangschulung sowie
auf der kausalen Therapie der Grunderkrankung.
Sonstige Gangstörungen (neuromuskulär, orthopädisch, psychogen)
Neben den bisher beschriebenen häufigen neurologischen Ursachen von Gangstörungen finden sich selten auch noch
neuromuskuläre Erkrankungen, die je
nach Akzentuierung der Schädigung
unterschiedliche pathologische Gangmuster induzieren können. Für das
höhere Lebensalter spielen in diesem Formenkreis noch am ehesten die Kortisoninduzierten Myopathien, die Polymyositiden und die Myasthenie eine Rolle
[24].
Auch orthopädische Ursachen können
die Harmonie des Gangablaufs nicht unerheblich beeinträchtigen. Sowohl Gonarthrosen als auch Koxarthrosen sind im
höheren Lebensalter nicht selten (ca. 25% der über 65-Jährigen) und können
schmerzbedingt aber auch durch AchGERIATRIE JOURNAL 2/10
eignet sind Übungen zur Förderung der
sensomotorischen Haltungskontrolle
und zur Harmonisierung des Gangbildes. In Verbindung mit diesen Maßnahmen ist dann auch ein isometrisches
Muskeltraining durchaus sinnvoll, während es für sich alleine genommen
keinesfalls ausreichend ist. Besonders effektiv scheinen auch multimodale Programme zu sein, die zur Verbesserung der Fortbewegung
Studien zeigen, dass Patienten mit
gleichzeitig die attentionalen
einem pathologischen Gangmuster ein Ressourcen trainieren. Es hanrelevant erhöhtes Risiko haben,
delt sich hierbei um dual ansetzende so genannte „walking and
eine Demenz, insbesondere eine
talking-Programme“, in denen
Nicht-Alzheimer-Demenz zu erleiden
der Patient neben der Gehübung
simultan eine kognitive Aufga[31]. Depressive Patienten, von einer agi- be bewältigen muss [19].
tierten Depression einmal abgesehen, geBei entsprechendem Bedarf werden
hen wegen ihrer psychomotorischen Ver- die physiotherapeutischen Maßnahmen
langsamung in der Regel eher behäbig durch die gezielte und individuelle Verund schreiten nicht energetisch aus. ordnung von Hilfsmitteln ergänzt. HierSchließlich kommt es, wie bereits oben zu gehören Gehstöcke, Gehstützen, Peerwähnt, nach stattgehabten Stürzen zu roneusschienen und Hüftprotektoren
einer sekundären ängstlichen Reak- ebenso wie ein Rollator oder Rollstuhl.
tionsbildung vor einem erneuten Sturz
Ferner gehört es zur adäquaten Ver(fear of falling), welche das Gangbild ge- sorgung eines Patienten mit Gangstöbunden und vorsichtig erscheinen lässt, rung und potenzieller Sturzgefährdung,
aber auch zu vollständigen Blockaden ggf. das Schuhwerk oder sogar auch sein
führen kann. Zur Auflösung derartiger Wohn- und Lebensumfeld auf die beKontaminationen bei diesen sekundär sondere Situation der Gangstörung hin
verängstigten Patienten empfiehlt sich anzupassen. Außerdem ist es stets sinneine regelmäßige und intensive Kran- voll, die bestehende Medikation auf zukengymnastik. Bei ausgeprägten und sätzliche Beeinträchtigungen des Ganhartnäckigen Befunden kann in Aus- ges hin zu überprüfen und den Patiennahmefällen durchaus auch der tempo- ten ebenso wie seine Angehörigen über
räre Einsatz von anxiolytisch wirkenden das Krankheitsbild zu informieren bzw.
Pharmaka hilfreich sein.
Schulungen für ein optimiertes Gesundheitsverhalten anzubieten. In Tab. 3
senfehlstellungen oder Beinverkürzungen eine Gangstörung induzieren [24].
Rein psychogen bedingte Gangstörungen, die häufig durch ein bizarres,
energetisch und unökonomisch anmutendes Gangbild imponieren, sind im
höheren Lebensalter eher selten und lassen sich auch klinisch von den bisher beschriebenen Gangmustern gut abgrenzen
Allgemeine Therapieempfehlungen
bei Gangstörungen
Auf die spezifischen Therapieempfehlungen wurde bereits bei den einzelnen
Krankheitsentitäten eingegangen. Darüber hinaus haben Untersuchungen der
vergangenen Jahre jedoch auch gezeigt,
dass unabhängig von der jeweiligen Ursache der Gangstörung kontrollierte,
interventionelle Trainingsprogramme
bei alten Menschen zu einer Verbesserung der Gangqualität [3, 18] und damit auch zu einer Reduktion der Sturzhäufigkeit [28] führen. Besonders ge-
Verminderung physischer
Risikofaktoren
@ ärztliche Behandlung
@ Überprüfung der Medikation
@ Physiotherapie
Verbesserung des
Gesundheitsverhaltens
Umgebungsevaluation
@ Hilfsmittelverordnung
@ Evaluation der häuslichen
Umgebung
Tab. 3: Aspekte zur Sekundärprävention
bei Gangstörungen und Stürzen
31
N E U R O LO G I E : G A N G STÖ R U N G E N
sind die einzelnen Aspekte zur Sekun- scher Leistungsfähigkeit bis hin zur umdärprävention noch einmal in der Über- fänglichen Hilfsbedürftigkeit. Gangstösicht zusammengetragen.
rungen gehen sehr häufig mit primär
Schließlich ist es von Bedeutung, in neurologischen Erkrankungen des Aleiner stetig älter werdenden Gesellschaft ters einher, finden sich aber auch bei
nicht nur sekundär
Einschränkungen im
Das Laufbandtraining hat
sondern auch primär
Bereich des muskulopräventive Programskeletalen Systems.
sich als sehr effiziente
me anzubieten, die
Neben der BehandMaßnahme zur Verbessesowohl den alters- als
lung der zugrunde lierung des Gangbildes nach genden Erkrankung
auch krankheitsbeSchlaganfall erwiesen
dingten Gangstörunstehen therapeutisch
gen vorbeugen. Gevor allem krankenrade die Kombination von gezieltem gymnastische Übungsbehandlungen und
Balancetraining und Fitnessprogramm die Versorgung mit Hilfsmitteln im
scheint geeignet, mögliche physische Ri- Vordergrund. Darüber hinaus sollten jesikofaktoren zu vermindern [9]. Im prä- doch auch im präventiven Sinne Risiventiven Sinne ist es in jedem Falle für kofaktoren für Gangstörungen und darden klinischen Alltag von Bedeutung, aus resultierende Stürze identifiziert und
den älteren Menschen zur wie auch im- vermieden bzw. abgestellt werden.
mer gearteten Aktivität zu ermuntern.
Denn es ist davon auszugehen, dass auch Literaturverzeichnis
1. Baezner H, Oster M, Daffertshofer M, Hennerici M.
unspezifische Formen von körperlicher,
Assessment of gait in subcortical vascular encegeistiger und sozialer Entfaltung im Alphalopathy by computerized analysis: a crosssectional and longitudinal study. J Neurol 2000;
ter der Beweglichkeit und der Gangsi247: 841-849
cherheit dienen und damit die Sturzge2. Baezner H, Oster M, Henning O, Cohen S, Hennerifährdung reduzieren. Von großer Wichci MG. Amantadin increases gait steadiness in
frontal gait disorder due to subcoertical vascular
tigkeit ist dabei die Nachhaltigkeit und
encephalopathy: a double-blind randomized
Kontinuität der Aktivitäten. Die regelplacebo-controlled trial based on quantitative gait
analysis. Cerebrovasc Dis 2001; 11: 235-244.
mäßige Durchführung von leichten Aus3. Baezner H, Blahak C, Poggesi A. LADIS Study
dauersportarten wie Spazierengehen,
Group. Association of gait and balance disorders
Wandern, Schwimmen oder Radfahren
with age-related white matter changes: the LADIS
study. Neurology 2008; 70 (12): 935-942.
spielt in diesem Zusammenhang eine
4. Blin O, Ferrandez AM, Pailhous J, Serratrice G.
große Rolle. Dabei ist ärztlicherseits mit
Dopa-sensitive and dopa-resistant gait paramedarauf zu achten, dass für den Patienten
ters in Parkinson`s disease. J Neurol Sci 1991; 103:
51-54.
unter Berücksichtigung aller gesund5. Dietz V. Gait disorder in spasticity and Parkinson`s
heitlicher Aspekte ein individuelles Prodisease. Adv Neurol 2001; 87: 143-154.
gramm zugeschnitten wird, mit dem er
6. Elble RJ, Thomas SS, Higgins C, Colliver J. Stridedependent changes in gait of older people. J Neusich wohl fühlt, sodass auch seine Umrol 1991; 238: 1-5.
setzung dauerhaft gelingt.
7. Ganz DA, Bao Y, Shekelle PG, Rubenstein LZ. Will
Zusammenfassung
Die Häufigkeit von Gangstörungen
nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu.
Neben posturalen Defiziten sind Gangstörungen die wesentlichen Ursachen für
Stürze im höheren Alter mit ihren deprivierenden Konsequenzen des sozialen
Rückzugs, der Immobilität und schließlich des Verlustes an Eigenständigkeit.
Vor diesem Hintergrund kommt es oftmals sehr rasch zur Induktion eines Circulus vitiosus mit zunehmend schnellerem Abbau von physischer und psychi-
32
my patient fall? JAMA 2007; 297: 77.
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1996.
Priv.-Doz. Dr. Herbert F. Durwen,
Chefarzt Klinik für Akut-Geriatrie,
St. Martinus – Krankenhaus,
Gladbacher Str. 26,
40219 Düsseldorf
GERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
Delir – Epidemiologie
und Pathophysiologie
@ Alter über 65 Jahre
@ männliches Geschlecht
@ vorbestehende Demenz,
kognitive Dysfunktion, Depression
vorangegangenes
Delir in der
@
Eigenanamnese
@ funktionelle Einschränkungen
(hören, sehen, motorisch)
Sturzneigung
@
@ Mangelernährung, Dehydratation
@ Polypharmazie, Abhängigkeiten
@ Erkrankungsschwere und
Komorbidität
Katrin Singler, Martina Hafner und Cornel Sieber, Nürnberg/Basel
Das Delir ist die häufigste zerebrale Funktionsstörung bei älteren Menschen. Es ist oftmals mit schwerwiegenden Komplikationen, einem daraus
resultierenden verlängerten Krankenhausaufenthalt und einer erhöhten
Mortalität verbunden. Dieser und die nachfolgenden Artikel erläutern Pathophysiologie, Symptome, Ursachen, Therapieansätze sowie die Besonderheiten, die in der Pflege deliranter Patienten zu berücksichtigen sind.
Tab. 1: Faktoren, welche die Entstehung
eines Delirs begünstigen [9]
GERIATRIE JOURNAL 2/10
Foto: fuxart – Fotolia.com
D
as Delir gehört zu den häufigsten
Komplikationen hospitalisierter
älterer Patienten. Oftmals ist das
Delir das erste Zeichen einer schweren
zugrunde liegenden Erkrankung, wie zum
Beispiel einer schweren Infektion oder
eines Myokardinfarktes und stellt somit
den primären Grund einer stationären
Krankenhausaufnahme dar [1]. Bei 1424% der Patienten kann bereits bei Aufnahme ein Delir festgestellt werden. Die
Inzidenz des Delirs während eines stationären Aufenthaltes wird in der Literatur
mit 6-56% bezogen auf alle hospitalisierten Patienten angegeben [2].
Neben einem verlängerten Krankenhausaufenthaltsdauer und den damit verbundenen erhöhten Kosten, ist das Delir
mit einem gehäuften Auftreten von Behandlungskomplikationen assoziiert. So
kommt es durch das vermehrte Auftreten
von Infektionen, Dekubiti und Stürzen zu
Einbußen der Funktionalität bis hin zum
Verlust der Selbständigkeit [3, 4]. In verschiedenen Arbeiten konnte sogar eine
prognostische Bedeutung für das Auftreten eines Delirs bezüglich der Mortalität
gezeigt werden [5].
Obwohl ein Delir generell in jedem Alter auftreten kann, ist die Prävalenz bei
älteren Patienten deutlich erhöht. Die
meisten Datenerhebungen stammen aus
dem akutstationären Bereich. Je nach betrachtetem Patientengut und Schweregrad der zugrunde liegenden Erkrankungen weichen die Angaben stark voneinander ab. Inouye geht in einer Arbeit
Beim deliranten Syndrom wird zwischen
drei Subtypen unterschieden: dem hyperaktiven und dem hypoaktiven Delir
sowie Mischformen.
davon aus, dass ca. 30% der älteren Patienten während eines Krankenhausaufenthaltes ein Delir entwickeln [6]. Hierbei handelt es sich keineswegs nur um
Patienten aus geriatrischen oder psychiatrischen Fachabteilungen. Besonders ältere
Patienten mit einer traumatischen Einweisungsdiagnose z.B. einer Schenkelhalsfraktur entwickeln häufig ein Delir
[7].
Bereits im Jahre 100 v. Chr. verwendete der römische Medizinschriftsteller
Aulus Cornelius Celsus den Begriff „delirium“ zur Beschreibung bedrohlicher,
fieberhafter Krankheitszustände [8]. Über
die Jahre kam es zur Verwendung verschiedener, unscharf definierter Begriffe.
Erst mit der Vereinheitlichung der Klassifikation mittels DSM-IV und ICD-10
entstand eine genaue Definition des Delirs. Hierbei handelt es sich um eine akute Wesensveränderung mit Störungen des
Bewusstseins, der Aufmerksamkeit, der
Orientierung, des Gedächtnisses und des
Denkvermögens. Fakultativ können
psychomotorische Störungen, Halluzinationen oder Störungen des Schlaf-WachRhythmus hinzukommen. Verschiedene
Faktoren prädisponieren zur Entstehung
eines Delirs (Tab. 1) [9]. Auch die Auslöser eines Delirs sind mannigfaltig, wie
es die in Tab. 2 angeführten Beispiele verdeutlichen.
Beim deliranten Syndrom wird zwischen
drei Subtypen unterschieden: dem hyperaktiven und dem hypoaktiven Delir sowie
Mischformen [10]. Während beim hyperaktiven Delir mit dem Auftreten von
Unruhezuständen, vegetativen Entgleisungen sowie ungeduldigen und teilweise
aggressiven Reaktionen die psychomotorische Aktivität gesteigert ist, steht beim
@ Infekte
@ Hypoxämie
@ zerebrovaskuläre Ereignisse
@ Schmerzen
@ Traumata
@ Dehydratation
@ Metabolische Entgleisungen
@ Malignome
@ Medikamente (besonders mit anticholinerger Wirkung)
@ Alkohol-/Benzodiazepinentzug,
paradoxe Wirkung von Sedativa
Tab. 2: Auslöser eines Delirs
33
SCHWERPUNKT: DELIR
hypoaktiven Delir eher eine generelle Verlangsamung mit ruhigem, apathischem
Erscheinungsbild im Vordergrund.
Zum pathophysiologischen Hintergrund der Delirentstehung ist derzeit nur
wenig bekannt. Sicher ist, dass es sich bei
der Delirentstehung um ein multifaktorielles Geschehen handelt. Die derzeit führenden Hypothesen beziehen sich auf die
Rolle von Neurotransmittern, Entzündungsreaktionen und chronischem Stress.
Neben einem Mangelzustand des cholinergen Systems, welcher als führende Hypothese in der Delirentstehung gesehen
wird, spielen weitere Neuromodulatoren
wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin,
Glutamat und Gamma-Amino-ButterSäure sowie deren Interaktionen eine Rolle [11].
Vor diesem Hintergrund stehen auch
neue Ansätze der medikamentösen Therapie des Delirs, wie sie in den nachfol-
genden Abschnitten fachbezogen beschrieben werden.
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11. Singler K, Hafner M, Definition and epidemiology
of delirium in the elderly. Ther Umsch. 2010; 67 (2):
57-61
Korrespondenzadresse:
Dr. Katrin Singler,
Medizinische Klinik 2, Schwerpunkt
Geriatrie, Klinikum Nürnberg,
Prof.-Ernst-Nathan-Str.1,
90419 Nürnberg,
eMail: katrin.singler@
klinikum-nuernberg.de
Dr. Martina Hafner,
Universitätsspital Basel, Akutgeriatrie,
Hebelstr. 32, 4031 Basel (Schweiz)
Therapieansätze und
medikamentöse Intervention
Thomas Frühwald, Wien, und Hans Jürgen Heppner, Nürnberg
D
as Delir ist eine der häufigsten psychischen Störung bei älteren Menschen, vor allem in der Gruppe der
sehr alten Menschen. Zerebrale Funktionsstörungen können eine Reihe von
Verhaltensstörungen produzieren. Diese
gehören zu den häufigsten Manifestationsformen von Krankheit bei älteren
Menschen und können Zeichen sowohl
einer psychiatrischen, als auch einer neurologischen oder einer anderen rein somatischen Erkrankung sein. Es gibt eine direkte Beziehung zwischen der Inzidenz des
Delirs und dem Alter. Das Delir ist mit einer deutlich höheren Mortalität (ca. 30%)
verbunden, wenn man mit gleichaltrigen,
nicht deliranten Patienten vergleicht.
Die Bedeutung des Delirs besteht darin, dass es oft von zusätzlichen, den Patienten und seinen Betreuer belastenden
34
Problemen wie Inkontinenz, Stürze, unkooperatives Verhalten, Therapie- und
Nahrungsablehnung, Weglauftendenz (Poriomanie) usw. begleitet wird. Wichtig zu
bedenken ist auch, dass das hypoaktive
Delir wahrscheinlich häufiger vorkommt
als das hyperaktive, trotzdem wird es sehr
oft nicht erkannt und behandelt. Die Patienten wirken zurückgezogen, bewegungsarm, nehmen kaum spontan Kontakt
mit der Umgebung auf, Halluzinationen
und Desorientierung werden erst durch
gezieltes Befragen deutlich.
Ätiologie und Pathogenese des Delirs
Das Delir ist ätiologisch unspezifisch. Je älter der Patient, desto wahrscheinlicher und
desto typischer ist eine multifaktorielle Entstehung. Acetylcholin und Dopamin sind
Neurotransmitter mit zentraler Bedeutung
für kognitive Funktionen, Vigilanz sowie
Schlaf-Wach-Rhythmus. Ein Defizit bzw.
ein Überschuss spielen eine wichtige Rolle in der Entstehung des Delirs.
Die Reduktion des Hirnmetabolismus
durch z.B. Hypoxie führt zu einer reduzierten Synthese von Acetylcholin bzw. zu
einer vermehrten Freisetzung von Dopamin und damit zu einer Störung der genannten Funktionen. Cytokine wie IL1,
IL2, IL6, TNFα und Interferon erhöhen
die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke.
Chronischer Stress bei Krankheit, Trauma oder schwerer Infektion erhöht den Cytokin- und Cortisol-Spiegel, es kommt zu
einer Blockade hippocampaler Serotoninrezeptoren und dadurch auch zur Delir-Symptomatik. Medikamente, Drogen
und Alkohol sind wichtige kausale FaktoGERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
DSM-IV
Diagnostische Kriterien
@ Störung des Bewusstseins (Vigilanzstörung)
mit verminderter Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, zu erhalten oder zu verlagern
@ Kognitive Störung (z.B. Gedächtnisstörung,
Desorientiertheit, Sprachstörung) oder Wahrnehmungsstörung (z.B. Halluzinationen), die
nicht durch eine schon bestehende Demenz
erklärt werden können
@ Entwicklung der Symptome innerhalb einer
kurzen Zeit (Stunden bis Tage) und Fluktuation im Tagesverlauf
@ Hinweise aus Anamnese, klinischer Untersuchung und/oder Labortests, dass die Störung
direkte Folge einer somatischen Erkrankung,
oder von Medikamenteneinnahme ist
CAM – Confusion Assessment
Method [Inouye, 1990]
@ Akut veränderter geistiger
Zustand und fluktuierender
Verlauf
Störung
der Aufmerksam@
keit
@ Denkstörung
(desorganisiertes Denken)
@ Bewusstseinsstörung
(Vigilanzstörung)
Diagnosestellung eines Delirs
bei Erfüllung der Kriterien
1 + 2 (obligatorisch) sowie
3 und/oder 4
Tab. 3: Diagnose des Delirs
ren des Delirs. Einerseits kommt deren
toxikologischer Effekt, andererseits das
Entzugsphänomen zum Tragen. In diesem Zusammenhang darf man die altersabhängigen Veränderungen der Pharmakokinetik nicht vergessen.
Diagnose
Die Einleitung therapeutischer Maßnahmen setzt eine verlässliche Diagnose des Delirs voraus. Nur so kann individuell und
zielgerichtet die richtige Behandlung begonnen werden. Hierfür stehen verschiedene Untersuchungsinstrumente zur Verfügung. Die DSM-IV Kriterien sind genau,
aber nicht einfach anzuwenden, die CAM
– Confusion Assessment Method – ist deutlich einfacher in der Anwendung und zeichnet sich durch eine hohe Sensitivität (86%)
und Spezifität (97%) und einem kappaKoeffizient von 0,91 aus (Tab. 3)
Therapie
Es ist wichtig, zunächst einmal an die Primärprävention zu denken, noch bevor dieses komplexe, potentiell lebensgefährliche
Problem auftritt. Dazu gehören:
@ Erkennen der Risikopatienten
@ Schaffung adäquater Rahmenbedingungen für die Betreuung dieser Patienten
@ Vermeiden kausaler Faktoren (Polypragmasie, Malnutrition, Exsikkose, Imobilisierung)
36
@ rechtzeitiges Erkennen von Prodromalsymptomen
Die Behandlung umfasst drei wesentliche
Aspekte:
@ auslösende Erkrankung behandeln, d.h.
die kausale Therapie ist unumgänglich
@ pflegerische und milieutherapeutische
Maßnahmen
@ symptomatische Therapie
Um eine konsequente Diagnostik und Therapie durchführen zu können, ist initial
manchmal eine Sedierung nötig (wenn
auch primär eine „soziale Fixierung“, d.h.
Präsenz v. Angehörigen, „Sitzwachen“, Ablenkung, Beschäftigung, Mobilisierung in
Begleitung ideal wäre...). Zur pharmakologischen sedierenden Intervention eignen
sich atypische Neuroleptika in niedrigen
Dosierungen, welche im Vergleich zu den
klassischen Neuroleptika weniger orthostatische Hypotension auslösen und auch
weniger anticholinerg wirken sowie ein relativ niedriges extrapyramidales Nebenwirkungspotential besitzen.
Zur effizienten Kontrolle psychotischer
Symptome – vor allem der Angst machenden, beunruhigenden, verwirrenden
Halluzinationen hat noch immer Haloperidol in niedriger Dosierung seinen Stellenwert, es hat aber eine recht hohe Potenz,
extrapyramidale Symptome auszulösen.
Bei allen Neuroleptika ist auch deren die
QT-Zeit verlängernde Wirkung und damit
das Risko des Auslösens gefährlicher Rhythmusstörungen (Torsades de Pointe) zu bedenken!
Die sedierende Medikation (Tab. 4) soll
ausschließlich als eine vorübergehende
symptomatische Maßnahme verstanden
werden. Sie soll dem Patienten den Leidensdruck nehmen und andere Hilfen im
Rahmen einer globalen multidisziplinären
Betreuung ermöglichen. Sie darf nicht immobilisierend sein – weshalb man sich
unter Beobachtung der Wirkung und
Nebenwirkung von ganz niedrigen Dosen
ausgehend an die wirksame Dosis herantitrieren soll. Man muss unbedingt zum
richtigen Zeitpunkt, also sobald die primär-
Initiale Dosis Intervall
Applikation
Haloperidol (Haldol )
@ Tropfen = 2 mg/ml (10 Tr = 1 mg), 1 Amp. = 5 mg/ml
@ max. Wirkung p.o.: ab 4-6 h; Sedierung und EPS ab
ca. 3 mg/d
leichte Agitiertheit
0,5 mg
2-3x/d
p.o.
mittelschwere Agitiertheit 1 mg
alle 4-6h
p.o., s.c., i.m., i.v.
schwere Agitiertheit
2 mg
alle 4-6h
p.o., s.c., i.m., i.v.
Risperidon (Risperdal®)
@ antipsychotischer, weniger sedierend, mehr EPS als
Quetiapin
0,5-1 mg
bis 3 x/d
p.o.
Quetiapin (Seroquel®)
@ 1. Wahl bei M. Parkinson, Lewy Body Demenz
@ Max. 400 mg/d, grosse therap. Breite, sedierend
25 mg
1 (abends)-3x/d
p.o.
Lorazepam
1.
Wahl
bei
Benzodiazepinund
Alkoholentzug
@
(Temesta expidet®)
@ Zusätzliche Sedierung bei ungenügendem Ansprechen der Neuroleptika
1-2,5 mg
alle 4 h
p.o.
®
[mod. Geriatr. Klinik St. Gallen 2008]
Tab. 4: Medikamentöses Therapieschema beim akuten Delir
GERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
Typische Neuroleptika
Haloperidol (Haldol®)
Melperon (Buronil®)
Thioridazin (Melleril®)
Levomepromazin (Nozinan®)
Chlorprothixen (Truxal®)
Flupentixol (Fluanxol®)
Blockade von
Ach*
D2**
+
+++++
++
++++
+++++
+++
+
+++
++++
+
++++
Atypische Neuroleptika
Clozapin (Leponex®)
Olanzapin (Zyprexa®)
Risperidon (Risperdal®)
Ziprasidon (Zeldox®)
Quetiapin (Seroquel®)
Zotepin (Nipolept®)
Blockade von
Ach*
D2**
+++
++
++++
+++
+/+++++
++++
++
+
+++
(delirogenes Potential durch *Acetylcholin-Rezeptorblockade, **D2-Rezeptorblockade); mod. nach Bandelow 2000
Tab. 5: Wirkung von Neuroleptika auf Neurotransmitter und Rezeptoren
therapeutischen Maßnahmen gegriffen haben, mit der Sedierung aufhören! (dokumentierte Dosisreduktionsversuche...) Benzodiazepine sind in den meisten Fällen
(außer ev. beim Alkohol- od. TranquillizerEntzugsdelir) ungeeignet, sie haben lediglich in ihrer kurzwirksamen Form für beschränkte Zeit als Schlafinduktoren einen
gewissen Stellenwert.
Einen zusätzlichen kausal therapeutischen Ansatz bieten eventuell Medikamente, welche das Acetylcholin-Niveau im
ZNS steigern – die Acetylcholinesterasehemmer (Tab. 5).
Fixierende Maßnahmen (Gurte etc.) sind
die schlechteste Methode, um „verwirrte“,
psychomotorisch agitierte Patienten „ruhig
zu stellen“ – sie sind inhuman, führen zu
noch mehr Unruhe und akuter Verletzungsgefahr. Ihr Gebrauch ist aus dem
Interventionsrepertoire der Geriatrie längst
verschwunden!
Wichtiger als die Medikation ist die sorgfältige globale Betreuung durch das multidisziplinäre Team – hier ist insbesondere
die Pflege gefordert.
Zusammenfassung
@ Das Delir ist ein häufiges Problem in der
Geriatrie, es bedeutet für den älteren
Menschen eine zusätzliche Belastung und
Gefahr, es kann/soll rechtzeitig erkannt
werden.
@ Genaue Anamnese, Status und gezielte
Laboruntersuchungen helfen, die auslösenden Ursachen aufzudecken.
@ Das hypoaktive Delir ist häufiger als das
hyperaktive, es wird aber sehr oft nicht
erkannt.
@ Eine Evaluierung der Medikamente ist
obligat, wenn möglich, sollen das Delir
GERIATRIE JOURNAL 2/10
(mit)verursachende Medikamente abgesetzt werden.
@ Delir-Therapie heißt die verursachende
Erkrankung behandeln, Vermeiden von
Komplikationen, Kontrolle von Verhaltensstörungen, gleichzeitige Rehabilitation.
@ Die beste Delir-Intervention ist dessen
Prävention.
@ Wichtiger als die Medikation ist die globale Betreuung durch das geriatrische
Team, inkl. Milieutherapie.
Literatur beim Verfasser
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Thomas Frühwald,
Krankenanstalten der Stadt Wien,
Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel,
Abteilung für Akutgeriatrie,
Wolkersbergenstr. 1,
A-1130 Wien,
eMail: thomas.fruehwald
@wienkav.at
Delir in der
Intensivmedizin
Hans Jürgen Heppner, Michael Christ und Cornel Sieber, Nürnberg
B
etagte Patienten gehören immer
häufiger zum Klientel der Intensivstationen. Die Zunahme der
chronischen Erkrankungen und der Fortschritt der Medizin führen dazu, dass immer mehr geriatrischen Patienten die modernen Behandlungsverfahren einer Intensivstation zuteil werden. Abhängig von
der Erkrankungsschwere tritt ein Delir
zum Teil bis zu 70% der Behandlungsfälle auf [5] und ist sowohl mit einer höheren Mortalität als auch einer längeren Aufenthaltsdauer und damit verbundenen
höheren Ressourcenverbrauch und entstehenden Kosten verbunden. Dies gilt
auch für den Teilbereich der lebensbedrohlichen Infektionen und im Krank-
heitsbild der Sepsis. Bei Patienten, die ein
sog. SIRS (Systemic Inflammatory Response Syndrom) aufweisen, oder bei denen zusätzlich eine akute Organdysfunktion vorliegt, sodass zusammen mit einem
bakteriellen Fokus die Kriterien einer Sepsis erfüllt sind, findet man häufig auch ein
akutes Delir.
Eine akute Organkomplikation ist die
Enzephalopathie, die sich in eingeschränkter Vigilanz, Desorientiertheit, Unruhe oder dem Delirium zeigt. Bereits hier
stellen sich Schwierigkeiten in der Diagnostik ein, denn im Rahmen der Vorstellung in der Notaufnahme oder der intensivmedizinischen Erstbetreuung der geriatrischen Patienten ist es häufig schwierig,
37
SCHWERPUNKT: DELIR
Sepsis und Delir
Endotoxine (LPS) und andere mikrobielle Produkte
α Arachidonsäure Vasoaktive peptide Komplementkaskaden
Zytokine TNF-α
Capillary leak: Ödem, Mikrozirkulationsstörungen,
gestörte Mitochondrienfunktion, gestörte Blut-Hirn-Schranke, Apoptose
Medikamente
Multiorganversagen
Sepsisassoziiertes
Delir
Hypoglykämie
Katabole
Stoffwechsellage
Malnutrition
Kreislaufversagen
Schock
Gerinnungsstörung
Mikroabszesse
Direkte Infektion
„falsche“
Neurotransmitter
Elektrolytentgleisung
Gestörter Aminosäurestoffwechsel, Überangebot aromatischer AS
Störung der Leberfunktion
Abb. 1: Pathopyhsiologische Aspekte des sepsis-assoziierten Delir
den Unterschied zwischen einem akuten
Delir, einer septischen Enzephalopathie
oder einer vorbestehenden Demenz zu
treffen. Eine septische Enzephalopathie
liegt bei bis zu 71% aller Intensivpatienten mit schwerer Sepsis vor. Häufig ist die
Enzephalopathie das Initialsymptom. Die
Behandlung des Delirs im Rahmen der
Sepsis setzt ein adäquates Assessment voraus. Eine der wichtigsten therapeutischen
Optionen des Delirs beim kritisch Kranken geriatrischen Intensivpatienten ist die
adäquate Analgosedierung, die den Wert
auf Analgesie und nicht die sedierende
Komponente legt.
Es zeigt sich, dass es extrem wichtig ist,
im Rahmen schwerer lebensbedrohlicher
Erkrankungen bei geriatrischen Patienten
die septische Enzephalopathie auf jeden
Fall mit zu bedenken, denn nur so ist eine
adäquate, dem klinischen Bild und dem individuellen Patienten entsprechende Therapie frühzeitig anwendbar. Dies führt zu einer Reduktion der Mortalität, der Aufenthaltsdauer auf Intensivstation und somit der
zu erwartenden Behandlungskosten.
Der Zusammenhang von Septikämie und
Delir wurde bereits 1892 von Sir William
Osler in „The Principle and Practice of
Medicine“ beschrieben (1892, 1.Auflage,
D. Appleton and Company, New York).
Ihm fiel auf, dass in vielen Fällen innerhalb von 24 Stunden ein akutes Delir bei
schweren Infektionen auftrat und im weiteren Verlauf, wenn dieser Zustand länger
als 72 Stunden anhielt, ein Delir der apathischen Form auftrat. Die Sepsis bzw. der
septische Schock wird weltweit mit einer
Inzidenz von 1,5 Mio. Fällen pro Jahr angegeben [7, 12]. Die Prävalenzstudie des
Deutschen Sepnet berichtete bereits 2007
von ca. 154.000 schweren Sepsisfällen pro
Jahr.
Septische Enzephalopathie. In diesem
Zusammenhang tritt eine septische Enzephalopathie bei bis zu 70% der Patienten
mit schwerer Sepsis auf und ist häufig ein
Initialsymptom. Nebenbefundlich zeigt
sich, dass bei vorbestehenden Hirnfunktionsstörungen das Risiko einer septischen
Enzephalopathie deutlich erhöht ist und
Patienten in höherem Lebensalter zusätzlich gefährdet sind [1, 6].
Das sepsisassoziierte Delir ist als akute,
reversible generalisierte Einschränkung
der zerebralen Funktionen beschrieben
(Abb. 1).
Natürlich dürfen differentialdiagnostische Überlegungen, die metabolisch, hypoxisch oder auf Grund der Behandlungsfolgen von Sedativa oder anderen
Medikamenten begründet sind, nicht außer Acht gelassen werden (Abb. 2).
Patient sediert
ja
Definition und Häufigkeit
nein
Sedierungpause
Fokale Symptome
nein
ja
Hirnstammreflexe,
Reaktion auf
Schmerzreize
path.
Sepsis-assoziiertes Delir
wahrscheinlich
CAM-ICU: delirium
ATICE: < 10/20
ja
path.
EEG/SEP
S-100β, NSE
normal
Sepsis-assoziiertes Delir
unwahrscheinlich
MRT: Evaluation des
Ausmaßes der Hirnschädigung
Abb. 2: Vorgehensweise zur Delirabklärung
38
normal
nein
Das Delir selbst, definiert als Bewusstseinseinschränkung mit einem Aufmerksamkeitsdefizit sowie einer veränderten
kognitiven Funktion mit Wahrnehmungsstörung, welche sich innerhalb kurzer Zeit entwickelt und in der Symptomatik fluktuierend zeigt, stellt einen
hohen Komplikationsfaktor für die intensivmedizinische Behandlung dar. Ein
weiteres Problem ist, dass ca. zwei Drittel
der Organdysfunktionen im Rahmen des
Delirs auf Intensivstationen nicht adäquat
erkannt werden (Abb. 3). Bei beatmeten
GERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
älteren Patienten tritt es umso häufiger
auf. Erschreckender Weise sind ca. 10%
der Patienten bei Verlegung noch delirant
und an interprofessionellen Behandlungskonzepten fehlt es derzeit noch deutlich.
Delir als Mortalitätsrisiko ist mit einer
höheren Sterblichkeit sechs Monate nach
Behandlung verknüpft [2, 9]. Somit resultieren aus einem unerkannten oder
einem nicht behandelten Delir schwere
Krankheitsverläufe mit vermehrten Komplikationen [11], dies führt zwangsläufig
zu einer Verlängerung des Intensivaufenthaltes und einer deutlich erhöhten
Sechsmonatsmortalität und, über den
Aufenthalt verbunden, mit dem Ressourcenverbrauch zu höheren Kosten der
Intensivbehandlung. Weiterhin besteht
das Risiko einer dauerhafter kognitiven
Störung.
Erfassung
Neben der Erhebung eines Assessments des
Schmerzes bei den Intensivpatienten ist es
von entscheidender Bedeutung, dass die
Sedierungstiefe im Rahmen der Analgosedierung entsprechend angepasst wird.
Studien haben deutlich gezeigt, dass je tiefer die Patienten sediert sind, desto häufiger die Komplikationen im Nachhinein
mit einem Delir auftreten, zumal es in
dieser Kombination häufig an einer ausreichenden Analgesie fehlt. Um ein adäquates Analgosedierungs-Regimes bei den
Intensivpatienten durchführen zu können, ist ein Scoring von entscheidender Bedeutung und es hat sich hierfür die Richmond-Agitation-Sedation-Scale (RASS)
bewährt (Tab. 6). Anzustreben ist ein
Punktwert zwischen -2 und 0. In diesem
Bereich ist der Patient am besten zu führen und das Risiko eines Delirs eher gering.
Um ein entsprechendes Delirassessment
durchführen zu können, bieten sich verschiedene Untersuchungsmöglichkeiten
an. Für die Intensivmedizin eignet sich
der CAM-ICU am besten [4]. Im ersten
Schritt wird dort die Sedierungstiefe abgefragt, im Schritt zwei erfolgt eine Delireinstufung und im Schritt drei werden
die entsprechenden Therapieoptionen eingeleitet. Dabei gilt aber zu bedenken, dass
GERIATRIE JOURNAL 2/10
hyperaktiv
< 5%
gemischt
65%
hypoaktiv
> 30%
Fehlinterpretationen
(2/3)
Prävalenzraten des ITS-Deliriums
beatmet
60-80%
nicht beatmet
50%
@ 3-fach erhöhte 6-Monats Mortalität
@ längere Beatmungsdauer
@ längere ITS-Liegedauer
@ längere Krankenhausverweildauer
[modifiziert nach 8]
Abb. 3: Delir auf Intensivstation
eine Prävention des Delirs vor der Therapie stehen sollte.
Stressfaktoren in der Intensivmedizin
Die Intensivmedizin selbst bietet genügend auslösende Faktoren für ein Delir
(Abb. 4), allein durch den bestehenden
Umgebungsstress. Die fremde Umgebung
mit einer deutlichen Reizüberflutung, d.h.
ständiger Lärm auf der Station, kaum abgedunkelte Räume und wenig bis keine
Orientierungshilfen führen relativ schnell,
vor allem bei älteren Patienten, zur Überforderung, die letztlich in einem Delir enden kann. Zusätzlich fehlen die familiäre
Zuwendung und die gewohnte Umgebung
während der Patient unter Umständen sich
ans Bett „gefesselt“ fühlt. Dies häufig durch
Einrichtung von Bettgittern oder notPunkte
+4
+3
+2
Sedierung
streitlustig
sehr agitiert
agitiert
+1
0
unruhig
ruhig und
aufmerksam
schläfrig
-1
-2
-3
-4
-5
wendigen therapeutischen Fixierungen,
oder dadurch, dass der Patient an einen Infusionsschlauch angeschlossen ist oder über
das nicht-invasive Monitoring am EKGKabel und am Monitor hängt. Selbst dieses „Angebundensein“ wird vom Patienten
sehr stresshaft empfunden und kann zu
deliranten Situationen führen. So sollte die
gerätetechnische Untersuchung oder apparative Überwachung der Patienten auf
das Nötigste beschränkt werden.
Selbstverständlich ist es von entscheidender Bedeutung, dass Risikofaktoren
erkannt und nach Möglichkeit modifiziert werden. Natürlich sind das Alter und
die initiale Krankheitsschwere ein bedeutender Risikofaktor, der jedoch nicht beeinflussbar ist. So hat sich deutlich gezeigt,
dass Patienten die einen hohen AppacheII-Score haben, deutlich gefährdeter sind,
Beobachtung und Interpretation
offene Streitlust, Gefahr für das Personal
zieht an Schläuchen und Kathetern aggressiv
häufig ungezielte Bewegungen, atmet gegen das
Beatmungsgerät
ängstlich, Bewegungen weder aggressiv noch lebhaft
folgt Aufforderungen aufmeksam
nicht ganz aufmerksam, erwacht anhaltend durch
Ansprechen (> 10 s)
leicht sediert
erwacht kurz mit Augenkontakt bei Ansprache (< 10 s)
mäßig sediert
Bewegung und Augenöffnung durch Ansprechen,
kein Augenkontakt
tief sediert
Bewegung oder Augenöffnung durch körperlichen Reiz
nicht erweckbar keine Reaktion auf körperlichen Reiz
[mod. nach 13]
Tab. 6: Systematische Bewertung der Sedierungstiefe
39
SCHWERPUNKT: DELIR
das Delir-Management durchaus ein Qualitätsmerkmal einer Intensivstation sein.
internistische Aufnahme
3 verschiedene Infusionen
Literatur
Endotrachealtubus
Isolation (Keime)
0
1
5
Odds-Ratio (mit 95%-Konfidenzintervall)
10
15
[modifiziert nach 14]
Abb. 4: Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs auf der Intensivstation
ein Delir zu entwickeln. Allerdings lassen
sich eine Medikamentenauswahl, die
Schmerzbekämpfung und die Analgosedierung sehr wohl als Risikofaktor gut
kontrollieren und beeinflussen, um deliranten Symptomen vorzubeugen. Wichtigste Botschaft hierbei in der Intensivmedizin ist, dass ein unbehandelter
Schmerz unweigerlich zum Delir führt
und eine Sedierung der Patienten im Rahmen der Intensivtherapie erst nach adäquater Analgesie erfolgen sollte (Abb. 5).
Schmerz und Sedierung
Delir
tierung ist es wichtig, den Patienten gezielt
und verständlich über seine Situation zu
informieren, wenn nötig auch mehrmals
am Tag, entsprechende Sicherheit zu vermitteln und Kommunikationshilfsmittel
einzusetzen. Eine Berührung sollte nur
angekündigt erfolgen.
Nach Möglichkeit sollte bei einem längeren Aufenthalt die Möglichkeit zur persönlichen Gestaltung des Umfeldes (Uhr,
Kalender, Musik) geschaffen werden und
es sollten auch Zimmerwechsel, die zu einer weiteren Des-Orientierung führen,
vermieden werden.
[modifiziert nach 10]
Abb. 5: Schmerz – Delir – Route
Allein eine tägliche Sedierungspause mit
einem Aufwachversuch, kombiniert mit einem Spontanatemversuch des Patienten reduziert die Entstehung eines posttherapeutischen Delirs um ein Vielfaches.
Nicht-pharmakologische
Interventionsmöglichkeiten
Wichtig für die Begleitung der Patienten
auf der Intensivstation ist zum einen, dass
der Schlaf-Wach-Rhythmus durch Lichtregelung oder Lärmreduzierung reguliert
und optimiert wird. Zum anderen ist die
Re-Orientierung des Patienten durch seine Angehörigen bzw. das Pflegepersonal in
der Bereichspflege von enormer Bedeutung, so dass eine Bezugsperson gefunden
werden kann. Weiterhin sollten visuelle
und akustische Beeinträchtigungen vermieden werden. Auch aktuelle Hilfsmittel des Patienten, wie Lesehilfe, Brille oder
Hörgeräte sind in der Intensivmedizin
selbstverständlich zu verwenden. Im Rahmen der Kommunikation zur Re-Orien-
40
Frühmobilisation
Eine weitere Möglichkeit ist, den Patienten unter Einbeziehung der Physiotherapie und des gesamten therapeutischen Teams sehr früh zu mobilisieren, denn die
Förderung der Selbstmobilisation, nach einem festen Schema im Tagesablauf führt
zu einer besseren Kontrolle des Patienten
und damit einer Vermeidung des Delirs.
Ähnliches gilt auch für die Lagerungsoptionen, denn auch dort ist es wichtig, dass
der Patienten nicht zu weich liegend gelagert wird, sondern auf einer etwas härteren Matratze, nach Möglichkeit in halbsitzender Position, um ihm das Körpergefühl wieder zurückzugeben. Ein Patient,
der sich selbst fühlt, hat weniger Angst und
läuft weniger Gefahr in delirante Zustände
zu verfallen.
So lässt sich zusammenfassend beurteilen, dass das Delir häufiger ist, als man
denkt und einen komplikativen Behandlungsverlauf verursacht. Assessments sind
notwendig und therapeutische Maßnahmen müssen rasch ergriffen werden. Allerdings ist die Prävention des Delirs der
wünschenswerteste Ansatz [3]. So kann
1. Eidelmann LA et al. The spectrum of septic encephalopathy. Definitions, etiologies, and mortalities.
Jama 1996; 275: 470-473
2. Ely EW et al. Delirium as a predictor of mortality in
mechanically ventilated patients in the intensive
care unit. Jama 2004, 291: 1753-62
3. Fong JJ, Develin J: Can postoperative Delrium be
prevented pharmacologically? Crit Care Med 2009;
37: 1825-6
4. Dittrich B, Gatterer G, Frühwald T, Sommeregger U.
Delir-Diagnostik. Z. gerontopsychol psychiatr 2007;
20: 135-9
5. Girard TD, Pandharipande PP, Ely EW: Delirium in the
Intensive Care Unit. Crit Care 2008, 12: S3
6. Knaus Wa et al. Prognosis in acute organ-system
failure. Ann Surg 1985; 202: 685-693
7. Linde-Zwirbele et al. Medicare intensive care unit
cost: analysis of incidence, cost, and payment. Crit
Care Med 2004; 8: 222-226
8. Lütz A et al.: Die Nursing Delirium Screening Scale
(NU-Desc). Anätheol Intensivmed Notfallmed
Schmerzther 2008; 2: 98-102
9. Milbrand A et al. Crit Care 2004
10. Morrison RS et al. Relationship between pain and
opioid analgesics on the development of delirium
following hip fracture. J Gerontol Biol Med Sci 2003;
58A: M76-81
11. Ouiment S, Riker R, Bergeron N et al: Subsyndromal
delirium in the ICU: Evidence for a disease spectrum. Intensive Care Med 2007; 33: 1007-13
12. Rangel-Frausto et al. The natural history of the
systemic inflammatory response syndrom. Jama
1995; 273: 117-123
13. Sessler CN et al. The Richmond Agitation Sedation
Scale: validity and reliability in adult intensive care
unit patients. Am J Respir Crit Care Med 2002; 166:
1338-1344
14. Van Prompaey B, Elseviers MM, Schuurmanns MJ et
al: Risk factors for delirium in intensive care patients:
a prospective cohort study. Crit Care 2009; 13: R77
Korrespondenzadresse:
Dr. Hans Jürgen Heppner,
Klinik für Notfallmedizin und
Internistische Intensivmedizin,
Institut für Biomedizin des Alters an
der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. med. Michael Christ,
Chefarzt, Klinik für Notfallmedizin und
Internistische Intensivmedizin
Prof. Dr. med. Cornel Sieber,
Chefarzt, Medizinische Klinik 2,
Schwerpunkt Geriatrie,
Institut für Biomedizin des Alters an
der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg
Postadresse:
Klinikum Nürnberg Nord
Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1
90419 Nürnberg
GERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
Das Postoperative Delir
@ präoperative Blutbildveränderungen –
Boris Singler, Erlangen
E
ine 2008 erstellte Datenerhebung
zeigt, dass sich derzeit die Hälfte aller Menschen über 65 Jahren einer
Operation unterziehen muss. 40% aller
Operationen werden im bundesweiten
Durchschnitt bei Patienten durchgeführt,
die das 65. Lebensjahr erreicht haben [1].
Dabei stellen die Hauptoperationen von
über 80-Jährigen die Versorgung von
Schenkelhalsfrakturen, Katarakt-Operationen und die Versorgung eines akuten
Abdomens, z.B. bei einem Ileus oder einer Hohlorganperforation, dar. Diese Art
der Operationen bzw. Erkrankungen und
deren Versorgung stellt nach derzeitiger
Erkenntnis das Hauptrisiko für ein Delir im postoperativen Zeitraum dar [2].
Ein postoperatives Delir ist ein potentiell reversibles neuropsychiatrisches Syndrom, welches mit einer komplexen
Funktionsstörung des Gehirns einhergeht. Im operativen Bereich gilt es zwischen dem postoperativen Delir und der
postoperativen kognitiven Dysfunktion
zu unterscheiden. Zum einen spricht man
vom postoperativen Delir (POD), welches definitionsgemäß nur eine temporäre und reversible kognitive Störung in
der unmittelbaren postoperativen Phase
darstellt. Zum anderen spricht man von
der postoperativen kognitiven Dysfunktion (POCD), welche für länger als eine
Woche nach einer Operation andauern
kann und ebenfalls mit Störung der kognitiven Leistung einhergeht. Diese sind
meist diskreter als bei dem POD, können dafür aber über Wochen bis Monate fortbestehen (Tab. 7) [3].
Das postoperative Delir tritt am häufigsten 24 bis 78 Stunden nach dem Eingriff auf und ist in dieser Zeitspanne auch
am stärksten ausgeprägt. Es kann die erfolgreiche Therapie kritisch Kranker stark
beeinträchtigen, Mortalität und Morbidität sind erhöht, was auch zu längerer
Krankenhausverweildauer und höheren
Behandlungskosten führt. Für die Patienten selbst hat ein Delir zusätzlich groGERIATRIE JOURNAL 2/10
ßen Einfluss auf die subjektiv verbleibende Lebensqualität [4]. Die Inzidenz
ein POD zu erleiden, wird abhängig vom
Lebensalter und der Art der Operation
angegeben und schwankt von 0 bis 74%
[5]. Eine neuere Arbeit gibt eine Inzidenz beim älteren Patienten, ein postoperatives Delir zu entwickeln, mit 47%
an [6].
Die Probleme des Anästhesisten im Alltag liegen im Bereich des Erkennens eines Delirs. Derzeit verwendete Tests im
postoperativen Bereich sind nicht validiert, teilweise sehr zeitaufwendig und
die Konsequenzen der Testergebnisse sind
für den Anwender oft unklar. Des Weiteren ist eine konstante postoperative Beobachtung meist nicht gewährleistet.
Prädisponierend für die Delir-Entstehung gelten neben den bereits oben genannten allgemeinen Faktoren auch im
operativen Bereich vor allem hüftgelenksnahe Frakturen, prä- oder intraoperativ auftretende metabolische Entgleisungen sowie Patienten mit vorbestehender Herzinsuffizienz oder COPD.
Weitere Faktoren können das Risiko, ein
Delir zu erleiden, erhöhen. Dazu zählen
@ die Einnahme bestimmter Medikamente – vor allem Medikamente mit
anticholinerger Wirkung,
@ die Schwere der Erkrankung – z.B. Sepsis, Schock, Infektionen, Ateminsuffizienz (Hypoxämie),
@ Elektrolytstörungen/eingeschränkte
Nierenfunktion, aber auch
Postoperatives Delir
(POD)
@ temporäre und reversible
kognitive Störung
@ unmittelbare postoperative Phase
@ häufig eindrucksvoll
@ kurzzeitig bestehend
@ reversible kognitive Störung
hier sei vor allem ein Hb < 11,1 g/l bei
Männer (bei Frauen besteht kein Zusammenhang),
@ ein Hämatokrit < 33%,
@ eine bestehende Leukozytose oder
@ ein erhöhtes CRP.
Postoperativ sind Schmerzen, Fixierungsmaßnahmen und z.B. das Einbringen eines Blasenkatheters sowie das Verlegen auf eine Intensivstation mögliche
Ursachen [4, 6].
Zum Delir abgrenzend muss man das
postoperative kognitive Defizit betrachten (POCD). Monk et al. konnte 2008
in einer großen Studie an über 1.000 erwachsenen Patienten zeigen, dass ein
POCD nach einer Woche in 36% der Fälle auftrat, nach drei Monaten in immerhin noch 7,9% der Fälle. Hier gab es eine signifikante Steigerung bei isoliertem
Betrachten von Patienten über dem 60.
Lebensjahr, von denen nach drei Monaten 12,7% an einem kognitiven Defizit
litten [8]. Diese Zahlen decken sich mit
Daten, die 1998 in Lancet veröffentlicht
wurden und eine POCD-Inzidenz bei
Patienten über 60 Jahren eine Woche
postoperativ von 25,8% und nach drei
Monaten von 9,9% zeigten [9]. Selbst
im Langzeitverlauf konnte eine Inzidenz
eines POCD von 1% nach zwei Jahren
evaluiert werden [10].
Als Hochrisiko-OP gilt in diesem Zusammenhang ein Hüft- oder Kniegelenksersatz, bei welchen es mit Knochenzement zu vermehrten Mirkoembolien
und Histaminausschüttung kommen
kann
(„Cement-implantation-syndrom“). Weiterhin sind zerebrale Mikroembolien bei Markraumbohrung nicht
selten. Hier konnte ein Anstieg einer
POCD bei Patienten über 65 Jahren
Postoperative kognitive Dysfunktion
(POCD)
@ temporäre und verzögert auftretende,
reversible kognitive Störung
@ an die postoperative Phase anschließend
@ diskrete Symptomatik
@ länger als eine Woche andauernd
@ Gefahr der Chronifizierung
(mod. nach Newman et al. 2007)
Tab. 7: Richtungsweisende Unterschiede POD und POCD
41
SCHWERPUNKT: DELIR
nach drei Monaten auf 56% ermittelt
werden [11].
Risikofaktoren für das Auftreten eines
POCD nach bereits einer Woche sind zusammengefasst: hohes Alter, Multimorbidität (hoher ASA-Score), lange Anästhesiedauer, niedriges Bildungsniveau des
Patienten, komplexe Eingriffe (bzw. ReEingriffe), postoperative Infektionen, respiratorische Komplikationen und das Auftreten eines postoperativen Delirs. Für das
spätere Auftreten nach drei Monaten gelten das fortgeschrittene Lebensalter, ein
niedriges Bildungsniveau, ein präoperativ
bereits bestehender Apoplex und die präoperative Gabe von Benzodiazepinen als
Hauptrisikofaktoren (Tab. 8) [8, 9].
Keinen Einfluss haben nach aktuellen
Erkenntnissen das Anästhesieverfahren
(Regional- vs. Allgemeinanästhesie; intravenöse vs. volatile Hypnotika), die Anzahl von Bluttransfusionen perioperativ, die
Hypoxämie und Hypotension intraoperativ sowie der ASA-Score [9].
Therapeutisch lässt sich das postoperative Delir oft durch Behebung der Ursache behandeln, z.B. Korrektur einer Hypoxämie, des Flüssigkeitshaushaltes, der
Elektrolyte, einer metabolischen Entgleisung und vor allem durch eine adäquate
Schmerztherapie. Es empfehlen sich eine
ruhige, gut beleuchtete Umgebung und
wenn möglich keine Fixierungsmaßnamen. Eine Substitution von Vitamin B1
und B6 (50-100 mg/d) wird erwähnt. Die
medikamentöse Therapie des postoperativen Delirs erfolgt durch Haloperidol als
parenterale Gabe (beginnend mit 0,5 bis
5 mg, fraktioniert bis zu 20 mg/d). Je nach
Dosis wirkt Haloperidol stark dämpfend,
aber nicht atemdepressiv. Nach Stabilisierung des Patienten erfolgt eine schrittweise Reduktion. Benzodiazepine werden
nur beim Alkoholentzugsdelir empfohlen. Clonidin als zentraler α-2-Agonist
kann bei vegetativen Begleitsymptomen
eingesetzt werden (30-120 µg/h intravenös oder bis zu 8 x 75 µg/d oral). Als weitere Alternative gilt Physostigmin bei Verdacht auf medikamentös induzierte Delire (zentral anticholinerges Syndrom).
Propofol in sedierender Dosierung ist besonders für Intensivstationen gut geeignet, da es den Schlaf fördert und keinen
Schlafentzug erzeugt, wie es bei der Lang-
42
frühes Auftreten eines POCD
(1 Woche postoperativ)
@ hohes Alter
@ Multimorbidität
@ lange Anästhesiedauer
@ komplexe operative Eingriffe
@ postoperative Infektion
@ respiratorische Komplikationen
@ postoperatives Delir
@ niedriges Bildungsniveau
spätes Auftreten eines POCD
(3 Monate postoperativ)
@ hohes Lebensalter
@ vorbestehender Apoplex
@ präoperative Gabe von Benzodiazepinen
@ niedriges Bildungsniveau
[mod. nach 8 + 9]
Tab. 8: Risikofaktoren für das Auftreten
eines early und late onset POCD
zeittherapie von Benzodiazeopine beobachtet wird.
Nicht empfohlen werden Niederpotente Antipsychotika auf Grund des hohen delirogenen Potentials und der ausgeprägten
anticholinergen Wirkung.
Die Therapie eines POCD liegt in der
Prävention. Eine Medikamentenempfehlung gibt es derzeit nicht. Die Prävention
beinhaltet die oben genannten Risikofaktoren, die es zu vermeiden gilt. Bezüglich
der Anästhesie sollte keine „multimodale
Rezeptorblockade“ bei Narkose oder Prämedikation erfolgen, vielmehr soll sich
der Einsatz auf wenige Substanzen beschränken. In der postoperativen Schmerztherapie sind lokale Verfahren hilfreich,
um z.B. den Einsatz von Opiaten zu reduzieren.
Für die Prävention eines POD sollte
ebenfalls ein exaktes Aufrechterhalten der
Homöostase (Respiration, Zirkulation,
Metabolismus) erreicht werden. Kurzwirksame Substanzen sind auch in diesem
Falle präventiv, vor allem sollten Benzodiazepine und anticholinerge Substanzen
vermieden werden. Vermeiden von Angst
und Stress, eine adäquate Schmerztherapie, Kontakt zu vertrauten Personen, Vermeiden von Schlafentzug (ICU), Korrektur einer Dehydratation, physikalische
Maßnahmen, Moblilisation sowie früh-
zeitige Entfernung von Kathetern wären
wünschenswert und sind effektiv in der
Vermeidung eines postoperativen Delirs.
Zur Prävention bei geriatrischen Patienten mit Schenkelhalsfrakturen werden die
präoperative Gabe von niedrig dosiertem
Haloperidol sowie ein psychosoziales Interventionsprogramm aufgeführt.
Bezüglich der präoperativen Gabe von
Acetylcholinesterase-Inhibitoren sind die
derzeitigen Literaturangaben widersprüchlich. Hier gilt es weitere Ergebnisse von Studien abzuwarten. Oft lässt sich durch eine gute Anamnese das Risiko des PODs
präoperativ abschätzen. Daher sind die
Prämedikationsvisite und eine frühe Planung der Operation wichtig für das Outcome des Patienten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
die Inzidenz beider oben genannter Syndrome sehr hoch ist, wobei das POD klar
vom POCD unterschieden werden muss.
Die Ätiologie ist multifaktoriell, das Alter
per se sollte als eigener Risikofaktor angesehen werden. Eine Prävention ist möglich
und nötig, wenngleich auch weitere Studien notwendig sind. Die Anästhesie an sich
stellt nach heutigen Erkenntnissen kein
Risiko hinsichtlich des Entwickelns eines
Delirs dar. Ein delirantes Syndrom ist ein
fächerübergreifender Notfall und sollte
auch interdisziplinär behandelt werden.
Literatur
1. Wiese et al., AINS 2008; 9: 616-622
2. Schmitt, Pajonk; Anaesthesist 2008
3. Newman et al.; Anesthesiology 2007; 106: 572-90
4. T.-K Schmitt, F.-G. Pajonk; Anaesthesist 2008 57:
403-431
5. Steiner LA.; Schweiz Rundsch Med Prax 2005; 94:
1811-4
6. D. Noimark; Age and Ageing 2009; 38: 368-373
7. Royal College of Physicians, London, June 2006
8. Monk TG, Anesthesiology 2008; Jan; 108 (1): 18-30
9. Moller JT et al., Lancet 1998; 351: 857-61
10. Abildstrom H et al.; Anaesthesiol Scand 2000; 44:
1246-51
11. Krämer, European Journal of Trauma, 2001
12. Ancelin, Br J Psych, 2001
Dr. med. Boris Singler,
Anästhesiologische Klinik des
Universitätsklinikums Erlangen,
Direktor Prof. Dr. med. Dr. h.c.
J. Schüttler,
Krankenhausstr. 12, 91054 Erlangen,
eMail: Boris.Singler@
kfa.imed.uni-erlangen.de
GERIATRIE JOURNAL 2/10
SCHWERPUNKT: DELIR
Pflegeplanung
und Pflegeintervention
Frank Basedow-Klier, Nürnberg
GERIATRIE JOURNAL 2/10
@ Die Umgebung des Patienten sollte klar
strukturiert sein mit bestmöglicher
gleichzeitiger Reizkontrolle. So wäre es
optimal, wenn der Patient in einem Einzelzimmer untergebracht, dieser mit
Gegenständen nicht überfüllt, aber doch
mit „Vertrautem“ ausgestattet wäre.
@ Die individuellen Fertigkeiten des Patienten sollten aufrechterhalten werden. Sensorische Defizite wie eine nicht
benutzte Brille oder eine nicht verwendete Hörhilfe sollten stets korrigiert werden.
@ Wenn möglich kognitiv stimulierende
Aktivitäten wie Kreuzworträtsel, Zeitung lesen fördern.
@ Der delirante Patient sollte zu jedem
Zeitpunkt pflegerischer Maßnahmen
aktiv mit einbezogen und beteiligt werden („Hilfe zur Selbsthilfe“).
@ Die Haltung des Pflegepersonals dem
Patienten gegenüber sollte stets auf einer respektvollen, unterstützenden und
verstehenden Haltung gründen. Ziel
sollte es sein, dem Patienten zu mehr
Orientierung zu verhelfen, ihm Sicherheit zu vermitteln und seine Ängste, aber auch seine Agitiertheit zu mäßigen.
@ Fixierungen und andere freiheitsentziehende Maßnahmen sollten so weit
als möglich vermieden werden, da sie
die Symptomatik wie Angst oder Unruhe noch verstärken können.
Von pflegerischer Seite können diese
Maßnahmen zu einer Minderung der
Symptomatik beitragen, sie sind prinzipiell leicht umsetzbar und „nebenwirkungsfrei“.
Eine weitere Stufe im Strategieschema
im Umgang mit Patienten im Delir sind
Maßnahmen zur Unterstützung des Patienten sowie die Vermeidung von Komplikationen.
Bei der Betreuung eines Patienten mit
Delir ist vom Pflegepersonal viel Zeit und
Aufmerksamkeit zu investieren. Komplikationen müssen frühzeitig erkannt
und nach Möglichkeit verhindert werden.
Foto: hans12 – Fotolia.com
D
as akute Delir ist eine der häufigsten akuten Funktionsstörungen
älterer Patienten im akutstationären Bereich und stellt einen unabhängigen Risikofaktor für höhere Mortalität,
verlängerte Krankenhausverweildauer und
auf lange Sicht eine Abnahme der kognitiven und funktionellen Fähigkeiten der
Patienten dar. Beispiele, welche Bedeutung
delirante Syndrome für die Geriatrie haben, finden sich in nahezu allen klinischen Untersuchungen in der Altersmedizin.
Der Umgang mit bzw. die Pflege von deliranten Patienten basiert auf einem mehrstufigen Strategieschema und häufig kann
mit einfachen Maßnahmen und Präventionsstrategien wie Tageslicht, Angehörigenbesuche und dem restriktiven Umgang
von psychoaktiven Substanzen ein guter
Behandlungserfolg erzielt werden.
Beim deliranten Patienten sind besondere Probleme und Bedürfnisse zu berücksichtigen und es ist darauf zu achten,
dass stets versucht wird, diese positiv zu
beeinflussen. Hierbei gilt es, die folgenden wichtigen pflegerischen Verhaltensund Interventionsmaßnahmen mit einzubeziehen:
@ Einem Delir kann durch bestimmte
Maßnahmen vorgebeugt werden. So
ist z.B. an eine ausgewogene Nahrungsund Flüssigkeitszufuhr zu denken, bei
Diabetikern sind regelmäßige und falls
nötig häufigere Blutzuckerkontrollen
durchzuführen.
@ Dem deliranten Patienten sollten regelmäßig orientierende Maßnahmen
an die Hand gegeben werden z.B. in
Form von regelmäßigen Informationen über Ort, Zeit und Lokalität sowie eine für den Patienten gut sichtbare
Uhr oder ein Kalender, die gut und jederzeit einsehbar sind und einer wiederholten Orientierung dienen können.
Ziel der Pflege sollte sein, dem Patienten zu mehr Orientierung zu verhelfen. Dazu
zählen auch die Unterstützung der individuellen Fertigkeiten und die Nutzung von
Brille oder Hörhilfe.
43
SCHWERPUNKT: DELIR
Patienten mit delirantem Syndrom zeigen gehäuft Verhaltensweisen, die als gefährlich einzustufen sind, womit die Gefahr von Selbstverletzung und Unfällen
besteht. Daraus resultiert eine engmaschige sowie kontinuierliche Überwachung des Patienten genauso wie eine intensive pflegerische Betreuung. Die Pflegeabläufe sind genau zu planen und auf
die Bedürfnisse des Patienten abzustimmen, diese sollten unterstützende als auch
orientierende und sinngebende Maßnahmen beinhalten.
Präventive und
korrigierende Interventionen
Die Pflegeinterventionen beim Patienten mit Delir versuchen Einfluss auf die
Entstehung und den Verlauf der Akutsituation zu nehmen. Ziel der Interventionen ist die Reduktion von Stress und
Angst sowie die Aufrechterhaltung von
Kommunikation und die Hilfestellung
bei der Orientierung bzw. der Reorientierung. Dem Patienten soll das Gefühl
der Sicherheit und Vertrautheit, z.B.
durch Schaffung einer ruhigen Raumatmosphäre gegeben werden. Ergänzend
zur rein medizinischen Therapie des Delirs ist die pflegerische Intervention unerlässlich. Viele Untersuchungen haben
gezeigt, dass es bei allen Interventionsstudien keine wirksame Einzelmaßnahme in der Behandlung oder Prophylaxe
des Delirs geben kann, sondern ein interprofessionelles Zusammenspiel aller Behandler ausschlaggebend für den Erfolg
ist.
Kommunikationsgestaltung
beim Delir
Unterstützung, Information, Einfühlungsvermögen sowie die Vermittlung
von Trost und Sicherheit sind allesamt
durch Technik nicht erreichbar. Dies wird
besonders deutlich bei schwerkranken
Patienten der Intensivmedizin oder in
Akutsituationen der klinischen Notaufnahmen. Hierbei sind Patienten wie Angehörige auf die angepasste Kommunikation als wichtigen therapeutischen Beitrag durch die Pflegekräfte angewiesen.
Im Rahmen der Gesprächstechnik ist ak-
44
tives Zuhören und eine Spiegelung der
Gefühle von großer Bedeutung. Alleine
schon die beruhigende Anwesenheit des
Pflegeteams – welche im Mittelpunkt stehen sollte – kann durch Berührung oder
ruhige Bewegung erzielt werden und dem
Patienten das Gefühl der Geborgenheit
geben. In diesem Zusammenhang wird
auch die basale Stimulation nach Bienenstein und Fröhlich diskutiert. Nonverbale Kommunikation hat vor allem
bei bewusstseinsgetrübten Patienten
durch Berührung, Körpersprache, Blickkontakt oder Mimik als einziger Zugangsweg zum Patienten auch eine sehr
große Bedeutung.
Expressive Berührung
Bewusst eingesetzte nonverbale Kommunikation und Berührung nimmt einen
großen Stellenwert bei bewusstseinsgetrübten Patienten ein. Die Berührung ist
der wichtigste Bestandteil dieser nonverbalen Kommunikation. Die Berührung
übermittelt Mitgefühl, den Wunsch zu
helfen und gibt dem Patienten das Gefühl von Sicherheit. Durch Berührung
werden Einsamkeit und Isolation des Patienten vom Gefühl her verringert und die
Wahrnehmung von Trost oder Integrität
eher gesteigert [Pearce 2002]. Allerdings
ist hierbei enorm wichtig, dass jede Form
der Berührung angekündigt werden muss.
Orientierungshilfen in der
orientierenden Pflege
Die Desorientierung ist meistens auf eine zeitliche Problematik und weniger auf
die örtliche Problematik zurückzuführen. Der Patient hat meist kein Gefühl
wie spät es ist, welcher Tag überhaupt ist
und in welchem Jahr er lebt [Schuurmanns 2004]. Daher sind einfache Orientierungshilfen wie Nennung von Tagesund Jahreszeit im zwanglosen Gespräch
der Pflegekraft und dem kritisch kranken
Menschen sehr hilfreich. Auch große Uhren oder Kalender können durchaus hilfreich sein.
Genauer ausgedrückt bedeutet dies:
@ Regelmäßige Mobilisation des deliranten Patienten. Dabei sollten auch
immobilisierende Maßnahmen wie Ka-
theter oder Infusionen so wenig wie
möglich verwendet werden.
@ Erkennen von Selbstfürsorgedefiziten;
diese müssen in die ständig evaluierte
Pflegeplanung mit einbezogen werden.
@ Schaffen ungestörter Schlaf- und Erholungsperioden, Wiederherstellung
eines „normalen“ Schlaf- und Wachrhythmus.
@ Direkte und nach Möglichkeit dauerhafte Einbeziehung der Angehörigen
in den Pflegeprozess. Als Alternative
zu Fixierungen versuchen Angehörige
zur Überwachung bzw. zum „Sitting“
zu gewinnen. Die Patienten benötigen
in der Regel eine 1:1-Betreuung.
@ Es ist aber auch daran zu denken, dass
Angehörige in dieser Zeit besonderer
Unterstützung im Sinne von Information und Zugewandtheit bedürfen.
Besonders beim Delir des älteren Patienten spielen milieutherapeutische
Maßnahmen eine große Rolle. Sie können und sollen psychologischen Stressoren sowie kognitiven und sensorischen
Problemen des Patienten positiv entgegen
wirken. Zwar nehmen das Wissen um
die Häufigkeit und die Folgeproblematik sowie die möglichen Interventionen
bei der Entstehung des Delirs stetig zu,
dennoch bestehen nach wie vor Defizite
bei allen behandelnden Mitarbeitern.
So muss das Ziel der Pflegeplanung und
-intervention sein, die Delirentwicklung
zu verhindern, den Patienten im Delir verlässlich zu erkennen und alle nötigen
Maßnahmen ohne Zeitverzögerung einzuleiten. Der bewusste und verantwortungsvolle Umgang mit deliranten geriatrischen Patienten ist ein Qualitätsmerkmal moderner Pflegeintervention.
Literatur:
1. Grunst, S., Schramm, A.: Pflege kompakt – Neurologie und Psychiatrie S. 412-454
2. Steinhagen-Thiessen, E., Hanke, B.: Neurogeriatrie; S. 28-30
3. Altenpflege konkret – Gesundheits- und Krankenpflege, S. 716-721
4. Gogol M: Das Delir im höheren Lebensalter.
Z Gerontol Geriat 2008; 41: 431-9
Korrespondenzadresse:
Frank Basedow-Klier,
Humboldtstr. 101, 90459 Nürnberg,
eMail: [email protected]
GERIATRIE JOURNAL 2/10
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Depression: Neuer Therapie-Ansatz
Zirkadiane Rhythmik als therapeutisches Target
Mit der Einführung des melatonergen
Antidepressivums Agomelatin (Valdoxan®) als dem ersten Vertreter einer neuen Substanzklasse wird der therapeutische
Blick auf ein bekanntes, aber bislang
wenig beachtetes Funktionsprinzip des
menschlichen Organismus gelenkt – der
bei der Depression gestörten zirkadianen
Rhythmik.
Ein typischer Befund bei den allermeisten depressiven Patienten sei der
Zusammenbruch der physiologischen
Trennung von Aktivitäts- und Ruhephasen, erklärte Prof. Göran Hajak, Regensburg, auf dem Satellitensymposium „Individualisierte Arzneimitteltherapie der
Depression – the right drug for the right
patient“, das im Rahmen der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2009
in Berlin stattfand. Diese und zahlreiche
weitere biologische Rhythmusprofile werden von einer „inneren Uhr“ im Nucleus
suprachiasmaticus im vorderen Hypothalamus synchronisiert und aufeinander
abgestimmt. Dort beeinflusst der Melatonin-MT1-Rezeptor die Amplitude und
der Melatonin-MT2-Rezeptor die Phasenverschiebung der zirkadianen Rhythmik. Schlafstörungen mit einem Mangel
an erholsamem Schlaf und morgendlichem Früherwachen, einer schwankenden affektiven Schwingungsfähigkeit mit
dem charakteristischen Morgentief sowie
Antriebs- und Vigilanzstörungen tagsüber
sind für Hajak deutliche klinische Hinweise auf eine Störung des zirkadianen
Rhythmus. Diese Patienten profitieren
von einer Rebalancierung und Synchronisation zirkadianer Rhythmen.
Mit Agomelatin ist jetzt erstmals ein
Antidepressivum verfügbar, das in seinem
Wirkprofil auch diesen Krankheitsaspekt
berücksichtigt. Die klinischen Studien
zeigen eine rasche Normalisierung des
Schlaf-Wachrhythmus, „ohne dass eine
Sedierung tagsüber zu erwarten ist“, betonte Hajak. Von den Patienten als positiv empfunden wird besonders die bessere Schlafkontinuität ohne häufiges nächtGERIATRIE JOURNAL 2/10
liches Aufwachen und die Wiedergewinnung des verlorenen Tiefschlafes.
In einer randomisierten, doppelblinden Vergleichsstudie mit Venlafaxin IR
75-150 mg war die Schlafqualität unter
Agomelatin 25-50 mg bereits nach der
ersten Behandlungswoche signifikant besser (p = 0,021 vs. Venlafaxin). Damit einher ging im Patientenurteil eine signifikant bessere Vigilanz tagsüber und subjektives Wohlbefinden (jeweils p < 0,001
vs. Venlafaxin) [2]. Dieser klinische Eindruck blieb im CGI-I nicht nur über sieben Tage, sondern auch über sechs Wochen (p = 0,016) und 6 Monate (p =
0,025) erhalten [3].
Nach den Erfahrungen von Prof. Eckart
Rüther, München, wird die Auswahl des
geeigneten Antidepressivums in der Praxis insbesondere durch den Schweregrad
der Depression und komorbide Angstsymptome sowie durch das Alter und das
Geschlecht des Patienten beeinflusst. Die
Daten der Akutstudien belegen hierzu,
dass die Wirksamkeit von Agomelatin unabhängig vom Geschlecht, dem Alter oder
dem Körpergewicht oder komorbiden
Angstsymptomen ist.
In einer Metaanalyse von Kasper et al.
(Agomelatin 25-50 mg vs.Venlafaxin IR
75-150 mg, Sertralin 50-100 mg, Fluoxetin 20-40 mg) zeigte sich über einen
Beobachtungszeitraum von 6-8 Wochen
eine absolute Differenz im HAMD-17
Gesamtscore von 1,35 Punkten zugunsten von Agomelatin (p < 0,001). Desweiteren zeigten sich unter der Behandlung
mit Agomelatin höhere Responderraten
sowohl im HAMD-17 (72,6% vs. 65,1%)
als auch im CGI-I (82,2% vs. 73,6% (4).
In den plazebokontrollieren Studien betrug
die Differenz auf der HAMD-17-Skala
nach 6-8 Wochen Therapiedauer jeweils
über zwei Punkte zugunsten von Agomelatin, bestätigte Prof. Gerd Laux, Wasserburg/Inn [5-7]. Dieser Unterschied wird
von den Zulassungsbehörden und dem
britischen NICE-Institut als Nachweis
einer antidepressiven Wirkung angesehen.
Unter Agomelatin sind wegen seines
neuartigen Rezeptorprofils keine uner-
wünschte Sedation, Gewichtszunahmen
oder vermehrte sexuelle Dysfunktion zu
erwarten, so Laux [8, 9]. Die häufigsten
unerwünschten Wirkungen waren Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Zu
beachten sind regelmäßige Kontrollen der
Leberwerte.
Laux stellte auf dem DGPPN-Kongress
die ersten Ergebnisse der nicht-interventionellen Studie VIVALDI (Valdoxan
improves depressive symptoms and normalizes circadian rhythms) vor. In der
Studie wurde die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Agomelatin unter Praxisbedingungen untersucht; das Studiendesign wurde durch eine Ethikkommission geprüft [1]. In einer vorläufigen
Interimsanalyse wurden 606 mittelschwer
bis schwer depressive Patienten (63%
Frauen, ∆ 49,4 Jahre; svMADRS zu
Therapiebeginn: durchschnittlich 30,2)
ausgewertet. Diese Zwischenauswertung
ergab nach zwölf Wochen eine Remissionsrate von 52,3% (Responserate:
61,2%). Zu Therapiebeginn wurden
55,7% als schwer depressiv eingestuft,
nach 12 Wochen waren es noch 10,4%.
Nebenwirkungen traten in 7,1% der
Fälle auf, am häufigsten Übelkeit und
Schwindel (je 1,7%) sowie Kopfschmerzen (1%).
Literatur:
1. Satellitensymposium „Individualisierte Arzneimitteltherapie der Depression – the right drug for
the right patient“ im Rahmen der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN),
Berlin, 26. November 2009
2. Lemoine P et al. J Clin Psychiatry 2007; 68: 1723-32
3. Kennedy S., CNS Drugs 2009; Suppl 2: 41-47
4. Kasper S., et al., 2009 Eur Neuropsychopharmacol,
19 (Suppl. 3): S.412
5. Olie J.P. et al. Int J Neuropsychopharmacol. 2007; 10:
661-73
6. Loo H et al. Int Clin Psychopharmacoil 2002; 17:
239-47
7. Kennedy SH et al., Eur Neuropsychopharmacol.
2006; 16: 93-100
8. Laux G., Psychopharmakotherapie (supplement
Nr. 19): 11-14
9. Valdoxan Fachinformation, Stand Februar 2009
Quelle: Presseinformation der Servier
Deutschland GmbH, München,
www.servier.de
45
P H A R M A : S Y M P O S I E N & P R A X I S I N F O R M AT I O N E N
Therapie des alten Tumorpatienten
Geriatrische Patienten profitieren
in hohem Maße von Krebstherapie
Die Behandlung älterer Tumorpatienten
war ein wichtiges Thema auf dem 29. Deutschen Krebskongress (DKK), der vom 24.
bis zum 28. Februar in Berlin stattfand.
„Viele Ärzte therapieren ältere Patienten
nicht mit derselben Konsequenz wie jüngere“, beklagte PD Dr. med. Ulrich Wedding, Chefarzt der Abteilung Palliativmedizin des Universitätsklinikums Jena. Sowohl Ärzte als auch Patienten und deren
Angehörige sind der Ansicht, eine Tumorbehandlung nütze betagten Patienten
weniger als jüngeren – eine Sichtweise, die
sich wissenschaftlich insbesondere für neue
innovative Behandlungskonzepte heute
nicht mehr aufrecht erhalten lässt.
vacizumab (Avastin®) älteren Patienten
ähnliche Vorteile wie jüngeren Patienten
bringt. Untersucht wurde bei 1.914 Patienten in der First-line Therapie mit bisher unbehandeltem metastasiertem Dickdarm- bzw. Enddarmkrebs die Sicherheit
und Wirksamkeit von Bevacizumab in
Kombination mit verschiedenen StandardChemotherapien. Die Studienergebnisse
zeigen für alle Altersgruppen ein ähnliches
langes progressionsfreies Überleben: 10,8
Monate für die unter 65-Jährigen, 11,2
Monate für Patienten von 65 bis 74 Jahren sowie 10,0 Monate für die Patienten
ab 75 Jahren [2].
Brustkrebs
Evidenz für Paradigmenwechsel durch
neue Studien- und Registerdaten
Früher war in klinischen Studien ein Alter
von über 65 Jahren ein Ausschlusskriterium. Aussagen über die Wirksamkeit und
Verträglichkeit vieler Therapien bei dieser
Patientengruppe waren deshalb nicht möglich. Eine Wissenslücke, die jedoch zunehmend geschlossen wurde, erläuterte
PD Dr. Dr. Friedemann Honecker, Onkologe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Als Beispiel hierfür stellte er das IN-GHO®-Register vor, in dem
bis Ende 2010 Daten von über 3.000 onkologischen Patienten (Alter 70+) gesammelt werden. Eine Zwischenauswertung
von 1.580 Patienten zeigte keinen Einfluss
des Patientenalters auf das Therapieergebnis. Ein weiteres Krebsregister speziell für
ältere Patienten ist das Mamma-Register
„Senora“, in das Daten von 1.000 Patientinnen über 70 Jahre eingeschlossen werden sollen. Für die Behandlung älterer
Krebspatienten stehen neue, hocheffektive und gut verträgliche Medikamente zur
Verfügung.
Darmkrebs
Studiendaten zeigen, dass die zusätzliche
Gabe des monoklonalen Antikörpers Be-
46
Auch hier sind die Ergebnisse für ältere
Patientinnen viel versprechend: Aktuelle
Subgruppen-Analysen einer Phase-III-Studie zeigen, dass die First-line Kombinationstherapie des HER-2-negativen metastasierten Mammakarzinoms mit Bevacizumab bei älteren Patientinnen genauso
wirksam und verträglich ist wie bei jüngeren Patientinnen. Für das HER-2-positive Mammakarzinom zeigen die Ergebnisse
einer großen Beobachtungsstudie zum Einsatz von Trastuzumab (Herceptin®) bei 910
Patientinnen ebenfalls einen Benefit für
ältere Patienten. Dabei war das progressionsfreie Überleben von Patientinnen über
65 Jahren im Vergleich zu jüngeren Patientinnen sogar verlängert (12,9 vs. 9,9
Monate).
Lungenkrebs
Die aktuellen Auswertungen der PhaselV-Studie „Safety of Avastin in Lung Cancer“(SAiL) bestätigen den sicheren Einsatz
von Bevacizumab bei älteren Patienten.
Dabei war das mediane Gesamtüberleben
bei jüngeren Patienten (bis 65 Jahre) mit
14,6 Monaten genauso lange wie im Kollektiv der älteren Patienten. Auch Nebenwirkungen traten bei älteren Patienten
nicht häufiger auf. „Damit zeigt sich ein-
drucksvoll die gute Einsetzbarkeit innovativer Therapien für ältere onkologische Patienten“, fasst PD Dr. Wolfgang Schütte
die Ergebnisse zusammen.
CLL
Bei älteren CLL-Patienten unterscheidet
man heute je nach tatsächlichem Gesundheitszustand der Patienten zwischen fitten, unfitten und gebrechlichen Patienten
(„fit, unfit, fraiI“). Nach den Worten von
Dr. Valentin Goede, Universitätsklinikum
Köln, kann die neue Standardtherapie aus
Rituximab plus Chemotherapie auch bei
fitten älteren Patienten eingesetzt werden.
Dies ergab die Auswertung der CLL8-Studie [6], in die nach einem Geriatrischen Assessment auch „fitte“ ältere Patienten bis
80 Jahre aufgenommen und entweder mit
Chemotherapie alleine oder mit Rituximab (MabThera®) plus Chemotherapie
behandelt wurden.
Literatur:
1. Statistisches Bundesamt. Aktuelle Sterbetafeln für
Deutschland. (http://www.destatis.de)
2. Van Cutsem E, Rivera F, Berry S et al. Safety and
Efficacy of bevacizumab (BEV) and chemotherapy in
elderly patients with metastatic colorectal cancer
(mCRC): results from the BEAT observational cohort
study. European Journal of Cancer Supplements
2009; 7 (2): 348
3. Pivot X, Verma S, Thomsen C: Clinical benefit of
bevacizumab (BV) plus first-line docetaxel (0) in
elderly patients with locally recurrent (LR) of metastatic breast cancer: AVADO study. J Clin Oncol 27: 15s;
2009 (suppl; abstr 1094)
4. Jackisch C, Hinke A, Schoenegg W et al. Trastuzumab
treatment in elderly patients with advanced breast
cancer (ABC) – results from a large observational
study. SABCS 2008, Abstr 3144
5. Garrido P, Thatcher N, Crino L et al. Safety and efficacy
of first-Iine bevacizumab (BV) plus chemotherapy in
elderly patients with advanced or recurrent nonsquamous non-small cell lung cancer (NSCLC): SAiL
(M019390). European journal of Cancer Supplements
2009; 7 (2): 557
6. Hallek, M et al.: First-Une Treatment with Fludarabine
(F), Cyclophosphamide (C), and Rituximab (R) (FCR)
Improves Overall Survival (OS) in Previously Untresated Patients (pts) with Advanced Chronic Lymphocytic
Leukemia (CLL): Results of a Randomized Phase 111
Trial On Behalf of An International Group of Investigators and the German CLL Study Group. Blood 2009;
114: Abstract 535
Quelle: Roche Pharma AG, GrenzachWyhlen, Pressemitteilung anlässlich
des Symposiums „Therapie des alten
Tumorpatienten – tägliche Herausforderung auf dünner Datenbasis?“ am
26.02.2010, Berlin, im Rahmen des
29. Deutschen Krebskongresses
GERIATRIE JOURNAL 2/10
TERMINE / IMPRESSUM
Termine 2010
@ 7./8. Mai 2010, Innsbruck
Onkologietagung Innsbruck 2010 – Der ältere Patient in
der Onkologie
Informationen: Rainbow Incentive Eventmarketing GmbH, 1180 Wien,
Martinstr. 78, Tel. +43/1/40 75 991, Fax +43/1/40 75 991-4,
eMail: [email protected], www.rainbow-incentive.at
@ 12. bis 15. Mai 2010, Orlando (Florida/USA)
2010 American Geriatrics Society – Annual Scientific Meeting
Informationen: www.americangeriatrics.org
@ 2. Juni 2010, Woltersdorf
Tagesseminar „Expertenstandard Pflege von Menschen mit
chronischen Wunden“
Informationen: Geriatrische Akademie Brandenburg e. V., c/o. Ev. Krankenhaus Woltersdorf, Schleusenstr. 50, 15569 Woltersdorf, Tel. 0 33 62/779-225,
Fax 0 33 62/779-229, eMail: [email protected]
@ 25./26. Juni 2010
7. Heidelberger Dysphagie-Tage: Diagnostik, Therapie und
Management von Schluckstörungen
Informationen: Agaplesion Akademie Heidelberg (AAH), Rohrbacher Str. 149,
69126 Heidelberg, Tel. 0 62 21/319-1631, Fax 0 62 21/319-1635,
eMail: [email protected], www.agaplesion-akademie.de
@ 30. Juni 2010, Nürnberg
Diagnostik, Therapie und Rehabilitation bei Diabetes mellitus
im Alter
Informationen: Klinikum Nürnberg Nord, Dr. W. Swoboda,
Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1, 90419 Nürnberg, Tel. 09 11/39 82 438,
eMail: [email protected]
@ 8. Juli 2010, Stuttgart
Objektivität, Veränderungssensitivität und Validität: Ergebnisse
des Member Projekts – Wie sollen zukünftig Assessmentverfahren
in der Geriatrischen Rehabilitation ausgestaltet werden?
Informationen: Robert-Bosch-Krankenhaus, Klinik für Geriatrische Rehabilitation, Auerbachstr. 110, 70376 Stuttgart, eMail: [email protected]
@ 16. Juli 2010, München
Fraktur- und Sturzprävention in bayrischen Pflegeheimen –
Ergebnisse und internationaler Austausch
Informationen: Robert-Bosch-Krankenhaus, Klinik für Geriatrische Rehabilitation, Auerbachstr. 110, 70376 Stuttgart, eMail: [email protected]
@ 10. bis 11. September 2010, Block 1
@ 29. bis 30. Oktober 2010, Block 2
@ 26. bis 27. November 2010, Block 3
@ 10. bis 11. Dezember 2010, Block 4
@ 18. bis 19. Februar 2011, Block 5
@ 11. bis 12. März 2011, Block 6
Basis-Kurs Geriatrie
Informationen: Geriatrische Akademie Brandenburg e. V., c/o. Ev. Krankenhaus Woltersdorf, Schleusenstr. 50, 15569 Woltersdorf, Tel. 0 33 62/779-225,
Fax 0 33 62/779-229, eMail: [email protected]
GERIATRIE JOURNAL 2/10
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Prof. Dr. med. I. Füsgen, Wuppertal;
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Prof. Dr. R. Hardt, Trier;
PD Dr. M. Haupt, Düsseldorf;
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II. Quartal 2010
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