KLEPTOMANIE Historischer Überblick

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Historischer Überblick
KLEPTOMANIE
Begriff Kleptomanie:
griechisch – „kleptein“: stehlen;
„mania“: Wahnsinn, Besessenheit
Ein Fallkonzept
Erste Typologisierung durch Pinel, 1801: „Manie ohne Delirium“
Lehre von den Monomanien (Esquirol, 1838): „Willensverletzung“
Klopemanie (Matthey, 1816, zit. n. Müllener, 1964) Kleptomanie (Marc, 1840, zit. n. Müllener, 1964)
25.03.2010
Mag. Saskia Dreier
Stehltrieb nach Kraeplin (1904, s. 796):
„impulsives Irresein“: eine Art Kurzschluss zw. Impuls und Tat
19. Jdt: Phrenologen: „Diebessinn“; „Diebesorgan“
20. Jdt: Folge von epileptischen od. hypoglykämischen Zuständen
Psychoanalyse: Symbolische Stehlhandlung, Penisneid
Einordnung der Kleptomanie (1)
Einordnung der Kleptomanie (2)
Impulskontrollstörung, die durch das Erleben von zunehmender Spannung
vor dem Ausführen der spezifischen Handlung und einem Gefühl der
Entspannung während der Ausführung der Handlung gekennzeichnet ist.
Erstmalige operationalisierte Definition im DSM III
Aktuelle Definition nach DSM IV:
„wiederholtes Versagen, Impulsen zum Stehlen von Dingen zu widerstehen,
die nicht dem persönlichen Gebrauch oder der eigenen Bereicherung dienen.
Das Stehlen sollte nicht durch eine andere Störung, z.B. eine manische
Episode, eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, eine wahnhafte oder
psychotische Störung besser erklärbar sein“ (Saß et al., 2003)
ICD-10: F 63.2 «Abnorme Gewohnheiten und Störungen der
Impulskontrolle»
DSM-IV: 312.32 «Störungen der Impulskontrolle», die nicht an anderer Stelle
klassifiziert sind
Andere Klassifikationsvorschläge:
•
Kleptomanie als (substanzunabhängige) Sucht (behavioral – non
chemical – addiction) (Marks, 1990)
•
Kleptomanie als Zwang (obsessive compulsive disorder)
(Presta et al., 2002): wiederholtes Ausführen eines Verhaltens zum
Neutralisieren von Unbehagen; Spannungsreduktion beim Ausführen
der Handlung (McElroy et al., 1991a)
Unterschied zum Zwang: Stehlhandlungen werden kaum aus
sich aufdrängender Angst begangen, sondern gehen mit
Lustgefühlen und Erregung einher (Haller et al., 2006)
nach Bohne & Stevens, 2009
Gemeinsame diagnostische Kriterien
DSM-IV 312.32 und ICD-10 F 63.2:
Unterschiede in der
Differentialdiagnose
Pathologisches Stehlen kaum isoliertes Fehlverhalten, sondern tritt meist mit
anderen psychischen Störungen gemeinsam auf (Haller et al., 2006)
•
Wiederholtes Versagen, Impulsen zum Stehlen von Gegenständen zu
widerstehen, die weder zum persönlichen Gebrauch noch wegen ihres
Geldwertes benötigt werden.
•
Zunehmendes Gefühl von Spannung unmittelbar vor Begehen des
Diebstahls.
•
Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung beim Begehen des
Diebstahls.
•
Das Stehlen wird nicht begangen, um Wut oder Rache auszudrücken,
und erfolgt nicht als Reaktion auf Wahnphänomene oder
Halluzinationen.
•
Das Stehlen kann nicht besser durch eine Störung des
Sozialverhaltens, eine manische Episode oder eine antisoziale
Persönlichkeit erklärt werden.
nach Sauke, 2004
Nach ICD-10: Abgrenzung von wiederholtem Ladendiebstahl ohne deutliche
psychische Störung; organisch bedingte psychische Störung und
depressive Störung mit Diebstahl (Dilling et al., 1993)
Nach DSM IV: abzugrenzen von gewöhnlichen Diebstahlsvergehen oder
Ladendiebstahl; Simulation; antisoziale PS und Störung des
Sozialverhaltens, Wahn, Halluzinationen, Manie, Demenz (Saß et al., 2003)
Wesentlicher Unterschied DSM-IV zu ICD-10:
Betont die Möglichkeit des gemeinsamen Auftretens mit zwanghaftem
Kaufen, Affektiven Störungen (bes. Major Depression),
Angststörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen
Komorbiditä
Komorbiditäten
Epidemiologische Daten (1)
Affektive Störungen:
15–40% Major Depression; 0–60% bipolare Störung (Typ I und II);
Angststörungen:
0–60% Zwangsstörungen; 0–40% Panikstörung mit oder ohne
Agoraphobie; 5–40% soziale Phobie; 8–30% einfache Phobie;
Störungen durch psychotrope Substanzen:
33–45% Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit; 20–33%
Psychopharmakamissbrauch;
20–25% andere;
• keine empirisch fundierten Modelle zur Erklärung der Ätiologie –
lediglich Einzelfallbeschreibungen (Bohne & Stevens, 2009)
• Dunkelziffer für Eigentumsdelikte generell sehr hoch und
wissenschaftliche Erkenntnisse stützen sich fast ausschließlich auf
psychiatrisch begutachtete Diebe. (Haller et al., 2006)
• Häufig mehr weibliche als männliche Betroffene möglicher Bias
durch höhere Bereitschaft von Frauen sich professionelle Hilfe zu
suchen. (Grant & Odlaug, 2008)
Essstörungen:
42–60% Bulimia nervosa; 10–30% Anorexia nervosa;
Andere Impulskontrollstörungen:
10–20% intermittierende explosible Störung; 10–20% pathologisches
Spielen; 5–15% Pyromanie; 15–20% Trichotillomanie;
Sexuelle Störungen:
83% sexuelle Dysfunktionen; 15% sexuelle Kompulsionen
Andere:
10% selbstverletzendes Verhalten; 25% körperdysmorphe Störung;
15% Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; 15% Tic-Störung.
• Kleptomaniesymptomatik tritt i.d.R. erstmals zwischen Adoleszenz und
jungem Erwachsenenalter auf. (Grant & Kim, 2002; McElroy et al.,
1991; Presta et al., 2002)
• Prävalenz liegt bei ca. 5% (Saß et al., 2003)
nach Sauke, 2004
Epidemiologische Daten (2)
Epidemiologische Daten (3)
Zur Ätiopathogenese bestehen viele uneinheitliche Erklärungsansätze:
• Psychodynamische Konzepte:
emotionale Entlastungsreaktion/Übersprungshandlung (Cierpka,
1986)
Selbstschädigendes Verhalten, um überwältigende Affektzustände zu
regulieren (Goldman, 1991) –aufgrund früher Traumatisierungen
• Neuropsychologische Ansätze:
Kleptomanie nach Frontalhirn- oder frontolimbischen Läsionen
(Grant et al., 2006a, 2007; Kozian &Otto, 2003);
Frontalhirn: Zentrale Rolle bei Regulation von Impulsen und
Verhalten (Evenden, 1999), Defizitärer Serotonin-Haushalt
Weitere mögliche (auslösende/aufrechterhaltende) Faktoren:
• erhöhtes Stressniveau (ungeklärt ob Ursache oder Folge der
Stehlsymptomatik) (Grant et al., 2003)
• sowohl interne als auch äußere Reize als mögliche Trigger
(Bohne & Stevens, 2009)
• Lerntheoretisch:
vgl. Modell zu aufrechterhaltenden Bedingungen
Behandlungsansä
Behandlungsansätze (1)
Allgemein:
• Kaum systematische Therapieevaluierungen, meist
kasuistische Berichte, deren Aussagekraft entsprechend
beschränkt ist. (Haller et al., 2006)
• Meist Kombinationen aus pharmakologischer und
psychotherapeutischer Intervention (Haller et al., 2006)
• Therapiemaßnahmen richten sich oft nach der
zugrundeliegenden komorbiden Erkrankung
Behandlungsansä
Behandlungsansätze (2)
Kognitive Verhaltenstherapie (Grant & Potenza, 2004)
•
•
•
•
•
verdeckte Sensibilisierung (covert sensitization)
Aversionstraining
Systematische Desensibilisierung
Aufbau von Aktivitäten
Inkompatible Verhaltensweisen (Bohne & Stevens, 2009)
Psychopharmaka (Knecht, 2006)
• Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRi)
• Opiatantagonisten
Stressmanagement, Entspannungstraining
(Bohne & Stevens, 2009)
Modellvorschlag
Fallbeschreibung (1)
Anamnese
Klientin:
42 Jahre alt, ledig, Hausbesorgerin/Putzfrau, geborene
Serbin, aufgewachsen in Österreich,
2 erwachsene Kinder aus 1. Beziehung,
1 6-mo altes Kind aus dztg. Lebensgemeinschaft
(getrennte Wohnungen)
Familie:
• Kontrollierende, dominante und strenge Mutter
• Vater wenig präsent
• Betteln und Arbeiten am dem 9. Lebensjahr
“Zwangsverheiratung“ durch Eltern mit 14 Jahren
erzwungener Schulabbruch nach Poly
• 2 Jahre jüngerer Bruder: Spielsucht
• Expartner während Ehe und nachher gewalttätig
Nach Bohne & Stevens (2009), s. 42
Fallbeschreibung (2)
Fallbeschreibung (3)
Vorstellungsgrund:
Störungsspezifische Entwicklung:
• Große seelische Belastung durch Diebstähle
• Probleme mit Gesetz und Angst Kind zu verlieren
• bereits 12 Vorstrafen wegen Diebstahlsdelikten und
mehrere kurze Inhaftierungen
• Wunsch nach Deliktfreiheit, Ruhe finden
Alter bei Beginn der Stehlsymptomatik: 13 Jahre
Auslöser: viele Verbote, keine freie Kindheit
Aufforderung der Mutter, betteln zu gehen
große Wut- und Schamgefühle
danach erster Diebstahl
Beschwerden:
•
•
•
•
•
•
große Unruhe, Nervosität, Ängste, nächtliche Alpträume
innere Leere, depressive Verstimmung, Rückzug
Stehlen von unnötigen Dingen
Aufregung und das Gefühl sich etwas Gutes zu tun
Blackout während der Stehlhandlung
Entspannung, Ruhe nach Diebstahl; max. 1 Tag
nach einigen Tagen Schuldgefühle, Ängste, Anspannung
Fallbeschreibung (4)
• sie habe immer für die anderen etwas tun müssen
(= Qual, Opfer), d.h. will sie auch nichts von
anderen
• durch Verbote immer zurückgestoßen gefühlt
• beim Stehlen das Gefühl gehabt, etwas Verbotenes
zu tun, etwas das sie wollte, von dem sonst
niemand wusste
• sie habe sich „etwas für sich genommen“.
Erleben von Kontrolle im Kontrollverlust?
Kl. versuche, immer alle anderen Bedürfnisse zu
befriedigen, damit sie Ruhe finde
Kl. sei von ihren Eltern immer nur etwas weggenommen
worden, sie habe nie etwas bekommen & als Arbeitskraft
ausgenutzt worden
Fallbeschreibung (5)
• Gefängnis bedeutet Ruhe, Abschirmung, Schutz
von außen; „Urlaub“, etwas für sich selbst tun
können, Flucht vor Exmann
• Putzen als beruhigende Handlung- mehr als nötig
(Studie: McElroy et al.1991b): bei 56% der Kleptomanen
weitere kompulsive Verhaltensweisen wie z.B.
zwanghaftes Putzen, Kontrollieren, Sammeln etc.)
• Körperverletzung einer Nachbarin nach einem
verbalen/körperlichen Angriff dieser, Blackout
• Nervenzusammenbruch nach Konfrontation mit
Freundin und Kind des letzen Partners
Diagnostik
Interventionsplan
1) Psychoedukation
2) Verhaltensbeobachtung/ -analyse (Stehlimpulse)
• SKID I
3) Aufbau von Möglichkeiten zur Handlungskontrolle
(Aversionstraining: Handlungsvertrag; negative
Folgen vorstellen; Inkompatible Verhaltensweisen)
• SKID II
• BDI
4) Interventionen zum Umgang/Abbau des
Spannungszustandes (positive Aktivitäten,
Stressmanagement, Entspannungstechniken,
Coping)
• SCL-90
5) Kognitive Umstrukturierung
• SVF-120
6) Notfallsplan für Krisensituationen
7) Berücksichtigung komorbider Störung (MD!)
Diskussion
LITERATUR
Behandlung auf Basis eines lernthereoretischen
Modells greift vielleicht zu kurz?
Antonuccio, D.0. & Kohn, C.S. (2002). Treatment of kleptomania using cognitive and behavioral strategies.
Clinical Case Studies, 1(1), 25-38.
Problem Komorbidität: Behandlung vorwiegend der
Grunderkrankung oder der Kleptomanie? Wo soll der
Schwerpunkt liegen?
Cierpka, M. (1986). Zur Psychodynamik der neurotischbedingten Kleptomanie. Psychiatrische Praxis, 13, 94103.
Ursache-Wirkung Problematik: depressive Episoden
Verlust der Impulskontrolle: oder umgekehrt?
Stehlimpulse Kompensation der
Kindheitserfahrungen?
Klientin immer fremdgesteuert gewesen = äußerer
Zwang (Zwangsheirat, Arbeiten und Betteln müssen
ab 9.Lbj., erzwungener Schulabbruch)
Stehlhandlung als Handlungsfreiheit ?
Mangelnde Selbstwertregulation, durch das
fortwährende Handeln für andere
LITERATUR
Bohne, A. & Stevens, S. (2009). Modellvorschlag für die kognitive Verhaltenstherapie der Kleptomanie.
Verhaltenstherapie, 19, 40-46.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (Hrsg.) (1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen
– ICD-10 Kapitel V (F) Klinische-diagnostische Leitlinien.(2. Aufl.). Bern: Verlag Hans Huber.
Erisquirol, E. (1838). Die Geisteskrankheit in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde. Berlin: Verlag der
Voss´schen Buchhandlung.
Fydrich, T. & Reimer, C. (2007). Kleptomanie als Impulsdurchbruch bei unreifer Affektregulation.
Psychotherapeut, 52, 136-138
Goldman, M.J. (1991). Kleptomania: Making sense of the non-sensical. American Journal of Psychiatry, 148,
986-996
Grant, J.E. (2006). Understanding and treating kleptomania: new models and new treatments. The Israel
journal of psychiatry and related sciences, 43(2), 81-87.
Grant, J.E. & Odlaug, B.L. (2008). Kleptomania: Clinical characteristics and treatments. Revista Brasileira de
Psiquiatria, 30, 11-15.
LITERATUR
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Wissenschaftsgeschichte, 48, 216-239.
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Pinel, P. (1801). Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverwirrung oder Manie. Wien:
Schaumburg und Compagnie.
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Presta, S., Marazziti, D., DellÓsso, L., Pfanner, C., Pallanti, S. & Cassano, G.B. (2002). Kleptomania: Clinical
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