Die Notation – Barriere oder Brücke auf dem Weg zur Musik?

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DV-Arbeit
Schulfach Musik
Sek I 03
Prof. Markus Cslovjecsek
31. Mai 2006
Die Notation – Barriere oder Brücke auf dem Weg zur Musik?
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Johannes Graf Rindelstrasse 18 5425 Schneisingen [email protected] +41 56 250 44 66
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Johannes Graf
Inhalt
1.
Einführung ......................................................................................................... 2
2.
Entwicklung Musikalischer Fähigkeiten
2.1.
Musikalisches Verstehen .............................................................................. 4
2.2.
Auf Repräsentationen aufbauen ................................................................... 5
2.3.
Musik als Zeichensystem ............................................................................. 6
2.4.
Erleben, Erfahrung und Erkenntnis ............................................................... 6
3.
Schrifterwerb in Sprache und Musik ...................................................................... 7
4.
Musikpädagogische Konzepte ohne Notation
5.
6.
4.1.
Solmisation und Latonisation .................................................................... 10
4.2.
Die Suzuki-Methode ................................................................................. 11
4.3.
Die Musikuhr ........................................................................................... 13
Einblicke in den praktischen Unterricht
5.1.
Beobachtungen beim ersten Instrumentalunterricht ................................... 15
5.2.
Einblicke ins Lernen im Oberstufenalter ...................................................... 18
5.3.
Die Positionen der Lehrpersonen ............................................................... 19
Fazit ............................................................................................................... 22
Zusammenfassung ........................................................................................... 23
Bearbeitete Literatur und Internet-Quellen ................................................................ 24
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Die Notation – Barriere oder Brücke auf dem Weg zur Musik?
1. Einführung
Musikalische Fähigkeiten aufbauen indem auf musikalischen Fähigkeiten aufgebaut wird!
Kinder sind schon im Vorschulalter fähig, Lieder zu singen, d.h. Melodie und Sprache zu verbinden
und gemeinsam zu benutzen. Sie können dabei einigermassen treffsicher Intervalle anpeilen,
können Tempo und Lage variieren, können sich rhythmisch zum Gesang bewegen. Fähigkeiten,
welche in vergleichbarer Weise bereits mit dem Erwerb der Sprache entwickelt oder zumindest
aktiviert wurden. Sie sind fähig, Rhythmen und Melodien genauso wie Sprache übernehmen, zu
reproduzieren, sogar anzupassen und in neuem Kontext anzuwenden. Mit erlangter Schulreife ist
ein Kind sogar in der Lage, emotionale Äusserungen als solche wahrzunehmen und sie ebenfalls
nachzuahmen, sie zu reproduzieren, sie sogar als Ausdrucksmittel zu verwenden. Beim Schuleintritt
sind die meisten Kinder mit allen Voraussetzungen fürs Musizieren ausgestattet, sie verfügen über
Fähigkeiten, welche es im Musikunterricht zu entwickeln gilt.
Zehn Jahre später, am Ende der Volksschulzeit, hunderte von Musiklektionen sind inzwischen
durchlaufen worden, sind sie jedoch kaum weiter! Sie vermögen Intervalle innerhalb einer Tonleiter
nicht zielsicher zu singen oder zu bestimmen (geschweige denn innerhalb der Zwölftonreihe),
bekunden Schwierigkeiten mit wechselndem Takt, können einen einfachen Notentext vielleicht
"lesen", sind aber meistens nicht in der Lage, das Geschriebene ab Blatt nachzusingen oder
nachzuspielen, schon gar nicht etwas Gehörtes auch korrekt zu notieren. Ob ein Kind die
musikalische Grundschulung gemacht hat oder nicht lässt sich später kaum mehr unterscheiden.
Sogar jahrelanger Instrumentalunterricht hinterlässt später oftmals kaum noch Spuren. Es scheint,
als würde Musikunterricht sehr wenig bewirken, als wäre das Schulfach Musik eine Disziplin mit
sehr geringer Nachhaltigkeit.
Sind vielleicht die Prioritäten falsch gesetzt? Oder sind die Kinder einfach nicht zu mehr fähig?
In der vorliegenden Arbeit soll weder die Didaktik oder die Ausrichtung des Musikunterrichts an sich
unter die Lupe genommen werden, es soll lediglich ein Augenmerk auf die Benutzung der Notation
im Musikunterricht gelegt werden. Die Notation dient der Verschriftlichung von Musik, dank ihr
können Musikstücke festgehalten und zeitverschoben reproduziert werden. Es ist deshalb
naheliegend, einfach und bequem, für den Unterricht Noten heranzuziehen, um den Musikschülern
und Musikschülerinnen ihre Übungsstücke zu vermitteln und zum Üben nach Hause mitzugeben.
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Eigene Erfahrungen als Musikschüler und Beobachtungen an meinen Kindern, wie diese mit
Notenmaterial umgehen, lassen mich jedoch zweifeln, ob die Verwendung der Notation als
zentrales Element der Musikvermittlung tauglich ist. Ich frage mich, ob es nicht einfachere und
direktere Wege zur Musik gibt. Sind es wirklich die Noten, die den Schülern die Musik, das
Musikerlebnis vermitteln? Die heute vorhandenen technischen Mittel machen die Notation als
Medium für die zeitlich verschobene Reproduktion fast schon entbehrlich
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wie musikalisches Lernen überhaupt abläuft.
Ist es vergleichbar mit anderen Schulfächern? Ein Primarschulkind lernt mit Zahlenwerten
umzugehen, es lernt Zeichen als Platzhalter zu verwenden. Daraus liesse sich ableiten, dass es auch
mit Notenwerten und Notenschrift sollte arbeiten können. Doch wie verhält es sich mit der Schrift?
Ist vielleicht ein Primarschulkind in der Lage, mit Notenschrift zu arbeiten, so wie es schon im
Sprachunterricht lesen und schreiben gelernt hat? Es müsste dafür einfach eine zweite Schrift
erlernen. Viele Kinder wachsen ja ohne Probleme zwei- oder sogar mehrsprachig auf, sie erlernen
ganz selbstverständlich mehrere Sprachen gleichzeitig. In gleicher Weise sollte doch auch eine
weitere Schrift erlernbar sein.
Ich bin keineswegs überzeugt von diesen Selbstverständlichkeiten. Für mich wirkt das Notenblatt,
das der Musikschülerin, dem Musikschüler vorgesetzt wird, als Hemmnis und als Barriere im Zugang
zur Musikwelt. Die Schüler werden stark in Anspruch genommen von der visuellen
Entzifferungsarbeit. Mit jedem neuen Musiklehrstück muss zunächst aus dem Notenplan die Musik
Schritt für Schritt zusammengetragen werden. Und wenn ich sehe, wie Amateurmusiker, etwa
Chorsänger oder Freizeitinstrumentalisten, ebenfalls vielfach beim Blattspielen grosse Mühe
bekunden, so bestätigt dies nur meine Zweifel am didaktischen Nutzen der Notation. Sogar
Menschen also, die sich regelmässig mit Notenmaterial befassen, sind ganz offensichtlich
überfordert beim Umsetzen von Notation in Musik. Sie sind nicht in der Lage, Notenschrift in
gleicher Art zu lesen, wie geschriebene Sprache, die Notation löst in ihnen nicht unmittelbar
anklingende Erfahrungen und Erinnerungen aus, die Zeichen bleiben ihnen in einem höheren
Abstraktionsgrad verschlüsselt.
Im Folgenden nun soll ausgeleuchtet werden, dass die traditionelle Notation Kinder und Jugendliche
überfordert und dass das Musizieren nach Noten im Vergleich zu anderen, freieren Formen der
Vermittlung weniger sinnvoll und erfolgreich ist. Dabei gilt der Weg zur Musik im Sinne der
vorangestellten Thematik als innerer Weg des Schülers beim Entdecken, Erleben, Erfahren und
Erkennen von Musikalität, von Tonkunst oder sogar, in offener Definition, von "Gestalteter Zeit".
Die traditionelle Notation vermag dieser offenen Definition natürlich nicht zu genügen, doch diese
Tatsache soll hier, obwohl nachteilig, ausgeklammert bleiben und nicht etwa als Negativpunkt
gewertet werden. Keine Notation vermag Musik der universalen, offenen Definition getreu
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abzubilden. Der Fokus bleibt also auf die traditionelle abendländische Notation gerichtet, Musiktexte
anderer Art und aus anderen Kulturkreisen sind ebenfalls nicht Gegenstand dieser Arbeit.
Das bereits erwähnte empirische Material aus den Beobachtungen mit meinen Kindern, ergänzt
durch die Befragung ihrer Musiklehrerinnen, soll nachstehend alten und neuen Positionen und
Konzeptionen der Musikpädagogik, der Sprachwissenschaft und der Lernpsychologie
gegenübergestellt werden.
2. Entwicklung musikalischer Fähigkeiten
2.1. Musikalisches Verstehen
In seinem Werk Der Musikverstand (1998) setzt sich Wilfried Gruhn ausführlich auseinander mit
den neurobiologischen Grundlagen des musikalischen Denkens, Hörens und Lernens. Sein
Hauptanliegen ist das Musikverstehen auf der Basis senso-motorischer, klanglich-rhythmischer
neuraler Repräsentationen und des mit ihnen beschäftigten, sie erkennenden und deutenden
Bewusstseins zu erklären. Aus der visuellen gestaltpsychologischen Forschung ist bekannt, dass das
Bewusstsein unvollständige Gebilde zu sinnvollen Gestalten ergänzt, entsprechende Experimente
lassen auf eine allgemeine Tendenz des Bewusstseins schliessen, Muster zu entdecken, Strukturen
zu bilden und Ordnung zu suchen. Diese Tendenz des Bewusstseins ist allerdings dem
Bewusstseinsträger nicht bewusst. (vgl. nachstehend M. Spychiger)
Das Zusammenspiel von neuraler Repräsentation und erkennendem Bewusstsein bezeichnet Gruhn
als Audiation. Gemeint ist, dass die Wahrnehmung von aktuell gegebenen Klanggebilden bereits
repräsentierte Strukturen aktiviert, die das Gehörte in eine kognitive Struktur zu integrieren
vermögen, ihm so eine immanente oder kulturell vermittelte Bedeutung zu geben vermögen. Gruhn
weist darauf hin, dass beim angedeuteten Prozedere unterschiedliche, elementare und komplexere
Ebenen zu beachten sind. Auf der untersten Ebene sollen elementare musikalische Formen wirksam
werden - wie beispielsweise einen rhythmischen Verlauf auf eine metrische Grundstruktur zu
beziehen -, innerhalb einer Melodie die latente Beziehung zu einem Grundton zu erfassen, tonale
Beziehungen eine Weile im Bewusstsein zu behalten und dergleichen mehr. Auf diesen bauen
komplexere Fähigkeiten auf, wie beispielsweise modulatorische Wendungen als adäquat oder als
Abweichung zu erkennen. Gruhn räumt ein, dass auf einer noch höheren Ebene des Musikerlebens
und -verstehens genuin psychische Variablen wie Interesse, Aufmerksamkeitsrichtung und
zahlreiche Bedingungen der Persönlichkeit von Bedeutung werden („… die freilich ihrerseits
weitgehende neurologische Grundlagen haben mögen, die wir aber in ihrer Komplexität kaum je
voneinander trennen und experimentell werden erhärten können“). (S. 35)
4
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Gruhns Hauptinteresse gilt jenen klanglich-rhythmischen Repräsentationen oder mentalen Karten,
die hauptsächlich für musikalisches Lernen verantwortlich sein sollen. Er relativiert zwar, dass
bislang noch nicht genau bekannt ist, wie diese Repräsentationen tatsächlich aussehen (S. 54).
Einerseits scheint ihm das mehrdeutige Wort nicht glücklich gewählt: 'Repräsentation' legt so
unterschiedliche Interpretationen wie 'Niederschlag', 'Spur', 'Abbild' 'Struktur', 'Gestalt' nahe,
während eigentlich nur von einer Stellvertretung für ein bekanntes oder auch unbekanntes Gebilde
die Rede sein sollte und im letzteren Fall ungeklärt bleibt, was diese Repräsentation repräsentiert.
Andererseits ist aber nachvollziehbar, warum Gruhn gerade auf dieses Wort grossen Wert legt:
wenn er ausführt, wie ein das Phänomen Musik angemessen vermittelnder Unterricht nicht gestaltet
werden sollte. Nach Gruhn gibt es eine evident günstige aber auch eine ungünstige Art des
Lernens, um diese elementaren Repräsentationen zu erzeugen.
Gruhn erinnert an die überaus eindrucksvolle Weise, wie Kinder sich weitgehend ohne
Unterrichtung durch Erwachsene ihre Muttersprache und unter Umständen auch noch eine zweite
Sprache spielend aneignen. Diesem Prozedere vergleichbar sollte sich die musikalische Welt eines
Kindes so aufbauen, wie sich sein Sprachvermögen entwickelt (vgl. nachsehend Suzukis
Muttersprache-Methode). Vom hörenden Umgang mit musikalischen Phänomenen sollte die
explorative Erkundung und die Übung zur Bildung klanglicher Repräsentationen gelangen, welche
dann mit funktionalen Bedeutungen verbunden werden.
2.2 Auf Repräsentationen aufbauen
Die Reihenfolge, in der mentale Repräsentationen aufgebaut werden, ist für den Erfolg und die
Nachhaltigkeit des Musiklernens von besonderer Bedeutung. Musiklernen muss von der klanglichen
Erfahrung seinen Ausgang nehmen und nicht von der begrifflichen Bezeichnung oder schriftlichen
Darstellung musikalischer Phänomene. Guido von Arezzo (um 950 bis 1050), der als Erfinder der bis
in unsere Tage verwendeten Solmisation gilt, folgte dieser Maxime, die von Ergebnissen der Lehrund Lernforschung aus jüngerer Zeit bestätigt wird (Bamberger 1991; Gruhn 1998 u.a.). Die
Guidonische Hand unterstützt den Lernprozess durch Visualisierung.
Stefan Gies stellt in diesem Zusammenhang diese These auf: " Die Vermittlung formaler
Kenntnisse, wie z. B. die Bezeichnung von Tönen, Notenwerten oder Taktarten, darf erst erfolgen,
wenn die entsprechenden Phänomene im Gehirn des Schülers figural repräsentiert sind: Sound
before sight." (Gies, 2001, S. 2). Er propagiert in der Folge die Methoden der relativen Solmisation
und ihre Visualisierungen mit Handzeichen als mögliche Grundlage zur Vermittlung musikalischer
Grundkompetenzen. Bezüglich Zeitpunkt der Einführung von Notenschrift im Lernprozess des
Schülers, der Schülerin beruft er sich ebenfalls auf die oben genannten Forschungsergebnisse zum
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Aufbau der mentalen Repräsentationen und formuliert explizit "so spät als möglich". Edwin Gordon
fordert sogar grundsätzlich für jede Art musikalischer Unterweisung das "Primat der Audiation",
musikalische Verläufe müssen zuerst innerlich vorgestellt werden bevor Notation oder überhaupt
Verschriftlichung eingesetzt wird (Gordon 1997, S. 25-28).
2.3. Musik als Zeichensystem
Maria Spychiger vertritt für die Prozesse der Verschriftlichung einen zeichentheoretischen, in der
Semiotik begründeten Ansatz: Ausgangslage bildet die Sicht von Musik als Zeichensystem, analog
zu Sprache oder numerischen und bildlichen Zeichensystemen. Zeichensysteme liefern das Material
und die kognitive Struktur für die ständig ablaufenden und im gegenseitigen Austausch begriffenen
mental-verinnerlichten Semiosen einerseits und die gesellschaftlich-kulturellen Semiosen, auf denen
menschliches Handeln und Erleben beruht und die sich als Erfahrung verfestigen andrerseits.
(Spychiger 2001, S. 56 f.)
2.4. Erleben, Erfahrung und Erkenntnis
Johannes Walter setzt den Begriff Erfahrung ins Zentrum seines Konzepts. Ausgehend vom Erleben
wird Erfahrung generiert, Erfahrung ihrerseits erzeugt Formen der Erkenntnis. Neue Erkenntnis
eröffnet wiederum neues Erleben…
Der Erfahrungsbegriff lässt sich in vier Dimensionen unterscheiden:
1)
Erfahrung, die sich auf die Machart der Musik richtet.
2)
Erfahrung, die Einsichten in das Wesen von Musik freisetzt
3)
Selbsterfahrung, sowohl durch ihre Einmaligkeit als auch durch ihr allgemeines Wesen bietet
die Musik uns Möglichkeiten an, uns selbst in ihr und durch sie zu erfahren.
4)
Welterfahrung, Musik teilt etwas von der "Welt" mit, von jener Welt, in der und für die sie
entstanden ist, von jener Welt, in der wir leben, von jener, in der andere leben, in der frühere
Generationen gelebt haben.
(Walter 2003, S. 59-65)
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Nach Jank/Gallus werden Musikalische Fähigkeiten aufgebaut, indem durch vernetzten
Musikunterricht
•
die musikalische Erfahrungsfähigkeit,
•
die musikalische Handlungsfähigkeit und das Können,
•
die Kenntnis von und das Wissen über Musik
schrittweise erweitert werden.
Die Autoren postulieren daraus die "Spirale von Handeln Ö Können Ö Wissen Ö Begriff" als
integrierten, fortdauernden Prozess.
(Jank 2005, S. 101-103)
Weitere Autoren liessen sich leicht in grosser Zahl anführen. Die begrenzte Recherche im Rahmen
dieser Arbeit förderte jedoch ausschliesslich Hinweise zutage, welche den Einsatz der Notation
allgemein weder als besonders förderlich für die Lernprozesse darstellen, noch als wichtiges oder
gar unabdingbares Element der musikalischen Früherziehung einbeziehen.
3. Schrifterwerb in Sprache und Musik
„Die kindliche Sprachentwicklung ist kein isolierter Vorgang, sondern Teil einer umfassenden
Gesamtentwicklung, bei der sich sensorische, motorische, sprachliche, kognitive und sozialemotionale Funktionsbereiche wechselseitig beeinflussen“ (Grohnfeldt, 1990)
Das Zitat deutet darauf hin, dass Sprach- und Schrifterwerb ähnlich komplex verlaufen wie
musikalische Wahrnehmung und das Anwenden von Musiknotation. Ursula Carle stellt dar, wie
vielfältig sprachbezogene Wahrnehmungsleistungen sein können.
•
Der Rhythmus dient der Sprache als Gliederungsinstrument: Aktivität und Pausen, betonte und
unbetonte Silben, Atempausen.
•
Die phonematische Differenzierungsfähigkeit ist eine sprachgebundene akustische
Leistung. Aus dem Lautstrom werden die artikulierten Sprachelemente in ihrer Abfolge
herausdifferenziert.
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•
Die melodische Differenzierungsfähigkeit:
Die Sprachmelodie vermittelt Gefühlszustände (zärtlich, bittend, energisch ...) Sie ist
kennzeichnend für den jeweiligen Dialekt. Verschiedene Sprachen haben unterschiedliche
Melodien.
•
Die visuelle Differenzierungsfähigkeit spielt für das Sprechenlernen und die Sinnentnahme
aus Gesprochenem eine untergeordnete Rolle.
•
Als kinästhetische Differenzierungsfähigkeit wird die feinmotorische Koordination der
Sprechwerkzeuge bezeichnet. Sie bildet eine Einheit mit der auditiven Kontrolle des
Gesprochenen.
Trotzdem ist der Umgang mit Schrift ungleich einfacher als der Umgang mit der musikalischen
Notation:
•
Zunächst einmal beherrschen Primarschulkinder die abgebildete oder abzubildende Sprache
bereits seit mehreren Jahren, die unbewusst verinnerlichte Grammatik und die Logik sind
deshalb grosse Hilfen im Umgang mit Schriftlichkeit. – Im Gegensatz dazu steht ein Musiktext:
sein kompositorischer "Sinn" muss vom Musikschüler, der Musikschülerin zuerst entziffert und
rekonstruiert werden.
•
Ein sprachlicher Text wird gebildet durch eine seriell angeordnete Reihe von Graphemen
(kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten des Schriftsystems – zumeist
gleichbedeutend mit einem Buchstaben). Jedem Graphem entspricht in der deutschen Sprache
ein gesprochenes Phonem (kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit des Lautstromes). Um
einen Text zu lesen reicht es aus, die Graphemzeile bzw. Buchstabenzeile seriell abzuarbeiten
damit sich der Sinngehalt des Textes in Phoneme erschliessen lässt. Umgekehrt können
Phoneme der gesprochenen Sprache ebenso seriell mit den entsprechenden Graphemen zu
Papier gebracht werden. Bei beiden Vorgängen sind die Gliederung in Satz, Wort und Silbe
zusätzlich hilfreich. – Die musikalische Notation hingegen ist ungleich komplexer und erfordert
ein parallel verlaufendes Abarbeiten von mehreren, gleichzeitig zu berücksichtigenden
Informationen und Bedingungen (Schlüssel, Vorzeichen, Tonhöhe, Notenwert, Metrum,
Dynamik, …), dies bereits schon bei einstimmigen Verläufen. Zudem sind wesentlich weniger
Zeichen verfügbar und die Zeichen ändern auch noch ihre Bedeutung durch geringfügige
grafische Veränderungen oder durch einen sinnhaften Kontext mit anderen Zeichen.
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Primarschülerinnen und Primarschüler werden eindeutig überfordert mit einer ihnen vorgesetzten
Notenschrift, die Zeichen und Bezüge sind zu abstrakt. Die Kinder sind deshalb auf
Vereinfachungen oder Hilfscodierungen angewiesen, um überhaupt nur einfachste Liedzeilen
benutzen zu können. Diese Einstiegshilfen induzieren aber falsche Konstrukte, welche später zu
Schwierigkeiten führen. Erschwerend kommt hinzu, dass Notentexte eigentlich erst mit einem
vertieften musiktheoretischen Hintergrundwissen und eintrainierten Anwendungserfahrungen
vollständig genutzt werden können.
Wann sind Schulkinder reif genug, um mit Notation zu arbeiten? Die Frage wird unterschiedlich
beantwortet, (ab neun – ab zwölf – so spät als möglich…) doch die Aussagen tendieren in jüngster
Vergangenheit eindeutig zu höherem Alter, in den Bereich Sekundarstufe (vgl. nachstehende
Tabelle „Entwicklung von Grundfähigkeiten“). Unter Berücksichtigung der verfügbaren
Grundfähigkeiten der Kinder sollte auf Primarstufe der Musikunterricht ohne Normnotation gestaltet
werden. Die eingesetzten Visualisierungen sollten sich sogar deutlich unterscheiden von der
Notation, um Komplikationen bei der später erfolgenden Einführung in die Notation zu vermeiden.
Entwicklung von Grundfähigkeiten im Überblick (nach Beck/Fröhlich 1992, S. 42):
Alter
Fähigkeit
0-1
Reagiert auf Klänge
1-2
Spontanes Vokalisieren und Produzieren von Klängen
2-3
Einzelne Phrasen von gehörten Liedern nachsingen
4-5
Tonhöhenregister werden unterschieden, einfache Rhythmen nachgeklopft
5-6
Unterschied lauter/leiser wird verstanden, Gleichheit/Verschiedenheit einfacher Tonfolgen und
Rhythmen kann erfasst werden
6-7
Verbesserte Singfähigkeit, tonale Musik wird gegenüber atonaler bevorzugt
7-8
Konsonanz und Dissonanz wird unterschieden
8-9
Lösung rhythmischer Aufgaben deutlich verbessert
9-10
Gute Rhythmuswahrnehmung und –wiedergabe, Melodiegedächtnis gut, Zweistimmigkeit und
Kadenzen können erfasst werden, figurale Notation wird verstanden und genutzt
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Sinn für Harmonik gefestigt, Details können beurteilt werden
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Anwachsen der Beurteilungsfähigkeit, sowohl kognitiv wie emotional
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4. Musikpädagogische Konzepte ohne Notation
Das Lernen ohne Noten scheint als Vorteil für den Frühinstrumentalunterricht erwiesen zu sein. Das
Auswendig-Spielen erleichtert die mentale Vorstellung die motorische Kontrolle des Spiels (Szende
1988, S. 44). Behne hat zudem bestätigt, dass der spätere Übergang zum Notenlesen in der Regel
problemlos verläuft (Behne, 1988, S. 13).
Der Übergang zum Notenlesen wird erleichtert, wenn Musikschülerinnen und Musikschüler zuvor
mit visuellen Repräsentationen und Zeichensystemen arbeiten können, welche wenig Ähnlichkeiten
zum Normnotensystem haben und deshalb später auch keine Verwechslungen und Verwicklungen
entstehen lassen. Die aus der Musikgrundschule allgemein bekannten freien, intuitiven Zeichen der
Vornotation eignen sich ausgezeichnet, sie lassen sich bestens abgrenzen gegenüber der
Notenschrift. Vor dem gleichen Hintergrund könnte die nachstehend dargestellte Konzeptidee einer
Musikuhr – eines musikalischen Zifferblattes – hilfreich für den Musikunterricht auf
Primarschulstufe sein.
4.1. Solmisation und Latonisation
Guido von Arezzo (um 950 bis 1050) gilt als Erfinder der bis in unsere Tage verwendeten
Solmisation. Er hatte den Tonstufen einer diatonischen Skala ein stimmiges System von Silben
zugeordnet: ut – re – mi – fa – sol – la. Seine Zöglinge bekamen die Bezeichnung eines Tons stets
zusammen mit oder nach dem gesungenen Ton zu hören. Die Verwendung der Guidonischen Hand
soll den Lernprozess durch Visualisierung zusätzlich unterstützen. Sie erschliesst ein drittes
Gedächtnissystem und erhöht damit die Erinnerungsquote.
Fast tausend Jahre später, Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Latonisation als eine umfassende
Erweiterung entwickelt, welche den Gegebenheiten des inzwischen etablierten Zwölftonsystems
und der gleichschwebenden Stimmung Rechnung trägt. In der Latonisation wird jeder Ton in der
chromatischen Tonreihe mit einem Konsonanten benannt. Die Konsonantenreihe ist ergänzt durch
Vokale, welche die diatonischen Stufen markieren. Ziele der Latonisation sind das Lernen über die
Sprechmotorik, Fördern der Intonationssicherheit und eine Alphabetisierung auf musikalischem
Gebiet. Die Latonisation macht musiktheoretische Erkenntnisse erlebbar ohne komplizierte
theoretische Erklärungen.
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Solmisation und Latonisation bieten Möglichkeiten, musikalische Anordnungen und Konventionen zu
visualisieren, zu verdeutlichen, ohne dass dafür die Notation bemüht werden müsste. Mit der
Alphabetisierung der Latonisation wird sogar ohne Noten selbständiges Arbeiten der Musikschüler
möglich. Das Konzept ermöglicht somit beispielsweise auf der Primarstufe einen erweiterten
Musikunterricht ohne den hohen Abstraktionsgrad der Normnotation.
Die Möglichkeiten der Latonisation sind jedoch längst nicht ausreichend, um Musikstücke auch
schriftlich so festzuhalten, dass sie aus der Schrift heraus wieder reproduziert werden könnten. Sie
kann deshalb nicht als Alternative zur Notation gesehen werden.
4.2. Die Suzuki Methode
In den Dreissigerjahren des vergangenen Jahrhunderts begründete der Japaner Shinichi Suzuki in
Deutschland eine eigene Geigenpädagogik, welche internationale Verbreitung fand und auch für
andere Instrumente adaptiert wurde. Sie ist aufgebaut auf acht Prinzipien, welche Suzuki als
entscheidend für das Kleinkind im Prozess des Erlernens von Muttersprache erachtete. Seine
"Muttersprache Methode" ist für Kinder im Vorschulalter wie auch für Erwachsene anwendbar.
Fälschlicherweise wird sie oft als Methode ohne Noten bezeichnet, doch Suzuki fordert lediglich
dazu auf, erst mit Noten zu arbeiten, wenn der Musikschüler, die Musikschülerin "dazu bereit" ist
(vgl. nachstehend Punkt 7).
Suzuki steht in der Tradition des Zen-Buddhismus. Seine Methode charakterisiert sich durch
Bewusstseinsschulung und Orientierung auf ein übergreifendes Sinnprinzip hin. Eine systematische
Ausarbeitung der Methodik des Instrumentalunterrichtes fand nicht statt. Zumindest nicht nach
westeuropäischen Gesichtspunkten – ein Indiz für Suzukis zenistische Denkweise. Der ZenBuddhismus lebt seine Erziehungsideale vor, anstatt sie schriftlich zu fixieren.
Die Prinzipien Suzukis:
1. Regelmässige Wiederholung.
Suzuki wählte ein bekanntes Stück aus, das jeder kannte. Wie das Wort "Mama" jeder kennt, war "Twinkle,
Twinkle Little Star" eine damals in jedem Haushalt bekannte Melodie.
2. Aufnahmen.
Die Eltern sollten so früh als möglich beginnen, Tonaufnahmen mit guter Violinmusik zu spielen. Kein Kind
wäre zu jung, um gute Musik zu hören. Zuerst würde das Kind beginnen, die Melodie zu singen, und es
würde angeregt werden, sie selber spielen zu wollen.
3. Regelmässiges Lob und Geduld.
Man soll niemals ungeduldig werden, wenn das Kind etwas nicht richtig ausführen kann, stattdessen versuche
man einen Weg zu finden, der ihm helfen kann.
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4. Aufführungen.
Suzuki sah eine Notwendigkeit darin, dem Kind Gelegenheiten zum Aufführen zu geben.
5. Aufbau des Repertoires.
Auch wenn das Kind ein Stück gelernt hat, lege man es nicht einfach weg; man lässt es Teil seines
Repertoires werden.
6. Jedes neue Stück prägt sich leichter ein.
Wenn man mit einem leichten Stück beginnt und zu schwieriger Literatur fortschreitet, wächst die Fähigkeit
im Auswendiglernen. So wie das Selbstvertrauen des Kindes zunimmt, wird es eifriger beim Lernen.
7. Lesebereitschaft.
Man beginne nicht mit dem Lesen der Noten, ehe der Schüler weit genug ist. Seine Spielhaltung muss sicher
sein, und er muss in der Lage sein, seine ganze Aufmerksamkeit den Noten zu widmen, ohne seine
Vortragsfähigkeit zu beeinträchtigen. Wenn man zu früh Noten liest, spielt man nur die Noten und nicht die
musikalische Idee, die der Komponist dem Publikum mitteilen wollte. Lehre das Kind die Form und erkläre die
Idee des Komponisten zuerst, dann kann es mit besserem Verständnis Noten lesen. Wir müssen lernen,
gleichzeitig zu schauen und zu hören; das ist keine Reflexhandlung.
8. Diejenigen, die gute Geiger werden, können einen Beruf in der Musik ergreifen, die anderen können
sich mehr an der künstlerischen Aufführung erfreuen oder zu ihrem eigenen Vergnügen spielen.
Als didaktische Elemente der Suzuki-Methode können drei Punkte hervorgehoben werden:
•
Übertragung des Muttersprachenmodells auf instrumentales Lernen. Die andauernde
Motivation und spielerische Leichtigkeit bei dem Erwerb von Muttersprache überträgt Suzuki auf
das musikalische Lernen.
•
Kombination von altersgemischtem Gruppenunterricht und Einzelunterricht, Anfänger und
Fortgeschrittene sind werden integriert.
•
Fördernde Umwelt: Die enge Beziehung zwischen Lehrer, Eltern und Schüler spielt eine große
Rolle in der Suzuki-Methode
Die Methode hat bis heute weltweiten Erfolg. Kritisch anzumerken ist, dass auch herkömmlicher
klassischer Unterricht ungleich bessere Ergebnisse zeitigen würde, wenn seitens der Eltern so
intensiv mitgearbeitet würde wie beim Suzuki Unterricht.
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4.3. Die Musikuhr
Als Darstellungsformen für das verfügbare Tonmaterial sind verschiedenste Visualisierungen
denkbar, etwa die Absätze einer zwölfstufigen Treppe farbig markieren oder aber, als Assoziation
zur Zahl zwölf, die Töne einordnen auf dem Zifferblatt einer Uhr. Mit der Zahl zwölf lassen sich
nicht nur die Stunden des Tages verbinden, auch der Jahreskreis mit den zwölf Monaten oder die
zwölf Sternbilder sind denkbar. Weiter liesse sich auch jedem Ton eine Farb(abstufung) zuordnen
und so ein Bezug zum Farbkreis schaffen. Auch Kombinationen sind denkbar, etwa in der Art der
vor Jahren kreierten Chromacron-Uhren. Ein ausgearbeitetes Modell könnte eine Vielzahl
didaktischer Möglichkeiten eröffnen, insbesondere auch fächerübergreifend, wenn in der
Primarschule die Uhrzeit erlernt wird, oder die Monate, die Wochentage. Es ist sogar denkbar, ein
Zifferblatt mit Sensorfeldern oder Tasten auszustatten, so dass bei jeder Zeigerstellung tatsächlich
ein anderer Ton erklingen kann.
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cis/des
ais/b
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dis/es
gis/as
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fis/ges
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Abb. 1 Die Musikuhr
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Das Modell ist vielfältig einsetzbar, es kann Intervalle und Akkorde darstellen, Darstellungen,
welche auch im Geometrieunterricht verwendbar sind. Dur- oder Moll-Akkorde liefern eine
bestimmte Dreiecksfigur, welche in allen Tonarten gleich ist, das Dreieck braucht nur wie ein
Uhrzeiger gedreht zu werden. Quintenschichtungen können veranschaulicht und damit auch die
Grundlage für die Erklärung des Quintenzirkels vermittelt werden.
Es kann gezeigt werden, dass auf der Uhr visuell symmetrische Bezüge nie wohlklingende
Ergebnisse liefern. Wenn später in der Physik die Akustik bearbeitet und in der Mathematik
Logarithmen eingeführt werden, so werden die Schülerinnen und Schüler in der Lage sein, diese
erstaunliche Tatsache auch zu erklären.
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Abb. 2 Darstellung des C-Dur Akkords auf der Musikuhr
Vielleicht kann mit dem Modell der Musikuhr im Klassenzimmer sogar das Singen von
chromatischen Reihen eingeübt werden?
Das weitere Ausarbeiten dieser Ideenskizze ist nicht Teil der vorliegenden Arbeit. Es soll lediglich
aufgezeigt werden, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, musikalische Themen auch visuell zu
bearbeiten ohne auf die abstrakte Normnotation zurückgreifen zu müssen.
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5. Einblicke in den praktischen Unterricht
5.1. Beobachtungen beim ersten Instrumentalunterricht
Beim Erbringen eines Leistungsnachweises sammelte ich mit meiner Tochter Miriam in Übungen am
Klavier Beobachtungsmaterial zu Lernprozessen, welches auch für die vorliegende Fragestellung
relevant ist (Graf 2004, S. 8-14). Miriam war damals siebenjährig und ohne jede Vorbildung
bezüglich Notation oder Instrumentalunterricht, bezüglich Notation also ein "unbeschriebenes
Blatt". Gegenstand der Beobachtungen waren damals die Wahrnehmungen und deren
Verarbeitung:
1. Mentale Repräsentation: Wie stellt sich das Kind Töne, Intervalle, die Funktion des
Instruments und die Funktion der Notenschrift vor?
2. Über welche Kanäle bzw. Sinne kann dieses innere Bild angesprochen, aktiviert und verändert
werden? Gibt es bevorzugte Kanäle oder gar eine Hierarchie zwischen den Sinnen?
3. Sind Rückmeldungen als Kontrollmechanismen zu beobachten? Über welche Kanäle werden
sie vermittelt?
Drei kurze "Übungslektionen" innerhalb einer Woche lieferten u.A. diese Einblicke:
•
Korrektes Nachspielen einer visuell erfassten (abgeschauten) Tastenfolge.
•
Fehlerhafte Repräsentation einer einfachen Notation.
•
Umsetzen der visuellen Vorgaben eines Zeigers in motorische Aktivität.
•
Betonte Note wird als Akzent, als gesteigerte Intensität wahrgenommen.
•
Fehlende Referenzen, keine unmittelbare Kontrolle über Klangintervalle.
•
Fehlerfeedback in der Selbstkontrolle erfolgt visuell, nicht auditiv.
•
Visuell-motorische Orientierung.
•
Verarbeitung von auditivem Feedback.
•
Motorische Symmetrie nachvollziehen (Miriam ist Linkshänderin).
•
Orientierung am Liedtext hilft Tonintervalle zu finden.
•
Auditiver Input aktiviert und kontrolliert (auditives Feedback) ein bereits bewährtes motorisch
visuelles Reizmuster.
•
Rasches Einprägen des Notenverlaufs, Verknüpfung mit motorischen Abläufen. Die Abhängigkeit
vom Notenbild löst sich wieder.
•
Zuwachs an Fähigkeiten aus dem Lernprozess führt zu Verunsicherung, zunächst schlechtere
Orientierung wegen zusätzlichen neuen Orientierungsmöglichkeiten.
•
Fehlendes Einüben, fehlendes Sichern führt bald zu fortschrittshemmenden Kollisionen zwischen
Input und Feedback.
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Aus heutiger Sicht zeigen die damals festgehaltenen Beobachtungen, dass Anfänger ganz zu Beginn
des Musikunterrichts tatsächlich noch sehr offen sind für verschiedenste Inputkanäle.
Repräsentationen sind zwar basierend auf einem Liederrepertoire vorhanden, aber sie sind noch
kaum gekoppelt mit den auditiv eingehenden Klangmustern, welche das eigene oder fremde
Instrumentalspiel liefert. Solche Verbindungen werden aber innert kürzester Zeit, innert Tagen
beobachtbar, aufgebaut und weiter zu verschiedenen Formen von Feedbackschlaufen entwickelt.
Die Fragestellung, ob und in welcher Form Anfänger visuell mit Notation konfrontiert sein sollten,
könnte in dieser Lernphase sehr aufschlussreich untersucht werden. Inzwischen besucht Miriam seit
einem Jahr die Musikgrundschule und Blockflötenunterricht. Auf der Flöte spielt sie "nach Noten"
Lieder mit einem Tonumfang von fünf Tönen ("Hänschen klein…" etc.) aus der Flötenschule. Bei
den meisten Liedern ist über den Noten handschriftlich die Notenbezeichnung vermerkt. Werden die
Noten abgedeckt, so kann Miriam scheinbar problemlos nach den Buchstaben das Lied vortragen.
Bei abgedeckten Buchstaben und sichtbaren Noten hingegen ist dies nur noch bei jenen Liedern
möglich, welche sie "gut kann", neue Lieder ohne Buchstaben bereiten auf diese Weise etliche
Mühe.
Es ist offensichtlich: Miriam spielt primär nicht nach Noten, sondern nach Buchstaben, welche
mental den entsprechenden Griffbildern zugeordnet sind. Bestätigt wird dies durch die
Beobachtung, dass sie, beispielsweise um sich singend die Melodie eines Flötenstückleins zu
vergegenwärtigen, nicht etwa "Hänschen klein …" mit Liedtext singt, sondern "d h h – c a a –
g a h c d d d – …". Miriam lässt jedoch die Notation nicht völlig links liegen, sie liest sich die
Notenwerte und Pausen daraus ab, doch unterlaufen ihr dabei (bezeichnenderweise) am meisten
Fehlleistungen in ihrem Spiel.
Die Beobachtungen erlauben diese Schlüsse:
•
Als erstes erfolgt die Repräsentation von klanglichen Strukturen aufgrund auditiven Inputs.
Dieser Input kann erfolgen über das Vorspielen durch die Instrumentallehrerin oder er kann
auch aus dem Singunterricht herrühren, wenn dort diese Lieder gesungen worden sind. Das
Kind weiss, wie das Lied „richtig“ klingt, es hat die Melodie „im Ohr“.
•
Diese klanglichen Repräsentationen werden bei der weiteren Arbeit in Bezug gesetzt zu
motorischer Aktivität und gleichzeitig auch zu visuell erfassten Zeichenfolgen. Eine geschlossene
Feedbackschlaufe entsteht aber nur im Bereich der Motorik, indem auditiv erfasste Fehler, also
Abweichungen zur verinnerlichten Version des Musikstücks, immer zuerst mit einer Korrektur
der Griffe zu beheben versucht werden, eine andere Grifffolge soll die richtige Melodie liefern.
Für die Audiation im Sinne Gruhns spielen somit visuelle Reizmuster keine direkte Rolle.
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•
Noten und Notenbezeichnungen dienen nur als Kontrollmöglichkeit, sie sind gewissermassen
Wegzeichen, an denen sich Miriam hauptsächlich dann orientiert, wenn die auditiv-motorische
Feedbackschlaufe versagt, sei es wegen ungenügend gefestigter Repräsentationen, sei es aus
Gründen von noch zu entwickelnder motorischer Fertigkeit.
Bestätigung für die untergeordnete Bedeutung von visuellem Input liefert ein einfacher Versuch:
Miriam spielt viel leichter eine neue Melodie, wenn sie ihr ohne Noten vorgespielt oder vorgesungen
wird. Umgekehrt muss sie sich mit etlicher Mühe an eine solche neue Melodie herantasten, wenn
sie nur in schriftlicher Form vorliegt. Das Weglassen von Notation beeinträchtigt den Lernprozess,
zumindest bei Anfängern, nur in geringem Mass, es wird dabei kein unabdingbarer Input gestoppt
und auch keine wichtige Feedbackschlaufe unterbrochen. Anders verhält es sich, wenn entweder
eine Repräsentation fehlt und die Melodie zuerst aus der abstrakten Notation hergeleitet werden
muss, oder wenn die auditive Rückmeldung weggelassen bzw. verunmöglicht wird – wenn Miriam
ein geschlossener Kopfhörer mit Geräuschkulisse aufgesetzt und damit ihr Feedbackkanal
geschlossen wird – in beiden Fällen ist der Lernprozess stark behindert oder gar verunmöglicht.
Bestätigenden Hinweis liefern auch die immer wieder auftretenden „Lesefehler“, indem Melodien in
einer von den Noten abweichenden Version gespielt werden, in der Version der verinnerlichten
Repräsentation. In gleicher Weise bleiben Fehler im Notenmaterial oft unbemerkt und ohne
Auswirkung auf das Spiel, weil das Ohr als Leitinstanz den geschriebenen Fehler im Spiel schon gar
nicht zulässt.
○
Die Beobachtungen und die angeführten Überlegungen stellen den didaktischen Nutzen und
Zweck von Notation im Unterricht von Kindern im Primarschulalter deutlich in Frage. Es ist nicht
ersichtlich, welcher konkrete Lerngewinn Miriam erwachsen ist aus dem Einsatz von
Notenmaterial.
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5.2. Einblicke ins Lernen im Oberstufenalter
Zeitsprung um vier Jahre: Miriams vier Jahre ältere Schwester Manon genoss in der Primarschule
die Musikgrundschule und Blockflötenunterricht bei der gleichen Lehrerin und nach gleicher
Methode wie Miriam. Manon spielt heute immer noch Blockflöte, seit zwei Jahren auch Klavier. Den
Klavierunterricht erteilt ihre Musiklehrerin an der Bezirksschule.
Auch Manon spielt "nach Noten", sowohl Flöte wie auch Klavier. Beim Flötenspiel ist nicht
erkennbar, ob sie die Notation liest. Es sind auch keine handschriftlichen Eintragungen zu sehen.
Der Beobachter hat aber den Eindruck von Auswendigspielen. Die Flötenlehrerin bestätigt dies,
Manon verfüge über ein auffallend gutes Merkvermögen, sie könne bereits nach ein bis zweimal
durchspielen ein Stück bereits mehr oder weniger auswendig. Manon braucht sich mit dieser
Fähigkeit nicht um das Notenlesen zu bemühen, sie orientiert sich im Gruppenunterricht einfach an
den anderen Flötenspielern.
Beim Klavierspiel ist dies nicht möglich. Doch auch hier hilft ihr das Merkvermögen. Sie erinnert sich
nach Tagen noch ganz genau, wie ein neues Klavierstück klingt, wenn die Lehrerin es einmal
vorgespielt hat. Die mehrstimmigen Klavierstücke sind im Gegensatz zu den Flötenstücken aber
etwas komplexer, alle einzelnen Noten lassen sich nicht mehr aus der Erinnerung rekonstruieren.
Zudem stellt die Klavierlehrerin höhere Anforderungen als die Flötenlehrerin, der Schwierigkeitsgrad
der nach und nach bearbeiteten Spielstücke hat rasch zugenommen. Manon braucht deshalb hin
und wieder meine Hilfe beim Entziffern von Noten: "Ist das da unten f oder g?" Sie schreibt sich
dann die Buchstaben über die Notenzeile, genau gleich wie Miriam im Flötenheft und dann spielt sie
auch am Klavier nach Buchstaben, nicht einmal nach Fingersätzen. Eine solche
„Buchstabennotation“ mag für die einstimmige Flöte noch nützlich sein, doch am Tasteninstrument
wird sie eindeutig zum Hindernis.
Es wäre für Manon ein Leichtes, sich die Positionen der Noten im F- und im G-Schlüssel zu merken
und sie könnte inzwischen einen grösseren Nutzen daraus ziehen, die Klaviernoten "richtig" zu
lesen. Aber die vor Jahren angeeignete Umgehungsstrategie ist noch immer stärker präsent,
umlernen ist auch hier schwieriger als neu lernen.
○
Manons Situation lässt sich kaum verallgemeinern. Trotzdem zeigt sie auf, wie wohlgemeinte
didaktische Hilfen für den ersten Umgang mit Notation sich später sogar zu Hindernissen
entwickeln können. Für Manon wäre es sicherlich besser gewesen, wenn sie auf der Flöte, in
Anlehnung an Suzuki, ohne Noten musizieren gelernt und erst später am Klavier eine saubere
und gründliche Einführung in Notation und Harmonielehre erhalten hätte.
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5. 3. Die Positionen der Lehrpersonen
Ausgehend von den Beobachtungen des Lernverhaltens und der Lernfortschritte meiner beiden
Töchter habe ich für diese Arbeit die Musiklehrerinnen der Kinder befragt hinsichtlich des Umgangs
mit verschriftlichter Musik in deren Unterricht.
Aus dem Interview mit der Musiklehrerin an der Primarschule Schneisingen
(Musikgrundschule, Blockflöte):
Mit den 6-8jährigen Kindern benutzt sie ausschliesslich nur Formen der Vornotation (Freie
Notation), um hohe und tiefe, laute und leise, lange und kurze Töne zu differenzieren. Sie lässt die
Kinder bekannte Melodien nachspielen und notieren, lässt sie improvisieren innerhalb der Quinte (in
verschiedenen Lagen), Melodieverläufe nach Aufzeichnung wieder erkennen, erkennen von
Dreiklängen, abspielen einfachster Noten und gegen Ende die Notenwerte Halb – Viertel – Achtel
unterscheiden.
Oberstes Ziel ist immer: Freude wecken, neugierig machen, Vorbehalte gegenüber der eigenen
Leistungsfähigkeit abbauen.
Ab dem Alter von acht Jahren sind aus ihrer Sicht die Voraussetzungen zur Einführung der
Normnotation gegeben. Die Kinder wären nun in der Lage, Notenlinien und Zwischenräume zu
unterscheiden, sie können Tonhöhe und –dauer gleichzeitig wahrnehmen, auch der Wille zum Üben
und Erarbeiten sei ausreichend entwickelt.
Die Notation biete besonders leistungsschwachen Schülern eine Chance, indem allein mit Fleiss viel
erreicht werden könne. Immer wieder gäbe es Kinder, welche sich schwer tun mit der Notation, ihr
ausweichen und nur "nach Gehör" spielen und so gute Improvisatoren werden.
Grundsätzlich wollen die meisten Kinder "richtig" musizieren und verlangen deshalb nach Noten.
Im Rahmen der langjährigen Erfahrung dieser Lehrerin begegnete sie mehreren Kindern, welche
Schwierigkeiten hatten mit dem Differenzieren von Noten. Die weiterführenden Abklärungen
ergaben dann tatsächlich Lega-Schwächen, welche sich bisher nicht gezeigt hatten. (Die
Musiklehrerin ist ebenfalls ausgebildete Legasthenie-Therapeutin)
Erwähnenswert sind ihre Erfahrungen mit Kindern, welche schon im Vorschulalter Violinunterricht
nach der Suzuki-Methode erhielten: Eine positive Nachwirkung dieses Unterrichts sei im Rahmen
der Musikgrundschule in keinem Fall feststellbar gewesen. Der Lehrerin sind die weiteren
musikalischen Laufbahnen dieser Kinder nicht bekannt, sie geht davon aus, dass sie unauffällig
verliefen.
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○
Die sorgfältige musikalische Förderarbeit dieser Lehrerin ist positiv herauszuheben. Der Einsatz
der Freien Vornotation erfolgt differenziert. Doch der Übergang zur Normnotation stellt bei ihr
offensichtlich einen Bruch dar, indem ein Teil der Schülerinnen und Schüler beim Musizieren
dazu übergeht, programmatisch Notentexte abzuarbeiten. Es sind die „schwächeren“ Schüler,
welche bisher schlecht in der Lage waren, Repräsentationen von Melodieverläufen zu
entwickeln. Die „begabteren“ Kinder hingegen nehmen die Notation ungern an, sie weichen ihr
aus. Diesen Schülerinnen und Schülern konkurrenzieren und kollidieren die Repräsentationen
mit den nun präzisen visuellen Vorgaben der Normnotation. Wo vorher die Freie Vornotation
den Aufbau und insbesondere das Abrufen von Repräsentationen lediglich unterstützte, steht
nun mit der Normnotation eine zunächst abstrakte Instanz, welcher die Lernenden mit den
bereits etablierten Abrufmechanismen nicht gerecht werden können. Das Ausweichen auf freies
Nachspielen und „Improvisieren“ ist nichts anderes als die Wahl des geringsten Widerstandes.
Aus diesen Überlegungen heraus müsste dieser Lehrerin empfohlen werden, beim Einführen der
Normnotation keinesfalls eingängige oder gar bereits bekannte Liedchen einzusetzen. Ganz im
Gegensatz dazu sollte sie schwierig zu memorisierende Intervallsprünge und Tonfolgen ab
Noten spielen lassen. Störende Feedbackschlaufen über Repräsentationen bleiben auf diese
Weise ausgeschaltet. Solche Übungen müssen so lange fortgesetzt werden, bis die Verbindung
zwischen visueller Vorgabe und motorischer Aktion zuverlässig ausgebildet ist.
Aus dem Interview mit der Musiklehrerin der Bezirksschule Endingen:
Manons Musiklehrerin an der Bezirksschule erteilt auch Einzelunterricht an Klavierschüler. Diese
Lehrerin blickt ebenfalls auf eine langjährige Berufserfahrung zurück. Aus ihrer Sichtbereitet die
Notation ihren Schülerinnen und Schülern allgemein keine Mühe, sie seien noch flexibel und
lernfähig. Doch ab 20 Jahren sei das Erlernen der Notation kaum mehr möglich. Die Lehrerin
bezieht sich bei dieser Einschätzung auf ihren Bruder, welcher ein ganz passabler Pianist sei, ohne
dass er je gelernt hätte nach Noten zu spielen, er hätte alles "nach Gehör" erlernt. Ihm sei es
jedenfalls trotz mehrerer Anläufe nicht gelungen, im Erwachsenenalter nachträglich das Notenlesen
noch zu lernen.
Bezüglich den Unterrichtslernzielen hinsichtlich Notation ist nicht viel anzumerken: Lesen und
Schreiben von Tonhöhen im G- und im F-Schlüssel, Noten- und Pausenwerte, Takt, Vorzeichen und
Tonarten – „das Übliche“. Den Bezirksschülerinnen und Bezirksschülern bereite dies wie erwähnt
kaum Mühe, unabhängig davon, ob nebst dem Musik-Schulunterricht noch Instrumentalunterricht
belegt würde.
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○
Aufgrund der erhaltenen Einblicke kann der Unterrichtsstil dieser Lehrerin als herkömmlichkonservativ bezeichnet werden. Ihre Einführung in die Notation dürfte – vereinfacht
ausgedrückt – aus kognitiv-rational ausgerichteten Lernprozessen bestehen, welche von zwölfund dreizehnjährigen Bezirksschülern leicht geleistet werden können. Allerdings dürfte der
musikalische Nutzwert dieser Lerninhalte ziemlich beschränkt sein (vgl. die Ausführungen in der
Einleitung zu dieser Arbeit).
○
Zur Situation des Bruders dieser Lehrerin ist anzumerken, dass weniger das Alter des Mannes
die Erklärung liefert für das Unvermögen, Notation zu lernen. Vielmehr dürften bei ihm nach
jahrelang intensiv praktiziertem freiem Musizieren vielfach und komplex miteinander verwobene
Steuerungs- und Kontrollmuster derart gefestigt sein, dass ein neuer, visueller Inputkanal darin
nicht integriert werden konnte. Vielleicht hätte der Mann mehr Erfolg gehabt, wenn er versucht
hätte, die Notation zusammen mit dem Spiel auf einem neuen, seinem Tasteninstrument
möglichst verschiedenen Instrument zu erlernen.
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6. Fazit
Mit dem Abschluss der vorliegenden Arbeit kann die im Titel gestellte Frage nicht ganz eindeutig
beantwortet werden. Die Vermutung, dass der Einsatz von Noten beim jungen Musikschüler zu
Schwierigkeiten führen kann, wurde zwar vollumfänglich bestätigt. Explizite Empfehlungen in der
bearbeiteten Literatur besagen, dass Notenschrift erst im Oberstufenalter eingeführt werden sollte.
Wo direkte Aussagen fehlen, da wird diese Empfehlung indirekt bestätigt, indem ausnahmslos die
Verinnerlichung von musikalischen Verläufen vorausgesetzt wird, bevor Notation eingesetzt werden
soll. Musikalische Phänomene sollen hörend erkundet werden, daraus bilden sich klangliche
Repräsentationen aus, welche schliesslich mit funktionalen Bedeutungen (Notation) verbunden
werden können. Daran ändert sich nichts, auch wenn davon ausgegangen wird, dass klangliche
Repräsentationen mental möglicherweise sogar in Zeichenform vorliegen. Notation kann direkt kein
musikalisches Erleben auslösen! Die eigenen Beobachtungen an Lernenden bestätigen den Befund
ebenfalls. Zu früh eingesetzte Notation kann zu Überforderung führen, in deren Folge ungünstige
Nutzungsstrategien entwickelt werden. Doch Notation muss nicht in jedem Fall eine Barriere beim
jungen Musikschüler sein, bei sehr sorgsamer Heranführung an das Schriftsystem sind auch
Primarschüler fähig, damit umzugehen. Der musikalische Nutzen davon ist jedoch fraglich.
Erstaunlicherweise erweist sich offenbar die Notation für musikalisch lernschwächere Schülerinnen
und Schüler eher als Nutzen als für begabtere Kinder. Die Noten leiten narrensicher durchs
Musikstück, das Stück kann mechanisch abgearbeitet werden indem die jeweils erforderlichen Töne
nacheinander erzeugt werden, quasi nach Art des Buchstabierens. Vielleicht kann auf diese Weise
eine gewisse Heranführung zur Musikalität erreicht werden.
Nochmal im Sinne der Fragestellung: Ja, die Notation ist Kindern eine Barriere auf dem Weg zur
Musik, doch der Schlagbaum muss nicht unbedingt geschlossen sein. Nein, die Notation ist keine
Brücke zur Musik, aber sie kann eine sichere Leitplanke und sogar ein nützliches Wegweisersystem
auf den Wegen zur Musik sein.
Eine ergänzende, weiterführende Frage konnte in dieser Arbeit nicht einbezogen werden: Wirkt sich
die (korrekte) Nutzung der Normnotation festigend und vertiefend auf die Musikalität der
Lernenden aus, ähnlich wie im sprachlichen Bereich der Schrifterwerb die sprachlichen
Kompetenzen festigt?
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Zusammenfassung
Angesichts von scheinbar geringer Nachhaltigkeit des Musikunterrichts wird der Nutzen der Notation für
diesen Unterricht hinterfragt. Die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass
musikalisches Lernen weitgehend analog wie das Erlernen der Muttersprache erfolgt, indem über die
Wahrnehmung musikalische Phänomene sich zu mentalen Repräsentationen ausbilden, welche anschliessend
in einem Dialog stehen mit neuen Wahrnehmungen. Die Reihenfolge, in der mentale Repräsentationen
aufgebaut werden, ist für den Erfolg und die Nachhaltigkeit des Musiklernens von besonderer Bedeutung.
Musiklernen muss von der klanglichen Erfahrung seinen Ausgang nehmen und nicht von der begrifflichen
Bezeichnung oder schriftlichen Darstellung musikalischer Phänomene.
Der Umgang mit sprachlicher Schrift ist hingegen ungleich einfacher als der Umgang mit musikalischer
Notation, die Empfehlungen lauten darauf hin, dass Notenschrift erst im Jugendalter eingeführt werden sollte.
Zuvor sollte Musikunterricht sich auf geführt auswendig zu lernende Inhalte konzentrieren. Konzepte wie die
Solmisation/Latonisation oder die auf einem Muttersprachenmodell beruhende Suzuki-Methode, aber auch
freie Vornotationszeichen können dabei erfolgreich eingesetzt werden. Die Idee und einige Möglichkeiten
eines weiteren Visualisierungsmittels in Form der Darstellung aller zwölf Töne auf einem Uhrenzifferblatt wird
vorgestellt.
Die Einblicke in schulischen Musikunterricht und Beobachtungen bei Versuchen mit zwei
Instrumentalschülerinnen heben hervor, dass bei der Einführung der Notation insbesondere der Übergang
zwischen zuvor benutzten freien Formen und der Nutzung der Normnotation problematisch sein kann. Wird
dieser Übergang nur unvollständig vollzogen, so können sich daraus jahrelang nachwirkende Hemmnisse
aufbauen.
Einführung von Normnotation im Primarschulalter hat in unerwarteter Weise einen gewissen Nutzen
insbesondere für lernschwache Musikschülerinnen und Musikschüler, indem ihnen eine zuverlässige Leitplanke
geboten wird, an der sie sich durchs Musikstück durchbuchstabieren können.
Schneisingen, 31. Mai 2006
Johannes Graf
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Johannes Graf
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Walter Johannes M: Die Bedeutung der Didaktik Martin Wagenscheins für den Musikunterricht
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