Moralische Appelle, Kampagnen und öffentliche Information zur

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Moralische Appelle, Kampagnen und öffentliche Information zur
Organspende: Eine kritische Zwischenstandsanalyse
Prof. Dr. Silke Schicktanz
Tagung: ...als wär`s ein Teil von mir...
Zur Debatte um Hirntod, Organspende und Transplantation, 27. MedizinTheologie-Symposium
27. – 29. November 2015, Rothenburg
Nicht-Spendebereitschaft
BZGA 2014 repräsentative Umfrage, N = 4200
Göttingen organ donation survey, Schicktanz
et al. Under review, N = 1403
 Zunahme an aktiver Spendebereitschaft (Spendeausweis), aber Mehrheit ohne
 Relative konstante Gruppe an „Unsicheren“ und „nicht-spendebereiten Personen“
Prof. Dr. Silke Schicktanz
Fokus öffentliche Kommunikation
TPG
§1: Ziele: „die Organspende fördern“
„Informierte und unabhängige Entscheidung jedes
Einzelnen zu ermöglichen“
§ 2: „Die Aufklärung hat die gesamte Tragweite der
Entscheidung zu umfassen und muss ergebnisoffen sein“
Prof. Dr. Silke Schicktanz
Ausgangsproblematik
Fokus auf „Organmangel”  Motto: “häufigere
Spendebereitschaft, mehr Organe”
 Welche moralischen Appelle finden sich öffentlichen
Anrufungen? Sind diese gerechtfertigt und geeignet, die
Spendebereitschaft zu erhöhen?
 Inwiefern können Skepsis und Kritik bzgl. der
Organspende offen und öffentlich geäußert werden?
 Kritische Reflexion auf hegemoniale Diskursstrukturen
und öffentlich intendierte Meinungsbildungsprozesse
Zielstellung
1. Kritische Analyse öffentlicher Anrufungen
2. Verständnis und Motive von SkeptikerInnen
3. Ethische Reflexion bzgl. öffentlicher
Aufklärung und Kommunikation
Prof. Dr. Silke Schicktanz
Fakten zu öffentlichen Kampagnen
• 13 Kampagnen von 1996 bis 2015 mit insg. 80 Motiven
neue Kampagnen in Vorbereitung:
http://www.organpaten.de/organpatenpreis
• Hauptauftraggeber: BZgA, Stiftung fürs Leben (in Treuhandschaft der
DSO), Deutsches Herzzentrum Berlin,
seit Novellierung des TPG: Nur noch BZgA
• Kosten:
– Stiftung fürs Leben: 1,0 Mio.€ insgesamt
– BZgA:
1997-2001: durchschnittl. ca. 2,4 Mio. DM p.a.
2002: ca. 1,0 Mio. €
2003-2008: ca. 450.000 € p.a.
2009-2012: ca. 1,5 Mio €
seit 2013: durchschnittl. 7,6 Mio. Eur p.a.
• Verbreitung: bundesweit
– außer: „Superheldenkampagne“ nur in Berlin
Institut für Ethik und Geschichte in der
Medizin
Methoden
• Meta-Analyse von Kampagnen:
– 1996-2015
– alle 80 Motive (BZgA = 52, DSO = 15, DHZB = 13)
– Auswertung: Multimodale Analyse der Sprechakte und visuellen
Argumentation (Social Semiotics nach Kress/van Loewen)
• Soziale Reaktionen auf Kampagnen:
– 9 Fokusgruppen und 10 Interviews (n = 54)
– 35 Frauen und 19 Männer
– Alter: 21-86 / Mittelwert: 42
– Erlangen, Nürnberg, Göttingen, Berlin, Hamburg, Greifswald,
München
– Auswertung: Dokumentarische Methode / Sequenzanalyse
Institut für Ethik und Geschichte in der
Medizin
1. Meta-Analyse bisheriger Kampagnen
Soziale
Konformität
1998
Tugend/
Altruismus
2004
Reziprozität
/tit for tat
2010
Familiäre
Verantwortung
2014
Leidensminderung
2014
• Kampagnen vermitteln sehr unterschiedliche moralische Argumente
• Überwiegend: Überzeugung PRO Organspende, aber nur wenige Pro
Organspendeausweis im Fall man ist Pro Organspende.
(Hansen et al. In prep)
1. Hauptaussagen
a) Soziale Konformität: Organtransplantation hat eine breite
Unterstützung, also solltest du es auch mittragen
b) Tugendethisch/Altruismus: du bist ein guter Mensch, wenn
ich du dich für Organtransplantation einsetzt, bzw. wenn du
über diese Dinge reflektiert urteilst
c) Reziprozität/tit-for-tat Organ: Wenn du im Falle des Falles
ein Organ bekommen willst, solltest du dich auch
entsprechend (pro) verhalten.
d) Familiäre Verantwortung bzgl. Entscheidung: Falls du im
Falle deines sterbenden Angehörigen, nicht mit dieser
schwierigen Entscheidung konfrontiert sein willst, solltest du
das Gespräch suchen und v.a. dich selbst auch entscheiden.
e) Leidminderung: Du solltest Organtransplantation
unterstützen, um leidenden Menschen zu helfen bzw. deren
Lebensqualität signifikant zu erhöhen
(Hansen et al. In prep)
1. Defizite der bisherigen Aussagen
a) Soziale Konformität : Soziale Konformität ist sehr begrenzt moralisch
überzeugend (widersprüchlicher Appell: Kein Organspendeausweis ist auch
sozial konform!)
b) Tugendethisch/Altruismus: entspricht der Vorstellung von OT als
supererogatorischer Handlung, d.h. keine Pflicht, sondern besonders gute
Tat (Altruismus) (widersprüchlich: wenn keine Vorbildfunktion/ Relevanz für
Lebensführung; Problem: fehlende soziale Anerkennung bei postmortaler
Spende)
c) Reziprozität/tit-for-tat Organ: entspricht „Club“-Modell, ist aber bei offiziell
verpönt (bzw. entgegen Grundgesetzlichem Anspruch auf Behandlung bei
Dringlichkeit?) (widersprüchlich: keine praktische Entsprechung)
d) Familiäre Verantwortung : Konfrontation mit Tod/Sterben notwendig,
bedingt nicht per se direkte Steigerung der Organspende; Problem: ggf.
Konflikt mit Patientenverfügung
e) Leidminderung: Starker moralischer Appell/Pflicht, der auch als
Schuldzuweisung interpretiert werden kann; Problem: konfligiert mit Recht
auf freie Entscheidung
(Hansen et al. In prep)
1. Allgemeinere Inkonsistenzen
1. Problematische Versprechen:
– Soziale Anerkennung (a, b, d)
– geltende gesellschaftlichen Normen (a, e)
– Teilhabe am „Club“ (c)
2. Falsche Informationen:
– Hilfe für konkrete Patienten die auf ein Organ jetzt warten
– Bevorzugung, wenn wir selbst potentiell eine Spende benötigen
3. Hegemonie:
 Ein „Nein“ zur OT wird diskursiv nicht zugelassen
 Themen der Skepktiker/Unsicheren werden nicht adressiert, wie
Regeln der Allokation; Hirntod, Schmerzen/Risiken f. Empfänger,
Intransparenz des TRansplantationssystem
(Hansen et al. In prep)
2. Soziale Reaktion auf Kampagnen
Pfaller et al. In prep
Als wäre es völlig normal oder einfach, das jetzt zu
machen, ohne sich Gedanken zu machen. Als wäre es
eine einfache Entscheidung, Frau Fischer (34) Interview
Man muss mehr Mut aufbringen, nein zu sagen.
Frau Schröder (40) Fokusgruppe
Ich habe jetzt aber nicht automatisch dieses schlechte
Gewissen. Frau Fischer (34) Interview
Das ist für mich ein Appell an Grandiositätsphantasie.
Frau Neumann (59) Fokusgruppe
2. Typologie kritischer Positionen
Pfaller et al. In prep
1. Kritik am Hirntodkonzept
= Kritik an der Organspende
2. Informations-Defizit =
keine Entscheidung möglich
3. Misstrauen in das System
= „Ohne mich!“
4. „Unbehagen“ = Werte
körperlicher Unversehrtheit
und Menschenwürde
Prof. Dr. Silke Schicktanz
2. Kritische Positionen (1)
Pfaller et al. In prep
Kritik am Hirntodkonzept
Organisierte Kritik:
Gewissheit der eigenen Erfahrung vs. medizinische Definition:
„Ich habe gegen mein Gefühl gehandelt und geholfen, Menschen zu
töten.“ Herr Schmidt (53) Interview
„Man spürt eine Präsenz. […] Da ist ein sicheres Wissen: Dieser Mensch
ist nicht tot.“ Frau Schneider (59) Interview
2. Kritische Positionen (2 & 3)
Pfaller et al. In prep
Jenseits der Hirntodproblematik
Informations-Defizit
„Ich möchte Daten sehen, ich
möchte die Datenlage wissen. Wie
ist die Prozedur? Ich möchte wissen,
wie die Kontrollen sind. Wie effektiv
ist diese Organspende? Welche
Chancen hat denn jemand mit einer
transplantierten Leber? Ich habe zu
wenig Informationen, um eine
Entscheidung zu treffen. Ich könnte
mich auch positiv entscheiden, wenn
ich die Daten hätte.“
Frau Schröder (40) Fokusgruppe
Misstrauen
„Wird nicht doch damit Handel
getrieben? Wer treibt Handel? Wer sind
die Empfänger?“
Frau Klein (44) Fokusgruppe
„Ich hatte mal einen Organspendeausweis und habe den, vielleicht wie viele
andere, dann aus dem Portemonnaie
entfernt, als in den letzten anderthalb
Jahren, wenn ich‘s jetzt so richtig verfolgt
habe, das so ein bisschen hin und her
ging in den Medien.“
Herr Schwarz (35) Fokusgruppe
2. Kritische Positionen (4)
Pfaller et al. In prep
Jenseits der Hirntodproblematik
„Unbehagen“ = Werte körperlicher Unversehrtheit und
Menschenwürde
„Ich verstehe so eine Unsicherheit gar nicht, weil ich in mir spüre, dass ich so eine Abneigung habe. Ich
bin gar nicht ambivalent, so ‚nehme ich grüne Schuhe oder blaue?‘ Sondern, ich spüre so viel NEIN und
kann das vielleicht gar nicht begründen rational oder objektiv, sondern ich weiß für mich nur: um
Gottes Willen, auf keinen Fall! […] Mein Gefühl ist, dass es etwas Übergriffiges ist, in mir zieht sich
alles zusammen. […] Für mich ist es eine Grenzüberschreitung.“ […] „Und wie die das berichtet hat, wie
die dann in dem Bett gelegen ist, sie sagte, das war würdelos. Wie die das raus und in den Koffer rein
und weg. Das war grauenvoll.“ Frau Neumann (59) Fokusgruppe
„Weil die Seele mit Sicherheit leidet. Körper und Seele kann ich nicht so trennen.“
Herr Zimmermann (86) Fokusgruppe
„Was wird dann mit den Organen gemacht? Wann werden die entnommen? Wie liege ich dann im
Sarg? Sehe ich dann ausgehöhlt aus ohne Augen? Oder werde ich dann wie ein Ersatzteillager
ausgenommen? Einerseits ist es einem egal, was äh vielleicht dann mit einem passiert, weil man ja
sowieso nicht mehr da ist. Andererseits, ja, findet man das auch ein bisschen so Schlachthof---- Aber
trotzdem, eigentlich will ich‘s schon!“
Frau Fischer (34) Interview
2. Ethische Relevanz der Kritik
Pfaller et al. In prep
Topoi: „Würde“, „Seele“ vs. „Ersatzteillager“, „Schlachthof“; „übergriffig“
Ein Eingriff wie das Entnehmen eines Organs – und sei es auch nach dem Tod –
ist nicht nur ein Eingriff in den Körper, sondern verweist immer auch auf unser
Selbst, dessen Wert und Verletzlichkeit.
Dahinterliegende Wertvorstellungen:
Unversehrtheit der Person
Würde der Person
Selbstbestimmung/Autonomie: freie Entscheidung bzw. Abwehrrecht v.
Interessen Dritter
Wahrhaftigkeit der Diskursteilnehmer/ÄrztInnen vs. strategisches Handeln
Gerechtigkeit im Transplantationssystem
„Was mich stört, ist, dass überhaupt zur Diskussion steht, dass man entscheiden muss. So
als wäre der Normalzustand, dass ein Organ entnommen wird. Für mich wäre eigentlich
der Normalzustand, dass ich unantastbar bin, unversehrt und dass man an mich nicht
rangeht.“ Frau Neumann (59) Fokusgruppe
3. Aufklärung und Kommunikation
TPG
§1: Ziele: „die Organspende fördern“
„Informierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen zu
ermöglichen“
§ 2: „Die Aufklärung hat die gesamte Tragweite der Entscheidung
zu umfassen und muss ergebnisoffen sein“
 Darstellung von Nichtbereitschaft als Unwissenheit, interner
Konflikt oder moralische Unsicherheit
 Handelt es sich nicht aber auch um einen Zielkonflikt oder
Interessenskonflikt?
Prof. Dr. Silke Schicktanz
3. Formen informierter Zustimmung bei
öffentlicher Kommunikation
Erweitert nach Walter Simons 1972 (Überzeugung und Zwang):
Objektiv, neutral
incl. aller Vor- und Nachteile
Sozialer Konflikt; Klärung
durch Machtverhältnisse
Information
Offene Kritik
Zwang
Überzeugung bei interner
Kontroverse;
Individualinteressen
Apelle an
soziale Werte
Zustimmung
Strategisch:
Systeminteressen
Sprachlose Kritik
Schuldrhetorik
Heimlicher Widerstand
Ideologischer
Despotismus
Bias bzw.
Manipulation
Überredung: Vermeidung
von kognitiver Dissonanz
Freie
Entscheidung
3. Zusammenfassung
• Mehrzahl d. Kampagnen: strategische
Überredung und Sozialrhetorik
• Ethisch problematisch: implizite
Schuldrhetorik, Hilfspflicht oder falsche
Information
• Kritik manifestiert sich als Widerstand oder
„sprachlose“ Form des Sich-Verweigerns;
offene Kritik bedarf neutrale Information
Prof. Dr. Silke Schicktanz
3. Ausblick
• Entwicklung neutraler Informationskonzepte:
OT Kampagnen ≠ Gesundheitskampagnen
• OT Kampagnen als ‚social marketing‘:
Vorrangigkeit der Systeminteressen und
sozialer Werte klären
• Adressierung von Inkonsistenzen in der Praxis
(Verbot der NHBD; Nachrangigkeit der LOT)
 Glaubhaftigkeit (Praxis und Regulierung)
Prof. Dr. Silke Schicktanz
DFG Projekt:
„Ich möchte lieber nicht“ – Das Unbehagen mit der
Organspende und die Praxis der Kritik. Eine
soziologische und ethische Analyse
Weitere Informationen:
Website:
http://www.soziologie.phil.uni-erlangen.de/research/ich-moechte-liebernicht-das-unbehagen-mit-der-organspende-und-die-praxis-der-kritik-eine-s
Prof. Dr. Frank Adloff Larissa Pfaller, M.A.
Institut für Soziologie,
Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Ethik und Geschichte in der Medizin
Prof. Dr. Silke Schicktanz Solveig Lena Hansen, M.A.
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin,
Universitätsmedizin Göttingen
Prof. Dr. Silke Schicktanz
Reaktion auf Kampagnen
Beispiel I
Als wäre es völlig normal oder einfach, das jetzt
zu machen, ohne sich Gedanken zu machen. Als
wäre es eine einfache Entscheidung, aber das ist
es ja für mich irgendwie doch nicht, ne?
Deswegen, ich wäre gern so locker
Frau Fischer (34) Interview
Die Kampagne regt dazu an, sich selbst aktiv
damit auseinanderzusetzen. […] Gleichzeitig muss
ich, sagen, dass ich grundsätzlich auch ein
bisschen das Gefühl habe, es wird schon ein
gewisser moralischer Druck ausgeübt. „Aus Liebe
zum Leben“, das impliziert ja schon sozusagen,
wenn ich also keinen habe und vielleicht auch
keinen möchte, liebe ich das Leben nicht und bin
nicht bereit anderen Menschen zu helfen
Frau Peters (45) Fokusgruppe
Reaktion auf Kampagnen
Beispiel II
Frau Schröder (40): Man muss mehr Mut aufbringen, nein
zu sagen.
Frau Neumann (59): Ja, weil es wird ja suggeriert, du
verwirfst etwas, du sagst nein zu etwas, was
doch eigentlich etwas Gutes ist. Du erfasst
nicht, was gut ist.
Frau Schröder (40): Ja, Du bist ein schlechter Mensch,
ein böser Mensch
Eigentlich schäme ich mich da fast schon dafür, dass ich keinen habe. Das ist
eben das schlechte Gewissen. Frau Fischer (34) Interview
Ich fühle mich fast unter Druck gesetzt. […] Wie soll ich damit weiterleben?
Wenn jemand anderes gestorben ist, weil ich kein Organ gespendet habe. […]
Das ist für mich genau diese Erpressung oder Manipulation […] Wie sich dem
entziehen können? Ich gebe dir alles, du musst das jetzt auch. Wie
Gruppendruck, du musst jetzt mitmachen. Ich finde das furchtbar!
Frau Neumann (59) Fokusgruppe
Reaktion auf Kampagnen
Beispiel III
Ich habe jetzt aber nicht automatisch dieses schlechte
Gewissen. Frau Fischer (34) Interview
Die wirkt nicht so stressig irgendwie mit dem Comic
Frau Wolf (38) Fokusgruppe
Das ist für mich ein Appell an Grandiositätsphantasie.
Frau Neumann (59) Fokusgruppe
Herr Bauer (33): Diese löst ein positives Grundgefühl aus. Die anderen waren
eher neutral bis negativ bedrückend.
Herr Richter (37): Ja. Also da ist das Negative eher versteckt. Also auch die
Anklage ist nicht so da. […] Du musst dir das Negative dann selber denken. Also
so von wegen, wenn ich das nicht mache, dann bin ich kein Held. Aber kein Held
zu sein, ist nicht so negativ wie jemanden sterben zu lassen oder so.
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