Zusammenfassung des Tutoriums zu Aristoteles Metaphysik Rückblick – Versuch eines Lösungsvorschlages Unklarheiten, Spannungen, Widersprüche a) Halten wir erstmal fest was wir mit einem gewissen Maß an Sicherheit festhalten können. Erstens, in der Kategorienschrift werden erste Ousia (konkretes Einzelding der ersten Kategorie) und zweite Ousia (Spezies) festgelegt . Zweitens, die Materie ist nicht die Ousia. Sie wird nicht ganz außen vor gelassen, besonders wo es um konkrete Individuen geht, aber sie wird niemals als ernsthafter Konkurrent für die Ousia selbst diskutiert [Gründe: Weil Materie nicht gleichzeitig ein selbständig Getrenntes (to choriston) und ein dieses Bestimmtes (‚to tode ti’) sein kann. Und dies sind 2 Bedingungen die eine Ousia laut Aristoteles erfüllen muss]. Drittens, nur allgemeines (z.B. Spezies, Form als Unteilbares) ist definierbar – deshalb kann nur allgemeines „to ti en enai’ sein und keine Einzeldinge. Viertens, die Form wird in jeder möglichen Hinsicht ein Primat gegenüber der Materie eingeräumt und mehrmals explizit als Ousia bezeichnet. Gründe für die Form als Ousia sind, u.a.: sie formt die Materie zu einem bestimmten etwas (‚to tode ti’), sie ist Ursache (aitia) der Formgebung sowohl dem Begriff (logos) als der Zeit nach (nur Menschen bringen Menschen hervor und der Mann ist vor dem Kind), sowie das Ziel des Werdens (z.B. erwachsener Mensch), weiters ist sie jenes, das aus dem Vermögen der Materie die Wirklichkeit der geformten Materie (= Formgebung) macht. b) Nun fassen wir einmal die Spannungen und Problematik zusammen, die uns während der Untersuchung begegnet sind. I. Erstens gibt es eine gewisse Problematik in der Frage der Materie, bes. bei Individuen, wo wir ja widersprüchliche Aussagen bei Aristoteles angetroffen haben. II. Zweitens besteht eine Spannung zwischen Einzelding und Allgemeines(z.B. als Spezies), bzw. zwischen 1. und 2. Ousia. Diese Spannung wird noch verschärft wenn Aristoteles einerseits sagt, dass nur das Allgemeine definierbar ist (Z.11) – und, dass Einzeldinge nicht definiert werden können (Z.15), andererseits aber, dass das Allgemeine keine Ousia sein kein (Z.13) und, dass es Allgemeines nur durch die Einzeldinge gibt (Z.13). ('Huckepack'-These) III. Drittens besteht zwischen Form und Spezies, die beide sowohl als ‚to ti en enai’ und als Ousia deklariert werden, ebenso eine Spannung. Peter Gabler Text zum 2. Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die theoretische Philosophie" von Univ.-Prof. Dr. Heinrich Lösungsvorschlag Wie können wir diese Spannungen lösen? Ich werde hier einen Vorschlag machen, den ich bei Marc Cohen angedacht vernommen zu haben glaube. Er selber formuliert sie nicht aus, da er ein Anhänger des Universalistenlagers ist. Es mag durchaus sein, dass dieser Vorschlag genauso viele Fragen aufwirft als er zu lösen vermag, aber darauf kann in diesem Rahmen nicht mehr eingegangen werden, sodass ich dies an eure eigene kritische Reflektion weiterdeligieren muss. Wenn wir Aristoteles Untersuchung folgen, und seine wissenschaftlichen Ansprüche im Hinterkopf behalten, wird klar, dass er sich in der Metaphysik und bei der Ousiafrage nicht einfach damit begnügen wird ein Prinzip zu postulieren, welches alles erklärt. Wie wir bei Hegels und Wielands Analysen gesehen haben, geht er viel differenzierter vor und sucht nach Prinzipien von den Dingen, die, wie Prof. Heinrich betont hat, in den Dingen selbst liegen (nicht im Ideenhimmel). Somit ist auch klar, dass er sich bei dieser Methodik, der Komplexität und den vielfältigen Interrelationen der Dinge und deren Prinzipen in der wirklichen Welt nicht entziehen kann. Dies erklärt warum seine Metaphysik so unheimlich komplex ist und teilweise widersprüchlich erscheint – wenn er seinen eigenen Vorgaben gerecht werden will, geht es halt nicht anders als alles in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen – und auch Spannungen, wo sie auftreten ernst zu nehmen, und nicht beiseite zu schieben, oder auf ein Universalprinzip zurückzuführen. In diesem Licht sollten wir die bisherige Analyse und den folgenden Lösungsversuch verstehen. Nach dieser kleinen Mahnung zurück zum Vorschlag: wenn wir die diversen Aussagen, die Aristoteles in der Ousiafrage macht - und als ernsthafte Möglichkeiten in betracht zieht, hernehmen, dabei aber die bisherigen Analysen und Ergebnisse seiner Gesamtphilosophie im Auge behalten, und schließlich auch noch der Komplexität der wirklichen Welt, die Aristoteles im Sinne seiner Theorie der Wissenschaft gerecht werden möchte, auch noch berücksichtigen, dann könnte der Lösungsvorschlag u.U. so aussehen: Die Spannungen, die in den obigen 3 Themenkreisen auftreten, hoffen wir nun durch • ein entspannteres Verhältnis zum Partikulären gegenüber dem Allgemeinen, • durch eine Analyse des Begriffes Eidos, • und durch ein Zitat dem wir bereits begegnet sind, aufzulösen. Zur Problematik des Status der Materie bei Einzeldingen hilft uns folgendes Zitat weiter: „Die Ousia des Dinges ist die inwohnende Formbestimmung (eidos to enon), aus welcher in Verbindung mit der Materie die konkrete Ousia besteht…in der Konkreten Ousia aber, wie … dem Kallias, muß die Materie mitbegriffen sein“ (1037a28) Also selbst wenn die Materie nicht Ousia ist, ist sie gemäß diesem Zitat Teil der konkreten oder 1. Ousia. Damit ist die Spannung zwischen Materie und Form in Verbindung mit Einzelnem und Allgemeinem nicht aufgehoben, aber man kann ihr (notwendiges) Auftreten zumindest dadurch besser verstehen. Bei der Problematik des Einzeldings vs. das Allgemeine haben wir bereits gesagt, das sich Aristoteles vermutlich viel weniger für ein Lager entschieden hat, als die relationale Bedingungsbeziehung eingesehen und angenommen hat (Wieland, Heinrich). Ich sehe keinen Grund warum wir dies nicht ebenso machen sollen. Als Beleg der Sichtweise der relationalen Bedingungsbeziehung noch einmal das Zitat: „Alles andere wird entweder von den ersten Substanzen als dem Subjekt ausgesagt, oder ist in ihnen als dem Subjekt. Das wird klar, wenn Peter Gabler Text zum 2. Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die theoretische Philosophie" von Univ.-Prof. Dr. Heinrich man das einzelne vornimmt. So wird Sinnenwesen von Mensch ausgesagt; folglich muß es auch von dem bestimmten Menschen ausgesagt werden. Denn wenn es von keinem bestimmten Menschen ausgesagt wird, dann auch nicht von 'Mensch überhaupt'. ... Alles andere wird mithin entweder von den ersten Substanzen als dem Subjekt ausgesagt, oder ist in ihnen als dem Subjekt. Wenn somit die ersten Substanzen nicht sind, so ist es unmöglich, daß sonst etwas ist. Von den zweiten Substanzen ist die Art mehr Substanz als die Gattung. Denn sie steht der ersten Substanz näher.„ (2b30-40) Mit dieser Annahme entschärft sich die Situation zwischen 1. und 2. Ousia recht deutlich. Wieder muss betont werden, dass wir die Spannung nicht aufheben, sondern ihre Notwendigkeit erklären. Nun können wir zur dritten Problematik übergehen: die Spannung zwischen ‚Spezies’ und ‚Form’ die beide als ‚to ti en enai’ und beide als Ousia deklariert werden. Diese Spannung wird dadurch verschärft – aber schließlich so glaube ich auch aufgelöst wenn man bedenkt, dass Aristoteles für beide Begriffe im Griechischen ein Wort verwendet, nämlich eidos. Wenn wir Cohens Analyse akzeptieren, dann ist dies kein Zufall, sodass eine Speziesprädikation durch eine darunterliegende Formprädikation beschrieben wird. „In general, a species predication is explained in terms of an underlying form predication“ (Cohen, SEP). Somit wäre die Form dasjenige, was eine Materie zu einer Spezies formt. Form wäre so gesehen das Vermittlungsprinzip zwischen einer gegebenen Materie (dem Vermögen nach dieses oder jenes) und der fertig geformten Entität (der Wirklichkeit nach), die wiederum als Spezies definiert wird. Die Tatsache, dass ‚beide’ eidos eine zentrale Stellung in Aristoteles Ousiafrage einnehmen, wäre somit durch ihre enge Beziehung erklärt. Deshalb sind sie beide für Aristoteles sozusagen gleichwertige Anwärter in der Ousiafrage. Und sie werden deshalb beide als Ousia deklariert, weil sie genau betrachtet nicht zu trennen sind, denn die Form unterliegt der Spezies, und die Spezies gründet auf der Form. In Abwandlung unseres obigen Lösungsvorschlages könnten wir sagen, dass die Form jenes ist, das den Einzelwesen Kallias zu einem Angehörigen der Spezies Mensch macht, denn die Form ist früher und ist Ursache der Speziesprädikation (die Form die aus Samen [und Eizelle] Kallias Macht war zuerst in Kallias Vater/[Mutter] – und diese sind früher und die Ursache und in gewisser Weise Ziel für Kallias). Je länger man die Sache eigentlich betrachtet desto verschwommener werden die Grenzen dieser Begriffe. Ist Spezies nicht einfach die vollendete definierbare Form bzw. ist Form nicht einfach das Prinzip welches aus Materie eine definierbare Spezies macht? [Ich habe gewarnt, dass u.U. mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden - Wer sich mutwillig eine Migräne zuziehen möchte beschäftige sich einfach eine Stunde mit dieser Frage.] Nun sage ich zum dritten Mal: die Spannung wurde auch hier nicht aufgehoben, sondern als notwendig begründet. Die bisher vorgetragenen Zitate enthalten die diversen Ousia-kandidaten und zeigen ihre komplexe Verflochtenheit sehr schön auf. Es dürfte aufgefallen sein, dass ich drei mal betont habe, dass wir die Spannung nicht aufgehoben haben, sondern lediglich ihr notwendiges Auftreten begründet haben, und dies bildet die Kernthese dieses Lösungsvorschlages und somit dieses Vortrages. Diese besagt, dass die oben erläuterte Spannung eine im Seienden inhärente ist, und daher von einem begnadeten Beobachter wie Aristoteles wahrgenommen und in seine Überlegungen integriert wurde. Es sind lediglich die weniger begnadeten Nachfolger und Interpreten von Aristoteles, die sich vehement für eine Seite entschieden haben und sich bis dato darüber streiten. Peter Gabler Text zum 2. Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die theoretische Philosophie" von Univ.-Prof. Dr. Heinrich Somit kann man zusammenfassend sagen, dass Aristoteles Ousiabegriff einer ist, der die im Seienden selbst inhärente Spannungen zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, zwischen der Materie und der Form, und schließlich zwischen der Form und der Spezies gerecht zu werden versucht. Insgesamt scheint eine gewisse Affinität zwischen den Begriffen des Einzelnen und der 1. Ousia, und dem konkreten Hylomorphischen (‚Stoff-formlichen’) Komplex einerseits, und andererseits zwischen dem Allgemeinen, der Spezies und Definition zu bestehen. Einzig die Form scheint nicht klar zuordenbar zu sein. Es scheint eine kleine Differenz zu geben zwischen der Form die als unteilbares "to ti en enai" vorgestellt wird (eher eine 'allgemeine' Form), und der Form die als "Ursache, Telos, Formgebung, Verwirklichung etc" (eher eine 'spezifische' Form) vorgestellt wird. Gerade die zweite Beschreibung könnte man als Prof. Heinrichs angedachte "Individuelle Form" lesen (mit dem Begriff des 'Schicksals' erläutert). Kallias gehört der menschlichen Spezies an, aber nur er hat seinen Telos, seine spezifischen Anlagen (von den Eltern vermittelt), seine spezifische 'Verwirklichung' - eben sein spezifischer Schicksal. Hierzu einige bereits vorgestellte Zitat wobei die Schlüsselstelle, die die gerade vorgestellte Leseart nahe legt unterstrichen sind: „Die Ousia des Dinges ist die inwohnende Formbestimmung (eidos to enon), aus welcher in Verbindung mit der Materie die konkrete Ousia besteht“ (1037a28) „Indem aber das Sein gegeben ist und vorausgesetzt sein muß, so geht die Untersuchung offenbar darauf, weshalb der Stoff diese bestimmte Beschaffenheit hat. …Man sucht also die Ursache für den Stoff, diese ist die Formbestimmung (eidos), durch welche er etwas bestimmtes ist, und das ist die Ousia.“ (1041b5) „ Aber auch der Ousia nach ist sie [früher]. Erstens weil das, was der Entstehung nach später ist, der Form (eidos) und der Ousia nach früher ist, z.B. der Mann früher als das Kind, der Mensch früher als der Same; denn das eine hat schon die Form, das andere nicht. Ferner darum, weil alles was entsteht, auf ein Prinzip (arché) und ein Ziel (télos) hingeht; Prinzip nämlich ist das Weswegen, und des Zieles willen ist das werden. Ziel aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen;…Ferner ist der Stoff dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber in Wirklichkeit ist, dann ist er in der Form.“ (1050a10) Aristoteles Metaphysik ( und im selben Sinne die oben erwähnten Konzeptionen von "Form als Vermittlungsprinzip" und von der "Individuellen Form"] könnte deshalb durchaus auch als Vermittlungsversuch zwischen diesen zwei Facetten des Seins (Partikuläres Individuum/Allgemeine Spezies) dargelegt werden. Es muss festgehalten werden, dass jeder Versuch einer Vermittlung die jeweiligen 'einander ausschließenden sich bedingenden' Elemente (Individuum/Spezies) gleichzeitig erfassen muss. Dies nicht zu erreichen ist gerade die Schwäche der beiden Lager der 'Partikularisten' und 'Universalisten', und deshalb ist die 'Huckepack-These', die als Gegenthese zu Nominalisten und Platoniker in der Vorlesung präsentiert wurde, so wertvoll um Aristoteles spezifischen, integrativen (vermittelnden) Zugang vor Augen zu führen. Die Tatsache, dass sich in einem solch komplexen Gegenstandsbereich wie das Seiende als Seiendes, Spannungen, Ambiguitäten oder scheinbare Widersprüche ergeben, muss man als Kompliment an Aristoteles Gründlichkeit, Intelligenz und wissenschaftliche Ehrlichkeit auffassen, nicht als Schwäche seiner Theorie. Wir haben gezeigt, dass die meisten dieser angeblichen 'Widersprüche' eher durch ‚Lagerdenkende’ Interpreten als durch Aristoteles selbst entstehen. Deshalb mein Conclusio: die Spannungen die in Aristoteles Philosophie Peter Gabler Text zum 2. Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die theoretische Philosophie" von Univ.-Prof. Dr. Heinrich auftreten sind dem Seienden wie er sie interpretiert (kategoriale Ontologie) inhärent, und werden durch seine Analyse aufgedeckt. Die von uns untersuchten ‚Widersprüche’ kann man durch eine gelassene Sichtweise – die wir im Lösungsversuch ausprobiert haben - als Scheinwidersprüche entlarven – die nur durch Interpreten gesehen werden, die für Aristoteles integrative und Wirklichkeitsnahe Vorgehensweise blind sind. Denn schließlich: wenn solche Spannungen im Seienden inhärent sind, müsste man eigentlich erwarten, dass eine Wissenschaft des Seienden als Seiende sie auch erfassen wird – und wenn es eine Metaphysik gibt, die dies schafft, dann die des Aristoteles. Peter Gabler Text zum 2. Tutorium zur Vorlesung "Einführung in die theoretische Philosophie" von Univ.-Prof. Dr. Heinrich