Integration Handicap AG UNO-BRK/NBP – Fact sheet Thema: Teilhabe (Partizipation) Politik 8Art. 29 UNO-BRK) Autor: Urs Dettling, Pro Infirmis 1. Problemlage Gemessen am Anteil der Bevölkerung gibt es – nicht nur in der Schweiz – relativ wenige Politikerinnen und Politiker mit eigener Behinderungserfahrung. Dieser Umstand wurde in der Vergangenheit von Menschen mit einer Behinderung und ihren Organisationen in der Schweiz von Zeit zu Zeit thematisiert. Allerdings hatte das bis heute keine nachhaltige Veränderung bewirkt. Eine summarische Recherche (Internet, zugängliche Publikationen von Behindertenorganisationen, Rücksprache mit am Thema interessierten Personen mit oder eine Behinderung) zeigt, dass bisher wenig und schon gar nicht systematisch und konsequent für eine stärkere Partizipation gemacht wurde. Dieses Feststellung gilt nicht nur für die Schweiz.1/2/3. Der Anspruch von Menschen mit einer Behinderung auf die politischen Partizipation ist im Rahmen der Verpflichtung aus der UNO-BRK und einer gesamtschweizerischen Behindertenpolitik (=Teil einer Gesellschaftspolitik) umzusetzen. 2. Handlungsbedarf Menschen, die Politik machen, können in der Regel stärker zu gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen als diejenigen, die nur zuschauen können oder dürfen bzw. in der Politik nicht ernst genommen werden. Wenn Menschen mit einer Behinderte sich an der politischen Arbeit beteiligen (können) und in politische Ämter gewählt werden, wächst das Potential für eine inklusive Gesellschaft. Mittel- und langfristig beeinflusst es die Haltung in der Gesellschaft gegenüber ihren „Gesellschaftern“ mit einer Behinderung, wenn diese als Amtsinhaber und damit als Träger und Trägerinnen von Machtpositionen wahrgenommen werden. 1 Der Regelfall ist, dass Politiker und Politikerinnen in der Regel wenig oder gar nicht behinderungserfahren sind (ev. mit der Ausnahmen der Hörbehinderten) oder dies nicht thematisieren. Die Ausnahmen bestätigen die Regel: z.B. für die Schweiz Mark F. Suter, ehemaliger NR oder Christian Lohr, NR seit 2011, Luc Redordon, SR, Thea Mauchle (Kantonsrätin ZH, im Rollstuhl), Joe Manser (GR in Zürich), Manuele Bertoli, RR TI, Clemens Albrecht (Kantonsrat TG; beinambutiert), Kantonsrätin Theres Huser (OW; Gehbehinderung); in Deutschland: Wolfgang Schäuble (Finanzminister, im Rollstuhl), Malu Dreyer, Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz (Diagnose MS und auf den Rollstuhl angewiesen), Stefan Fricke (Mitglied des Landtages NWF; Contergan), Helene Jarmer, Nationalrätin Österreich (gehörlos). – Ohne über Zahlen zu verfügen, dürfte jedoch die Gruppe der Hörbehinderten in den kantonalen Parlamenten und im Bundesparlament jeweils mehrere Persönlichkeiten ausmachen. 2 Angegangen wurde die Fragestellung „Behinderte als Politiker und Politikerinnen“ in der Schweiz auch schon z.B. von einer kleinen Gruppe von Politikern (u.a. Joe Manser, Christian Lohr und Thea Mauchle 2002/3 mit dem „netzwerk-b.ch“), von Agile (Angebot von Weiterbildungskursen), Procap (in ihrer Zeitschrift 2011) oder Pro Infirmis (Schreiben im Jahre 2002 an die Präsidenten bzw. Präsidentinnen verschiedener Parteien sowie Koordination mit der vorher erwähnten Initiative von Joe Manser). Ziel war dabei, dass mit der konkreten Besetzung von politischen Ämtern durch Behinderte deren Interessen in der Gesellschaft mehr Resonanz finden würden. Es blieb jedoch im Grundsatz bei der Problemerkennung und bei einzelnen Aktionen; es erfolgte aber keine nachhaltige Vertiefung. Entsprechend versandeten solche Bemühungen. 3 Den letzten Versuch widmet diesem Thema m.W. die Kantonale Behindertenkonferenz Bern, welche am 4. Dezember 2013 eine „Plattform Behindertenpolitik“ organisierte. Die Zielsetzung war es, mehr Behinderte für die politische Arbeit zu motivieren und die Parteien dafür mehr zu öffnen. Integration Handicap AG UNO-BRK/NBP – Fact sheet 3. Mögliche Lösungen Voraussetzung zur politischen Betätigung sind bestimmte Qualifikationen und Fähigkeiten: Dazu gehören (im Idealfall immer in der Summe erfüllt) eine gute Schulbildung und entsprechende Weiterbildungen, Selbstvertrauen, Interesse an der Politik, Eigeninitiative, Beziehungsnetz/Vernetzung, Zeit, Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Fähigkeit vor Leuten aufzutreten und reden zu können (Freude daran, sich selber zu inszenieren), Erkennen von politischen Zusammenhängen, Fähigkeit zur Analyse und Entscheidung, Geduld, Fairness, Geselligkeit, Vorbildfunktion und in der Regel eine Parteimitgliedschaft. Die berufliche Ausbildung zum Politiker und zur Politikerin gibt es aber nicht. In der politischen Betätigung ist – im Idealfall – eine hohe Flexibilität, schnelle Auffassungsgabe, die Fähigkeit, sich schnell einarbeiten zu können, notwendig. Dies vor allem auch deshalb, da die Politik eine Vielzahl von politischen Funktionen und Positionen sowie unterschiedlichste Inhalte auf den verschiedenen staatlichen Ebenen anzubieten hat, angefangen vom Mitglied einer Sozial- oder Werkbehörde, eines Gemeinde- oder Stadtrates (Exekutive), eines Gemeindeparlamentes oder eines Kantonsrates (Legislative), eines Regierungsrates (Exekutive) oder einer regierungsrätlichen Kommission bis zur Ebene Bund (National-, Stände- oder Bundesräte und ausserparlamentarische Kommissionen). In der Regel bauen politisch Aktive ihre Karriere so auf, dass sie als Mitglieder einer Partei in Ämtern der tiefsten staatlichen Ebene (Gemeinde) beginnen und damit erste Erfahrungen sammeln und diese dann von Ebene zu Ebene hinauf vertiefen; häufig verläuft dabei die politische Arbeit parallel zum zivilgesellschaftlichen Engagement in Vereinen oder kombiniert sich mit diesem. Eher Ausnahmen sind die sogenannten Quereinsteiger, bei denen um so mehr persönliche Qualifikationen und Fähigkeiten verlangt sind, wenn ihnen andere Voraussetzungen wie Vernetzung, Parteimitgliedschaft oder politische Erfahrungen fehlen. Nachteilsausgleich Die vorgenannten Voraussetzungen gelten für alle Personen, die sich politisch engagieren wollen, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Dort, wo die Voraussetzungen infolge der Beeinträchtigung und Behinderung nicht erfüllt werden können, sollen die Gesellschaft und der Staat die einschränkenden Behinderungen und Benachteiligungen, zusammen mit den Betroffenen, reduzieren und/oder beseitigen. Die UNO-Behindertenrechtskonvention formuliert die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben in Art. 29. Der Staat soll sicherstellen, dass Behinderte „gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können …… was auch das Recht und die Möglichkeit einschliesst, zu wählen und gewählt zu werden“. Der Staat muss aktiv ein Umfeld fördern, damit Behinderte „wirksam und umfassend an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken können“ u.a. durch Mitarbeit in nichtstaatlichen Organisationen. Daraus resultiert auch, dass Staat und Gesellschaft die behinderungsbedingt notwendigen Assistenzdienste leisten und finanzieren. Parteimitgliedschaft Die Mitgliedschaft in einer Partei ist für eine nachhaltige bzw. mehrjährige politische Arbeit von grosser Bedeutung. Sie bietet einen organisatorischen Rahmen, welcher politisch Interessierte zusammenführt und den Austausch von Informationen und die Auseinandersetzung anhand aktueller politischer Fragestellungen fördert. Die Parteiorgane lernen damit politisch interessierte Personen, deren Fähigkeiten und Qualifikationen kennen, womit für sie Wahlvorschläge möglich sind. Mitgliedschaften nur in andern zivilrechtlichen Organisationen, sei es den Bereichen Sport, Kultur, Freizeit oder auch Selbsthilfeorganisationen usw. erweisen sich im Vergleich mit einer Parteimitgliedschaft bedeutend weniger geeignet für politische Karrieren. Integration Handicap AG UNO-BRK/NBP – Fact sheet Fördermassnahmen Damit mehr Personen mit einer Behinderung sich für die politische Arbeit zur Verfügung stellen, müssen sie gezielt von den Behindertenorganisationen, aber auch von den Parteien angesprochen, motiviert und gefördert werden; sehr wichtig ist der Aufbau eines entsprechenden Weiterbildungsangebotes. Dabei ist aufzuzeigen, welches die Voraussetzungen für den Einstieg in die politische Arbeit sind. Insbesondere ist es auch wichtig, damit Personen zu gewinnen, die sich für politische Felder interessieren, in welchen sie nicht aufgrund ihrer Behinderung besonders betroffen sind; z.B. finanz-, wirtschafts- oder kulturpolitische Themen. Die Parteien sind für die Fragestellung zu sensibilisieren. Dazu sollen u.a. von den Behindertenorganisationen mit den Verbandspitzen und –Sekretariaten entsprechende Gespräche geführt werden mit der Zielsetzung, dass Parteien selber auch Massnahmen beschliessen (Mitgliederwerbung, -förderung usw.) Selbsthilfeorganisationen auf der Ebene Schweiz wie auch auf der Ebene der Kantone (z.B. auch die Behindertenkonferenzen) könnten für die Motivation eine entscheidende Rolle spielen. Der Staat (Bund, Kantone und Gemeinden) soll die notwendigen Massnahmen beschliessen und damit zu einer verbesserten Repräsentanz Behinderter in politischen Funktionen beitragen. 4. Involvierte Akteure Menschen mit einer Behinderung und deren privates Netzwerk Behindertenorganisationen Parteien Bund, Kantone und Gemeinden (Bundes- und Regierungsräte, Parlamente, Gemeindeexekutiven und –legislativen sowie Behörden aller drei staatlichen Ebenen Medien Weitere Organisationen der Zivilgesellschaft