„Nur weil wir behindert sind, lassen wir uns noch lange nicht einsperren!“ Referentin: Petra Stahr, Projektleiterin des Netzwerkbüros behinderte und chronisch erkrankte Frauen und Mädchen in NRW – selbst körperbehindert, 52 Jahre, Tochter 24 Jahre Teilnehmerinnen: 7 junge Frauen im Alter von 15 – 16 Jahren mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen (körper-, sinnes- und psychischer Beeinträchtigung in Zusammenhang mit Lernbeeinträchtigungen) Ziel des Seminars: Die Teilnehmerinnen sollen in der Kommunikation mit der selbst behinderten Referentin frauenspezifische Themen bearbeiten und diese in Zusammenhang mit der eigenen Behinderung/Beeinträchtigung reflektieren. Methode: Offenes Gespräch in einer Gesprächsrunde. Ausführliche Vorstellungsrunde. Sammeln von Themen und in Anbetracht der Zeit die Focusierung auf zwei Themen. Feed Back Gespräch und die Planung weiterer Aktivitäten. Inhaltlicher Background: Junge Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen stehen am Rande der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer von doppelter gesellschaftlicher Diskriminierung geprägten Lebenssituation – einerseits als Frau bzw. als Mädchen, andererseits als behinderte Person – gestaltet sich ihre Lebenssituation in ihrem sozialen Umfeld als äußerst problematisch. Das widersprüchliche Verhalten vieler Erwachsenen Viele Mädchen mit Behinderung erfahren während ihrer Kindheit und Jugendzeit ein widersprüchliches Verhalten der Erwachsenen. Einerseits werden sie in ihrer frühen Kindheit mit der gesellschaftlichen einseitigen Rollenzuschreibung für Frauen konfrontiert: Sie sollen sanft, fleißig und ordentlich sein und so gut aussehen wir möglich. Je älter die Mädchen werden, desto deutlicher zeigt sich im Verhalten der Erwachsenen jedoch die andere Seite der Medaille: Ihre Behinderung tritt aus Sicht vieler Erwachsenen in den Vordergrund, ihre Identität als Frau wird in den Hintergrund gedrängt. Die Forderung der Eltern an ihre behinderten Töchter, fleißig zu sein erhält nun eine andere Note: Die spätere Berufstätigkeit der Mädchen gilt als einzige realistische Perspektive. Die Betonung späterer Berufstätigkeit geschieht hier nicht in erster Linie im Sinne von Emanzipation und Selbstbestimmung. Mit dieser Haltung ihren behinderten Töchter gegenüber reagieren Erwachsene vielmehr auf eine vermeitliche Notsituation. Denn behinderte Frauen, so glauben sie, können niemals nach altem Muster Hausfrauen und Mutter sein und auf diese Weise von Ehemännern mit versorgt werden. Behinderte Mädchen und junge Frauen erscheinen vielen nicht behinderten Erwachsenen als Neutren deren Sexualität vollständig ausgeblendet wird. Mit dieser Verhaltensweise wollen Eltern ihre behinderten Töchter vor Verletzungen und Enttäuschungen schützen. Das wird jedoch nicht funktionieren, denn Enttäuschungen und Verletzungen lassen sich in keiner Biographie vermeiden. Besser wäre es, würden Eltern ihre behinderten Töchter zu einer offensiven Berufsplanung ermutigen und sie gleichermaßen in ihrem Selbstbewußtsein als Frau bestärken. Viele Mädchen mit Behinderung erleben eine sogenannte “Sonderkarriere“. Sonderkindergarten, Sonderschule etc. prägen ihr Selbstwertgefühl und ihr Rollenverhalten. Findet ein Integrationsprozess statt (Regelschule etc.) orientieren sich die Inhalte und Interessen behinderter Mädchen häufig an den Interessen nicht behinderter Jugendlicher. Leistungsnormen der „Normalen“ werden übernommen, ohne das auf die eigene Beeinträchtigung Rücksicht genommen wird. Ein eigenes positives Selbstbild aufzubauen, sich nicht als „defizitär“ zu definieren, ist schwer. Viele behinderte Mädchen und junge Frauen spielen die Rolle geschlechtsloser Wesen, präsentieren sich als Kumpel ohne Anspruch auf Sexualität, Liebe und Partnerschaft. Aber auch diese Maskierung schützt nicht vor sexueller Gewalt, der auch viele behinderte Mädchen ausgesetzt sind. Zusätzlich wird ihnen gesellschaftlich die Ausbildung und die Berufstätigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt, die ihnen Selbstbestimmung ermöglichen könnte, in den seltensten Fällen ermöglicht. Auch auf Grund zahlreicher „Rehabilitationsmaßnahmen“ – seien sie medizinischer oder pädagogischer Art- ist es dem Mädchen oder der jungen Frau nicht geläufig die Selbstbestimmung, die ihr einen freien Umgang mit der gesellschaftlichen Realität ermöglichen könnte, zu praktizieren. Dieses trifft insbesonders auf Mädchen und junge Frauen zu, die mit einer Körper- und einer Lernbeeinträchtigung leben müssen. Sie haben, besonders zu Zeiten der wirtschaftlichen Rezessionen, so gut wie keine berufliche Perspektive und sind von daher auf eine immerwährende Beschäftigung in den Werkstätten oder auf eine Betreuung in anderen Sondereinrichtungen angewiesen. Nur für wenige junge Frauen findet sich ein, ihr angemessener, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Diese festgelegten Lebenszuschreibungen und die daraus resultierenden Erfahrungen- eine Behinderte zu sein und auch so behandelt zu werden- verhindern die Entstehung von Selbstachtung bzw.eines Selbstwertgefühls und von selbstbewußtem Handeln. Behinderte Mädchen und junge Frauen brauchen Rollenvorbilder. Behinderte Mädchen brauen Beratungsangebote und Zufluchtsorte. Frauentreffs, die in Barriere freien Orten stattfinden können und auch denjenigen zugänglich sind, die in Heimen wohnen. Beratung, die auf jeden Fall dem Prinzipien der Parteilichkeit und der Betroffenheit folgt, sollte den Mädchen und jungen Frauen einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Aus der Sicht der eigenen Betroffenheit sollten hier Referentinnen und Beraterinnen zusammen mit den Mädchen und den jungen Frauen Themen bearbeiten, die Grundlagen bilden das Verständnis für sich selbst, für ihre Familien und für gesellschaftliche Situationen in eine Richtung zu entwickeln, die langfristig zu einer selbstständigen Lebensführung und Lebensentscheidungen führen. Themen der Arbeit mit behinderten Mädchen und jungen Frauen Körperlichkeit und Sexualität Körperliche, seelische und sexuelle Gewalt Schule und Beruf Wohnen Freizeit und Hobbys Freundschaften Eltern, Verwandten Wie sehe ich mich selbst und wie sehen mich die Anderen Schönheitsvorstellungen Männer, Partnerschaften Selbstbehauptung und Selbstverteidigung Pflege und Assistenz gesellschaftliche und finanzielle Rechte Seminarverlauf: Die Vorstellungsrunde war geprägt durch eine ausführliche individuelle Vorstellung der eigenen Person einschließlich der Beeinträchtigung, der persönlichen Interessen und Hobbys und was sie sich von dem Seminar erhofft und worüber sie sprechen will. Die Referentin eröffnete die Runde mit einer eigenen persönlichen Vorstellung unter dem Aspekt der eigenen Behinderung , die sie durch ein Foto (worauf sie mit einem Bein zu sehen ist), den jungen Frauen zeigte. Unter der Beteiligung aller fand ein ausführliches Gespräch statt, wobei der Aspekt der eigenen Beeinträchtigung, immer wieder im Vordergrund stand. Die meisten jungen Frauen sprachen offen über ihre eigenen Beeinträchtigungen und verknüpften das Erleben, die individuellen Erfahrungen immer wieder mit der Thematik der Akzeptanz durch Eltern, Freunde und Erzieher. Nach einer Themensammlung, die insgesamt den oben genannten Themen entsprachen, entschieden sich die meisten anwesenden jungen Frauen für die Vertiefung der Punkte: Freundschaften, Freizeit, Hobbys, wie sehe ich mich selbst und wie sehen mich die Anderen und das Thema Gewalt und Sexualität. Auf einer Flipchart schrieben sie selbst die Themen auf und befragten sich untereinander was sie eigenständig besprechen wollten. Die Vorstellungsrunde und die Sammlung der Themen war durch einen regen und intensiven Austausch geprägt, an der sich alle Anwesenden aktiv und sehr konzentriert beteiligten. Die einzelne junge Frau nahm sich sehr viel Zeit, ihre Erfahrungen darzustellen. Auch wurden von den anderen Teilnehmerinnen viele Nachfragen untereinander gestellt, was die Runde sehr lebendig und intensiv gestaltete. Die Referentin leite die Sammlung und motivierte jede einzelne Person sich ausführlich zu äußern. Auf den Vorschlag hin, ob mit anderen Methoden gearbeitet werden sollt, z.B. durch Malen oder in kleineren Gruppen, befanden alle, dass sie im Gruppengespräch verbleiben wollten. Sie stellten direkt nach der Vorstellungsrunde fest, dass sie „endlich einmal“ Zeit genug hatten über sich zu reden. Manche waren sehr erstaunt darüber zu erfahren, was andere für Beeinträchtigungen hatten, sie fragten genau die medizinischen Begriffe ab z.B. Hydrozephalus = Wasserkopf und Autismus wurden sehr genau erfragt und die betroffenen jungen Frauen redeten sehr offen über ihre Erfahrungen, Gefühle und vor allem über die Probleme in dem Zusammenhang mit Ärzten, Eltern und Freunden. Fragen nach dem Umgang mit der eigene Behinderung im Bezug zur Umwelt standen dabei im Vordergrund, so z.B. traust du dich damit nach draußen, wir ist das für dich wenn alle gucken, wurden offen beantwortet und Ressourcen in der Bewältigung mit der Behinderung in Bezug zur Umwelt formuliert. Deutlich eng im Gespräch wurde es, als es um das Verhalten der Eltern in Bezug zur Eigenständigkeit im Zusammenhang zu Freundschaften und Partnerschaften ging. Die meisten der Anwesenden waren zutiefst über die einschränkenden Maßnahmen der Eltern frustriert. Abgesehen von dem „normalen“ Verlauf der psychischen und physischen Entwicklung in dem Alter, zeigte sich deutlich, das die meisten Eltern ihre jungen Frauen überbehüten. In „Sorge“ um ihr körperliches Wohl wird der Aktivitätsdrang unterbunden. Besonders diejenigen sind davon betroffen, die auf dem Lande wohnen und auf Fahrdienste etc. angewiesen sind. Fast alle beklagten, dass sie zuwenig Freundschaften schließen können und dass sie zuwenig Freiheiten bekommen. Festgestellt haben alle, dass sie aufgrund der Behinderung und der Isolation durch die Eltern, die Kontakte zu den wenigen FreundInnen die sie haben auch noch verloren gehen. (Kulturelle Unterschiede sind zusätzlich hemmend). Sie vermissen alle, das normale Freizeitverhalten nicht behinderter Jugendlicher und möchten auch mal so richtig loslegen. Aber da sind ja die besorgten Eltern und natürlich die teueren Fahrkarten, die Abhängigkeit von den Fahrdiensten und natürlich auch die eigenen Ängste wegen der eigenen Behinderung. Nach Lösungsansätzen wurde gemeinsam gesucht. Wie sehen mich die anderen und wie sehe ich mich selbst Partnerschaften und Sexualität, Wünsche nach einer eigenen Freundschaft und Liebe nehmen sicherlich den größten Raum in der Phantasie der jungen Frauen ein. Die Angst, wegen der Behinderung im Leben ohne Partner auskommen zu müssen, schwingt latent im Untergrund mit. Hier erzählte die Referentin, welche Erfahrungen sie mit Liebe und Partnerschaft in Zusammenhang mit ihrer Behinderung erlebte, denn allen war klar, „dass Männer bestimmt nicht eine Frau mit einem Bein gut finden.“ Im Gespräch wurde deutlich, dass der Umgang mit Liebe und Sexualität viel mit dem eigenen Selbstbewußtsein und mit dem eigenen Mut zu sich selber zu stehen zu tun haben und es kamen auch positive Beispiele hervor, wo man Anerkennung und auch Attraktivität gespürt hat. Der Zusammenhang zwischen Offensivität, nach draußen gehen, sich zeigen und sich beruflich entwickeln, sowie die gute Laune und viel Spaß und Humor behalten wurde in Beispielen verdeutlicht. Es wurde in der Phase des Seminars viel gelacht und auch bei ernsten Beispielen wurde nach Lösungswegen gesucht. Das Thema der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung und das „Nein“ sagen dürfen bei sexueller „Anmache“ und Übergriffen wurde besonders von zwei Teilnehmerinnen sehr in den Vordergrund gehoben. Sie erzählten von sexueller „Anmache“ und ihren Erfahrungen wie sie sich dieser entledigen können. Kleinere Übungen wurden demonstriert und fanden bei den meisten jungen Frauen großen Anklang. Hier war das Bedürfnis nach solchen Trainingseinheiten sehr deutlich zu spüren. Zum Schluß wurden die gemeinsamen Wünsche an der Teilhabe von Freizeit und Hobbys ausgesprochen und hier wurden die Freizeitbereiche wie Reiten, Trampolin springen, Schwimmen, Tanzen und Singen wie Kegeln gehen benannt. Der Wunsch nach kreativem Ausdruck in einer Gruppe stand dabei im Vordergrund. Aus der Aussage „Wir wollen auch mal wie die Superstars sein und im Rampenlicht stehen und nicht eingesperrt werden nur weil wir behindert sind“ erzeugte den Wunsch nach einem erneuten Treffen, wo man diesen Ansatz weiterverfolgen wollte. Gemeinsam wurde ein Wochenende geplant an denen alle Teilnehmerinnen mitmachen wollten. Vorher sollten auch die Eltern einbezogen werden. Im Abschlußgespräch in der großen Runde betonten alle jungen Frauen, dass sie es genossen haben über so vieles mal ganz offen geredet haben zu können.