Hinrich Bents: Manualisierung in der Psychotherapie Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich. Tolstoi 1878 Merkmale manualisierter Psychotherapie: •Entwicklung in kognitiver Verhaltenstherapie •Zunehmende Anwendung in psychodynamischen u. a. Psychotherapieverfahren •Evidenzbasiert hohe Wirksamkeit •Besondere Relevanz für Ausbildung und Qualitätssicherung •Anwendung in Diagnostik und Therapie •Typisch für störungsspezifische Methoden, aber bedeutsam auch für allgemeine Wirkfaktoren Manualisiertes Vorgehen in Diagnostik und Therapie ist reliabel und valide, und erhöht Wirksamkeit und Effizienz der Behandlung. Dennoch verwenden Therapeuten Manuale nur selten. Warum? „Wie wichtig finden Sie in Ihrer klinischen Praxis Strukturierte Interviews?“ Margraf 2010 „Wie gut kennen Sie Strukturierte Interviews?“ Margraf 2010 „Bei wie viel Prozent Ihrer Patienten verwenden Sie strukturierte Interviews für die Diagnose?“ Margraf 2010 Mittelwert: 15% „Was spricht gegen die Verwendung strukturierter Interviews?“ *: Andere Gründe: schwer zu lernen, zu mechanistisch, Übertragung/Gegenübertragung fehlen, kostet Geld und Zeit Margraf 2010 Einschätzung der Patientenakzeptanz „Vollkommen zufrieden“ „gar nicht zufrieden“ Margraf 2010 54,6 % der Patienten sind komorbid gestört – 24,1 % weisen 3 und mehr Diagnosen auf (Bents 2012) Bastine (2012): „Komorbidität ist der Normalfall ...“ EssStörungen: 13% PersönlichkeitsStörungen: 16% Affektive Störungen: 19,3% Affektive Störungen: 25%% Sucht, Abhängigkeiten: 27% Aber: ... „Komorbidität“ ist ein rein deskriptiv-formaler Begriff, der lediglich Koinzidenzen beschreibt und nicht zum Verständnis psychischer Störungen beiträgt! Bastine 2012 Erklärung und Behandlung psychischer Störungen erfordern vielmehr die Annahme von Störungs-Systemen, die das Zusammenwirken unterschiedlicher (biologischer und psychosozialer) Faktoren berücksichtigen und einer Therapie zugänglich machen. Bastine 2012 Klingt gut und zeigt die Begrenztheit störungsspezifischer und damit häufig auch manualisierter Ansätze auf. Doch was erklärt deren Erfolg? 1. Mythos „talking cure“ Der verständliche, weil attraktive Wunsch, mit einem Verfahren alle Arten von psychischen Störungen behandeln zu können, hat sich in der Geschichte der Psychotherapie – immer wieder – als Irrtum erwiesen. 2. Spezialisierung Der enorme Wissenszuwachs beim Verständnis psychischer Störung erfordert spezifisches Fachwissen und Handlungsleitlinien, die sich nicht mehr nur aus der persönlichen Erfahrung des Therapeuten speisen können. Dispositionen, Hintergrundkonflikte, ursprüngliche Auslöser Kognitive Faktoren (z.B. Schlankheitsideal) Störungsmodell: Restriktives Essen Gegenmaßnahmen Anorexie und Bulimia nervosa Angst vor Gewichtszunahme Psychische Funktionen Bents 2010 Körperschemastörungen Heißhunger- und Essattacken Aktuelle psychosoziale Belastungen Psychische Funktionen Körperliche Veränderungen 3. Symptomübergreifende Wirkung manualisierter Psychotherapie Störungsspezifische, manualisierte Psychotherapie ist bei ko-morbinden Störungen nicht nur singulär wirksam, sondern verändert das StörungsSystem. Bents 2001 4. Allgemeine Wirkfaktoren profitieren von Manualisierung: •Beziehungsgestaltung •Klärung •Problemaktualisierung •Bewältigung Beziehungsgestaltung: Schrittweise Erarbeitung motivorientierter Interaktion 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Bents 2012 Wirkung und konkretes Verhalten des Patienten Wunde Punkte: Verletzende Äußerungen Pflaster: Wohltuende Äußerungen und Interaktionen Beziehungsziele des Pat: Negative (Meidung) und positive (Annäherung) Beziehungsziele Verborgene Beziehungsziele des Pat. Methoden: Vorläufig indizierte und kontraindizierte Therapiemethoden Gesten: Vorläufig indizierte und kontraindizierte nonverbale Interaktionen des Th. Worte: Vorläufig indizierte und kontraindizierte verbale Interaktionen des Th. Prüfungen: Zu erwartende Beziehungstests a) b) Befürchtungen und Hoffnungen Sinnvolle Reaktionen des Therapeuten Klärung: Ambivalenzkonflikt Bents 2006 + Therapie 1. Persönlich relevante Vorteile der Therapie 3. Persönlich relevante Nachteile der Therapie IstZustand 4. Persönlich relevante Vorteile der Störung 2. Persönlich relevante Nachteile der Störung Medien: • Ganzkörperspiegel o. Video mit Monitor Graduiertes Vorgehen: 1. Kleidung (zunächst normale Alltagskleidung, allmählich Problemkörperbetonter, schließlich in Badeanzug/Bikini) aktualisierung: 2. Beginnend mit „neutralen“ Körperpartien (z.B. Füße), Steigerung zu „schwierigen“ Körperpartien Figur3. Zunächst nach Beschreibungen, dann erst nach emotionalen Konfrontation Bewertungen, zuletzt nach Bedeutungen fragen 4. Zunächst geschützter Raum, später öffentlicher Raum (Alltagsbedingungen) Therapeutenverhalten: • Während der Übung ständige Ermunterung zum emotionalen Ausdruck; Einschätzungen von Stärke und Qualität • Neutrales Frageverhalten der Therapeutin • Gleichgeschlechtliche Therapeutinnen • Wiederholungen Rahmen: • Dauer: ca. 45 Min • Setting: Einzeltherapie Bents 2010 Bewältigung: Kommunikationstraining Sprecher-Regeln 1. 2. 3. 4. Ich-Gebrauch Konkretes Verhalten ansprechen Konkrete Situationen ansprechen Aktuelle und konkrete Gefühle benennen Zuhörer-Regeln Hahlweg & Baucom 2008 1. 2. 3. 4. Aufmerksamkeit zeigen Paraphrasieren Loben und ermutigen Rollenwechsel einleiten Anwendungen manualisierter Psychotherapie: • • • • • • • • • Ausbildung Diagnostik Zielanalyse Indikative Entscheidungsprozesse und Therapieplanung Motivationale Vorbereitung Beziehungsgestaltung Störungsverständnis und Klärungsprozesse Problemaktualisierung und Bewältigung Orientierung für Sitzungs- und Therapiestruktur Therapiestruktur: Paartherapie Sitzung 1: Sitzung 2-4: Sitzung 5: Sitzung 6-7: Sitzung 8-9: Sitzung 10-12: Sitzung 13-14: Sitzung 15: Hahlweg & Baucom 2008 Erstgespräch mit Problem- und Zielklärung, Übersicht, Vereinbarungen Diagnostik, Problemanalyse, Verhaltensbeobachtungen, Psychoedukation Störungsmodell, Zielvereinbarung, Rollendefinition, Therapieplan Reziprozitätstraining, Wahrnehmungsschulung Kommunikationstraining, Übungen, Rollenspiele Konfliktgespräche, Kommunikationstraining, Übungen Kognitive Interventionen, Fortsetzung bisheriger Kommunikationstrinings und Konfliktgespräche Reflektion, Selbstmanagement, Krisenprophylaxe Sitzungsstruktur 1. Mitteilung der Diagnose (anhand individueller Befunde und evidenzbasierter Hypothesen) 2. Vermittlung eines Störungsmodells (für Entstehung und Aufrechterhaltung) 3. Ableitung eines Therapiemodells (durch sokratischen Dialog) 4. Erarbeitung von Zielkonflikten (mit Hilfe von Konfliktheuristik) Manualisierung... •Beachtet zeitlichen Verlauf und wirksame Abfolge von Veränderungsprozessen •Berücksichtigt Krisen und Stagnation (z. B. durch Redundanz) •Betont allgemeine Wirkfaktoren •Bedient psychische Grundbedürfnisse: o Orientierung („Navigationssystem“) o Selbstwert (Selbstwirksamkeit) o Bindung (gemeinsame Erfahrungen) o Wohlbefinden (Symptomreduktion) Literatur Bastine, R. (2012): Komorbidität – ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie. In: Fliegel, P. (Hrsg) Die Zukunft der Psychotherapie, S. 13. Berlin: Springer. Bents, H. (2001): Intensivtherapie der Bulimia Nervosa. DGPs-Kongress, Berlin 2001. Bents, H. (2006): Kognitive Vorbereitung. In: Fliegel, S. & A. Kämmerer (Hrsg.) Psychotherapeutische Schätze. S. 101. Tübingen: DGVT-Verlag. Bents, H. (2006): Entscheidungswürfel. In Fliegel, S. & A. Kämmerer (Hrsg.) Psychotherapeutische Schätze, S. 51. Tübingen: DGVT-Verlag. Bents, H. (2010): Ambulante Verhaltenstherapie bei Essstörungen. In: Reich, G. & M. Cierpka (Hrsg.) Psychotherapie der Essstörungen, S. 129. Göttingen: Thieme. Bents, H. (2011): Motiv-orientierte Beziehungsgestaltung. Vorlesung Universität Heidelberg. Bents, H. (2012): Newsletter ZPP. Universität Heidelberg. Caspar, F. (2008): Motivorientierte Beziehungsgestaltung. In: Hermer, M & B. Röhrle (Hrsg.) Handbuch der therapeutischen Beziehung, S. 527. Tübingen: DGVT-Verlag. Hahlweg, K., Baucom, D. (2008): Partnerschaft und Psychische Störung. Göttingen: Hogrefe. Margraf, J. (2010): Störungsspezifische Psychotherapie. Vortrag Kolloquium Moderne Psychotherapie, Nexus-Klinik, Baden-Baden. Tolstoi, L. (1878): Anna Karenina. 17. Aufl. 2006. München: dtv.