Internationale Zeitschrift für Soziologie Kommunikations- und Kulturforschung Herausgegeben von Eckart Pankoke, Justin Stagl, Johannes Weiß Michel Maffesoli DISKURSIVE KULTURPRODUKTION Von Rainer Diaz-Bone „Der Diskurs über das Kunstwerk ist kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts." (Bourdieu 1999: 276) „Es ist Michel Foucaults Verdienst, die meiner Meinung nach stringenteste Formulierung [ ... ] des strukturalistischen Ansat­ zes auf dem Gebiet der Analyse der kulturellen Werke vorgelegt zu haben." (Bourdieu 1998: 57) I. Bourdieus Theorie als Ausgangspunkt Das kultursoziologische CEuvre Pierre Bourdieus ist nicht unumstrit­ ten. Unumstritten ist aber, dass die von Bourdieu entwickelte soziologi­ sche Perspektive die internationale sozialwissenschaftliche Forschung maßgeblich beeinflusst hat, dass einige seiner Hauptwerke heute zu den modernen klassischen Monographien der Soziologie gezählt werden (wie seine Person zu den modernen Klassikern unter den Soziologen) und dass sein konstruktivistischer Strukturalismus als ein in den letzten Jahrzehnten fast beispielloser Versuch angesehen werden kann, die insbesondere in Deutschland - vorherrschende Trennung von theoreti­ scher und empirischer Forschung zu überwinden. 1 Mit den Arbeiten Bourdieus wird nicht nur die lange durkheimsche Tradition des Struk­ turalismus als sozialwissenschaftliches Paradigma fortgesetzt, konkreter stößt die empirische Kultursoziologie (wieder) einflussreich in zentrale Bereiche der Soziologie vor, wie den der Sozialstrukturforschung und den der Ausarbeitung von Großtheorien (mit der zugehörigen Themena­ genda der zu bearbeitenden Themen wie der Dualität von Struktur und Handlung I Praxis oder der Überwindung des Mikro-Makrodualismus u. a.). Bourdieus Diktum vom „ Geschmack" als zentralem Merkmal von „ Klasse" leitet seine Theoretisierung eines weit gefassten Kulturbegriffs ein, der Kultur sowohl als das gesamte Inventar für die Lebensführung 1 Siehe Bohn/Hahn (1999) sowie den Nachruf von Bohn (2001). 38 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion als auch die darauf bezogene und soziale Unterschiede anzeigende all­ tägliche Praxis des Umgangs (Konsums) mit kulturellen Objekten be­ stimmt (Bourdieu 1982: 18). Die Distinktion wird bei Bourdieu als die systematisch durch den jeweiligen Habitus strukturierte Praxis des Um­ gangs mit kulturellen Objekten eingeführt. In der Habitusanalyse kommt es Bourdieu darauf an, zu zeigen, dass die vorbewussten Ent­ scheidungen, was, und die Praxis, wie kulturelle Objekte und kulturelle Praktiken (wie Freizeittätigkeiten) in die Lebensführung einbezogen werden, einen für die soziologische Analyse einsichtigen generativen Mechanismus erschließen lassen, der eine innere Logik und Regelhaftig­ keit aufweist: eben den von Bourdieu so benannten Habitus. Dessen Ge­ nealogie wird „ kollektivbiografisch" auf die internalisierten Lebens­ bedingungen (Kapitalvermögen) also auf die Einprägung der materiellen Verhältnisse in die kollektive Handlungsweise zurückgeführt, so dass sich der Habitus als „ System generativer Schemata des Wahrnehmens, Erlebens und Handelns" als praktische Logik des Handelns ausbildet. Bourdieus Zweiraummodell und der Habitusbegriff sind heute Grund­ begriffe der Soziologie: den sozialen Raum erhält man in der soziologi­ schen Analyse, indem man die sozialen Gruppen nach Kapitalvolumen und Kapitalstruktur (hinsichtlich der Kapitalsorten ökonomisches, kul­ turelles und soziales Kapital) relativ zueinander positioniert; der Habi­ tus bewirkt nun, dass über dem sozialen Raum der Raum der Lebensstile entsteht, der für Bourdieu ein zugleich symbolischer Raum ist, in dem sich die Lebensstilkollektive vorbewusst ihre Position eben durch die Zeichenhaftigkeit des Stils der Lebensführung gegenseitig „anzeigen" (vgl. Bourdieu 1982:277 ff.). Dieses Anzeigen erfolgt in den alltäglichen Akten der Distinktion, in denen sich Individuen in beurteilender Weise zu Objekten, Ereignissen oder anderen Akteuren in Beziehung setzen und damit praktisch die sie umgebende Welt zu klassifizieren versuchen. Bourdieus Habitusanalyse setzt hier ein, denn mit dem Versuch der Klassifikation klassifiziert sich der Klassifizierende selbst: er verortet sich anhand seines so zu Tage tretenden Habitus im Raum der Lebens­ stile. In den habituell geprägten und deshalb mit Kohärenz auftretenden Klassifikationsakten eines Lebensstilkollektivs treten semantische Ka­ tegorien hervor, die eine implizite Ästhetik erkennen lassen. Für Bour­ dieu ist diese implizite Ästhetik rückführbar auf das fundierende Ethos dieses Kollektivs, so dass sich über die Rezeptionsästhetik (als Wahrneh­ mungsästhetik aber auch „ Aneignungsästhetik") für ihn ein soziologi­ scher Zugang zur Analyse der Ästhetik als Analyse sozialstrukturell in­ terpretierbarer Ethiken eröffnet. Ausdruck bringende Zeichenhaftigkeit ermöglichen, ist Resultat der von Bourdieu so benannten „ Kulturproduktion" , die er in verschiedenen so­ zialen Feldern (Angebotsseite) untersucht hat und die er in Beziehung zu den verschiedenen Lebensstilkollektiven im Raum der Lebensstile (Nachfragerseite) gesetzt hat. Die Binnenstruktur der jeweiligen Felder der Kulturproduktion wird durch die darin eingenommenen Positionen von Kulturproduzenten („ Kulturschaffende" und materielle Hersteller im weiteren Sinne, aber auch Kritiker und an der Beurteilung, im wei­ testen Sinne: an der symbolischen Wertschöpfung der Kultur einfluss­ reich Beteiligte) konkretisiert. F ür Bourdieu ist es evident, dass es eine vorbewusste und letztlich habituelle Abstimmung von Kulturprodukti­ on und Kulturrezeption gibt. Die Kulturproduzenten sind (auch durch den Konkurrenzmechanismus) im Feld (vorreflexiv) darauf ausgerichtet, sich an den Habitusformen der Rezipienten zu orientieren. Deren ver­ schiedene Habitus (als Systeme generativer Schemata) korrespondierten mit den Habitus „ ihrer" Klientel und finden sich auch - so Bourdieu in den kulturellen Produkten wieder, so dass man bei Bourdieu eine Art strukturalistisches Kommunikationsmodell angelegt findet. Tatsächlich ist die von Bourdieu verwendete Erklärung für die Homologie (Struktur­ gleichheit) von Angebot und Nachfrage kultureller Objekte und kultu­ reller Praktiken diejenige der sich herausgebildeten „Homologie" (Strukturgleichheit) von Feldstruktur (der Kulturproduktion) einerseits und sozialem Raum (der Rezipienten) andererseits, so dass sich eine Pas­ sung der Habitusformen ergibt, die als praktische Operatoren die Pas­ sung von Produktion und Rezeption (re)produzieren. Dahinter steht letzten Endes das strukturalistische Theorem, dass die spezifischen Fel­ der der Kulturproduktion die Kapitalstruktur des (weiteren) sozialen Raums wiederholen.2 Auch wenn Bourdieu die Realität der Praxis (in seiner „Praxeologie") immer wieder betont hat und er diese Praxis als vermittelnde Instanz (a) zwischen den beiden Räumen und (b) als ver­ mittelnde Praxis zwischen Feld- und Raumstrukturen ansieht, so nimmt Bourdieu doch eine prästabilisierte Harmonie an, die aus seiner Sicht auf die Praxis des Habitus als vorgängiger und vorrangiger Realität des durch die Kapitalsorten strukturierten sozialen Raums zurückzuführen ist. Diese Bourdieu-Darstellung mag etwas vorschnell auf einen Reduk­ tionismus abstellen. (Bourdieu hat später versucht diesem Reduktionis­ musvorwurf zu begegnen und in zu relativieren.) 3 Behauptet wird im 39 2 „Das Prinzip funktionaler und strukturaler Homologie, welches bewirkt, daß die Logik der Produktionsfeldes und die des Konsumtionsfeldes objektiv auf­ einander abgestimmt sind, rührt daher, daß alle speziellen Felder [ ] sich ten­ denziell derselben Logik gemäß strukturieren, nämlich entsprechend dem Um­ fang des Besitzes an spezifischem Kapital [ . ]. Bourdieu (1982:365) . . . Dass den Lebensstilkollektiven die kulturellen Objekte und die kultu­ rellen Praktiken (die kulturellen Genres) als kulturellen Ressourcen zur Verfügung stehen, die den Lebensstilen die soziale Unterschiede zum . . " Bourdieu hat Ende der 1990er Jahre seine Nähe zum britischen Kulturalis­ mus wie er von Edward P. Thompson und Raymond Williams ausgearbeitet wurde 3 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion Folgenden dennoch, dass es diese Denkweise Bourdieus (von der Vorgän­ gigkeit des sozialen Raums als System der Positionen unterschiedlichen Kapitalbesitzes gegenüber einer daran gekoppelten und vermittelnden Praxis des Habitus) ist, die sich wie ein Grundzug auch in seiner Kultur­ analyse (und auch in seinen späteren Arbeiten) konsequent abzeichnet und dort problematisch wird. Dass Bourdieu eine Sozio-Ontologie ein­ bringt, kann schlecht kritisiert werden, jede soziologische Theorie muss mindestens ein das Soziale konstituierendes Prinzip annehmen und sei­ ne Begriffssystematik darauf beziehen. Die Frage ist, welche Folgen die theoriepolitische Entscheidung Bourdieus hat, die Sozio-Ontologie mit diesem Vorrang bei dem System der Besitzstände verschiedener Grup­ pen anzusiedeln. Das Risiko solcher Entscheidungen liegt bei den damit verbundenen Einschränkungen, welche Themen mit dieser Theorie da­ mit wie ausreichend evident bearbeitet werden können und welche nicht. Man kann also die Kritik an einer soziologischen Theorie daran entwickeln, welche Performanz sie vorlegt, wenn sie Themenbereiche und Phänomene bearbeitet, die möglicherweise von ihrem sozio-ontolo­ gischen Prinzip weit entfernt sind, die die Theorie aber zu ihrem Objekt­ bereich hinzuzählt. Aber die soziologisch relevante Vorgabe (nicht nur) des bourdieuschen Strukturalismus bleibt die Anweisung, dass es Auf­ gabe der Soziologie sei, die unsichtbare, tieferliegende Ordnung des So­ zialen - soziale Strukturen eben - sichtbar zu machen. Das Konzept des symbolischen Kapitals bei Bourdieu ist dafür typisch und hat vielleicht nicht zufällig den Charakter eines theoretischen Pro­ visoriums (obwohl es so häufig verwendet wird), denn hier zeigt sich die Engführung der bourdieuschen Vorstellung von (soziologisch relevanter) Bedeutung. Dem Konzept des symbolischen Kapitals kommt neben der F unktion der Konvertierung der drei Kapitalsorten ineinander die Funktion der Übersetzung der drei Kapitalsorten aus dem sozialen Raum in den Raum der Lebensstile zu. Das symbolische Kapital besteht aus dem Effekt der Wahrnehmung dieser Kapitalsorten im Raum der Le­ bensstile. Damit versucht Bourdieu die Kapitalmetaphorik aus dem so­ zialen Raum in die Sphäre des Symbolischen zu übertragen. 4 Bourdieu beschreibt die Notwendigkeit, dass die drei vorgängigen Kapitalsorten als symbolisches Kapital wahrnehmbares Kapital werden, sonst verfeh­ len sie ihre soziale (Macht- und Legitimations-)Wirkung. Damit kommt ihm in den Distinktionskämpfen die zentrale strategische Rolle zu. So theoretisiert ist das symbolische Kapital aber nur der Zeicheneffekt des Hineinreichens des sozialen Raums in die Sphäre des Lebensstils und der Kultur: ein „ Anzeichen" von Einfluss, Vermögen (ökonomisches Ka­ pital) oder von Herkunft, Zugehörigkeit (soziales Kapital) oder von Kompetenz und Wissen (kulturelles Kapital). Symbolisches Kapital er­ scheint entsprechend in den verschiedenen Untersuchungen als Ehre, Reputation oder Prestige. Wichtig ist, dass das symbolische Kapital hier­ mit kein Vermögen, kein Potential, keine Wirkmächtigkeit von Symbolen oder anderen Semantiken ausdrückt und dass es keine eigene Realität beanspruchen können soll. Die Zeichenhaftigkeit des symbolischen Ka­ pitals geht bei Bourdieu damit in seiner Qualität des „ Verweisens auf etwas anderes" auf. 40 II. Kritik der Distinktionstheorie Bourdieu hat die Zeichenhaftigkeit des Lebensstils zum Analysege­ genstand gemacht, seine systematischen Analysen haben bei der Ent­ schlüsselung der distinktiven (der soziale Unterschiede bedeutenden) Bedeutung des Lebensstils die Raummetaphorik und den Habitus­ mechanismus als Analyseraster eingesetzt. Die bourdieusche Konzepti­ on des Symbolischen bleibt aber auch in diesem Rahmen eingefangen: Die Zeichen sind Zeichen für die Strukturalität des sozialen Raums, sie sind nicht eingebunden in einen eigengesetzlichen Zeichenzusammen­ hang oder in eine bedeutungsstiftende Praxis, die als vom sozialen Raum unabhängig gedacht werden könnten. bekundet ( Bourdieu 1997, S. 115). Beispielhaft für seine Position zum Materialis­ mus-Vorwurf sind die wenigen Aussagen wie diese: „Ehrlich gesagt, die Vorstel­ lung hierarchisch gegliederter Instanzen, die nicht zu trennen ist von der Frage des Verhältnisses zwischen symbolischen und ökonomischen Strukturen - eine Frage, die in den 60er Jahren die Debatten zwischen Strukturalisten und Marxis­ ten beherrschte -, hat mich schon immer gestört. Mehr und mehr drängt sich mir der Gedanke auf, ob die sozialen Strukturen von heute nicht die symbolischen Strukturen von gestern sind [ ... ]. (Bourdieu 1986, S. 153). " 41 In der für die Kulturproduktion insgesamt beispielhaften Kunstpro­ duktion spielt das symbolische Kapital ebenfalls eine prominente Rolle, hier als die künstlerische Reputation. Es zeigt sich nun aber, dass das symbolische Kapital von Kulturproduzenten (Künstlern) gerade die Re­ präsentationsfunktion (vorgängiger Kapitalsorten) , die das symbolische Kapital im Rahmen der Distinktionstheorie gespielt hatte, hier nicht ausüben kann und auch nicht darf: künstlerische Reputation darf nicht als Transformation von Besitz oder als Resultat der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder als Anwendung von Wissen bzw. Kompetenz (das Resultat wäre reproduzierbares und legitimes Handwerk, nicht aber einzigartige Kunst) erscheinen. Wie ist dann der besondere Status der Kulturakteure, ihr künstlerischer Ruhm und die den Künstlern zuge­ sprochene besondere charismatische, „ magische" Fähigkeit der Kunst4 Diese Metaphorik ermöglicht Bourdieu, das Soziale als Sphäre des Tausches und der Akkumulation zu beschreiben. Hier setzt Bourdieu die französische Tra­ dition der Theorie des sozialen Tauschs (Claude Levi-Strauss, Marcel Mauss) fort. 42 43 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion stiftung (die „ Konsekrationsmacht" , d.i. die „Heiligungsmacht") zu er­ klären? Damit ist auch die Frage verbunden, wie der besondere, außer­ alltägliche und nicht-profane Wert der Kunst zustande kommt. Das Konzept des symbolischen Kapitals scheint hier seine Grenze zu errei­ chen, wenn es auf seine Zeichenhaftigkeit für den (Ort im bzw. die Strukturalität des) sozialen Raum(s) beschränkt bleibt. Bourdieu hat da­ rauf verwiesen, dass in den Feldern der Kulturproduktion die Herkunft, die Quelle des symbolischen Kapitals notwendig für die soziale Wahr­ nehmung ausgeblendet werden muss. Das heißt auch, dass das Interesse an der Möglichkeit einer späteren Konvertierung von künstlerischem Ruhm in ökonomischen Reichtum als Absicht verschleiert werden muss, soll die Kunst als Kunst ihre Weihung erhalten. Bereits hier zeichnet sich ab, dass die Kulturproduktion eine eigene symbolische Logik aufweist, die die erweiterte Kapitaltheorie Bourdieus nicht vollständig erreichen kann. künstlerischen Lagers umlaufen; [ . . ]" (Bourdieu 1999:362 f . ; Herv. i. Orig.) Bourdieu zufolge kommt die Entstehung des Wertes von Kunst und die besondere Wertschätzung von Kultur insgesamt als kollektiver Glaube (in der Innenansicht als croyance) zustande, welcher soziologisch als kollektive Selbsttäuschung (in der Außenansicht als illusio) gedeutet wird (hier ist der theoretische Bezug die Magietheorie von Marcel Mauss) und auf einem symbolischen Tauschsystem in den Feldern der Kulturproduktion erwächst, in dem verschiedene Akteure ihr symboli­ sches Kapital einbringen (Bourdieu 1999:270 ff.). „Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fe­ tisch schafft. Da das Kunstwerk als werthaltiges symbolisches Objekt nur existiert, wenn es gekannt und anerkannt, das heißt von Betrach­ tern, die mit der dazu erforderlichen ästhetischen Einstellung und Kom­ petenz ausgestattet sind, gesellschaftlich als Kunstwerk instituiert ist, hat die Wissenschaft von den kulturellen Werken nicht nur deren Pro­ duktion zum Gegenstand, sondern auch die Produktion des Werts der Werke oder, was auf dasselbe hinausläuft, die des Glaubens an den Wert der Werke. [ . . . ] Der kollektive Glaube an das Spiel (die illusio) und den geheiligten Wert dessen, was auf dem Spiel steht, ist Voraussetzung und Ergebnis des funktionierenden Spiels zugleich; er ist die Grundlage für die Sanktionsmacht, die es anerkannten Künstlern gestattet, durch das Wunder der Signatur (oder des Namenszugs) bestimmte Produkte zu heiligen. Um eine Vorstellung von der kollektiven Arbeit zu ermögli­ chen, aus der dieses Wunder hervorgeht; müßte man die Zirkulation der unzähligen Kreditakte rekonstruieren, die zwischen allen Akteuren des . Wieder liegt hier die Kapitaltheorie zugrunde, die die „Wertigkeit" der Kunst und Kultur erklären soll. Nun ist das symbolische Kapital aber ohne „materielle" Absicherung und nur als gegenseitiger Kredit im Tauschsystem eingeführt worden. Insofern hat es keinen wirklichen ma­ teriellen „Grund" mehr, auf den es verweist, es hat sich in unzähligen Akten des Aufeinander-Verweisens selbst erschaffen, ohne das System, welches das Feld der Kulturproduktion ist, verschwindet es; wie im Kre­ ditwesen erfolgt die Kapitalschöpfung „aus dem Nichts" . Die Kapital­ metaphorik führt hier den Kredit als Übertragungsakt ein, der Künstler hat einen symbolischen Vertrauensvorschuss, der es ihm ermöglicht, sei­ ne Werke zu „ heiligen" . Es ist also das Feld selber, das den kollektiven Glauben an den Wert der Kunst und Kultur in unzähligen Akten sym­ bolischer Übertragung stiftet. Damit erleben die Akteure im Feld der Kulturproduktion im Moment der Erfahrung der Kunst und Kultur als außergewöhnlicher Realität letztlich das Feld selbst als totales und kol­ lektives Phänomen. Wieder führt also Bourdieu die Kunstqualität, die er als symbolische theoretisiert, auf die Vorgängigkeit der sozialen Feld­ struktur hier auf die des Feldes als Tauschsystem - zurück. Wieder ist die symbolische Qualität bei Bourdieu verkürzt auf die Wahrnehmung der Sozialstruktur, auf dessen „ Hineinragen" in die Sphäre des wahr­ genommenen Sinns. Auch hier stellt sich deshalb wieder die Frage nach der semantischen Realität und Organisation der symbolischen Qualität von Kunst: wenn man die Wertschätzung von Kunst und Kultur als „kollektive Verken­ nung" im jeweiligen Feld der Kulturproduktion in der Außenansicht deutet was heißt dies für das kollektive Wissen von der Kultur in der Innen�nsicht der Felder? Denn hier muss diese besondere Bedeutung von Kunst bzw. allgemeiner Kultur als Kunst und Kultur im Wissen auf­ treten, thematisiert, begründet und so anerkennbar werden. Die religiöse Begrifflichkeit Bourdieus in der Erklärung der Wertig­ keit von Kunst und Kultur als Erleben der sozialen Totalität, die ihr Vor­ bild in der durkheimschen Religionssoziologie hat, leistet sicherlich, die nicht-profane Qualität von Kunst und Kultur zu beschrieben und ebenso zu beschreiben, dass es sich doch um einen sozialen Vorgang bei der Pro­ duktion der croyance handelt. 5 Aber dieser theoretische Zugang lässt 5 Die Religionssoziologie Durkheims postuliert, dass die kollektive Inkorpori ­ � rung der Sozialstruktur im religiösen Ritual eine geteilte und vorbewusste Kogm­ tion der sozialen Ordnung erzeugt. Die religiöse Erfahrung der Einteilung der To­ temtiere bei den australischen Ureinwohnern ist zugleich die vorreflexive Erfah­ rung der Einteilung der Klans. Die erfahrbare Einteilung der Dinge ist die damit erfahrene Einteilung der Menschen. Vgl. Durkheim (1981). 44 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion unbeantwortet, was der Glaubensinhalt und was die kognitive Organisa­ des Glaubens, des Wissens sein kann, in der die Sozio-Kognition von Kunst und Kultur als nicht-profaner Realität zustande kommt. Aber so wird hier argumentiert - erst von hier aus kann sich die Wertigkeit der kulturellen Genres ergeben, wenn man nicht saussuresch argumen­ tieren will, d. h. allein die korrespondierende Differentialität von Kul­ tursystem und Sozialsystem für ausreichend hält, sich damit aber die Arbitrarität (Willkürlichkeit) der Kopplung von Lebensstilgruppen und kulturellen Genres einhandelt. Bourdieu hat selber mehrfach auf die Be­ deutung von Diskursen für die Produktion des Wertes und des Sinns von Kultur hingewiesen. den. Diskurse werden als aus Sprechakten bestehend aufgefasst, die von Akteuren hervorgebracht werden, die im Feld Positionen einnehmen und vertreten. Die so gedachten Diskurse werden nicht als Praxisformen mit eigener Realität und sozialer Wirkmächtigkeit aufgefasst. Die Wirk­ mächtigkeit der bourdieuschen Sprechakte ist eine aus der Feldposition des Sprechers (und seinem sprachlichen Habitus) abgeleitete. Diskurse werden auch nicht als umfassende Wissenspraktiken gedacht und die Ordnung in Diskursen wird ebenfalls nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht. Hinter dem bourdieuschen Diskurs steckt eine andere Sozio­ Ontologie, deshalb kann eine diskursive Praxis für Bourdieu selbst nicht strukturbildend sein. Die Strukturalität feldgebundener Sprechakte wird von ihm auf die Feldstruktur selbst zurückgeführt. Vorgeschlagen wird deshalb, von Bourdieus „ Diskurstheorie" als von einer „Theorie des Sprechens" zu sprechen. 6 tion „The production of discourse (critical, historical, etc.) about the work of art is one of the conditions of production of the work. Every critical affirmation con­ tains, on the one hand, a recognition of the value of the work which occasions it, which is thus designated as worthy object of legitimate discourse (a recogni­ tion sometimes extorted by the logic of the field, as when for example, the pole­ mic of the dominant confers participant status on the challengers), and on the other hand an affirmation of its own legitimacy. Every critic declares not only his judgement of the work of art but also his claim to the right to talk about it and judge it. In short, he takes part in a struggle for the monopoly of legitimate discourse about the work of art, and consequently in the production of the value of the work of art. " (Bourdieu 1983:317) Die Wertproduktion durch Diskurse ist aus Sicht Bourdieus möglich, weil die Sprecher mit symbolischem Kapital (seien sie Kritiker, Rezen­ senten, Sammler, „ Experten" etc.) einflussreiche Feldpositionen einneh­ men und durch ihre Sprechakte (Kommentierungen, Deutungen, Würdi­ gungen etc.) zum Wert eines Objektes beitragen. Bourdieus Konzeption von „ Diskurs" ist diejenige einer feldgebundenen Sprechtätigkeit: Spre­ chern kommt als Vertretern von Gruppen im Feld sprachliches Kapital zu. Entsprechend verfährt Bourdieu in seinen „Diskursanalysen": ein­ zelne Begriffe oder Oppositionen werden auf die Feldstruktur bezogen, wie in der Untersuchung einiger Begriffe der Philosophie Martin Hei­ deggers, in welcher Bourdieu ( 1988) zu zeigen versucht, dass die heideg­ gersche Begrifflichkeit eine nicht nur philosophische, sondern auch eine politische Kodierung aufweist. Die wenigen semantischen Kategorien, die Bourdieu in seinen Untersuchungen (zum Beispiel in „Die feinen Unterschiede") aufgreift, sind an den großen Einteilungen der Gesell­ schaft orientiert und werden erklärend auf diese auch rückbezogen. Die materiale Sozialstruktur (die diejenige der Kapitalverteilung und der durch sie erwirkten sozialen Gegensätze ist) , scheint für Bourdieu auch in der kollektiven (und vorreflexiven) Sozio-Kognition durch. Bourdieus Diskurskonzept kann als eine feldtheoretisch erweiterte mit einem schwachen Diskurskonzept aufgefasst wer- Sprechakttheorie 45 Der Beitrag der bourdieuschen Theorie des Sprechens zur Erklärung der Wertigkeit kultureller Genres als auch semantischer Realität und als in einem Wissen (Glauben) organisierter Wert fehlt. Symptomatisch für das Fehlen einer Wissenstheorie und einer Theorie der Praxis der Kulturproduktion als Wissensproduktion ist insgesamt die bourdieu­ sche Interpretationsweise kultureller Wissensordnung: die Feldstruktur wird als Analyseraster für die Analyse kultureller Werke herangezo­ gen, weil die Struktur des Feldes als Produktionsbedingung kultureller Werk angesehen wird und sich im Werk niederschlägt (Bourdieu 1999, 36/144 f.). In seiner Deutung des Romans „Die Erziehung der Her­ zens" von Gustav F laubert (Bourdieu 1999) führt dies soweit, dass trotz der Einbeziehung von „Brechungseffekten" - der Romaninhalt wie eine Allegorie des literarischen Feldes in Paris zu F lauberts Zeit interpretiert wird. In der Analyse des Romans reifiziert Bourdieu so die Feldstruktur. 7 Es bleibt insgesamt das „Wertproblem" , womit bezeichnet wird, dass in der Theorie Bourdieus die Erklärung der lebensstilbezogenen Wertig­ keit der Kultur als im Wissen (Glauben) entstehender und (zumindest) vorreflexiv erfahrbarer Wert auf Strukturen und strukturierte Praktiken zurückgeführt wird (Feld und Habitus) , aber so als Bedeutung nicht er­ klärt werden kann und Bourdieus Deutung der Wahrnehmung von „ Wert" , eine Sozio-Kognition der Struktur selbst bleibt. Bourdieus 6 So auch der Titel einer Sammlung der wichtigen Arbeiten Bourdieus (1990) zu diesem Thema. 7 „In der Logik des literarischen oder künstlerischen Feldes [ . . . ] das Prinzip der Existenz des Kunstwerks in seinen historischen wie transhistorischen Mo­ menten zu suchen, bedeutet, dieses Werk als ein intentionales Zeichen zu behan­ deln, das von etwas anderem beseelt und bestimmt wird, dessen Symptom es auch ist." (Bourdieu 1999:15 f.) 47 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion Theorieanlage weist in dieser Hinsicht eine saussuresche Konstruktion auf: Die Beziehung zwischen Lebensstilkollektiven und kulturellen Genres erscheint weitgehend „ willkürlich" (arbiträr). In der Übernahme des saussureschen Strukturmodells, das auf Relationen anstatt auf Sub­ stanzen beruht, wird die Kulturproduktion auf ihre Differenzialität hin betrachtet, nicht dagegen auf den distinktiven Gehalt des kulturellen Wissens für Lebensstile. Damit kann man bei der Distinktionstheorie insgesamt kritisch anfragen: wie wird das identitätsstiftende Band zwi­ schen den Lebensstilen und der von ihnen als zugehörig empfundenen „ Kultur" im kulturellen Wissen gestiftet? Und warum gibt es diese kol­ lektiv empfundene Zugehörigkeit, die darin ihren Ausdruck findet, dass Lebensstilgruppen von „ ihrer" Kultur, „ ihren" Dingen usw. sprechen können? 8 Warum fehlt der bourdieuschen Theorie eine wissenssoziologi­ sche Perspektive, die die innere Organisation des Wissens daraufhin un­ tersuchen könnte, wie die lebensstilbezogene Wertigkeit als besondere Qualität im Genrewissen entweder praktisch hervorgebracht wird oder doch zumindest im Bereich des Wissens als systematische Organisation und nicht nur als grobe sozialstrukturelle Opposition wie „mager/fett" , „zart/grob" ihren Niederschlag findet? Man erkennt schnell, dass Bour­ dieus Semantikkonzept eigentlich die symbolische Repräsentation der sozialstrukturellen Zentralopposition „ oben/unten" ist und deshalb nur grob sein kann. 9 Man kann schließen, dass das saussuresche Struk­ tur- und Praxiskonzept für die Vernachlässigung der Semantik verant­ wortlich ist. Eine zu ergänzende soziologische Wissenstheorie, die den lebensstil­ bezogenen Gehalt kultureller Genres in der Organisation des Genrewis­ sens verorten zu können glaubt, hätte aber im Gegenzug nun bourdieu­ sche Anfragen zu beantworten, etwa wie die Distinktivität im Wissen zu­ stande kommt, wie die symbolische Abgrenzung zwischen den Lebens­ stilen im Wissen prozessiert wird und wie eine Veränderung der Wertigkeit im Wissen möglich ist, wenn zum Beispiel Genres populari­ siert werden und sie damit für bestimmte Lebensstilkollektive ihren dis­ tinktiven Wert verlieren. 46 s Bereits Levi-Strauss hatte diese Homologiekonzeption kritisiert als „Affekt­ theorie des Sakralen" (Levi-Strauss 1965: 94), siehe für eine Diskussion Diaz-Bo­ ne (2002). 9 Womit Bourdieu nicht über Durkheim hinauskommt. Beispielhaft für diese „Kurzschließung" von Sozialstruktur und Semantik ist bei Bourdieu folgende Passage: „Alle Akteure einer Gesellschaft verfügen in der Tat über einen gemein­ samen Stamm von grundlegenden Wahrnehmungsmustern, deren primäre Objek­ tivierungsebene in allgemein verwendeten Gegensatzpaaren von Adjektiven vor­ liegt, mit denen Menschen wie Dinge der verschiedenen Bereiche der Praxis klas­ sifiziert und qualifiziert werden. Dem weitläufigen Netz der Gegensatzpaare wie hoch (oder erhaben, rein, sublim) und niedrig (oder schlicht, platt, vulgär), spiri­ tuell und materiell, fein (oder verfeinert, raffiniert, elegant, zierlich) und grob (oder dick, derb, roh, brutal ungeschliffen), leicht (oder beweglich, lebendig, ge­ wandt, subtil) und schwer (oder schwerfällig, plump, langsam, mühsam, linkisch), frei und gezwungen, weit und eng, wie auf eine anderen Ebene einzig(artig) (oder selten, außergewöhnlich, exklusiv, einzigartig, beispiellos) und gewöhnlich (oder gemein, banal, geläufig, trivial, beliebig), glänzend (oder intelligent) und matt (oder trübe, verschwommen, dürftig)- diesem Netz als einer Art Matrix aller Ge­ meinplätze, die sich nicht zuletzt so leicht aufdrängen, weil die gesamte soziale Ordnung auf ihrer Seite steht, liegt der primäre Gegensatz zwischen der „Elite" der Herrschenden und der „Masse" der Beherrschten zugrunde, jener kontingen­ ten, amorphen Vielfalt einzelner, die austauschbar, schwach und wehrlos, von le­ diglich statistischem Interesse und Bestand sind." (Bourdieu 1982:730 f.) Die strukturalistische Annahme der Arbitrarität der Beziehung zwi­ schen kulturellen Genres und Lebensstilkollektiven wird damit einge­ schränkt: die Beziehung zwischen kulturellen Genres und Lebensstilkol­ lektiven ist herzustellen und damit voraussetzungsvoll, was durchaus heißt, dass die Beziehung kontingent (also historisch und praxisbedingt, damit wandelbar und auch anders möglich) ist, aber eben nicht mehr ar­ biträr! Die Distinktionsperspektive gilt es damit beizubehalten, aber zu er­ weitern. Es geht um eine kritische Erweiterung, nicht um eine Ersetzung des bourdieuschen Ansatzes. Denn dieser weist gegenüber einem saussu­ reschen Strukturmodell wichtige theoretische Verschiebungen auf: das Konzept einer strukturierten sozialen Praxis (die im Grunde Saussures Innovation in der Linguistik war) verknüpft Bourdieu mit einem Zwei­ Raum-Modell, das die Strukturalität des Sozialen im Moment repräsen­ tiert. Die Kopplung von Habitus und Struktur ermöglicht Bourdieu, die strukturierte habituelle Praxis als vermittelnde Praxis zwischen diesen beiden Räumen anzugeben und Bourdieu überträgt dieses Modell auf die unterschiedlichsten Felder der Kulturproduktion, in denen nun die Distinktion als vorreflexiver Konflikt um symbolische Aneignung (von Legitimierungsmacht und Definitionsrecht) aber auch als symbolische Auseinandersetzung im vollen Wortsinn stattfindet: symbolische Distan­ zen schaffend, grenzziehend und damit Identitäten artikulierend. Damit bringt Bourdieus Strukturalismus die Strukturen „ in Bewegung" , sie werden als veränderliche Strukturen auf ihre Entstehung hin analysiert, sie werden als Positionensysteme mit Unschärfen gedacht. Der struk­ turalistische Kern, der bleibt, ist die Homologiehypothese als praxisver­ mittelte Korrespondenz zwischen Räumen. Damit kann von Bourdieu ausgehend die Frage nach dem Zusammenhang von Ästhetik und sozia­ len Tiefenstrukturen gefragt werden. Die Bearbeitung dieser Fragestel­ lung kann - so wird hier argumentiert erst dann erfolgversprechend erfolgen, wenn der bourdieusche Ansatzes um eine Theorie der diskur­ siven Wissenspraxis und der Diskursordnung erweitert wird, so dass ei­ ne Erklärung der lebensstilbezogenen Wertigkeit kultureller Genres und der Homologisierung von Genrewissen und Lebensstilen möglich wird. 48 49 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion III. Diskurstheorie als Theorie der Wissenspraxis sage" (enonciation) . Ein Diskurs ist ein System von Aussagen, das durch eine einheitliche diskursive Praxis hervorgebracht wird. Als System ist der Aussagenzusammenhang der Bedingungskontext und Ermögli­ chungszusammenhang für weitere Aussagen. Die Einheitlichkeit wird durch die Integrität eines Sets von Regeln erreicht, die die diskursive Praxis an sich aufweist und denen eine solche Aussage in ihrer Hervor­ bringung unterworfen ist, die in einer Zeit in einem Feld Wirkung und Beachtung (damit soziale Effekte auslöst und schließlich auch die Auf­ zeichnung) erfahren kann. Diese Regeln haben nun keine andere Exis­ tenz als dass sie in der Aussagenproduktion „ am Werk" sind und damit in den Aussagen eines Aussagensystems materialisiert sind. Auch der Realitätsstatus der Aussagen ist ein besonderer. Foucault spricht von ih­ rer „ Ereignishaftigkeit" , womit gemeint ist, dass Aussagen zeitlich und durch ihre Position im Diskurs eine Einmaligkeit erhalten. Hier zeigt sich eine der vielen Differenzen zur Linguistik: Ein und derselbe Satz, der zweimal zu unterschiedlichen Zeitpunkten geäußert wird, stellt lin­ guistisch betrachten nur eine Wiederholung dar, diskursanalytisch be­ trachtet, liegen aber zwei verschiedene Aussagen vor. Denn der Informa­ tionswert und die Aussagewirkung, sowie der Kontext für jede der bei­ den Aussagen haben sich geändert. Dreyfuß und Rabinow (1987) haben anhand der Umschreibung der foucaultschen Aussage als „seriöser Sprechakt" versucht, die besondere Realität dieser Art von Aussage zu charakterisieren, die eben kein linguistischer Satz ist (der nur gramma­ tikalischen, nicht diskursiven Regeln unterworfen ist, um akzeptabel zu sein) und der auch kein Sprechakt ist (im Sinne Austins) , da es nicht um autonome Sprecher und deren „ Handlungen" geht. Das Aussagensystem ist der Ermöglichungszusammenhang für anschließende Aussagen. Fou­ caults sozio-ontologisches Prinzip ist die diskursive Praxis, die in sich regelhaft strukturiert ist und wie die bourdieusche Sozio-Ontologie als eine Dualität von Struktur und Praxis gedacht werden kann. (Wenn es bei Foucault eine Vorrangigkeit gibt, dann ist es hier die der Praxis ge­ genüber der Struktur.) Foucault sieht die diskursive Praxis verkoppelt mit nicht-diskursiven Formen von (z. B. institutionellen) Praktiken. Ins­ besondere über diese Verkopplung als Dispositiven ergeben sich die Machtwirkungen. Aber Diskurse sind selbstreglementierte Praktiken, die eine Realität sui generis, soziale Tatbestände im Sinne Durkheims sind, deren Wirkmächtigkeit und Realitätsstatus nicht aus anderen Prin­ zipien abgeleitet werden kann. Im Unterschied zur bourdieuschen Theo­ rie ist das Individuum (der Sprecher) nicht das Nadelöhr, dem sich die Struktur (wie in Bourdieus Theorie) als Habitus erst einlagern muss, um sich in einer anderen sozialen Sphäre strukturierend auswirken zu kön­ nen. Der Diskurs existiert als Aussagensystem, Foucault spricht auch von einem Feld der Aussagen. In der Diskursanalyse ist daher auch die und -struktur Eine Theorie der kollektiven Wissenspraxis, die das hier ausgemachte Defizit der bourdieuschen Soziologie ausgleichen kann, ist die Diskurs­ theorie im Anschluss an Michel Foucault. 10 Mit der „ Archäologie des Wissens" legt Foucault 1969 eine allgemeine Theorie des Diskurses vor, die ebenfalls ein Praxisprinzip mit einem Strukturkonzept in Verbin­ dung bringt. Als Praxisprinzip führt Foucault die von ihm so bezeichne­ te „ diskursive Praxis" ein, die in einem Feld als überindividuelle Praxis für die Hervorbringung und Ordnung des Wissens sowie die Reglemen­ tierung der Wissensreproduktion verantwortlich ist. Strukturiertes Re­ sultat ist die diskursive Formation, genauer die Organisation der Wis­ senskomplexe der „Begriffe" (Konzepte und deren Relationen) , der „Dinge" (der im Wissen auftretenden und dort in Beziehung gesetzten Sachverhalte und Gegenstände sowie ihrer Relationen) , der „ Sprecher­ position" (der Modalitäten des sich Äußerns, der akzeptablen rhetori­ schen Schemata, der sozialen Zuschreibung und Legitimierung der Sprecher) und der thematischen Wahlen (der Denkperspektiven und denkmöglichen Strategien) . In Anführungszeichen stehen diese Aspekte, weil sie in der Diskurstheorie als Resultat der diskursiven Praxis ver­ standen werden und nicht einfach die sprachliche Erfassung einer vor­ diskursiven Realität sind. Sie treten an der Oberfläche des Diskurses auf und werden von den Akteuren im Feld als „gegeben" , „ natürlich" , „evi­ dent" wahrgenommen. Im Zentrum der Diskurstheorie steht die „ Aus10 Eine solche Vermittlung der bourdieuschen Theorie an die foucaultsche ist bis heute in Frankreich fast undenkbar. Nicht deshalb, weil die Theorien sich auf­ grund ihrer Grundstrukturen nicht aneinander koppeln ließen, sondern weil im intellektuellen Feld Frankreichs eine Trennlinie zwischen der Philosophie und der (insbesondere empirisch orientierten) Soziologie verläuft, so dass die Arbeiten von Foucault und Bourdieu schlecht zusammen gedacht werden können. In den 1990er Jahren hat Bourdieu sich zunehmend und dabei eher kritisch auf Foucault bezogen. Die unterschiedliche Bestimmung des sozio-ontologischen Prinzips taucht in der bourdieuschen Kritik nur polemisch auf und wird nicht als An­ schlussmöglichkeit gesehen. Für Bourdieu bleibt Foucaults Theorie auf die Sphä­ re von Begriffen beschränkt. Für ihn verlagert Foucault die sozialen Gegensätze und Antagonismen (zwischen den Kulturproduzenten) „in den Ideenhimmel und weigert sich, die Kulturprodukte zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion in Beziehung zu setzen." (Bourdieu 1999:317). Zu Ausarbeitungen von Theoriesynthesen, die aufgrund des geteilten Hintergrundes von „Strukturalis­ mus" und dessen Entwicklung - man kann dies „Poststrukturalismus" oder mit Manfred Frank (1983) „Neostrukturalismus" nennen - möglich sind, ist es in Frankreich nicht gekommen. In Deutschland finden sich dagegen verschiedene Entwürfe für eine solche Integration in der Diskursforschung. Hannelore Bublitz (1999) hat insbesondere versucht, den Habitus-Begriff Bourdieus und den Dis­ kurs-Begriff Foucaults als Strukturkonzepte (für Macht und Raum) aufeinander zu beziehen, Schwab-Trapp (2001) verknüpft seine Foucault-Rezeption mit der Kapitalbegrifflichkeit und dem Feldkonzept Bourdieus. Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion Rede von einer „diskursiven Materialität" , womit zum Ausdruck ge­ bracht werden soll, dass erst durch die diskursive Praxis der soziale Sinn der „Dinge", „Konzepte" und „Ordnungen" entsteht und diese in Diskursen „real" und erfahrbar werden. Bei Konzepten wie „Freiheit" oder „Qualität" wird dies schnell einsichtig, denn solche Begriffe haben „keinen direkten empirischen Bezug": ihre Bedeutung entsteht durch ei­ nen Begriffskontext und die Weise ihrer Verwendung im Diskurs. Auch Objekte, die vermeintlich nur mit einem Begriff zu bezeichnen wären, „treten" im Diskurs mit Zuschreibungen, Klassifikationen und im Kon­ text auf, die Begriffe für Objekte werden aber nicht nur „semantisch präzisiert", sie treten an der Oberfläche des Diskurses als Wissenskon­ zepte erst hervor. Foucault hat deutlich formuliert, dass Kategorien wie „Autor" oder „Werk" nicht vordiskursiv evident sind. Tatsächlich muss jeder sozial wirksame und so prozessierbare Sinn durch diskursive Praktiken hervorgebracht werden, wenn er Teil eines nicht individuen­ gebundenen Wissensbestandes werden soll. Auch wenn Foucault diese Tiefenstruktur im Bereich der Wissenschaf­ ten untersucht hat, so beansprucht er doch für diese epistemai, dass sie als allgemeinere und kulturelle Grundmuster einer Gesellschaft ins­ gesamt aufgefasst werden können.11 Diese sind dann gleichzeitig im kantianischen Sinne die Vorausstattung für Denken und Erfahrung, da sie a priori die Verarbeitung sinnlicher Gegebenheiten vororganisieren und so auf tieferer Ebene eine Infrastruktur für den Sinn und das Erle­ ben darstellen. 50 Die Diskurstheorie ist (in der „Archäologie des Wissens") von Fou­ cault „nachgelegt" worden im Anschluss an die Untersuchung zur Tie­ fenstruktur des wissenschaftlichen Wissens in den drei Epochen Renais­ sance, Klassik und Moderne. In „Die Ordnung der Di:µge" (Foucault 1971) hat der Diskursbegriff zunächst nur einen eher peripheren Status. Der Diskursbegriff hat in der heterogenen Bewegung des französischen Strukturalismus Konjunktur und wird in den 1960er Jahren von fast al­ len namhaften Strukturalisten wie Levi-Strauss, Derrida, Barthes, La­ can verwendet. Der Diskurs ist zunächst nur der Ansatzpunkt für das strukturalistische Interesse. Der eigentlich interessierende Sachverhalt des Strukturalismus ist aber die in Diskursen auffindbare Tiefenstruk­ tur, die „Ordnung in den Diskursen". Dabei haben die verschiedenen Strukturalisten allerdings verschiedene Strukturbegriffe und -modelle ausgearbeitet. Foucaults epochale Untersuchung versucht darzulegen, dass das Wissen vom Sprechen (später wird dies die Linguistik), vom Le­ ben (später ist dies die Biologie) und vom Tauschen (später ist dies die Ökonomie) in den drei benannten Epochen ein den Epochen jeweils ge­ teiltes Grundmuster gemeinsam hatten, die von Foucault so benannten epistemai (im Singular episteme). Diese können verstanden werden als Schemata, die dafür verantwortlich sind, dass in allen drei Wissenschaf­ ten das Erklärungsmuster auf dieselbe Logik rekurriert. Die Existenz der episteme ist für die Menschen in einer Epoche vorbewusst, obwohl eine geteilte Voraussetzung. Foucault formuliert, dass es seiner Analyse darum gehe, ein „.. positives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: ei­ ne Ebene, die dem Bewußtsein des einzelnen Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist ..." (Foucault 1971: 11 f.; Herv. i. Orig.) . 51 „Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen. [ ..] Tatsächlich gibt es selbst für die naivste Erfahrung keine Ähnlichkeit, keine Trennung, die nicht aus einer präzisen Operation und der Anwendung eines im voraus bestehenden Kriteriums resultiert. [ ..] Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Din­ gen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. Und nur in den weißen Feldern dieses Rasters manifestiert es sich in einer Tiefe, als bereits vorhanden, als schweigend auf den Moment seiner Aussage Wartendes. . . Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungs­ schemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empi­ rischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfin­ den wird." (Foucault 1971:22) Die epistemai sind aber insofern nicht-kantianisch, da sie nicht als universell anthropologisch gedacht sind, sondern als Tiefenschemata historisch verstanden werden. Eine episteme ist bei Foucault eine um­ fassende symbolische Form mit Integrationsfähigkeit für je eine Epoche. Gegen dieses Konzept der episteme ist kritisch eingewandt worden, dass dieses selber Ausdruck der Struktur-Metaphysik des Strukturalis­ mus sei. Dabei übersieht die Kritik den nicht-universellen, sozio-his­ torischen Charakter der episteme, trifft aber aus soziologischer Sicht ih­ ren ungeklärten sozio-ontologischen Status und das Fehlen einer Anbin­ dung dieses foucaultschen Strukturkonzeptes an eine soziale Praxis. Mitte der 1960er Jahre überschreitet der Strukturalismus in Frankreich seinen Höhepunkt, und zeitgleich erstarkt die Kritik aus den eigenen Reihen in Form des (von der US-amerikanischen Derrida-Rezeption so bezeichneten) Poststrukturalismus (Dosse 1996; 1997).12 Die Zäsur zwi1 1 In diesem erweiterten Sinne versteht selbst Bourdieu (1998:58) als Kritiker Foucaults die episteme als das Kulturelle insgesamt und eben nicht nur als Er­ kenntnisform der Wissenschaft. 12 Dazu zählt die Kritik Derridas an dem Strukturkonzept (als geschlossener Struktur) im Strukturalismus als Fortsetzung des abendländischen und damit metaphysischen Unternehmens (Derrida 1974). 52 53 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion sehen Strukturalismus und seiner Radikalisierung trennt die foucault­ schen Arbeiten zur Tiefenstruktur des Wissens von der danach erschei­ nenden Diskurstheorie als Theorie der diskursiven Praxis. Von nun an gilt der Foucault der „Ordnung der Dinge" als noch strukturalistisch orientiert und die Arbeit zum episteme-Konzept mit der später erschei­ nenden „Archäologie des Wissens" als überholt. 13 Tatsächlich greift Foucault dieses Konzept später nicht mehr auf.14 Aber ist die Analyse von Tiefenstrukturen und damit die Theoretisierung und Anwendung der Analyse von epistemai ein „Opfer" des epistemologischen Bruchs zwischen Strukturalismus und „Postrukturalismus" ? Man sollte den Poststrukturalismus als eine radikalisierende Erweiterung des Struk­ turalismus verstehen, der ihn fortzusetzen versucht, nicht als eine Über­ windung des Strukturalismus (vgl. Frank 1983) . Die Diskurstheorie in der „Archäologie" kann entsprechend als eine Ausarbeitung einer So­ zio-Ontologie verstanden werden, die ein Strukturverständnis beinhal­ tet, das sich im Kontext des Poststrukturalismus zu einem Verständnis von offenen, regionalen Strukturen (Strukturalität) entwickelt. Wenn al­ so im Folgenden eine Reaktualisierung des Konzeptes von epistemai als Tiefenstrukturen und von Diskursen als regelhaften Aussagesystemen unternommen wird, so muss hier seit dem Spätstrukturalismus die Ko­ härenz der Struktur (die Einheitlichkeit der Regelsystem) als provisori­ sche und als auf eine Praxis, die sowohl eine Reproduktion als auch eine Bewegung (Veränderung) möglich macht, bezogen gedacht werden. Im Moment ist die Geschlossenheit (Kohärenz) der Struktur als eine nur virtuelle Geschlossenheit zu denken. 15 des Wissens" gefragt werden kann, ergibt sich eben aus Foucaults Hin­ weis, dass diese vier Bereiche der diskursiven Praxis nicht beliebig kombiniert sind, sondern wiederum einen wechselseitigen Ermögli­ chungszusammenhang bilden, dass sie sich gegenseitig „autorisieren" und bedingen (Foucault 1973, S. 106) . 16 Wenn also die vier Formations­ bereiche einen Zusammenhang bilden, bleibt die naheliegende Frage die nach der semantischen Form dieser Einheit (Identität) . Dass solche Tiefenstrukturen (wenn auch nicht mehr notwendig als die gesamte Kultur einer Gesellschaft integrierende) nach wie vor Gegenstand kul­ tursoziologischer Untersuchungen sind, zeigen äquivalente Konzepte, wie das der „fundamentalen Semantik" bei Gerhard Schulze (1992) . Auch die systemtheoretische Kontroverse zwischen der parsonsschen Position und derjenigen Luhmanns, ob die Kultur ein System sei und ob von ihr aus soziale Evolution initiiert werden könne, greift dieses Verhältnis von kulturellen Tiefenstrukturen und anderen sozialen Sphären auf (Hahn 2 003) . 17 Auch wenn in der Archäologie das Konzept der episteme nicht weiter aufgegriffen wird, ist die Frage nach Tiefenstrukturen als semantischen Ordnungen auch für poststrukturalistische Diskursanalysen relevant. Denn den vier Bereichen der diskursiven Formation fehlte sonst ein ge­ meinsamer „Nenner" , der die Organisation des Diskurses ausmacht, sie könnten als unsystematisch gruppiert missverstanden werden. Dass nach der „Logik" der Integration der vier Bereiche der diskursiven For­ mation als einer semantischen Struktur auch nach der „Archäologie 13 Beispielhaft für diese Sicht ist Privitera (1990;) Der Begriff episteme wird in der „Archäologie des Wissens" (1973: 272 f.) nur im engen Sinne für die Erkenntnisform der Wissenschaft verwendet, nicht mehr als allgemeines kulturelles Grundmuster. Interessanterweise distanziert sich aber Foucault von seinem episteme-Konzept in „Die Ordnung der Dinge", indem er formuliert, man habe glauben können, es gehe ihm dort um eine Analyse „kul­ tureller Totalitäten" (1973: 29), was für die obige Deutung spricht, dass die episte­ me anfangs noch weit gefasst war. 1 5 In dieser Denkrichtung ist in der „poststrukturalistischen Soziologie" von der Unabschließbarkeit der Diskurse die Rede (Stäheli 2000), das Modell der dif­ ferance von Derrida (1974) radikalisiert diese Offenheit des Sinns. 14 Die foucaultsche Theorie wird in der Soziologie so rezipiert, als ob die Frage nach der semantischen Tiefenstruktur des Diskurses heute nicht mehr ansteht. Hier steht bislang vor allem die foucaultsche Theorie des Macht-Wissens, seine Analyse der Moderne als Disziplinierungsgesell­ schaft, dann auch die kritische Theorie des Diskurses, weniger die Dis16 „[ . . ] wenn man von einem Formationssystem spricht, denkt man nicht nur an das Nebeneinanderstellen, die Koexistenz oder die Interaktion von heteroge­ nen Elementen [ ... ] , sondern an die Herstellung einer Beziehung zwischen ihnen - und zwar in einer sehr bestimmten Form - durch die diskursive Praxis. Aber was hat es nun mit diesen vier Systemen ihrerseits oder vielmehr mit diesen vier Bündeln von Systemen auf sich? Wie können sie für sie alle ein einziges Formati­ onssystem definieren? Das liegt daran, daß die verschiedenen so definierten Ebenen nicht voneinander unabhängig sind. Wir haben gezeigt, daß die strategische Wahl nicht direkt aus einer Weltsicht oder einer Vorherrschaft von Interessen hervortritt, die diesem oder jenem sprechenden Subjekt eigen wäre; sondern daß ihre Möglichkeit selbst durch divergierende Punkte im Spiel der Begriffe determiniert wird; wir haben auch gezeigt, daß die Begriffe nicht direkt auf dem annähernden, konfusen und lebendigen Hintergrund der Ideen gebildet wurden, sondern .!lusgehend von For­ men der Koexistenz zwischen den Aussage: hinsichtlich der Außerungsmodalitä­ ten sahen wir, daß sie ausgehend von der Position beschrieben wurden, die das Subjekt in Beziehung zum Gebiet der Objekte einnimmt, über die es spricht. Auf diese Weise existiert ein vertikales Abhängigkeitssystem: Alle Positionen des Sub­ jekts, alle fypen der Koexistenz zwischen Aussagen, alle diskursiven Strategien sind nicht gleichermaßen möglich, sondern nur diejenigen, die durch die vorher­ gehenden Ebenen autorisiert wurden." (Foucault 1973:106) 17 Ein weiteres vergleichbares Konzepte wäre in der Sprachphilosophie Blu­ menbergs (1998) die „absolute Metapher". Auch gibt es soziologische Konzepte, die ebenso grundlegendere Sinnstrukturen bezeichnen, wie das „Deutungsmus­ ter" bei Oevermann oder die Rahmen bei Goffman. Im Unterschied zu den beiden letzten genannten, bezeichnet die foucaultsche episteme die grundlegendste epo­ chale Sinnordnung. . 54 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion kursanalyse als empirischer Forschungsansatz kultureller Wissensord­ im Vordergrund. (FDA) bezeichneten Diskursforschung organisiert.18 Pecheux hat mehr­ fach die Diskurstheorie um neue Konzepte erweitert und versucht, die Diskurstheorie in ihrer jeweiligen Ausarbeitung in eine (epistemologisch reflektierte) Methodologie umzusetzen.19 Er hat aus dem weiteren Kon­ text des französischen Strukturalismus verschiedene Theorien heran­ gezogen und diese mit der foucaultschen Diskurstheorie synthetisiert. Seine Diskursforschung ist durch zwei für ihn notwendig zusammen­ hängende Motivstränge charakterisierbar, ein diskurstheoretisches und ein diskursanalytisches. nungen Wenn aber die Aussagen als Zusammenhang ein System bilden, dann muss die Systematik (d. i. die Struktur des Systems) durchaus früher oder später wieder ein Thema der diskursanalytischen Rekonstruktion werden. Das Interesse an der Analyse der tiefer liegenden semantischen Ordnungen (die die Intelligibilität des Aussagensystems für die soziolo­ gische Rekonstruktion ausmacht) gilt es deshalb im Rahmen der Dis­ kursforschung im Anschluss an Foucault wiederaufzugreifen. Denn sonst muss die Einheit und Identität der diskursiven Praxis außerhalb ihrer selber gesucht werden und analytisch anderen Quellen als ihrem eigenen Prozessieren zugeschrieben werden. Gerade dieses Denken in einfachen Abhängigkeiten der Wissensordnung von anderen Realitäten (wie in dem Basis-Überbau-Denken) hat die foucaultsche Diskurstheo­ rie (wie andere Strukturalismen) ja zu vermeiden gesucht. Heute geht es darum wie gezeigt werden soll - diese Wissensordnung nicht als auto­ nome Strukturen zu verabsolutieren, sondern sie mit Praktiken zusam­ men zu denken und so in Beziehung zu setzen zu den anderen Struktur­ prinzipien. In der „Archäologie des Wissens" galt es zunächst, die Strukturen des Strukturalismus „in Bewegung" zu bringen. Hier hat die Theoretisie­ rung der Praxis und der Öffnung des Strukturkonzepts Priorität. Ent­ sprechend ist die Ereignishaftigkeit der Aussage eine Quelle für Brüche und die Reorganisation der Regelsysteme in Diskursen. Foucault hebt damit hervor, dass aus den Diskursen selbst Irritation und Veränderun­ gen hervorgehen. Der von Nietzsche entlehnte Begriff der „Genealogie" soll solche Veränderungs- und Zeitlichkeitsmetaphern ersetzen, die eine Entwicklung als Hervortreten eines bereits eingelagerten Prinzips unter­ stellen. Aber: die Begrifflichkeit des Bruchs oder der Diskontinuität und der nicht teleologischen Veränderung von Wissensordnungen waren be­ reits in „Die Ordnung der Dinge" enthalten. Und: die Theoretisierung des Ereignishaften und der Praxis muss wieder bezogen werden auf de­ ren Strukturalität. IV. Die Materialität des Interdiskursraums Die foucaultsche Diskurstheorie hat in Frankreich einen disziplinenü­ bergreifenden Einfluss ausgeübt. In Frankreich hat sich eine bis heute kontinuierlich entwickelnde Tradition der Diskursforschung heraus­ gebildet, die seit Ende der 1960er Jahre versucht, die Diskurstheorie in empirische Forschungsprogramme umzusetzen. Insbesondere um Michel Pecheux hat sich das Feld der fortan als „french discourse analysis" 55 Einmal hat Pecheux mit seinen diskurstheoretischen Arbeiten ver­ sucht, eine diskurstheoretische Fundierung der Semantik zu entwickeln. Dabei ging es ihm den Nachweis, dass die Bedeutung abhängig von der diskursiven Formation ist, in dem sie als Effekt hervortritt. Soweit han­ delt es sich noch um eine foucaultsche Perspektive. Unter Hinzuziehung der althusserschen Ideologietheorie, die nicht nur die Eigenständigkeit der Sphäre der Ideologie betont, sondern die Sphäre der Ideologie als in sich widersprüchlich begreift, kann Pecheux nun in diskursvergleichen­ der Perspektive zeigen, wie die Semantik von Begriffen systematisch in Abhängigkeit des politischen Standortes variiert. Damit kommt nun ei­ ne sozialräumliche Sicht auf diskursive Formationen hinzu. Letztere werden bei Pecheux innerhalb des umfassenden Interdiskurses sozial verortet. Im Laufe der Theorieentwicklung gewinnt der Interdiskurs bei Pecheux das theoretische und methodologische Primat gegenüber den einzelnen diskursiven Formationen. Wie kein anderer vor ihm hat Pe­ cheux zum anderen den Zusammenhang von Diskurstheorie und Dis­ kursanalyse in seiner Arbeit zu realisieren versucht. Hierbei galt seine methodologische Sorge der Entwicklung einer Methodik der Diskur­ sanalyse als einer kontrollierten „Lesart" von Diskursen. Erst eine theo­ retisch angeleitete Konstruktion eines Korpus und eine daran anschlie­ ßende Anwendung eines diskursanalytischen Verfahrens zur Freilegung der Diskursstruktur galten ihm als Möglichkeit der theoretisch kontrol­ lierten Interpretation von Diskursen. Einige diskursanalytische Theoreme und deren Umarbeitung bei Pe­ cheux können herangezogen werden, um ein Raumkonzept für die dis­ kursiven Formationen zu entwickeln, das sich an Pecheuxs Interdiskurs­ konzept anlehnt und mit dem die beiden durch Bourdieu eingebrachten Räume zu einem Modell nun dreier Räume vervollständigt werden kön­ nen. 18 Für eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der FDA siehe Williams (1999). 1 9 Siehe dafür die Beiträge in Hak/Helsloot (Hrsg.) (1995). Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion Pecheux (1995) hat drei Stadien seiner Diskursforschung unterschie­ den. Zunächst wurde in einer ersten Phase der Diskursforschung ver­ sucht, die foucaultsche Diskurstheorie mit Hilfe einer computergestütz­ ten formalen Analyse empirisch umzusetzen. Hierfür hat sich Pecheux linguistischer Analysestrategien bedient, um diskursive Formationen materialisiert in Form eines Textkorpus - auf die darin enthaltene Dis­ kursstruktur zu untersuchen. Die theoretische Vorgabe war, dass dieser Textkorpus als Resultat eines einheitlichen diskursiven Produktionspro­ zesses betrachtet werden konnte, dass man also begründet annehmen konnte, dass man es mit einem einheitlichen Regelsystem der Aussagen­ produktion zu tun hatte. Hier zeigt sich auch, wie die Diskursforschung von Pecheux die foucaultsche überschreitet: Pecheux analysiert nicht nur wie Foucault vergleichend Diskurse, sondern unternimmt dies mit Hilfe einer systematischen diskursanalytischen Methodologie (was eine epistemologischen Reflexion auf das Wie der Diskursanalyse erst mög­ lich macht) und er weist nach, dass einzelne diskursive Formationen so­ zialstrukturell verortbare Materialitäten in einem weiteren sozialen Dis­ kursraum sind.2 0 Die hier eröffnete Perspektive ist fortan die von diskur­ siven Formationen und ihren Diskursumwelten, die von Pecheux später Interdiskurse genannt werden. Hier sind die einzelnen Diskurse abge­ grenzte Zonen, in denen die Semantik hervorgebracht wird und die inso­ fern das (bedeutungsstiftende) Primat gegenüber ihrer Umwelt inne ha­ ben. thusser vom „complex whole in dominance") ein diskursiver Raum mit darin enthaltenen semantischen Widersprüchen ist, welche in die einzel­ nen diskursiven Formationen hineinragen. Im Interdiskurs zirkulieren Bedeutungen, die in diskursiven Formationen auf ein „Anderswo" ver­ weisen, die als „Präkonstruiertes" in einzelne diskursive Formationen hineinwirken und dort für semantische Irritationen sorgen. Die Abge­ schlossenheit einzelner Diskurse ist nun ein „paradoxer Effekt": diskur­ sive Formationen suchen die durch ihre Umwelt eingebrachte semanti­ sche Irritation zu verbergen und streben nach semantischer Evidenz ih­ rer Elemente (Pecheux 1982 , S. 113).2 1 Ihre Abgeschlossenheit (ihre Grenzziehung) ist somit eine Reaktion auf ihre unvollständige diskursive Eigengesetzlichkeit. Entsprechend ist nun von der interdiskursiven Ma­ terialität die Rede (Pecheux 1983). 56 Die nächste, zweite Phase der Diskursforschung bei Pecheux ist durch die Vorrangigkeit des Inderdiskurses gekennzeichnet. Hierbei werden die diskursiven Formationen nicht mehr als abgeschlossene Regelsyste­ me gedacht, die alleine die Bedeutungsstiftung bewirken, sondern es wird angenommen, dass die Interdiskurse als Umwelten in die diskur­ sive Formation hineinreichen. Althusser (1973) zufolge, ist die Sphäre der Ideologie die Sphäre der sozialen Auseinandersetzungen um die dis­ kursive Hegemonie. Pecheux deutet die althussersche Ideologietheorie nun diskurstheoretisch: Innerhalb der ideologischen Staatsapparate existieren viele diskursive Formationen die jeweils einer sozialen Positi­ on entsprechen. Die Sphäre der Ideologie wird nun als Wissensraum ver­ allgemeinert und als Interdiskurs gedeutet. Die darin enthaltene Kon­ fliktlogik wird diskurstheoretisch gleichgesetzt mit einer im Interdis­ kurs angelegten semantischen Widersprüchlichkeit. Die Vorrangigkeit des Interdiskurses besteht nun für Pecheux darin, dass der Interdiskurs als hegemonialer Diskursverbund (Pecheux spricht in Anlehnung an Al20 Der Ausdruck „diskursive Materialität", der die besondere Realität (Ontolo­ gie) des Diskurses bezeichnen soll, ist nicht zu verwechseln mit den Medien (Tex­ ten, Filmen oder anderen sinnspeichernden Materialien), die die materielle Reali­ tät Diskurse archivieren können. 57 Während diese zweite Phase der Diskursforschung bei Pecheux zu ei­ ner umfassenden Reorientierung und Reformulierung der Diskurstheo­ rie, aber noch nicht zu einer Umarbeitung der Diskursanalyse geführt hat, ist die letzte, dritte Phase der Diskursforschung von Pecheux nur eingeleitet worden und die Darstellung dieser diskurstheoretischen Po­ sition nur skizzenhaft vorhanden.22 Hier soll nicht den epistemologischen Problemen der diskurstheoreti­ schen Verschiebungen bei Pecheux nachgegangen werden, vielmehr ist hier bedeutsam, dass man bei Pecheux ein Raumkonzept von diskur­ siven Formationen im Interdiskurs mit bestimmten Eigenschaften ent­ lehnen kann. Diskursive Formationen setzen sich demnach von dem um­ gebenden Interdiskursraum als Diskurszonen ab, welche in dieser Ab­ setzbewegung von ihrer diskursiven Sinnumwelt nach einer Kohärenz ihrer Regelmäßigkeiten, das heißt konkret nach evidenter Bedeutung ih­ rer Elemente streben und das Hineinreichen des Interdiskurses zu ver­ bergen trachten. Denn in diesen diskursiven Formationen sind Konzepte aus dem Interdiskurs in besonderer Weise in Aussagen einbezogen, sie sind mit einer für diese diskursive Formation spezifischen (interdiskur­ siven) Vor-Bedeutung versehen und müssen bzw. können diskursiv bear­ beitet („ umdiskursiviert") werden. Im Gegenzug vernetzt der Interdis2 1 „The notion of interdiscourse is introduced to designate the ,specific exte­ rior' which interrupts into a discoursive formation and constitutes it as a site of discoursive obviousness subject to the law of closed structural repetition. The clo­ sure of the machine is therefore retained, but it is now seen as a paradoxical result of the irruption of an external and pre-existing elsewhere." (Pecheux 1995, S. 237) 2 2 Hier gewinnt die Interdiskursivität als paradoxe Figur die Oberhand: Pe­ cheux versucht in einzelnen diskursanalytischen Interpretationen Diskursfäden zu identifizieren, die nicht mehr als Elemente eines Korpus Resultat einer diskur­ siven Formation) angesehen werden, sondern als das Ko-Resultat verschiedener (im obigen Sinne nicht vollständig autonomer) diskursiver Formationen betrach­ ten werden. 59 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion kurs diskursive Formationen, indem er Begriffe aus einzelnen Diskursen über diese hinaus in einem gesellschaftlichen Wissensraum zirkulieren lässt. Der Interdiskurs und einzelne diskursive Formationen stehen so in einem strukturbildenden System-Umwelt-Verhältnis. 2 3 Piercing, Fitnesskulte), der Computerkulturen (Spielekulturen, Chat­ kulturen etc.) und anderer Freizeitbeschäftigungen beanspruchen für sich diese Eigenschaft, Genres mit Geschichte und Systematik zu sein. Sowohl die Ordnung der Genres insgesamt, als auch deren Binnenord­ nungen sind jeweils sozial konstruiert, da sie Resultat der Kombination diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken sind. Wird Kulturprodukti­ on als wesentlich diskursiv aufgefasst, hat dies Folgen für den verwende­ ten Genrebegriff: Genres sind dann auch Diskursordnungen. Die Dis­ kurstheorie kann einen Zugang zur Erklärung (und zur Analyse) der le­ bensstilbezogenen Wertigkeit von Kultur jenseits von Ästhetizismus und Soziologismus eröffnen. 2 4 58 V. Diskursive Kulturproduktion Diese diskurstheoretischen Überlegungen können nun bezogen wer­ den auf das eingangs formulierte Fehlen einer eigengesetzlichen Wis­ senssphäre in der bourdieuschen Sozialtopologie (dem Zwei-Raum-Mo­ dell von sozialem Raum und Raum der Lebensstile) . Die diskursive Kul­ turproduktion ist der Vorgang, in dem das Band zwischen den Lebens­ stilkollektiven und den kulturellen Genres gestiftet wird. Hier wird ein weit gefasster Genrebegriff eingeführt, der sich auf die Systeme der kul­ turellen Objekte als auch der kulturellen Praktiken bezieht. Im kulturellen Wissen treten nicht nur solche „Themen" wie Malerei, klassische Musik, Tanz, Theater, Literatur, Fotografie als Genres auf, sondern auch Systeme der populären Kultur wie Film, Comics, populäre Musiken, Mode werden als solche diskursiviert. Genrefähig erscheinen aber auch die Welten der Dinge, wie der Uhren, des Schmucks, des Weins, der Automobile usw. Man kann all die Dinge des Alltags, die sich sammeln, systematisieren, bewerten und so klassifizieren lassen als Genres auffassen. Hier entstehen eigene arbeitsteilige Welten mit Dis­ kurspositionen („Experten", „Agenten", „Kritikern", „Konsumenten", „Produzenten" u. a.), eigenen Problematisierungen und Narrationen, „Gesellschaften" (Vereine, Clubs etc.), Ökonomien (Verlage, Vertriebe, Produktionsfirmen, Redaktionen) und eigenen Medien (wie Special-In­ terest-Zeitschriften, eigenen Fernsehsenden oder Radioformaten) . Aber nicht nur die Konsumgüter, auch Praxisformen wie die mittlerweile un­ übersehbare Zahl der Sportarten, der Sammlerkulte, der Bastlerkultu­ ren (z. B. das Heimwerken, das Auto-Tuning), der Körperkulte (Wellness, 23 In Deutschland hat insbesondere Jürgen Link die Arbeiten von Pecheux auf­ gegriffen. Sein Interdiskurskonzept unterschiedet sich dahingehend vom dem Pe­ cheuxs, dass Link vorrangig untersucht, wie in Interdiskursen Elemente von Spe­ zialdiskursen aus funktional differenzierten Bereichen mit Hilfe von Kollektiv­ symbolen popularisiert und so in den Interdiskurs aufgenommen werden. Link hat die sogenannte Kollektivsymbolanalyse als Form der Interdiskursanalyse wei­ terentwickelt. Link nimmt an, dass die Kollektivsymbole in massenmedial gesät­ tigten Gesellschaften ein System bilden, das er „System synchroner Kollektivsym­ bole" nennt. Dieses System ist von Pecheux (1984) als eine moderne Variante der foucaultsche Episteme identifiziert worden. Interessanterweise findet sich damit bei einem der einflussreichsten deutschsprachigen Diskurstheoretiker ebenfalls eine nachstrukturalistische Perspektive, die nach der Tiefenstruktur des diskur­ siven Wissens fragt. Das Zentralargument des Ästhetizismus ist, dass die Bedeutung und der lebensstilbezogene „Appeal" in den Dingen und den Praktiken als Aspekt ihrer Materialität enthalten ist. In der Kunst bedeutet dieses, dass der Gehalt der Werke in ihren Formen bestehe. Die Rückführung des Gehaltes von Kultur auf ihre Materialität, auf ihre Formen verkürzt die Kulturproduktion auf die Herstellung der materialen Objekte (bzw. auf die Durchführung der kulturellen Praktiken) und verfehlt damit aus diskurstheoretischer Sicht die vollständige Erklärung des Sinns der Kultur. Dass der Sinn nicht auf die Formen reduzierbar ist, zeigt sich, anhand des Möglichkeitsspektrums für unterschiedliche Rezeption und Interpretation. Dieses Spektrum wird durch die Formen unterschiedlich eingeengt, aber insgesamt bleiben kulturelle Objekte und kulturelle Praktiken semantisch offen, ihr Sinn wäre allein aufgrund der Formen noch unbestimmt. Der soziale Sinn, das was mit den Genres verbunden wird, wofür sie stehen sollen, warum sich soziale Kollektive unter­ schiedlich mit ihnen verbunden fühlen, warum sie als kultureller Aus­ druck von Identität gelten usw, kann damit nicht erklärt werden. Ins­ besondere die Tatsache, dass sich der soziale Sinn von Kultur ändern kann, kann so schwerlich durch den Ästhetizismus rekonstruiert wer­ den, wenn die Formen sich nicht ändern. 2 5 Das Zentralargument des Soziologismus ist, dass der soziale Sinn, die distinktive Kraft kultureller Genres durch die sozialen Gruppen gestif­ tet wird, die sich mit den kulturellen Objekten und Praktiken ausstat­ ten. Dieser Zugang sieht weitgehend ab von der Materialität der Kultur, aber auch von dem kulturellen Genrewissen und der Kulturproduktion 24 Diese Differenzierung hat Vera Zolberg (1990) kritisch eingeführt. Lawrence Levine (1988) hat eindrucksvoll gezeigt, wie sich der soziale Sinn der Stücke Shakespeares in den USA gewandelt hat. Zu Beginn des 19 . Jahrhun­ derts sind die Theaterstücke Shakespeares „popular culture". Zum Ende dessel­ ben Jahrhunderts sind sie konstitutiver Teil der „highbrow"-Kultur, der (rassisch kodierten) „Hochkultur". Diese Transformation des distinktiven Sinns erfolgt, ohne dass die Formen, also die Schriften Shakespeares sich verändert hätten. 25 61 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion insgesamt, in welcher das Band zwischen den Lebensstilkollektiven und den Genres hergestellt wird. Dem Soziologismus kommt es eher auf den Nachweis an, dass die vorhandenen Genres einer Gesellschaft insgesamt ein System bilden, anhand dessen die sozialen Lebensstilgruppen unter­ einander eine systematische Positionierung zum Ausdruck bringen kön­ nen. Der Soziologismus verfehlt somit überhaupt die eigene Materialität und Realität der Kultur, sei sie als Wissensordnung oder als Form vor­ handen. 2 6 Crane hat die verschiedenen Bestandteile der Kulturwelt aufgeführt und dabei auf die Rolle der kulturweltlichen Medien für die Diskursivie­ rung der Genres hingewiesen. 60 Das diskurstheoretische Argument, das diesen beiden Positionen ent­ gegengesetzt wird, ist, dass die Wertigkeit kultureller Objekte oder kul­ tureller Praktiken durch die diskursive Praxis in Kulturwelten und die sich darin abzeichnende Tiefenstruktur, die hier im Anschluss an Fou­ cault Sozio-Episteme genannt wird, hervorgebracht wird. Das Konzept der Kulturwelten hat Diana Crane ( 1992) eingeführt. Kulturwelten sind die sozialen Teilfelder, in denen Akteure, Institutionen und Praktiken an der Produktion der Kultur zusammenwirken. Crane hat sich an der Ana­ lyse der Kunstwelten von Howard S. Becker orientiert und den Institu­ tionalismus in der Kultursoziologie (die sogenannte „production of cul­ ture perspective") damit auf den Weg gebracht. Hierbei kommen nicht­ diskursive Praktiken (handwerkliche, technische Abläufe) mit diskur­ siven Praktiken in der Kulturproduktion zusammen. Einen bedeutenden Anteil an der Kulturproduktion haben hierbei autorisierte Kommenta­ toren, die Becker aesteticians (wie Kritiker, Galeristen, Kunstwissen­ schaftler) genannt hat, die bedeutende Sprecherpositionen im kultur­ weltlichen Diskurs einnehmen. Für Becker sind Kunstwelten Interpreta­ tionswelten, in denen der Sinn der Kunst kollektiv hervorgebracht wird und die Kunst neben ihrer Dinghaftigkeit eine diskursive Materialität erhält. Becker zufolge sind die Akteure der Kunstwelt mehrheitlich in den permanenten Prozess der Ästhetisierung eingebunden, in welchem die Kunstwelt sich permanent reproduziert. „Most participants in art worlds make aesthetic judgements frequently. Aesthe­ tic principles, arguments, and judgements make up an important part of the body of conventions by means of which members of art worlds act together. " (Becker 1982:131) 2 6 Die bourdieusche Position kann so in die Nähe zum Soziologismus gerückt werden. Auch makrosoziologische Ansätze, wie Paul DiMaggios Versuch, die Struktur der Genre-Klassifizierungen (artistic classification systems) mit der So­ zialstruktur in Beziehung zu setzen, berauben sich der Möglichkeit, die Sphäre der Kultur (wie auch immer man deren Materialität soziologisch fassen kann) zum Analysematerial zu machen. Die ästhetischen Positionen Adornos oder Luh­ manns (19 95) kann man dagegen der Position des Ästhetizismus zuordnen, denn sie suchen in den formalen Aspekten der Werke selber den Wert bzw. die Kom­ munikationsabsichten . „(1) Culture creators and support personnel who assist them in various ways. (2) Conventions or shared understandings about what cultural products should be like; these are important in providing standards for evaluating and appreciating cultural products. (3) Gatekeepers, such as critics, curators, disc jockeys, and editors, who evaluate cultural products . (4) Organizations within which or around which many of these activities take place such as those in which cultural products are displayed (for example museums and art galleries), those in which they are performed (for example, theaters, symphony orchestras, and clubs), and those in which they are produced (for example, small record companies, publishing houses, and magazines). (5) Audiences whose characteristics can be a major factor in determining what types of cultural products can be displayed, performed, or sold in a particular urban setting. " (Crane 1992, S. 112) Den Vertretern der Produktionsperspektive ist gemeinsam, dass sie neben der Feldstruktur auf die Bedeutung der Interpretativität der Kul­ tur sowie auf die evaluative Realität dieser Ästhetisierung (Becker) hin­ weisen. 2 7 Die diskursive Kulturproduktion tritt zu Tage, wenn man zwi­ schen den Formen, die sich als materiale Eigenschaften an den kulturel­ len Objekten (bzw. den kulturellen Praktiken) aufweisen lassen einer­ seits und den in Diskursen enthaltenen Schemata, die im Diskurs als Oppositionen und Semantiken auftreten andererseits unterscheidet (Ab­ bildung 1) . In kulturweltlichen Diskursen erfolgt die Kopplung beider. Hier wird der permanente Produktionsstrom kultureller Objekte im Wissen aufgenommen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Kom­ mentierung. Die diskursive Praxis ist keine Abbildung nicht-diskursiver Sachverhalte oder Vorgänge. Im Diskurs treten „Objekte" (wie „Autor", „Musiker", „das neue Werk") als Diskursfakten an der Oberfläche her­ vor und werden als Konzepte auf die akzeptablen ästhetischen Katego­ rien bezogen. Die diskursive Praxis beinhaltet Oppositionen, Grundkon­ zepte, die die an der Oberfläche des Diskurses hervortretenden Objekte und Begriffe ästhetisch rahmen und das Genrewissen mit Schemata aus­ statten. Diese durch die diskursive Praxis erfolgende Ästhetisierung muss in jeder Kulturwelt drei Themenkomplexe abarbeiten: diejenige der Pro­ duktion, der Rezeption und der Lebensstileinbindung. 2 8 Diese Themati27 Peterson (1994, S. 165). Als Orientierung haben drei prominenten Optionen für den Entwurf ästheti­ scher Systeme gedient, wie sie bei Plumpe (19 95) dargestellt worden sind, die hei­ deggersche Position einer Herstellungsästhetik (poesis), die kantische Position ei­ ner Rezeptions- und Wahrnehmungsästhetik (aisthesis) und die nietzeanische Po­ sition einer Ästhetik als Projekt eines schönen Lebens. 28 62 Diskursive Kulturproduktion Rainer Diaz-Bone ästhetischer Aspekt enthalten in kulturelle Formen (Harmonien, Kompositionen, Stil) kulturellen Materialien (Musiken, Bildern, Texten, Partituren etc.) Schemata (Oppositionen, Semantiken) (für Bewertung, Beurteilung, Begründung) kulturweltlichen Diskursen Abbildung 1: Differenzierung von Formen und Schemata sehen Komplexe lassen sich schwerpunktmäßig unterscheiden, sie grei­ fen aber ineinander und bilden eine organisierte Gesamtheit. (1) Der Themenkomplex der Produktion betrifft hauptsächlich die dis­ kursive Aktivität über die richtige Weise der Herstellung der kulturellen Objekte (bzw. der Durchführung der kulturellen Praktiken) . Die evaluie­ renden Aussagen über die legitime Herstellung der kulturellen Objekte (bzw. Praktiken) beziehen die Herstellung auf die Qualität der Resultate und die zulässigen Beurteilungskriterien für die Beurteilung der Quali­ tät. Hierzu zählen auch die auftretenden Wissenskonzepte, die den be­ sonderen, nicht-profanen Status sowohl der Objekte (Praktiken) als auch ihrer Produzenten (der Künstler oder allgemein der Kulturschaffenden) im Diskurs tragen können (wie Genialität, Geist, Kreativität, Perfektion etc.) . Die Ontologie der Kultur wird hier verhandelt, d. h. geklärt, was eigentlich die auratische Qualität „Kunst" (allgemeiner „Kultur") für sich beanspruchen können soll und was die im Wissen repräsentierte Einheit und Realität des Werks ist. In der klassischen Musik finden sich zum Beispiel verschiedene diskursive Angebote dafür: besteht das „ei­ gentliche" Werk der klassischen Musik nun in der Partitur (gar in der Originalhandschrift des Komponisten) oder lebt es in der Aufführung (unter Einbeziehung originaler Instrumente und Aufführungsformen) oder liegt die Realität der musikalischen Kunst in der kompositorischen Genialität (und ist damit in der Person der Komponisten verkörpert)? Be­ kannt sind Foucaults Anmerkungen zur Einheit des literarischen Werks Kafkas: dessen Romane sicherlich dazuzuzählen seien, aber wie verhält es sich mit seinen Briefen, seinen Notizen und anderem Geschriebenem? Von hier aus erweitert sich die Thematik auf Materialien, Techniken und Einstellungen, die in der Kulturwelt akzeptabel sind, auf die Frage wie die „Werke" aufgeführt, ausgestellt, vertrieben werden sollen und wie nicht. Der Themenkomplex erweitert sich um die Problematisierungen, welche Anforderungen an die „Hersteller" zu stellen sind, an die Situa­ tionen und Orte, in bzw. an denen hergestellt, ausgestellt und aufgeführt wird, an die Zulässigkeit der Instrumentarien etc. 63 (2) Der Themenkomplex der Rezeption dreht sich um die Fragestel­ lung, wie die kulturellen Objekte und Praktiken „angemessen" erlebt werden sollen, so dass sie ihren „Gehalt" dem Rezipienten erfahrbar werden lassen. Die Modi des Erlebens nach Ort, Einstellung, Medien etc. werden hier durch die diskursive Praxis aufgegriffen. Die diskursive Ak­ tivität um das Thema der angemessenen Rezeption konstruiert die Ver­ sprechungen möglicher Erlebnisse und emotionaler Zustände. Sie be­ trifft auch die Frage, wer in den Kreis der Rezipienten gehört, für „wen das was ist" und für wen nicht. Der Themenkomplex der Rezeption er­ gänzt die diskursive Konstruktion der „Ontologie" der kulturellen Ob­ j ekte und Praktiken, zumindest in den Kulturwelten, in denen die Ent­ faltung der besonderen Realität der Kunst und Kultur von der Rezeption (Rezeptionssituation, Interaktion mit den Publika etc.) selbst als abhän­ gig diskursiviert wird. (3) Der Themenkomplex der Lebensstileinbindung diskursiviert die Frage, welchen Gehalt die Kultur für das Leben, die eigene Lebenssitua­ tion, die Formierung einer Lebensperspektive inne hat. Hier erweitert sich die Thematik über das Rezeptionserleben hinaus auf die Lebensfüh­ rung insgesamt. Praktisch werden im Diskurs Aspekte behandelt, wie die Rezeption der Kultur Teil der Lebensführung sein kann, wie dem ei­ genen Leben die Form verliehen werden kann, die das Kulturerleben er­ möglichen und steigern. Die diskursive Erfahrung virtueller Gemein­ schaft, die Einführung und unterschiedlich mögliche Bewertung von so­ zial kodierten Wissenskonzepten wie „Solidarität" , „Individualität" und anderer, die Diskursivierung der Lebensführung Kulturschaffender (wie der Künstler, der Autoren, der Musiker, Komponisten etc.) als Prototy­ pen für die eigene Lebensführung erhalten im kulturweltlichen Diskurs eine die eigene Lebensführung vorzeichnende Kraft. Die Diskurskon­ zeption der „Authentizität" des Werks, seiner Rezeption setzt sich hier fort in der Diskurskonstruktion der „Authentizität" der Lebensführung. Diese drei thematischen Komplexe bilden deshalb eine organisierte Gesamtheit, weil sich in ihnen eine relativ kohärente Tiefenstruktur ar­ tikuliert, die hier im Anschluss an Foucault „Sozio-Episteme" genannt wird. Denn es handelt sich nicht um eine epochale Tiefenstruktur, die die Diskurse (zumindest in einem gesellschaftlichen Feld wie der Wis­ senschaften) zu einer Zeit zu integrieren in der Lage waren, sondern zu­ nächst um die semantische Grundstruktur einer Kulturwelt. Damit wird das bourdieusche Thema des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik nun diskurstheoretisch umformuliert: erst in der Diskursordnung als kultureller Wissensordnung kann die Ethik als semantische Grund­ struktur wie ein Wasserzeichen durchscheinen. Die lebensstilbezogene Wertigkeit, deren Zustandegekommen die bourdieusche Theorie nicht Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion ausreichend erklären kann, ist auf diesen ethischen Gehalt der kultur­ weltlichen Diskurse direkt zurückführbar. 2 9 der bourdieuschen Diskurskonzeption, des ungeklärten Status des sym­ bolischen Kapitals und der Anfrage nach einer eigengesetzlichen Wis­ senssphäre führte zur Einbeziehung von Diskurs- und Interdiskurstheo­ rie. Bourdieus Zweiraum-Modell ist um einen Interdiskursraum zu er­ weitern, in dem sich verortbare Diskurse als kohärentere Sinnregionen absetzen. Die Aktualität des bourdieuschen Strukturalismus liegt darin begründet, dass er mit dem Habitus-Konzept ein Übersetzungsprinzip angegeben hat, das die Strukturalität des sozialen Raums (als Raum der materialien Ressourcen, der nicht-diskursiven Lebensbedingungen) ver­ koppelt mit der Strukturalität des Raums der Lebensstile. Hier setzt sich die Homologietheorie französischer Provinienz mit Bourdieu fort. Öffnet man die Homologiekonzeption in der Weise, dass sie als Momentaufnah­ me die (ungefähre) Übereinstimmung von beweglichen Strukturen (des­ halb die Verwendung des Begriffs Strukturalität) verschiedener Räume bezeichnet, dann kann man fragen, wie die Homologie zwischen dem In­ terdiskursraum einerseits und dem Raum der Lebensstile, sowie dem so­ zialen Raum erklärt werden kann. Behauptet wird hier, dass die Wis­ sensformen strukturbildend auf die Lebensstile einwirken können über einen Mechanismus, den man - etwas provisorisch diskursive Habitua­ lisierung bezeichnen könnte. Damit ist gemeint, dass Grundoppositio­ nen, fundamentale Semantiken wie sie organisierender Teil der Sozio­ Episteme sind sich einlagern in die konkrete Lebensführung, weil sie als Prinzipien für die Alltagsästhetik wirksam werden z. B. in der Form von Routine (eben Habitus) . Damit ist hier - Bourdieus Theorie ergänzend eingebracht, dass die Sphäre des Symbolischen (der Diskurse) sich in der Alltagspraxis des Lebensstils materialisieren kann und darin eine eigene, strukturierende Wirkmächtigkeit auch für den Raum der Le­ bensstile einbringt. Aus dem Bereich der Lebensführung erwächst aber auch für die Diskurse eine ständige Beunruhigung und damit Einwir­ kung. Foucault hatte die Quelle für die Änderung von Diskursordnungen einmal in den Diskursen selbst angesiedelt (in der Ereignishaftigkeit der Aussagen) , dann aber auch im Bereich des Nicht-Diskursiven, neuen Praxisformen, die wahrgenommen und als Problem thematisiert werden und diskursive Energien auf sich lenken (womit diese erst diskursiviert werden) . Soweit kann man hier von einer vertikalen Perspektive Spre­ chen, in der die Homologisierung erfolgt (Abbildung 2). Entsprechende Strukturierungswirkungen hat Bourdieu für die Verkopplung von sozia­ len Raum und Raum der Lebensstile aufgezeigt (wenn er auch diejenige der Habitualisierung gegenüber derjenigen der Stabilisierung und Re­ produktion des sozialen Raum in seinen empirischen Untersuchungen stärker ins Licht gerückt hat.) Die eigentliche Homologisierung als strukturbildende Verkoppelung zwischen diesen drei Räumen findet durch die hier unterschiedenen vier Praxisformen statt. 64 Kulturweltliche Diskurse organisieren ein Wissensuniversum, in dem die Sphäre der Kultur für deren Teilnehmer Maximen zur Verfügung stellt, wie sie ihre Handlungen und Einstellungen auszurichten haben, um Teil der Kulturwelt zu sein, um die Kultur „auf eine angemessene Weise zu erleben" und so Zugang zu der kulturellen Aura, ihrer Intensi­ täten und Qualitäten zu erhalten. Die Tiefenstruktur - insofern ist sie epistemisch - organisiert das unmittelbare Erleben der Kulturqualitä­ ten. Wie und warum sich die Rezeption für eine bestimmte Musikpassa­ ge, einen bestimmten Roman, ein abstraktes Kunstwerk „ öffnet" und für ein Erleben „ bereit" ist, hängt mit diskursiven Prozessen, insgesamt der diskursiven Schematisierung zusammen. Die Tiefenstruktur der Diskur­ sordnung ist gleichzeitig die sozio-kognitive Wahrnehmungsstruktur in der Kulturwelt. (Erst der theoretisch informierte und gebildete Hörer Neuer Musik ist im Sinne Adornos ein struktureller Hörer.) Die grund­ legenden evaluativen Diskurskategorien werden so zu Wahrnehmungs­ gewohnheiten in der Kulturwelt. Es gibt kein naives Kulturerleben, der Verlust der Naivität ist aber kein individueller, sei es durch erworbene „ Kennerschaft" oder individuelle Erfahrung. Der Verlust ist ein kollek­ tiver, da die Teilnehmer der Kulturwelt als Kollektiv der Diskursord­ nung unterliegen. Diese Tiefenstruktur kann - in Anlehnung an Fou­ caults episteme-Konzept - Sozio-Episteme genannt werden. Es handelt sich damit um eine im Interdiskursraum sich absetzende Tiefenstruktur für eine regionale Wissensformation, die im Wissen sowohl Sozio-Kogni­ tion (sinnhaftes Wahrnehmen) als auch die Gefühlsstruktur (ethisch-äs­ thetisches Erleben) strukturiert. Die Wertigkeit der Objekte bzw. Prakti­ ken für den Sinn der Lebensweise und ihre Funktion als Repräsentanten der kollektiven Identität entsteht also deshalb, weil diese Objekte im kollektiven Wissen als Ausdruck der Gefühlsstruktur erlebt werden und ihre Wahrnehmung und Beurteilung durch die Sozio-Episteme organi­ siert werden. VI. Räume und vermittelnde Praxisformen F ührt man die bis hier eröffneten Argumentationsstränge zusammen, liegen die Elemente einer Theorie nun dreier Räume vor. Die Kritik an 2 9 Man könnte bei dieser diskurstheoretischen Perspektive von einer (nicht-ha­ bermasschen) Art der „Diskursethik" sprechen: kulturelle Diskurse bearbeiten Problematisierungen (Foucault), die sich evaluativ auf die Weise Kopplung von Kultur und Lebensführung beziehen. Wenn diese Diskurse Zeit hatten sich zu ko­ härenten Ordnungen auszubilden, ist damit zu rechnen, dass ethische Strukturen sich als semantische Tiefenstrukturen auskristallisieren. 65 66 Rainer Diaz-Bone Diskursive Kulturproduktion Distinktivität Interdiskursraum / diskursive Praxis (Kulturelle Wissensordnungen) t t Diskursivierung Diskursive Habitualisierung Homolo- ,j, 67 pher z u bleiben: Welche Möglichkeiten hätten sich eröffnet, wenn Bour­ dieu und Foucault ihre Kartografien des Sozialen übereinandergelegt hätten, um die beweglichen Koordinaten des Sozialen in verschiedenen sozialen Sphären abzugleichen und die erkennbaren Strukturen und de­ ren Bewegungen soziologisch zu deuten? Raum der Lebensstile / Habitus (habituelle Praxis) t Habitualisierung Stabilisierung und Reproduktion Literatur gisierung ,j, Sozialer Raum / "ökonomische" Praxis (Materielle Lebensbedingungen) Abbildung 2: Modell des Verhältnisses der drei Räume Es gibt daneben aber auch eine horizontale strukturbildende Perspek­ tive, die für die Homologiefrage relevant ist. In massenmedial gesättig­ ten Gesellschaften mit Konsumentenmärkten sind Lebensstile Instru­ mente der Sinnstiftung und „Objekt der Begierde" (nicht nur für die Werbung) und sie sind das Kernkonzept für soziale Milieus insgesamt. Von der Seite der Lebensstilgruppen entsteht immer wieder eine Nach­ frage nach lebensstilbezogenen Semantiken. Diese Nachfragedynamik erwächst aus der Distinktionsbewegung der Lebensstilgruppen unter­ einander und der damit zusammenhängenden Nachfrage nach Identi­ tätsversicherung durch Semantiken. Diese Distinktionsbewegung wird angereizt durch sich im Interdiskurs voneinander absetzende Sozio­ Epistemai (und deren ethisch-ästhetischem Gehalt) und wirkt sich als horizontale Absetzbewegung verschiedener, sich dann erst als different erkennbarer Submilieus oder Subgruppen (Szenen) aus. Horizontale so­ ziale Differenzierungen von Wissensformationen oder Lebensstilgrup­ pen können sich wechselseitig vorstrukturieren oder nachlaufen, mit der Folge, dass Distinktionsbewegungen in einer Sphäre sich strukturbil­ dend auf die andere Sphäre auswirken. Damit wird die Möglichkeit der Vorzeichnung von Lebensstilen als Sinnordnungen als kultursoziologische Perspektive durch die diskurs­ theoretische (re)aktualisiert. Sozialstrukturanalyse kann so gedacht werden als die Analyse von Diskursordnungen und deren Relationierung im Interdiskursraum. Heute erstellt man in der Sozialstrukturforschung zwar Milieulandkarten anstelle von Schichtungsmodelle, aber noch feh­ len kultursoziologische empirische Analyse, die Diskurslandkarten an­ fertigen und die die archäologisch-genealogische Freilegung der darin enthaltenen Sozio-Episteme versuchen, um dann zu sehen, wie sie mit der Ordnung der Lebensstile korrespondieren. Um bei der Kartenmeta- Althusser, Louis ( 1 9 7 3 ) : Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: Althusser, Louis ( 1 9 7 3 ) : Marxismus und Ideologie. Berlin: VSA, S. 1 1 1 - 1 7 2 . Becker, Howard S . ( 1 9 8 2 ) : Art worlds. Berkeley: University o f California Press. Blumenberg, Hans (1998): Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt: Suhr­ kamp. Bohn, Cornelia (20 0 1) : Nachruf auf Pierre Bourdieu, in: Sociologica Internationa­ lis, 3 9 . Bd„ Heft 2 , S. 1 6 9 - 1 7 2 . Bohn, Cornelia/Hahn, Alois (1999): Pierre Bourdieu, in: Kaesler, Dirk ( 1 999): Klassiker der Soziologie. 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Die französische Diskursforschung wird eingeführt als empi­ rische Analysestrategie für die Untersuchung der kulturellen Wissensordnungen in Kulturwelten. Aus poststrukturalistischer Sicht kann die Bedeutung von se­ mantischen Grundstrukturen für die Vorzeichnung von Lebensstilen und damit der Sozialstruktur neu gedeutet werden, wenn man die Analyse von diskursiven Tiefenstrukturen (den epistemai) des foucaultschen (Post)Strukturalismus auf­ greift und diese soziologisch als Sozio-epistemai rekonzeptualisiert. Diese finden sich als kulturelle Muster in kulturweltlichen Diskursen, wo die kulturellen Gen­ res ihren sozialen Sinn durch die diskursive Kulturproduktion erhalten. Der so­ ziale Sinn eines Genres artikuliert sich anhand der Sozio-episteme diskursiv als ethisch-ästhetische Gefühlsstruktur, die sich wie ein Wasserzeichen im kultur­ weltlichen Diskurs abzeichnet.