1 Thomas Alkemeyer Die Aktualität der Algerienstudien Pierre Bourdieus Vortrag für die Tagung des Netzwerkes INTERVENTIONSKULTUR „Folgekonflikte nach militärgestützen humanitären Interventionen“, Universität Potsdam, 18.-19. April 2008 Ende der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrtausends wird der an Pariser Eliteuniversitäten frisch gekürte, gerade einmal 25 Jahre alte Philosoph Pierre Bourdieu zum Wehrdienst eingezogen. Er leistet diesen in Algerien ab, einem Land, das damals noch als Teil Frankreichs galt, in dem jedoch bereits ein, wie Beate Krais (2003: 181) schreibt, „verheerender Befreiungskrieg“ gegen die französischen Kolonialherren tobte. 1961, d.h. ca. fünf Jahre später, kehrt der ehemalige Philosoph als ‚gestandenerʻ Ethnologe und Soziologe nach Frankreich zurück und unterrichtet hier an der Pariser Sorbonne und der Universität von Lille. Was war in der Zwischenzeit geschehen? In Algerien sah sich der junge Philosoph mit den Problemen einer Welt konfrontiert, die sich maximal vom Pariser Intellektuellenmilieu unterschied. Mit der französischen Kolonisation erfuhr das bis dahin durch eine vorkapitalistische Wirtschaftsweise und Wirtschaftsethik geprägte Algerien eine dramatische Umgestaltung: brutal war dem Agrarland eine seinen Bewohnern zutiefst fremde ökonomische Ordnung übergestülpt worden. Die Folgen waren unter anderem ein rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise sowie die ökonomische Prekarisierung und soziale Entwurzelung breiter Bevölkerungsschichten. Bourdieu, der sich als sozialer Aufsteiger aus der französischen Provinz in den Pariser Intellektuellenkreisen ohnehin niemals ganz wohl gefühlt hatte, formuliert nun mit Vehemenz kritische politische und wissenschaftliche Stellungnahmen. ,„Ich wollte“, schreibt er später, „angesichts der dramatischen Situation in Algerien etwas tun, wollte mich nützlich machen und entschloss mich deshalb, eine Untersuchung über die algerische Gesellschaft in Angriff zu nehmen, um den Menschen zu Hause ein wenig besser verständlich zu machen, was in diesem Land geschah. Ich wollte bezeugen, was sich da vor meinen Augen abspielte.“ (zit. nach Schultheis 2006: 40) So sammelt Bourdieu gemeinsam mit algerischen Kollegen – zu erwähnen ist vor allem Abdelmalek Sayad – in der Zeit seines Wehrdienstes und noch in den Jahren danach als 2 Dozent an der Universität in Algier in intensiver Feldforschung zahlreiche, außerordentlich verschiedene Daten, um den kapitalistischen Umbau Algeriens zu dokumentieren und zugleich kritisch zu analysieren: er photographiert; er interviewt; er führt statistische Erhebungen und teilnehmende Beobachtungen durch; er arbeitet sich in soziologische Theorien ein; und er entwickelt sich in diesem Forschungsprozess zugleich autodidaktisch vom philosophischen Meisterdenker, der ursprünglich über eine Phänomenologie der Zeitstrukturen des Gefühlslebens promovieren wollte, zum Ethnologen und Soziologen. Die Leitfrage Bourdieus und seiner algerischen Kollegen war: Was wird aus einer Gesellschaft, wenn sie sich Wirtschaftsstrukturen, Zeitrhythmen und Handlungslogiken ausgesetzt sieht, die im Widerspruch zu sämtlichen, seit Generationen überlieferten Spielregeln des sozialen Zusammenlebens stehen – wie z.B. der herkömmlichen, den Menschen in Fleisch und Blut übergegangenen Ethik einer Reziprozität des Gabentausches, in deren Rahmen es durchaus rational sein kann, ökonomisches Kapital zu ‚verschleudernʼ, um symbolisches Kapital der Ehre und der Anerkennung zu akkumulieren. Mühsam mit den Evidenzen des eigenen philosophischen Denkens ringend, arbeitet Bourdieu mit Unterstützung seines Teams heraus, dass das Denken und Handeln der Kolonisierten, dem von den Kolonisatoren jedwede Rationalität und Kultur abgesprochen wurde, eine ganz eigene Rationalität und Kultur besitzt und zeigt, die in ihrem Eigensinn nicht den hegemonialen europäischen Mustern entspricht (vgl. so Bourdieu 2000). Bereits in diesen frühen Studien entwickelt Bourdieu in Grundzügen die wesentlichen Stile und Konzepte seines Denkens und Forschens. So macht er auf eine für seinen herrschaftssoziologischen Ansatz geradezu paradigmatische Weise die nicht nur materielle, sondern auch symbolische Gewalt sichtbar, die daraus resultiert, dass die Kolonialherren ihre eigenen, tief eingefleischten moralischen, ästhetischen und ökonomischen Kategorien des Denkens und Handelns zum universellen Maßstab machen. In der Folge dieser Universalisierung partikularer Sichtweisen kann das ‚Andereʼ, ‚Fremdeʼ allein in Kategorien der Unterentwicklung und des Mangels repräsentiert werden. In Verbindung damit arbeitet das Team um Boudieu heraus, dass die erworbenen Dispositionen des Denkens, Fühlens und Bewertens das Feld des Vorstellbaren und des Möglichen tiefgehend wie nachhaltig strukturieren und begrenzen – und dass sie dies deshalb auf eine besonders subtile und nachhaltige Weise tun, weil sie reflexiv nur schwer zugänglich und kaum zur Sprache zu bringen sind. So werden die traditionell durch agrarische Lebens- und Denkweisen geprägten Algerier von der ihnen gewissermaßen von außen aufgestülpten kapitalistischen 3 Wirtschaftsweise und Wirtschaftsethik buchstäblich abgehängt – mit verheerenden Folgen für die soziale Ordnung wie für jedes einzelne Individuum: sozialer Entwurzelung und Anomie korrespondieren Elend und subjektiv empfundenes Leid. Ich möchte damit knapp die anhaltenden Erträge der Studien Bourdieus und seiner Mitarbeiter über die Transformation Algerien resümieren, und zwar auf zwei Ebenen: erstens auf einer inhaltlichen, und zweitens auf einer methodischen und epistemologischen Ebene: Zunächst zur ersten, der inhaltlichen Ebene: Auf dieser Ebene finden sich bereits in Bourdieus frühen Algerienstudien alle Grundsteine seines soziologischen Denkens. Nachgewiesen wird erstens, dass ökonomische Rationalitäten und kulturelle Werte, Normen und Einstellungen nicht nur in geistiger Form existieren, sondern auch in einer objektivierten, vergegenständlichten sowie in einer subjektiv einverleibten Form. Sie gewinnen eine objektive, auch materielle Existenz in Raumordnungen, Dingen, Werkzeugen und Artefakten, vor allem aber in den Zeitstrukturen und Rhythmen einer Gesellschaft. Und sie existieren als ein strukturierter und strukturierender Komplex körperlich-mentaler Schemata des Gehens, Stehens und Sprechens, der Haltung und der Gestik, des Wahrnehmens und Fühlens, des Denkens und Beurteilens, den Bourdieu bekanntlich als Habitus oder auch als Hexis bezeichnet. Zweitens wird bereits in den Algerien-Studien deutlich, dass eine gelingende soziale Praxis die ‚Passungʻ beider Seiten voraussetzt: ein Zusammen- bzw. ein Sich-aufeinanderEinstimmen von Objektivität und Subjektivität, von sozio-ökonomischer Ordnung und subjektiven Dispositionen, von Habitus und Habitat. Das Soziale wird von Bourdieu als ein mehr oder weniger tempo- und variationsreiches Spiel aufgefasst aufgezeichnet, das nur dann ‚am Laufenʼ und im Fluss bleibt, wenn sich Habitus und Feld gegenseitig abfragen und beantworten, wenn es zu Resonanzen kommt oder wenn zumindest Kopplungen möglich sind. Jede Veränderung auf einer der beiden Seiten, jede Intervention in das komplexe soziale Spiel, jede Verschiebung im Strukturgefüge einer Gesellschaft, führt zu deshalb zu Irritationen, zu Störungen und Dissonanzen im Verhältnis beider Seiten. Die Folgen sind unterschiedlich. So kann Bourdieu empirisch zeigen, dass die verschiedenen Orte im sozialen Raum von derartigen Eingriffen und Verschiebungen in unterschiedlicher Weise ergriffen werden, dass sie aber auch „in selektiver Weise“ davon profitieren können (Vogel 2006: 81): Während die eine soziale Gruppe in der Lage ist, sich den Logiken und Rhyth- 4 men einer neuen Ökonomie rasch anzupassen, werden andere aufgrund der Trägheit ihrer Habitus - Bourdieu spricht von Hysteresis) – abgehängt. Interventionen in das soziale Spiel, Beschleunigungen und Verlangsamungen sozialen und wirtschaftlichen Wandels, kennen mithin stets Gewinner und Verlierer (vgl. ebd.). Subjektive Folgen können Leid, Beschämung und ein resignatives Sich-Fügen ebenso sein, wie Aggression und Wut, die sich in Gewalt äußern. Die algerische Übergangsgesellschaft bietet eine Fülle von Anschauungsmaterial hierfür: das Entstehen eines neuen Subproletariats, „das sich aus den zerfallenden Strukturen der bäuerlichen Welt rekrutiert“, das sich einrichtet im „Niemandsland provisorischen Wohnens und familiärer Entwurzelung“ (ebd.), aber auch den Aufstieg neuer Arbeitstypen z.B. des industriellen Arbeiters, der Bürokraft oder des Technikers, d.h. einer neuen, durch berufliche Individualität, materiellen Konsum und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft angeregten Mittelschicht. Besonders interessant an Bourdieus Studien ist in diesem Zusammenhang, dass nicht nur die Verlierer, sondern auch die Aufsteiger einen Preis zu zahlen haben: den Preis eines stets riskanten Bruchs mit der Vergangenheit, den Preis der radikalen Ablösung vom familiären und sozialen Umfeld des Herkunftsmilieus. Die Trennungen zwischen Gewinnern und Verlierern verlieren damit ihre Eindeutigkeit. Damit zum zweiten, dem methodischen und epistemologischen Ertrag der Algerienstudien: Franz Schultheis zufolge kann Bourdieus Konversion zum herrschaftskritischen Soziologen als sehr persönlicher Ausweg aus dem Dilemma der kolonialen Konstellation gedeutet werden (vgl. Schultheis 2006, 2007): Bourdieu habe seine Teilhabe an der kollektiven Schuld Frankreichs abgearbeitet, indem er – mit Marx gesprochen – die Waffen der Kritik zur Kritik der Waffen genutzt habe. Tatsächlich hat Bourdieu seine wissenschaftliche Kompetenz in den Dienst einer Sicht der algerischen Verhältnisse gestellt, die gängigen kolonialistischen und rassistischen Stereotypen zuwiderlief. Seine Forschungen sind nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Angelegenheit; den intellektuellen Ansprüchen korrespondieren politische – und beide radikalisieren sich während Bourdieus Algerienaufenthalt. Um im Gegensatz zu gängigen Sichtweisen auf die Kolonialisierten deren Denken und deren Wirtschaftsverhalten zu begreifen und um zu verstehen, warum und aus welchen Notwendigkeiten sie so handeln und leben, wie sie es nun einmal tun, kombiniert Bourdieu die quantitative Gesellschaftsforschung mit der Methodik einer qualitativen, verstehenden Soziologie. Dieser Methodenmix wird seine gesamte Forschung ebenso prägen, wie die Entwicklung theoretischer Konzepte als Analyseinstrumente im Kontext 5 engagierter empirischer Forschung. Bourdieu schenkt denen, die weder über die materiellen noch über die symbolischen Mittel verfügen, Spuren in der Geschichte zu hinterlassen und damit gesellschaftlich zu existieren, sein „Gehör und Interesse“ (Schultheis 2006: 40). Er leiht ihnen nicht nur Zeit und Anteilnahme, sondern vor allem „auch seine Feder“ (ebd.), um aus der vermeintlich irreduziblen subjektive Einmaligkeit ihrer Lebensgeschichten objektive gesellschaftliche Strukturen, empirisch belegbare Regelmäßigkeiten und statistisch belegbare Zusammenhänge herauszupräparieren. Dies nun ist allein möglich in einer epistemologischen Haltung, die das Engagement für die Beherrschten mit kontrollierter Fremdheit und Distanz verknüpft. Wenn Bourdieu über die vielfältigen Erfahrungen der Arbeiter- und Bauernfamilien in der algerischen Übergangsgesellschaft schreibt, dann bezeugt er ihre persönliche Geschichte, ohne sich in der Art eines nur spontansoziologisch Interessierten unbesehen mit denen zu solidarisieren, die er für schwach hält, um eben damit ihre vermeintlich Schwäche zu reproduzieren. Am deutlichsten kommt diese epistemologische Haltung vielleicht in Bourdieus Algerienfotos zum Ausdruck: Die intensive persönliche Betroffenheit wird hier durch die Distanz des Objektivs bewältigt. Bourdieu übt auf diese Weise eben jenen soziologischen Blick eing, der Nähe mit Distanz vereint. Mit seinem Haltung als Forscher und mit seiner Auffassung von Theorien, Konzepten und Methoden als Analye-Optiken, die sonst Übersehenes sichtbar machen, stellt die Sozialtheorie Pierre Bourdieus ein Instrumentarium bereit, das die praktischen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlich-institutionellen Transformationen und den Praktiken individueller und kollektiver Akteure mikrosoziologisch in den Blick zu nehmen erlaubt. Wie brauchbar dieser Blick für die Analyse aktueller Interventionskulturen ist, das müssen die Diskussionen dieser Tagung erweisen. Literatur Bourdieu, Pierre (2000): Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag. Krais, Beate (2004): Soziologie als teilnehmende Objektivierung der sozialen Welt: Pierre Bourdieu. In: Stephan Moebius/Lothar Peter (Hg.): Farnzösische Soziologie der Gegenwart. Konstanz: Universitätsverlag, S. 171-210. Schulteis, Franz (2006): Konversionen des Blicks. Pierre Bourdieus Lehrjahre auf dem Weg zu einer reflexiven Anthropologie. In: Literatur. Beilage zum Mittelweg 36, Nr. 3, Juni/Juli, S. 38-46. Schultheis, Franz (2007): Bourdieus Wege in die Soziologie. Konstanz: Universitätsverlag.