Protokoll zur Sitzung vom 1.12.2004 (von Markus Schnare und Markus Schulte) Seminar: Leitung: Zeit: Raum: Thema: Körper und Habitus. Sport als Feld empirischer Habitusforschung Prof. Dr. Thomas Alkemeyer Mittwoch, 1.12.2004, 10.15 – 11.45 Uhr Universität Oldenburg, S2-206 Der systematische Ort des Habitus-Konzepts in der Soziologie 0. Kurzer Überblick über die Sitzung Das Thema der Sitzung war „der systematische Ort des Habituskonzepts in der Soziologie“. Zur Vorbereitung sollte das gleichnamige letzte Kapitel des Buches Habitus von KRAIS/GEBAUER gelesen werden. Ziel des Referates sollte somit die Einordnung des Habituskonzepts in Abgrenzung von anderen soziologischen Konzepten sein. Zu Beginn der Veranstaltung wurde noch ein Protokoll der letzten Sitzung vorgestellt. 1. Vorstellung des Protokolls zur Sitzung vom 24.11.2004 Das Protokoll wurde von einem Protokollanten vorgestellt. Nachdem sich aus dem Plenum keine Fragen zum Protokoll ergaben, wurden noch einige Aspekte aus dem Protokoll verdeutlicht. 1.1 Der geschlechtsspezifische Habitus Es wurde noch einmal klar herausgestellt, dass mit dem Begriff eines „geschlechtsspezifischen Habitus“ bei BOURDIEU nicht gemeint ist, dass jeder Mensch je nach seinem Geschlecht einen solchen besitzt. Es gibt beim Habituskonzept BOURDIEUs keinen Pluralismus der Habitus. Vielmehr hat jedes Individuum nur einen Habitus, in den alle anderen Faktoren (z.B. Geschlecht, Klasse) hineinspielen. 1.2 „Doing gender“ bei BOURDIEU Die Trennung zwischen „sex“ (biologisches Geschlecht) und „gender“ (gesellschaftliches Geschlecht) wird bei BOURDIEUs Habituskonzept hinfällig. BOURDIEU geht davon aus, dass in der sozialen Praxis kulturelle Praktiken zum Körper werden. Somit ist die oftmals betonte Trennung hier überfällig. 1 1.3 Ist Schule als Feld autonom oder heteronom? Auch diese Frage stellt sich bei dem Habituskonzept nicht. Es handelt sich viel mehr um eine Dichotomie als um eine einseitige Beschreibung von Schule. Nach BOURDIEU handeln Lehrer und Schüler aus freien Stücken, reproduzieren dabei aber gleichzeitig Ordnungsstrukturen, denen sie ihr Handeln freiwillig unterwerfen und ohne die Schule nicht funktionieren kann. 1.4 Unterschied zwischen einer Sozialisationstheorie und dem Habituskonzept Eine Sozialisationstheorie geht immer von der Prämisse aus, dass das Individuum als asoziales Subjekt erst sozialisiert werden muss, um in die Gesellschaft integriert werden zu können. Dies ist bei dem Habituskonzept nicht der Fall. Hier ist der Mensch durch die Inkorporierung der Geschichte schon in der Gesellschaft handlungsfähig. Dies geschieht unbewusst und spielt sich bereits in der Kindheit ab. Der Mensch ist somit von Geburt an Mitglied einer Gesellschaft, welche eben nicht getrennt vom Individuum zu sehen ist, sondern vielmehr als ein Vorgang, der durch die Akteure immer wieder reproduziert wird. 2. Referat: „Der systematische Ort des Habitus-Konzepts in der Soziologie“ Die Referenten haben in ihrem Referat die Position des Habituskonzepts Pierre BOURDIEUs in der Soziologie erörtert. Zu diesem Zweck wurde dies drei anderen Konzepten gegenübergestellt: der Rollentheorie (soziale Rolle), wie sie z.B. von PARSONS und HAUG vertreten wurde, dem Subjektivismus, hier wurde besonders der Existenzialist Jean-Paul SARTRE hervorgehoben, und dem Objektivismus (auch: Strukturalismus) eines Claude LÉVI-STRAUSS. Im Folgenden wurden die verschiedenen Theorien kurz vorgestellt, um sie im Anschluss daran mit dem Habituskonzept zu vergleichen. 2.1 Die Rollentheorie (die sozialen Rollen) Das Rollenkonzept fasst das Handeln als Rollenhandeln auf. Die Individuen werden in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten zu Rollenträgern. Somit kann ein Mensch immer viele soziale Rollen spielen, die aber jeweils in spezifischen Kontexten abgerufen werden (vgl. hierzu KRAIS/GEBAUER 2002, S. 68). Ein Mann kann so je nach Handlungskontext Vater, Kollege oder Mannschaftskamerad sein. Mit der Rolle eines 2 Menschen sind aber weniger die Eigenschaften gemeint, die das Individuum als Rollenträger aufweist. Vielmehr weist die Rolle auf die Erwartungen hin, die dieser Rollenträger an das Handeln der anderen stellt. So gibt es sowohl innerorganisatorische als auch außerorganisatorische Erwartungen. Es gibt drei verschiedene Erwartungen, die eine soziale Rolle beschreiben. Zum einen gibt es die Muss-Erwartungen, hier wurden in Bezug auf die Schule die Richtlinien genannt, die Kann-Erwartungen, welche z.B. die Erwartungen von den Lehrerkollegen an das Individuum ausdrücken und die Soll-Erwartungen, die der Schulalltag an einen stellt. Der Rollenträger ist also in diesem Fall in der Schule drei verschiedenen Erwartungshaltungen ausgesetzt, die sein Handeln beeinflussen. Wichtig ist bei dieser Theorie, dass der Mensch immer in eine neue Rolle schlüpft, das Individuum also in jedem Kontext ganz unabhängig von seinen anderen Rollen handelt. 2.1.1 BOURDIEUs Antwort auf die Rollentheorie BOURDIEU lehnt insbesondere den Gedanken ab, dass der Mensch immer ohne weiteres von einer Rolle in eine andere hineinschlüpfen kann und seine anderen Rollen keinen Einfluss auf sein Handeln in einem spezifischen Kontext haben. Da er von einem Habitus ausgeht, in dem alle Eigenschaften des Menschen Beachtung finden, ist sein Konzept mit dem von getrennten Rollen unvereinbar. BOURDIEU lehnt die Vorstellung eines Automaten ab, der einfach von einer Rolle in eine andere schlüpfen kann ohne dabei Interferenzen zu unterliegen. Durch den Habitus wird vielmehr die Einheit der Person betont, die es dem Individuum nicht erlaubt, in einer Rolle völlig anders zu handeln als in anderen. Der Mensch ist vielmehr immer der gleiche, ob er nun bei der Arbeit ist oder abends mit seinen Mannschaftskameraden. 2.2 Der Subjektivismus (auch: Phänomenologie) Die Phänomenologie ist eine Betrachtungsweise, die vor allem auf der Lehre von Edmund HUSSSERL beruht, nach dem alle Akte eines Individuums sinnstiftend sind. BOURDIEU nimmt in seinen Werken aber vor allem Bezug auf den Existenzialisten SARTRE. Dieser sieht die Erfahrungswelt der Menschen als eine durch intentionale Bewusstseinsakte der Individuen strukturierte Welt an. Somit ist die soziale Wirklichkeit als Handlungszusammenhang zu betrachten, der durch die intentionalen Handlungen der autonomen Subjekte selbst entsteht Die Betonung liegt bei SARTRE somit auf dem 3 autonomen Subjekt, welches durch seine sinnstiftenden Handlungen eine neue Welt schafft. Dies steht in krassem Gegensatz zum Objektivismus eines Claude LÉVI-STRAUSS. Beim Vorstellen dieser Theorie traten allerdings im ersten Moment Verständnisschwierigkeiten auf, da es sich um ein recht abstraktes Konzept handelt und es auch schwierig ist, hier ein konkretes Beispiel zu finden. Allerdings wurde das Konzept bei der Kontrastierung mit dem Objektivismus ein wenig klarer. 2.3 Der Objektivismus (auch: Strukturalismus) Der Strukturalismus entwickelte sich in den 20er Jahren vor allem im Gebiet der Sprachwissenschaft. Ferdinand DE SAUSSURE prägte vor allem die strukturalistische Denkweise, indem er das Sprachsystem als ein synchronisch organisiertes und wissenschaftlich beschreibbares betrachtete. Das System ist als eine Art Gitternetz aufzufassen, wodurch deutlich wird, das es vor allem die Relationen der Elemente zueinander sind, die das System ausmachen. Der französische Soziologe Claude LÉVI-STRAUSS übertrug den Strukturalismus nun auch auf die Soziologie. Die Beziehungssysteme, die sich in der Sprache durch Grammatik und andere Regeln ausdrücken, werden von LÉVI-STRAUSS übertragen und als eine Organisation von Verwandtschaftsbeziehungen gesehen. Der Schwerpunkt bei den Strukturalisten liegt somit nicht mehr auf dem handelnden Subjekt, sondern vielmehr auf einer verflochtenen Struktur, die als Gesellschaft bezeichnet werden kann. Die Menschen sind in diesem Konzept alles andere als autonom. Sie sind in ihrem Handeln durch die per se Strukturen der Gesellschaft fremdbestimmt. Diese Theorie sah BOURDIEU als unzureichend an. Bei seinen empirischen Untersuchungen zu kabylischen Heiratsgewohnheiten stellte er fest, dass die Kabylen sich nicht an die Regeln halten, die ihnen die Herkunft der Ehepartner vorschreiben. Somit sieht er die These als widerlegt an, die besagt, dass die Individuen den vorgegebenen Strukturen nur folgen. Vielmehr reproduzieren sie die Strukturen durch ihr Handeln selbst. 2.4 Die Stellung des Habituskonzepts zwischen Objektivismus und Subjektivismus Wenn man den Subjektivismus als einen Pol der Soziologie betrachtet, der das Subjekt hervorhebt und den Objektivismus als Pol, der diesem gegenübersteht und die Bedeutung der Struktur betont, so wurde durch das Habituskonzept BOURDIEUs eine Konvergenz der beiden gegensätzlichen Richtungen geschaffen, welches versucht, die beiden scheinbar 4 unvereinbaren Theorien miteinander zu verbinden und somit die jeweiligen Nachteile kompensiert. BOURDIEU versucht somit weder, die Menschen als fremdbestimmte Subjekte anzusehen, deren Handeln durch bereits vorhandene Strukturen vorgeschrieben ist. Er verfällt aber auch nicht der subjektivistischen Annahme, dass die Menschen völlig autonom von jeglicher Struktur frei handeln können. Er vollzieht eben eine Versöhnung der beiden Theorien, indem er behauptet, dass eine Struktur als inkorporierte Geschichte in den Habitus einverleibt wird. Ein Vorgang, der sich vor allem in der Kindheit abspielt. Durch sein durch den Habitus geprägtes Handeln reproduziert der Mensch aber nun wieder eine Struktur, die wiederum sein Handeln bestimmt. Als Veranschaulichung kann wiederum das Bild einer Spirale dienen, in dem deutlich wird, das Handeln und Struktur immer aufeinander aufbauen. Zum Abschluss des Referates verlasen die Referenten dann ein Zitat aus einem Interview mit Pierre BOURDIEU, in dem er seine Theorie als „genetic structuralism“ bezeichnet. Um den eben beschriebenen beiden Seiten des Habitus (der strukturierten und die strukturierenden Seite) gerecht zu werden, wurde dieser Ausdruck mit „generativer und genetischer Strukturalismus“ übersetzt. Da bereits alle Fragen zu dem Thema durch das Referat beantwortet schienen, wurde die von den Referenten vorgesehene Gruppenarbeit nicht durchgeführt. Dafür wurden von Herrn Alkemeyer im Anschluss an das Referat zwei Fragen formuliert, die noch einmal die BOURDIEUs Position herausheben sollten. 3. Was kritisiert BOURDIEU an der wissenschaftlichen Haltung des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss? Wie bereits oben angedeutet, sieht BOURDIEU durch seine empirischen Forschungen in der kabylischen Gesellschaft die Theorie widerlegt, dass die Menschen nur in Befolgung von Regeln handeln. Er sieht eine Diskrepanz zwischen expliziten Regeln und der praktischen Logik der handelnden Subjekte. Sie schaffen vielmehr durch für sie logisches Handeln neue Regeln. 4. Auf welches Problem antwortet sowohl das Konzept der „sozialen Rolle“ als auch das Habituskonzept? Beide Konzepte antworten auf die Frage, wie das Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft funktionieren kann. Sie versuchen die Frage zu erörtern, wie Individuen mit 5 ihren jeweils ganz eigenen Zielen trotzdem eine funktionierende Struktur erschaffen können, die wir als Gesellschaft beschreiben. 5. Aufgaben zum nächsten Mal Zum nächsten Mal soll wiederum der Text von HABERMAS zur Gehirnforschung gelesen werden, sowie die Seiten 19 bis 44 des Buches „Leben für den Ring“ von Loic WACQUANT. Weiterführende Literatur: Krais, B./Gebauer, G.: „Habitus“. Bielefeld: Transcript Verlag, 2002 Wacquant, L.: „Leben für den Ring“. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2001 6