Gelesen Auf ins Gefecht Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk

Werbung
Dis| kurs - Jahrgang 7 | Ausgabe 1-2011
Gelesen
Auf ins Gefecht
Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung
Matthias Lemke
Universität Duisburg-Essen, Institut für Sozialwissenschaften
E-Mail: [email protected]
„La sociologie est un sport de combat“ – „Soziologie ist ein Kampfsport“, so lautete
der Titel eines 2001 veröffentlichten Dokumentarfilms von Pierre Carles über den
französischen Soziologen und öffentlichen Intellektuellen Pierre Bourdieu. Bourdieu, der gut ein Jahr nach der Veröffentlichung des Films am 23. Januar 2002
viel zu früh verstorben ist, wird hier filmisch in der ganzen Bandbreite seiner Tätigkeit porträtiert. Einerseits als Akademiker, der als Inhaber des Lehrstuhls für
Soziologie am Collège de France, dem französischen Wissenschaftsolymp, forscht
und unterrichtet – andererseits als Demonstrant und Diskutant, der an der öffentlichen Debatte über die Verfasstheit der französischen Gegenwartsgesellschaft
teilnimmt. Zu Beginn des Films erscheint Bourdieu als Zuhörer auf einer Kundgebung, in der José Bové gegen Ausbeutung und Neoliberalismus anredet. Der Globalisierungsgegner Bové erlangte auch über Frankreich hinaus Bekanntheit, als er
1999 eine im Bau befindliche Filiale einer amerikanischen Fastfood-Kette mithilfe
seines Traktors zerstörte. Und auch wenn Bové und Bourdieu in ihrer Globalisierungskritik mit Blick auf die Enthemmung von Marktlogiken durchaus übereinstimmten, so hätte ihre Herangehensweise an Fragen der sozialen Ausgrenzung
unter neoliberalen Gesichtspunkten nicht unterschiedlicher sein können. Dort der
hemdsärmelige Politaktivist, hier der filigran argumentierende Soziologe, dessen
epochemachendes Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (1979) eine differenzierte Sozialtheorie mit einer ebenso vielschichtigen Empirie der Aus- und Abgrenzung zu verbinden vermochte.
106
Matthias Lemke
Diesem Pierre Bourdieu also, der in der deutschen Politikwissenschaft zu unrecht
immer noch wesentlich weniger stark rezipiert wird als etwa Michel Foucault,
widmen die Herausgeber Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein ein Handbuch
im Metzler Verlag, der damit einen weiteren, eminent wichtigen Baustein in seiner Handbuch-Reihe hinzugewinnt. Der Band ruht auf fünf Säulen, die jeweils
unterschiedliche Aspekte von Leben, Werk und Wirkung Bourdieus beleuchten.
Während der erste Teil des Handbuches unter dem Titel „Einflüsse“ sowohl eine
historische Kontextualisierung anbietet sowie die Wirkungen anderer Autoren auf
das Werk Bourdieus auslotet, ist der zweite Teil zentralen Begriffen seiner Soziologie gewidmet. Erst nach dieser Aufschlüsselung so wichtiger Theoriebausteine, wie Distinktion (distinction), Feld (champ), Geschmack (goût), Habitus (habitus), Kapital (capital), Praxeologie (praxéologie) oder sozialer Raum (espace
social) schließt sich mit dem dritten Teil die Besprechung zentraler Werke an.
Abgeschlossen wird der Band durch die im vierten Teil aufgezeigte Rezeptionsgeschichte Bourdieus und der gegen ihn formulierten Kritik sowie das im fünften
Teil versammelte Glossar mitsamt einem Verzeichnis der Primär- und einschlägigen Sekundärliteratur.
Wieso aber ist Soziologie dem Verständnis Bourdieus nach ein Kampfsport? Diese
ungewöhnliche Metapher, die sich mitnichten auf die kontroverse Auslegung und
Bewertung seiner Soziologie bezieht, umreißt vielmehr das bei ihm vorherrschende Gesellschaftsverständnis, in dessen Kontext er der Soziologie eine kritischaufklärerische Funktion zuschreibt. Nimmt man einen der zentralen Begriffe seines Theoriegebäudes, nämlich den Begriff des habitus, heraus, dann wird schnell
deutlich, dass Gesellschaft aus der Sicht Bourdieus immer dynamisch und kompetitiv veranlagt, sowie auf Ausgrenzungs- und Unterordnungslogiken basierend
entworfen wird. Was das Konzept des habitus beschreibt ist letztlich nichts anderes als die auch epistemologisch relevante Erkenntnis, dass personelle wie in der
Summe auch soziale Verhältnisse entsprechend der jeweils situativen Verfasstheit
einer Gesellschaft angeeignet sind. Das bedeutet einerseits, dass Verhalten allgemein sowie auch solche scheinbar dem Konkurrenzdruck in einer Gesellschaft
entzogenen Bereiche, wie etwa der Mode-, der Musik oder der Kunstgeschmack,
entsprechend der eigenen Stellung in der Gesellschaft über Lern- und Erziehungsprozesse erlernt, ja inkorporiert werden. Soziales Verhalten ist demnach nicht
107
Dis| kurs - Jahrgang 7 | Ausgabe 1-2011
präfiguriert, es wird erlernt – und ist bis auf die ihm durch strukturelle Pfadabhängigkeiten auferlegten Restriktionen disponibel. Das bedeutet andererseits
aber auch, dass Aus- und Abgrenzungsmechanismen in einer Gesellschaft wesentlich subtiler funktionieren, als das dies der Blick etwa auf die ökonomischen Verteilungsverhältnisse erahnen lassen würde. Dementsprechend erweitert Bourdieu
den Kapitalbegriff, den er als marxistisch inspirierter Soziologe als gesellschaftsdiagnostisches Instrument verwendet, um eine soziale Komponente. Nicht mehr
bloß der Kontostand, sondern eben auch der Schulabschluss, das Universitätsdiplom und das erworbene Fachwissen über Kunst, Kultur und Mode werden zu
unterscheidungsermöglichenden Ressourcen, nach denen die Individuen streben,
weil sich anhand ihrer Zuordnungen sowie vertikale Schichtungen in einer Gesellschaft manifestieren. Habitus ist letztlich nichts anderes als onkorporiertes
soziales Kapital. Diese Einführung des sozialen Kapitals führt dann zu dem Ergebnis, dass letztlich alle gesellschaftlichen Interaktionsprozesse als verkapitalisierte
gedacht – und eben auch kritisiert werden können.
Spätestens an diesem Punkt offenbart sich der gegenwartsdiagnostische Vorteil
Bourdieus gegenüber der Globalisierungskritik Bovés. Während letztere – Naomi
Klein hat das im Übrigen in ihrer Studie über die von der Chicago-School inspirierte Schock-Strategie vorgeführt – diagnostisch sowie kritisch im wesentlichen
auf ökonomische Parameter abzielt, gelingt Bourdieu der Transfer ökonomischer
Verteilungslogiken in vormals ökonomieferne Bereiche der Gesellschaft. Seine
Kritik, die er gegen Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in
den Gegenfeuer-Bänden formuliert hat, gewinnt damit eine Breite, die in Verbindung mit dem von Michel Foucault entworfenen Konzept der Biopolitik sowie
mit Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemoniebegriff zu einer umfassenden Theorie der sozialen Ungleichheit und ihrer Perpetuierung avancieren kann.
Warum die Soziologie Bourdieus, die immer auch eine politische, eine kämpferische Dimension beinhaltete, zwar in Teilen von der deutschen Soziologie, jedoch
so gut wie gar nicht von der deutschen Politikwissenschaft rezipiert worden ist,
in der doch gerade gegenwärtig Themen wie Veränderung, Dynamik und Wandel in Mode kommen, ist kaum nachvollziehbar. Allzumal das Handbuch Fröhlich
und Rehbein – an dem, auch das ist bezeichnend für Teile des deutschen Wissenschaftsbetriebs, kein einziger Franzose mitgeschrieben hat – sowohl (und auch
108
Matthias Lemke
in erster Linie) für ein akademisches als auch für ein an soziologischer Theorie
interessiertes, nicht akademisches Publikum (für diesen Personenkreis eignet sich
doch die Junius-Einführung von Markus Schwingel erheblich besser, auch weil sie
wesentlich kompakter daherkommt) einen hervorragenden Einstieg in die Techniken des Kampfes ermöglicht.
Gerhard Fröhlich / Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung, Stuttgart 2009, 49,95€.
109
Herunterladen