REZENSION GESCHICHTE IM DIALOG MIT DER SOZIOLOGIE Von Ruben Marc Hackler und Fabian Link Der Band setzt sich zusammen aus fünf Gesprächen, die Roger Chartier mit Pierre Bourdieu führte und die für die französische Fernsehsendung «France Culture» ausgestrahlt wurden. Thema ist das Verhältnis zweier Disziplinen, im Titel angezeigt durch die Begriffe «Soziologe» und «Historiker» für Bourdieu und Chartier, die als Stellvertreter ihrer Fächer agieren. Für Chartier war die Geschichte in den späten 1980er-Jahren noch die «am besten sichtbare Disziplin aller Sozialwissenschaften» in Frankreich. Die Zunft sei jedoch dabei, ihre Prinzipien grundlegend zu hinterfragen. Daher hält Chartier Bourdieus Ansatz, insbesondere sein Hinterfragen des scheinbar Natürlichen, für eine nützliche Anregung. Bourdieu nimmt dies auf, bemängelt allerdings, die Historiker würden sich nicht genügend mit ihren Analysekategorien und Klassifikationen auseinandersetzen. Die Soziologie präsentiert er demgegenüber als unbequeme Wissenschaft, die der Gesellschaft den Spiegel vorhalte. Je stärker sich die soziologische Analyse der Gegenwart nähere, desto kritischer sei sie auch. Im Gegensatz dazu bewahre sich die Geschichte eine zeitliche Distanz zu ihren Forschungsgegenständen, die, so der angedeutete Vorwurf, beruhigend auf die Gesellschaft wirke. Doch die eigentliche Zielscheibe von Bourdieus Kritik sind nicht die Historiker, sondern die Intellektuellen, die sich in der Öffentlichkeit ohne wissenschaftliche Expertise zu Wort melden, und die Meinungsforschung, die er mangelnder Wissenschaftlichkeit bezichtigt. Er konstatiert an den Intellektuellen eine «fanatische Ablehnung» der Soziologie, weil sie fürchteten, von ihr attackiert zu werden. Hintergrund dieser Kritik bildet die Polemik gegen sein Buch La distinction. Critique sociale du jugement von 1979, in dem er unter anderem die affirmative Rolle der Intellektuellen im kulturellen Bereich aufzeigt. Das wollten sich diese jedoch nicht gefallen lassen und schlugen zurück, was Bourdieu offenkundig einschüchterte. Das Problem des Soziologen sei, «dass er versucht, Dinge zu sagen, die niemand hören will, und auf keinen Fall jene, die ihn lesen». Derweil spart Bourdieu nicht mit Selbstkritik: «Wir glauben, auf der Stelle zu verstehen, und diese Illusion des unmittelbaren Verstehens ist eines der Hindernisse für das Verstehen.» Dagegen spricht er ein grundsätzliches Misstrauen gegen das aus, was die Akteure über sich selbst sagen und denken. Insgeheim scheint er vom Standpunkt einer «wahren Wissenschaft» auszugehen, nämlich der Soziologie, einer Anschauung, die seiner Sicht auf das eigene Fach allerdings widerspricht. Abschliessend ist festzuhalten, dass der Interviewband weder originelle Einsichten zum Verhältnis von Soziologie und Geschichte noch neue Perspektiven auf Bourdieus Werk enthält. Rezension Bourdieu, Pierre/ Chartier, Roger: Der Soziologe und der Historiker. Aus dem Französischen von Thomas Wäckerle, Wien/Berlin 2011, 118 S. 21.90 Fr. 65