Spinozas Theorie des Menschen

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WOLFGANG BARTUSCHAT
Spinozas Theorie
des Menschen
FELIX MEINER VERLAG
HAMBURG
F ELI X M EI N E R V E R L AG
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isbn 978-3-7873-1273-3
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INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Spinozas Theorie des Menschen
I.
Gott und Mensch ..................................... .
1.
2.
3.
4.
5.
II.
III.
>>Ethica<< und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unbedingte Substanz und menschliches Interesse . . . . . . . .
Unbedingte Substanz und menschliches Wissen . . . . . . . . .
Das menschliche Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Anthropozentrismus und seine Kritik . . . . . . . . . . . . . .
1
9
17
22
29
Substanz und endlicher Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1.
2.
3.
4.
5.
Unendliche Modi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Endliche Modi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der endliche Modus als Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der erkennende Modus
37
43
49
57
65
Menschliches Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
1. Attribut Denken und unendlicher Verstand . . . . . . . . . . . . 71
2. Attribut Denken und menschlicher Verstand . . . . . . . . . . . 80
3. Menschlicher Verstand als Vorstellung
des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
4. Inadäquate Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5. Adäquate Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6. Intuitive Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
IV.
Menschliche Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
1.
2.
3.
4.
5.
Handeln und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Conatus perseverandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Conatus und Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Affektivität und imaginatio ...........................
Affektivität und ratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
133
142
151
158
VIII
V.
Inhalt
Affektivität und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
1.
2.
3.
4.
5.
VI.
Der Mensch als Gattungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorschriften der Vernunft ............................
Erkenntnis und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vernünftige Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unvernunft und Intersubjektivität .....................
168
179
187
203
214
Der Mensch im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Naturrecht und individuelle Macht ....................
Das Naturrecht des Menschen .........................
Naturrecht und vernünftiger Staat .....................
Individualität und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Freiheit als Ziel des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der sich selbst erhaltende Staat
224
234
239
248
255
262
VII. Erkenntnis und Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
1.
2.
3.
4.
5.
Menschlicher Verstand und menschliche Freiheit . . . . . . . .
Ordnung durch den Verstand und Ordnung der Affekte .
Erkennen und Affekt der Freude ......................
Freude und Liebe zu Gott ............................
Der menschliche Geist in der Relation zum Körper .....
278
283
291
302
310
VIII. Mensch und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Die Ewigkeit des menschlichen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . .
Conatus und intuitives Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Ewigkeit des intuitiven Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die geistige Liebe zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Endlichkeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Teile des menschlichen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Menschliches Erkennen und menschliches Glück . . . . . . . .
326
334
338
345
355
366
379
Bibliographie ................................................ 391
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
VORWORT
Das Buch untersucht Spinozas Theorie des Menschen. Es ist von dem
Gedanken geleitet, daß der Mensch kein beliebiger Gegenstand innerhalb
der Philosophie Spinozas ist, sondern eine zentrale Bedeutung in ihr hat.
Ich möchte zeigen, daß Spinozas Philosophie im Ganzen auf ihn hin organisiert ist. Im Titel >>Ethica«, unter dem Spinoza sein Hauptwerk hat veröffentlichen lassen, kommt dies zum Ausdruck. Philosophie ist Ethik; sie
ist die Theorie der Bedingungen, unter denen das gelingende menschliche
Leben steht. Hierfür entwickelt sie eine Theorie des Menschen. Grundgedanke ist dabei, daß diese Theorie der vorgängigen Theorie eines U nbedingten bedarf, unabhängig von der sie zu entwickeln ein verfehltes Unternehmen ist. Der Mensch kann nicht aus einer ihm vermeintlich zukommenden Selbstmächtigkeit begriffen werden, sondern nur aus etwas, das als
ihn immer schon bestimmend ihm vorangeht, aus der Verfassung eines
unendlichen Wesens, von der der Mensch seinerseits abhängt. Daraus ist
vorschnell die modern anmutende Folgerung gezogen worden, daß Spinoza
das menschliche Subjekt verabschiedet habe. Der Mensch sei nicht nur Glied
eines ihn übergreifenden Gefüges, das die Natur im Ganzen ist, sondern
durch dieses Gefüge auch mit Notwendigkeit bestimmt. Und es komme
darauf an, den anthropozentrischen Wahn abzubauen, der Mensch habe
einen Zweck in sich selbst und vermöchte kraft eigener Autonomie sein
Leben selbst zu gestalten. Gegen ein falsches Selbstverständnis habe der
Mensch zu begreifen, daß er bloßer Teil der Natur sei und als dieser
Moment eines subjektlosen Geschehens, als der er sein Sein darin habe,
die Wirklichkeit dieses Geschehens in je bestimmter Weise auszudrücken.
Ich möchte zeigen, daß solche Folgerungen aus einem falsch verstandenen Spinoza resultieren. Es ist wohl wahr, daß Spinoza nicht von einem
menschlichen Ich spricht und daß er den Menschen als Teil der Natur
bestimmt, aber es ist nicht wahr, daß er ihn deshalb als unselbständigen
Teil einer Natur im Ganzen bestimmt. Er bestimmt ihn vielmehr, wie jedes
andere Seiende auch, wesentlich durch eine Form der Selbstbezüglichkeit,
die nicht erst das Resultat eines falschen Selbstverständnisses des Menschen
ist. Merkmal eines individuellen Seienden ist das Streben, das eigene Sein
zu bewahren (conatus in suo esse perseverandi), und die gesamte >>Ethica<<
kann daraufhin gelesen werden, daß sie die Bedingungen entfaltet, unter
denen dieses Streben sich realisieren läßt, unter denen also ein Individuum
X
Vorwort
tatsächlich zu dem ihm eigenen Sein gelangt. Liegen diese Bedingungen nicht
in der Selbstmächtigkeit eines Individuums, sondern in der göttlichen
Natur als dem Prinzip, aus dem alles Seiende folgt, so folgt aus der göttlichen Natur mitnichten, daß ein Individuum sein eigenes Sein auch bewahrt.
Die gelingende Selbsterhaltung ist vielmehr auch abhängig von Bedingungen, die dem Individuum eigen sind und die zu ergreifen Ausdruck eines
Könnens dieses Individuums ist. Die Theorie dieses Könnens entwickelt
Spinoza allein für das menschliche Individuum, das sich, sofern es sich der
Bedingungen der Selbsterhaltung versichert und darin das eigene Sein zu
realisieren vermag, gegenüber allen Individuen nichtmenschlicher Art auszeichnet.
Der conatus ist das Merkmal eines individuellen Seienden. Es kommt
weder Gott noch der aus Gott folgenden Natur im Ganzen zu; es kennzeichnet die Endlichkeit, nicht die Unendlichkeit. Der conatus ist Merkmal eines endlichen Seienden, das Teil einer Unendlichkeit ist, aus der es
dieses Merkmal nicht hat und von der her es deshalb in seinem Sein auch
nicht begriffen werden kann. Um den Status des Menschen in seiner Endlichkeit begreifen zu können, bedarf es insbesondere einer Differenzierung
jener populär gewordenen Wendung >>Deus sive (seu) Natura«, die, von Spinoza nur beiläufig gebraucht, keineswegs Identität der in jener Formulierung genannten Glieder meint. Spinoza unterscheidet vielmehr zwischen
der Natur, die Gottes als Produktivität bestimmtes Wesen ausmacht (Natura
naturans), und der Natur, die das Resultat dieser Produktivität ist (Natura
naturata) und die als diese durch Merkmale gekennzeichnet ist, die gerade
nicht Folge dieser Produktivität sind. Wesentliches Merkmal der geschaffenen Natur, also der Welt, ist der Tatbestand, daß zu ihr endliche Modi
gehören, die sich von anderen endlichen Modi unterscheiden und die in
diesem Unterschied eine ihnen eigene unverwechselbare Realität haben.
Dieser Tatbestand ist nicht aus der Natur Gottes deduzierbar, sondern ein
Faktum, von dem Spinoza ausgeht; und es läßt sich zeigen, daß Spinoza
in diesem Ausgang von einer bestimmten Theorie des Menschen geleitet
ist, die ihrerseits der Theorie Gottes 'vorangeht. Spinozas Philosophie kann
nicht als ein einem Monismus der Substanz verpflichtetes deduktives System
verstanden werden. Sie ist vielmehr durch einen Perspektiven-Dualismus
gekennzeichnet, der einen doppelten Ausgangspunkt hat, den Ausgang von
Gott und den Ausgang vom Menschen, in deren Wechselseitigkeit sich das
System Spinozas erst erschließt. Der die beiden Glieder verknüpfende
Grundgedanke ist der einer durchgängigen Rationalität der Welt, und das
ist ein eminent auf den Menschen bezogener Gedanke, insofern die Begreifbarkeit der Welt nur für ein Wesen von Interesse ist, das zu begreifen ver-
XI
Vorwort
mag; und weder Gott noch das nicht-humane Seiende sind Wesen dieser
Art. Aber sowohl Gott wie die Welt und der Mensch in ihr werden unter
den Aspekt ihrer rationalen Begreifbarkeit durch den Menschen gebracht,
womit Spinoza den Anspruch verbindet, daß der Mensch im rationalen
Begreifen dessen, was überhaupt ist, sich selbst in seiner Stellung in der
Welt angemessen zu bestimmen vermag. Er begreift sich selbst vorzüglich
als ein erkennendes Wesen, das allein im Akt des adäquaten Erkennens sein
eigenes Sein bewahrt, das dann konsequenterweise nichts anderes als diese
Form des Erkennens ist. Diese These in der Vielfalt ihrer Aspekte zu präsentieren und auf ihre Leistungsfähigkeit für eine Theorie des welthaft existierenden Menschen hin zu überprüfen, ist Gegenstand der folgenden
Untersuchung.
Den die Untersuchung leitenden Grundgedanken habe ich vor mehr als
zwanzig Jahren in meinem Hamburger Habilitationsvortrag erstmals entwickelt (veröffentlicht 1974: >>Metaphysik als Ethik«). Im Spinoza-Jahr 1977
habe ich ihn weitergehend ausformuliert (>>Selbstsein und Absolutes«). Auf
den internationalen Spinoza-Kongressen der letzten Jahre habe ich einzelne
Aspekte vorgetragen und zur Diskussion gestellt. Sie erscheinen jetzt in
einer zusammenhängenden Form, die das Ganze der Philosophie Spinozas
berücksichtigt. Ich habe mich dabei allein auf die ausgereifte Gestalt seiner Philosophie gestützt, wie sie uns in der >>Ethica<< vorliegt. Die dort nicht
entwickelte Theorie der Politik ist in die Untersuchung integriert. Nicht
berücksichtigt ist die Theorie der Religion, deren Bedeutung innerhalb einer
Theorie der Rationalität aber strukturanalog zu der der Politik ist, was
ihre Vernachlässigung vielleicht zu rechtfertigen vermag.
Hamburg, Januar 1992
Wolfgang Bartuschat
I. GOTT UND MENSCH
1. >>Ethica<< und Ethik
Spinozas Hauptwerk heißt >>Ethica<<. Es enthält seine Philosophie und es
enthält eine Ethik, die offensichtlich so zentral ist, daß die Philosophie
im Ganzen unter dem Titel >>Ethik<< abgehandelt werden kann. Nun ist
Ethik eine Angelegenheit des Menschen. Er ist am Anfang der »Ethica<<
nicht Gegenstand der Untersuchung. Das Werk beginnt mit Gott (Eth. 1:
>>De Deo<<) und thematisiert erst dann den Menschen und zwar ihn als denkendes Wesen (Eth. II: >>De natura et origine Mentis<<). Seine Thematisierung, so sagt Spinoza in einem kurzen Vorspann zu Teil II, sei eine Selbstbeschränkung (>>ea solummodo<<) hinsichtlich dessen, was aus dem Begriff
Gottes folgt. Da zentraler Inhalt der Gotteslehre ist, daß unendlich Vieles
auf unendlich viele Weisen aus der Natur Gottes folgen muß (>>infinita enim
infinitis modis ex ipsa debere sequi Prop. 16, Part. 1. demonstravimus<<),
kann unser endlich-begrenztes Darlegen offensichtlich nur auf einiges von
diesem unendlich Vielen gehen. Es muß eine Auswahl treffen, und diese
Auswahl ist bestimmt von dem Interesse des Autors. Ihn interessiert der
Mensch, genauer die mens humana, also der menschliche Geist, den Spinoza im Vokabular des Cartesianismus als res cogitans bestimmt (vgl. II,
def. 3: >>Mens ... res est cogitans<<). Es ist der Mensch als ein denkendes und
erkennendes Wesen. Und ihn interessiert, wie Spinoza weiter im Vorspann
zu Eth. II sagt, das höchste Glück des unter dem Aspekt des Geistes gefaßten Menschen (>>eiusque summae beatitudinis<<), die Glückseligkeit, die dem
Menschen zukommt, sofern er erkennt. Der als mens humana in Eth. II
thematisierte Mensch ist nicht Gegenstand nur dieses Teils, dem in den
weiteren Teilen andere Aspekte dessen, was für den Menschen konstitutiv
ist, hinzuzufügen wären. Er ist unter diesem Aspekt Thema aller anderen
Teile bis hin zum letzten Lehrsatz des letzten Teils, der jenes Glück, an
dem Spinoza interessiert ist, zu seinem Inhalt hat: >>Die Glückseligkeit ist
nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst<< (V, prop. 42). 1
1 Schon die frühen Abhandlungen Spinozas sind dem einen Thema gewidmet, das
sich bis zur Vollendung der »Ethica<< durchhält: der Erörterung des Verhältnisses von
Gott und Mensch unter dem Aspekt menschlichen Glücks (>>Kurze Abhandlung von
Gott, dem Menschen und dessen Glück«), das als menschliches Glück an ein Erkennen
2
Gott und Mensch
Die zentrale Bedeutung, die die mens humana für die Theorie dessen hat,
was in der »Ethica<< entwickelt wird, wird insbesondere dadurch unterstrichen, daß Spinoza in dem Vorspann zu Teil II hervorhebt, daß es ihm nicht
nur um die mens humana und deren Glück geht, sondern um die Erkenntnis (cognitio) von beiden. Es geht um die ausweisbare Erkenntnis dessen,
was menschliches Erkennen und was menschliches Glück ist, die Spinoza
interessiert. Es ist eine Erkenntnis, die der Mensch selber haben kann. Deshalb ist der Mensch als erkennendes Wesen thematisch, und zwar nicht
nur so, daß die Weise seines Erkennens beschrieben wird, sondern auch
so, daß er, der eine Theorie der Erkenntnisweisen hat, Formen des Erkennens für die eigene Lebenspraxis beurteilend unterscheidet. Und erst im
Ergreifen derjenigen Form, die adäquat ist und in der der Mensch eine
adäquate Theorie dessen hat, was menschliches Erkennen ist, gelangt er
zu seinem höchsten Glück. Es kommt dem Menschen nur zu, sofern er
in einer bestimmten Weise erkennt.
Wenn Spinoza eingangs des Teils II sagt, er wolle jetzt dasjenige untersuchen, was zu dieser Erkenntnis, mit der das menschliche Glück und damit
das, was Gegenstand der Ethik ist, verbunden ist, führt, dann formuliert
er ein Programm, das auf die Bedingungen adäquaten menschlichen Erkennens geht. Zugleich enthält die Eingangspassage die These, daß dasjenige,
das es da zu untersuchen gilt, aus dem unendlichen Wesen Gottes folgt.
Daraus ist zweifelsfrei zu entnehmen, daß das in Eth. I entwickelte Wesen
Gottes zu den Bedingungen gehört, unter denen das menschliche Erkennen steht. Aber offensichtlich bedarf die Theorie des Erkennens der Entfaltung weiterer Bedingungen, die erst in den folgenden Teilen, eben in
dem, was Spinoza jetzt zu untersuchen sich anschickt, geliefert werden. Es
sind Bedingungen, die das menschliche Erkennen betreffen, und darin spezifische Bedingungen, durch die ein Modus gegenüber anderen Modi, die
Eth. I zufolge allesamt aus der Natur Gottes folgen, ausgezeichnet ist.
Diese Bedingungen zu entfalten, bedarf es eines erheblichen Aufwandes,
dem die auf die Theorie Gottes folgenden Teile der >>Ethica<< gewidmet
sind.
Der Aufwand gilt einer zu entwickelnden Theorie des Menschen. Er ist
Gegenstand der Teile II- V der >>Ethica<<. Die Teile IV und V thematisie-
gebunden ist, das es, damit das Glück erlangt werden kann, zu verbessern gilt (>>Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes<<). Ich beziehe mich allein auf die ausgearbeitete reife Philosophie, wie sie in der »Ethica<< vorliegt, und verzichte darauf, deren
Genese in der Abhebung von den Frühschriften in den Blick zu brin.gen. Zum Verhältnis der »Ethica<< zu den Frühschriften vgl. meine Einleitung in »Kurze Abhandlung
»Ethica<< und Ethik
3
ren den Menschen ausdrücklich in der Überschrift (>>De servitute humana
seu de affectuum viribus« - >>De potentia intellectus seu de libertate
humana<<). Aber auch die Teile II und III, die der Überschrift zufolge
(>>De natura et origine Mentis« - >>De origine et natura affectuum«) generell von der Natur und dem Ursprung des Geistes bzw. der Affekte
handeln, handeln im wesentlichen vom menschlichen Geist und von den
menschlichen Affekten, wenn auch, bedingt durch die Erörterung des
Ursprungs, in einem weiteren Horizont, der das spezifisch Menschliche
nur als Sonderfall eines universellen Geltungszusammenhangs versteht. Der
Nachweis des genetischen Ursprungs des menschlichen Geistes in dem Attribut Cogitatio und der menschlichen Affekte in dem conatus perseverandi
als der ontologischen Grundbestimmung jedes singulären Modus ist verknüpft mit der These, daß das, was aus diesen Quellen entspringt, für jegliches Seiende gilt. In II, prop. 13, coroll., schol. heißt es: >>Was wir bisher
bewiesen haben, ist allerdings etwas Gemeinsames; es gilt für die Menschen
nicht mehr als für die übrigen Individuen, die alle, wenn auch in verschiedenen Graden, beseelt (animata) sind. Denn von jedem Ding gibt es
notwendig in Gott eine Idee, deren Ursache Gott ist«. Und in 111,
prop. 3, schol. heißt es: >>Ich könnte zeigen, daß sich die Leidenschaften
(passiones) ebenso auf die Einzeldinge wie auf den Geist beziehen«. So
wie Spinoza in dieser Anmerkung sagt, daß es aber (>>sed«) seine Absicht
ist, nur von dem menschlichen Geist zu handeln, also nicht Passionen
überhaupt, sondern nur die menschlichen zu behandeln, so ist es auch
im Teil II seine Absicht, nicht singuläre Ideen überhaupt zu behandeln,
sondern diejenige Idee, die zu ihrem Gegenstand den menschlichen
Körper hat, also nicht einen Geist überhaupt, sondern den menschlichen
Geist, aus dessen Analyse Spinoza eine Theorie menschlichen Erkennens
gibt. Noch deutlicher ist, daß aus der erwähnten Gemeinsamkeit von
Mensch und jeglichem Einzelding hinsichtlich der Leidenschaften das Feld
der Affektivität nicht erschöpfend erfaßt wird. Denn Spinoza versteht unter
Affekt (vgl. III, def. 3) nicht nur ein Leiden (passio), sondern auch eine
Handlung (actio), die nur einem Wesen zugesprochen wird, das adäquate
Ideen hat. Die Affektenlehre in Teil III wird in bezugauf ein Wesen entwickelt, das nicht nur wie jedes Seiende beseelt ist, sondern das auch
von Gott, dem Menschen und dessen Glück<<, Harnburg 1991 (Phi!. Bibi. 91).- Spinoza wird zitiert nach der Heidelberger Ausgabe der Opera (ed. Gebhardt 1924-26),
die »Ethica<< unter Angabe der üblichen Feineinteilung, die politischen Schriften unter
Angabe der Kapitel, die übrigen Werke Spinozas unter Angabe von Band- und Seitenzahl der Opera. Übersetzungen stammen von mir.
Gott und Mensch
4
Ideen hat 2 , freilich nicht notwendig adäquate, sondern auch inadäquate. Insofern ist die dort entwickelte Affektivität eine spezifisch menschliche, in der der generelle conatus perseverandi (111, prop. 4- 8) allein unter
dem Aspekt des strebenden Geistes (111, prop. 9) entfaltet wird, der unser
Geist ist (>>Mens nostra<<, 111, prop. 1).
Geben Teil II und Teil 111 eine Strukturanalyse menschlichen Erkennens
und menschlicher Affektivität mit dem Resultat eines Gefüges menschlicher Erkenntnisarten und menschlicher Affekte, so formulieren schon die
Überschriften der Teile IV und V, die ausdrücklich vom Menschen reden,
ein Programm, das in der Spannung zwischen menschlicher Knechtschaft
und menschlicher Freiheit entwickelt, in welcher Weise der Mensch sich
verhalten kann, damit er nicht Knecht, sondern frei ist. Es ist das Programm
einer Lebensführung, die den Menschen des Glücks teilhaftig sein läßt und
darin Ausdruck eines gelingenden Lebens ist. Menschliche Knechtschaft
und menschliche Freiheit stehen jeweils, auch dies in den Überschriften
der beiden letzten Teile formuliert, in Relation zu einer weiteren Bestimmung: >>de affectuum viribus<< und >>de potentia intellectuS<<. In dieser Relation kommt jeweils Verschiedenes zum Ausdruck, das als Fremd- und
Selbstbestimmung des Menschen verstanden werden kann. Einmal ist
von Kräften (vires), einmal von der Macht (potentia) die Rede; einmal
von Kräften, die den Menschen übermächtigen und ihn darin zum Knecht
machen, einmal von der Macht, die seine eigene Macht ist und ihn darin
zu einem Freien macht. Es ist die Macht des Intellekts, und das ist eine
dem Menschen eigentümliche Macht, durch die er sich von anderem
Seienden unterscheidet, das zwar ebenfalls wesentlich Macht (potentia)
ist, weil es ein Modus der als potentia bestimmten göttlichen Substanz ist,
das aber, sofern es nicht über ein Vermögen der Einsicht (intellectus) verfügt, nicht frei sein kann. Es ist immer gezwungen (coactus), weil es in
der eigenen Macht von einer ihm fremd bleibenden Übermacht beherrscht
bleibt.
Die enge Verknüpfung von Freiheit und Einsicht macht es, daß Spinoza
in der Entfaltung seiner Ethik den Menschen unter dem Aspekt der
ihm eigentümlichen Fähigkeit des Erkennens betrachtet. Von Eth. II an
ist der Mensch als Geist (mens humana) thematisch, in bezug auf den
die Bestimmung menschlicher Knechtschaft und menschlicher Freiheit
erfolgt. Gewiß wird die Theorie menschlichen Erkennens, die auf die
Theorie Gottes erst folgt, nicht aus der Selbstmächtigkeit eines mensch-
2
Vgl. Kap. III der vorliegenden Untersuchung.
>>Ethica<< und Ethik
5
liehen Intellekts gegeben, sondern aus dem Status des Menschen, demzufolge er ein von der göttlichen Substanz abhängender Modus ist, aus der
er neben unendlich vielen anderen Modi mit Notwendigkeit folgt. Doch
schließt diese Abhängigkeit nicht schon die Unfreiheit des Menschen ein.
Mit ihr sind vielmehr, und Spinoza folgert das aus der Erkenntnistheorie,
Knechtschaft und Freiheit vereinbar, also unterschiedliche Lebensformen,
die ein und demselben Modus zugesprochen werden, einem menschlichen
Individuum, das unfrei und frei sein kann. Menschliche Freiheit, so klingt
die >>Ethica<< aus (V, prop. 42, schol.), ist gebunden an einen Weg (via) 3
der Befreiung, den der Mensch zu gehen hat.
Es ist ein Weg, der nicht gegen die Notwendigkeit dessen, was aus der
Notwendigkeit Gottes folgt, gegangen werden kann, der aber nicht mit
Notwendigkeit gegangen wird; er ist eigens zu finden (inveniri) und das
mit großer Anstrengung (magno labore), die erbracht werden muß, damit
das zu erlangende Heil (salus) auch tatsächlich erlangt wird und nicht unbeachtet bleibt (negligeretur). Mag dieser Weg auch äußerst schwer (perardua) zu gehen sein und deshalb ein solcher sein, der den meisten Menschen
verschlossen bleibt, so ist es doch ein Weg, der in der Macht des Menschen
ist. Dies zu zeigen, ist ein zentrales Anliegen der >>Ethica<<. Der Nachweis,
daß die Macht des Menschen abhängig ist von der Macht Gottes, bedeutet
nicht, daß es nicht seine Macht ist, die Macht seines Intellekts nämlich, die
ihn dazu führt, ein Leben der Freiheit und darin des Glücks zu führen.
In ihm unterscheidet er sich von dem Unfreien dadurch, daß er selbst kraft
seiner Einsicht etwas zustande gebracht hat. Spinozas >>Ethica<< ist die
Beschreibung dieses Weges, zwar nicht in dem Sinne, daß sie von vornherein die Perspektive dessen einnimmt, der ihn geht, aber in dem Sinne,
daß sie die Bedingungen nennt, unter denen er gegangen werden kann. Zu
diesen Bedingungen zählt zweifellos das, was Spinoza in Eth. I über die
Struktur Gottes entwickelt, aber nicht nur das, sondern auch solches, das
ein spezifisch Menschliches ist. Es sind Bedingungen, die aus der Verfassung des Menschen resultieren und als diese den Weg ermöglichen, allerdings auch erschweren.
Wenn Spinoza innerhalb der >>Ethica<< im Hinblick auf die Theorie
des zu führenden menschlichen Lebens, in dem der Mensch des Glücks
teilhaftig wird, zwei Bedingungen nennt, eine substanziale und eine modale, die strukturell verschieden sind, dann stellt der Übergang von der
3 Vgl. hierzu
Assen 1979.
J.
Wetlesen, The Sage and the Way. Spinoza's Ethics of Freedom,
6
Gott und Mensch
Erörterung der Substanz zur Erörterung des Modus Mensch ein Problem dar, das Spinoza in dem knappen Vorspann zu Teil II offensichtlich
nicht angemessen beschreibt. 4 Denn menschliches Glück ist etwas, das
in einer Spannung steht, so wie die adäquate Erkenntnis des Menschen
in einer Spannung steht. Beides ist eigens vom Menschen zu erringen,
gegen das Unglück und gegen die inadäquate Erkenntnis. Weder das eine
noch das andere stellt sich mit Notwendigkeit ein, und deshalb muß gezeigt
werden, wie dieses Merkmal verträglich ist mit der These, der Mensch
sei als Modus abhängig von der göttlichen Substanz, die allein aus der
Notwendigkeit ihrer Natur heraus handelt. Die potentia als deren Wesensmerkmal ist nicht ein Können im Hinblick auf von ihr Verschiedenes, das
möglich wäre. Das Handeln, das aus der Notwendigkeit der göttlichen
Natur erfolgt, erfolgt auch mit Notwendigkeit. 5 Ist es dementsprechend
ein sicherfüllendes Handeln, das gegenüber dem Hervorgebrachten keinen
Rest an Potentialität für sich zurückbehält, dann ist alles, was aus der Substanz folgt, allein durch deren Notwendigkeit bestimmt. Deshalb existiert
und handelt, so könnte man folgern, jedes Seiende in einer Weise, die durch
diese Notwendigkeit bestimmt ist. Doch ist es das Programm der >>Ethica<<,
zu zeigen, daß es ein menschliches Handeln gibt, das durch ein Können
ausgezeichnet ist, kraft dessen es ein freies Handeln ist. Die Explikation
eines solchen Handelns ist das Kernstück der in der >>Ethica<< exponierten
Ethik. Es muß mit der Theorie Gottes verträglich sein und darf nicht im
Widerspruch zu der These stehen, daß das Subjekt, dem es zugesprochen
wird, ein Modus ist, der aus der Notwendigkeit der Natur Gottes folgt.
In einem Vorgriff sei die Differenz zwischen dem göttlichen und dem
menschlichen Handeln kurz erläutert.
Auch Gott handelt und zwar wesentlich, weil sein Wesen darin besteht,
Wirkungen hervorzurufen, die aus dessen Notwendigkeit folgen. >>Gott handelt allein nach den Gesetzen seiner Natur (ex solis suae naturae legibus)
und von niemandem gezwungen<< (I, prop. 17). Allein aus den Gesetzen
seiner Natur heraus zu handeln, bedeutet, von niemandem zum Handeln
gezwungen zu werden, weder, wie es coroll. 1 formuliert, von außen (extrinsece) noch von innen (intrinsece). Von außen nicht, weil es keinen Hinblick gibt, der Gott leitet, etwa der Hinblick auf den Menschen und dessen Wohlergehen. Von innen nicht, weil in Gott kein Vermögen ist,
4 Vgl. meine Abhandlung »Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas«. In:
Zeitschr. für philosoph. Forschung 28, 1974, S. 132-145.
5 Vgl. hierzu W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt/Main
1966, 36 ff.
>>Ethica« und Ethik
7
das von seinem Wesen noch verschieden wäre, etwa ein Wille oder ein allwissender Verstand. Die Innerlichkeit des Handlungsantriebes ist die göttliche Natur selber, die sich in den Wirkungen, die sie hervorbringt, erfüllt
und darin ihre Vollkommenheit hat. Wille oder Verstand wären andererseits Vermögen, die gegenüber ihren Produkten noch etwas für sich zurückbehielten und deshalb ihnen transzendent blieben. Die immanente
Kausalität Gottes (>>Deus est omnium rerum causa immanens, non vero
transiens«, I, prop. 18) enthält dagegen, daß Gott nicht zum Handeln eigens
veranlaßt werden muß, sondern notwendigerweise handelt, sofern er existiert. Und da er kraft seines Wesens existiert (I, prop. 11 ), handelt er nicht
auch noch, sondern sein Wesen ist Handeln: Die Macht Gottes ist dessen
Wesen selbst (>>Dei potentia est ipsa ipsius essentia«, I, prop. 34). Daraus
folgt dann, daß Gott allein eine freie Ursache ist (>>solum Deum esse causam liberam<<, I, prop. 17, coroll. 2). Gott ist frei, weil die Wirkungen aus
seinem Wesen selber folgen, er sich also durch sein Wesen allein zum Handeln bestimmt (vgl. I, def. 7: >>Ea res libera dicitur, quae ex solae suae naturae necessitate existit, et a se sola ad agendum determinatur<<), und allein
er ist frei, weil nur ein Wesen aus seiner Natur heraus notwendig existiert
und deshalb causa sui ist (>>Deum esse unicum<<, I, prop. 14, coroll. 1). Gott
handelt nicht nur allein aus den Gesetzen seiner Natur heraus, sondern
auch allein er handelt so und kein anderer. Impliziert ist darin natürlich auch, daß Gott nicht leidet, und daß deshalb sein Handeln nicht,
relativ darauf, mögliches Handeln ist. Es ist kein Handeln, zu dem er
erst gelangen müßte in der Befreiung von dem, worin er nicht handelt,
sondern leidet. Für ein solches Handeln, das göttliche, ist eine Ethik sinnlos; sinnvoll ist sie offenbar nur für das Handeln endlicher Wesen, die Modi
sind.
Nun ist es eine Konsequenz der Theorie des in den Dingen sich erfüllenden Wesens Gottes, daß die Wesensbestimmung Gottes in die Dinge, die
Modi, eingeht. Konsequenterweise wird deshalb auch das, worauf die Ethik
hinausläuft, die Glückseligkeit, als Tugend bestimmt (>>Beatitudo ... est ...
ipsa virtuS<<, V, prop. 42), die Spinozas Definition zufolge dasselbe wie
Macht ist (>>Per virtutem et potentiam idem intelligo<<, IV, def. 8). Macht
ist die ontologische Grundbestimmung jedes Seienden (vgl. III, prop. 7,
dem.), das von Gott, der wesentlich Macht ist, bestimmt ist. Während aber
Macht als Wesensbestimmung jedem Menschen wie jedem Seienden
zukommt, so ist doch nicht jeder Mensch schon im Besitz der Tugend. Bezogen auf den Menschen wird die Tugend von Spinoza als dessen Wesen bzw.
dessen Natur definiert, sofern es in seiner Gewalt (potestas) steht, etwas
zu bewirken, das durch die Gesetze seiner Natur selbst eingesehen werden
8
Gott und Mensch
kann: »Virtus, quatenus ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu
natura, quatenus potestatem habet quaedam efficiendi, quae per solas ipsius
naturae leges possunt intelligi« (IV, def. 8). Somit steht die Tugend des Menschen unter einer Bedingung (>>potentia quatenus<<), daß sie sich nämlich
als Gewalt (potestas) über etwas erweist, die der Mensch selber hat und
die ihm darin in anderer Weise eigen ist, als ihm sein Wesen zukommt.
Denn dieses kommt ihm zu, ohne daß es etwas für ihn sein müßte. Folgt
aus dem Wesen jedes einzelnen notwendigerweise irgendetwas (vgl. I, prop.
36: >>Nihil existit ex cuius natura aliquis effectus non sequatur<<), so besteht
die menschliche Tugend gegenüber dieser ontologischen Grundbestimmung
darin, nicht nur etwas zu bewirken und somit in einem generellen Sinne
zu handeln, sondern darüber hinaus die Gewalt zu haben, solches zu bewirken, das aus dem Wesen des Menschen selbst eingesehen werden kann. Ein
solches Bewirken nennt Spinoza >>Handeln<< (agere) im strengen Sinne: >>Ich
sage, wir handeln, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen
adäquate Ursache wir sind, d.h .... wenn aus unserer Natur etwas in uns
oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann<< (III, def. 2). Der Mensch handelt demnach, obschon er wie jedes
Seiende notwendigerweise etwas bewirkt, nicht auch immer schon; er tut
es nur unter bestimmten Bedingungen. Fehlen diese Bedingungen, dann
leidet er: >>Dagegen sage ich, wir leiden, wenn in uns etwas geschieht oder
aus unserer Natur etwas folgt, dessen bloße Teil-Ursache wir sind<< (111,
def. 2). Tugendhaft ist er also nur unter Bedingungen, die in seiner Gewalt
stehen. Der Mensch ist demnach durch ein Können ausgezeichnet, das seine
Tugend ist. Die Ethik, die dieses Können entfaltet, ist deshalb eine Theorie menschlichen Handelns in der Abhebung vom menschlichen Leiden,
eine Theorie menschlicher Freiheit in der Abhebung von der menschlichen Knechtschaft. Der letzte Teil der >>Ethica<< handelt von der menschlichen Freiheit (>>de libertate humana<<) und in eins damit (>>SeU<<), wie die
Überschrift sagt, von der Macht der Einsicht (>>de potentia intellectus<<).
Sie macht es, daß der Mensch nicht nur, wie alles Seiende, potentia ist,
sondern auch eine Gewalt (potestas) hat, etwas zu bewirken, das aus ihm
allein folgt, worin er frei ist. Diese Freiheit ist zugleich eine Befreiung von
der Knechtschaft der Affekte und darin eine spezifische Leistung des Menschen. In ihr gründet das, was >>Ethik<< genannt wird.
Unbedingte Substanz und menschliches Interesse
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2. Unbedingte Substanz und menschliches Interesse
Nun ist in der Tat nicht zu sehen, daß ein so zu verstehendes menschliches Handeln aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgt. Wenn Spinoza zu Beginn des Teils II, und dies offenbar aus der Perspektive dessen,
was er in Teil I bezüglich der Natur der Substanz entwickelt hat, folgert,
daß das nunmehr zu Thematisierende, der Modus Mensch, nur etwas unter
dem unendlich Vielen ist, das mit Notwendigkeit aus der Natur Gottes
folgt, so scheint das verloren zu gehen, was zur Ethik gehört: daß der
Mensch einen Weg geht, den er geht unter Bedingungen seiner Endlichkeit, die es machen, daß er ihn auch verfehlen kann. Diese Bedingungen
müßten enthalten, daß der Mensch den Weg gegen ein Verfehlen gehen
kann. Dann läge es an ihm, daß er ihn geht; und die Freiheit, die ihm zugesprochen wird, wäre Ausdruck dessen, daß er etwas von sich aus zustande
gebracht hat. Wird in der Ethik dergestalt eine spezifische Leistung des
Menschen in Anspruch genommen, dann muß sie verständlich gemacht
werden können aus dem, was der Mensch ist. Und hierfür bedarf es einer
Theorie des Menschen, die nicht gegeben werden kann, wenn der Mensch
lediglich als eine Folge der Unendlichkeit Gottes verstanden wird. Der
Mensch, der nicht durch sich selbst ist, sondern ein Modus, der in seinem
Sein von der göttlichen Substanz abhängt, ist auf die Substanz verwiesen,
gegen die, d.h. unabhängig von der, das menschliche Sein nicht begriffen
werden kann. Doch bedeutet das nicht, daß es auch aus ihr begriffen werden könnte, dann nämlich nicht, wenn zu ihm etwas gehört, das nicht als
eine Folge der Substanz verstanden werden kann.
Kann nur soviel behauptet werden, und Spinoza ist offenbar am Ende
von Eth. I nicht in der Lage, mehr als dies zu behaupten, daß der Modus
Mensch aus der Natur der Substanz folgt, dann ist das eine inhaltsleere,
weil unspezifische These. Er folgte aus der Substanz, weil alles, was ist,
aus ihr folgt, Konsequenz der in den Dingen (Modi) sich erfüllenden Kausalität Gottes. Auf dem Stand der Argumentation, der mit den Darlegungen von Eth. I erreicht ist, kann sich Spinoza nur auf diese Form der immanenten Kausalität berufen. Dann ist das Bestimmte, welches auch immer,
das untersucht wird, lediglich etwas von dem unendlich Vielen, das aus
dem unendlichen Wesen folgt. In dieser Perspektive würden gar keine spezifischen Merkmale eines singulären Modus in den Blick kommen; es würde
an einem einzelnen nur aufgezeigt werden können, was für jegliches einzelne gilt. Die Untersuchung dessen, was aus Gott folgt, hätte dann die
Bedeutung, an den Wirkungen (effectus) der göttlichen potentia nur bestätigend aufzuweisen, was die Strukturanalyse dieser potentia in Eth. I schon
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Gott und Mensch
erwiesen hat. Doch kann der Eingangssatz zum Vorspann von Eth. II, der,
sich der Vergangenheitsform bedienend, formuliert, daß das zu explizieren sei, was aus der göttlichen Natur mit Notwendigkeit folgen mußte
(»ea ... quae ex Dei ... essentia necessario debuerunt sequi«), auch unter
dem schwächeren Aspekt verstanden werden, daß das zu Explizierende und
damit alles, was Gegenstand der weiteren Teile der >>Ethica<< sein wird, im
Horizont dessen steht, was schon entwickelt worden ist.
Damit ist dann noch nicht gesagt, in welcher Weise es darin steht, es sei
denn, man begnügt sich mit dem leeren Hinweis darauf, daß es eine notwendige Weise ist, worin das einzelne, das es jetzt zu untersuchen gilt, ganz
unbestimmt bliebe. Wenn sich seine inhaltliche Bestimmtheit nicht aus der
Substanz deduzieren läßt, dann bliebe zwar die Möglichkeit, eben daraus
zu folgern, daß solche Bestimmtheiten bloßer Schein sind und daß in Wahrheit alles Eins ist. Doch würde diese mögliche Folgerung mit Spinoza nichts
zu tun haben. Sie würde nicht nur die Teile II- V der >>Ethica« und die
dort gegebene Theorie des Menschen unverständlich machen, sondern auch
Teil I und die dort gegebene Theorie Gottes, insofern sie das Grundtheorem, daß das Eine Vieles produziert, preisgeben müßte. Denn die VielheitsThese machte unter dieser Voraussetzung keinen Sinn, die nur Sinn hat,
wenn es ein in sich differenziertes Vieles gibt, das von der Substanz produziert wird. Eine solche auf einen Pseudo-Spinozismus hinauslaufende Interpretation müßte die Zuwendung Spinozas zu einem bestimmten Modus
in Teil II aus einem Interesse heraus erklären, das sich auf den Menschen
allein deshalb richtet, weil es verbreitete Vorstellungen unter den Menschen gibt, daß der Mensch ein bestimmtes in sich ausgezeichnetes Seiendes sei. Von ihm zu zeigen, daß er ein Modus ist, bedeutete dann, diese
Vorstellungen als Illusionen zu entlarven. Einer solchen Interpretation
zufolge wäre das Interesse, das Spinoza an dem Menschen nimmt, als ein
kritisch-destruktives zu deuten: Spinoza wolle aufzeigen, daß menschliches
Glück gegen die Vorstellungen, die die Menschen von ihm haben, als etwas
zu erweisen ist, das nicht in der menschlichen Freiheit und einem daraus
resultierenden, dem Menschen zurechenbaren Handeln gründet, daß der
Mensch vielmehr wie unendlich viel anderes Seiendes ein Modus sei und
darin nichts als die notwendige Folge des göttlichen Wesens, dessen Struktur Eth. I entfaltet hat. Das hieße, daß an einem bestimmten Seienden nur
aufgezeigt wird, was Eth. I zufolge generell und für alles Seiende gilt, daß
der Mensch also ein Fall von Modus überhaupt ist und unter den unendlich vielen Fällen nur thematisch wird, um verbreitete Vorstellungen über
ihn als eine Illusion zu erweisen. Dann wäre freilich die Ethik eine AntiEthik und die Verbindung von menschlichem Glück und menschlicher
Unbedingte Substanz und menschliches Interesse
11
Freiheit, die Teil V darlegt, ein interner Widerspruch im System Spinozas.
Die »Ethica<< wäre der Sache nach mit Teil I abgeschlossen. Alles Folgende
wären Folgerungen mit Bezug auf Adressaten, die sich mit der Sache noch
nicht vertraut gemacht haben. Sie hätten im wesentlichen die pädagogische Funktion, Leser mit einem schon exponierten und hinreichend erwiesenen Sachverhalt vertraut zu machen, in dessen Gefüge der Mensch keine
besondere Rolle spielt.
Eine solche Interpretation ist aber allein deshalb unhaltbar, weil sie leugnen müßte, daß in der Pädagogik des Abbaus von Vorurteilen der Mensch
in einer bestimmten ihm zukommenden Fähigkeit in Anspruch genommen wird. Grundgedanke der Philosophie Spinozas ist aber, und das steht
konträr zu einer solchen Interpretation, daß jemand nur dann mit einer
Sache vertraut ist, wenn er sie auch begriffen hat. Dem entspricht der
strenge dem Beweisverfahren des mos geometricus verpflichtete Aufbau
der weiteren Teile der »Ethica<<. Die Adressaten der >>Ethica<< müßten, sollte
das Buch eine pädagogische Funktion haben, mit einer Vernunft ausgestattet
sein, in deren Gebrauch sie die entwickelte Sache, also die Struktur der
göttlichen Substanz, zu begreifen in der Lage wären. Als Wesen, die ihre
Vernunft gebrauchen, wären sie aber tätige Wesen, die etwas von sich aus
tun, im Unterschied zu dem Seienden, das nicht so bestimmt ist und darin
durch ihm Äußeres gezwungen wird. Ganz gewiß kann die >>Ethica<< auch
als Schrift gegen die menschlichen Vorurteile gelesen werden - Spinoza
selber hebt dies im Anhang zu Teil I hervor. Aber sicher ist, daß ein Element, das Spinoza vehement hervorhebt, nicht zu den verbreiteten vorurteilshaften Vorstellungen, die es abzubauen gilt, gehört: daß menschliches
Glück an eine Weise menschlichen Erkennens gebunden ist und zwar diejenige, die vollkommen adäquat ist und die als diese dem Menschen möglich ist. Gerade dies wird von Spinoza gegen die menschlichen Vorurteile
gekehrt, und darin werden die Vorurteile als etwas erwiesen, in dem der
Mensch sich zu wenig zumutet, in dem er also hinter dem zurückbleibt,
was er kann, und in dem er sich deshalb als unfrei erweist.
Allerdings, gerade auch von daher bleibt es richtig, daß es ein Interesse
Spinozas ist, das zu dem führt, was er in den Teilen II- V der >>Ethica<<
thematisieren wird. Es ist nicht das Interesse, die Selbständigkeit des Modus
Mensch als eine bloß vermeintliche aufzudecken, sondern ein Interesse,
das von der Selbständigkeit dessen, der interessiert ist, schon ausgeht. Ein
solches Interesse kann nicht aus der Substanz folgen. Unabhängig von ihr
besteht es als das Interesse an einer vernünftigen Weltorientierung des Menschen, das der natürliche Ausgangspunkt des Philosophierens ist. Von ihm
ist zu zeigen, daß er ein wohlgegründetes Fundament hat, und dem dient
12
Gott und Mensch
die Theorie der göttlichen Substanz. Gott könnte nicht ein solches Fundament sein, wenn er nicht auch die Ursache singulärer Modi wäre. Die Theorie singulärer Modi ist von diesem Interesse getragen, denn es ist der einzelne Mensch, der sich da orientiert und der im Aussein auf eine vernünftige
Orientierung sich von anderem unterschieden weiß. Unter dieser Voraussetzung ist die Zuwendung zu dem Modus Mensch keine beliebige Zuwendung zu irgendetwas unter dem unendlich Vielen, sondern die Zuwendung
zu demjenigen Seienden, das von sich her ausweisen kann, daß es überhaupt ein Vieles von Singulärem gibt und damit ein Vieles, das in sich unterschieden ist. Allerdings liefert das bloße Aussein auf vernünftige Orientierung nicht auch schon eine deutliche Unterscheidung der Dinge untereinander und damit nicht ein deutliches Wissen um die Stellung des Menschen innerhalb der Welt. Es könnte ein müßiges Unternehmen sein, das
lediglich von den Menschen selbstgemachte Unterscheidungen gewinnt,
die nicht die Sache, wie sie an sich selbst ist, erfassen.
Deshalb ist die vernünftige menschliche Orientierung in deren Möglichkeit erst zu erweisen, und genau dem dient die Theorie der absoluten Substanz.6 Sie steht darin im Dienst einer menschlichen Angelegenheit. Das
bedeutet, daß die absolute Substanz in der Theorie auf ein von der Substanz Verschiedenes bezogen wird, auf ein menschliches Interesse, das seinerseits einen begründeten Ausweis nur unter der Bedingung erfährt, daß
die unendliche Substanz endliche Modi produziert. Nun enthält die Exposition der Struktur Gottes in Eth. I schon, daß Gott nicht nur Unendliches produziert, sondern auch Dinge (I, prop. 24), die als res particulares
(I, prop. 25, coroll.) endliche Dinge sind. Aber es ist eine These, die etwas
in Anspruch nimmt, was auf der Ebene der Strukturanalyse von Eth. I nicht
entwickelt werden kann, sondern nur aus der Perspektive eines endlichen
Modus, der ein besonderes, von anderen unterschiedenes Seiendes ist. Der
Hinblick auf einen solchen Modus geht der Theorie der Substanz voraus,
aber so, daß er als ein legitimer Hinblick durch die Theorie zu rechtfertigen ist. Die Theorie ist darin durch den Hinblick auf das zu Rechtfertigende geleitet. Der leitende Modus ist dabei der Mensch in seiner Bestimmung, Geist zu sein (mens humana). 7
6 Vgl. hierzu meinen Aufsatz >>Metaphysik und Ethik in Spinozas 'Ethica'<<. In: Studia Spinozana VII, 1991.
7 Spinoza entwickelt keine Anthropologie im eigentlichen Sinne (vgl. A. Matheron,
L'anthropologie spinoziste? In: Ders., Anthropologie et politique au XVIIIe siede, Paris
1986, S. 17-27), sondern thematisiert den Menschen in erster Linie als erkennendes
Wesen. Die Verfassung des Menschen wird dabei vor allem über die unterschiedlichen
Formen seines Erkennens bestimmt.
Unbedingte Substanz und menschliches Interesse
13
Von jedem nichthumanen Seienden ist es zweifelhaft, ob ihm eine
Bestimmtheit an ihm selbst zukommt, solange es nur Gegenstand unserer
Betrachtung ist und von ihm nicht gezeigt werden kann, inwiefern es eine
Selbsterfahrung macht. Von anderer Gewißheit ist für Spinoza die Existenz
des denkenden Menschen, nicht in dem cartesischen Sinne, daß die Existenz in einem Prozeß des Zweifelns als unbezweifelbar bewiesen wird,
sondern im Sinne einer natürlichen Erfahrung, die ein Mensch an sich selber macht, sofern er darauf aus ist, sich vernünftig zu orientieren. Sie geht
als Prämisse in das System ein, gewiß nicht im Sinne eines Prinzips, aus
dem sich anderes deduzieren ließe, aber im Sinne eines ursprünglichen Interesses, das der Mensch an sich selber nimmt. Es ist das Interesse, WehZusammenhänge zu begreifen und aus dieser Erkenntnis heraus den Ort
des Menschen in der Welt zu bestimmen, in bezug worauf Spinoza sein
System organisiert. Es ist ein aufklärerisches Interesse, das das Ziel hat,
den Menschen zu dem zu bringen, was er aufgrund klarer und deutlicher
Einsicht vermag, und ihn darin zu befreien von einer Fremdbestimmung,
der er, bloßen Meinungen folgend, erliegt. Das Vorhandensein dieses Interesses, in dem es dem Menschen um sich selber geht, wird als Indiz dafür
verstanden, daß es ein endliches Seiendes gibt, das etwas an ihm selbst ist.
Spinozas Philosophie kann als eine Theorie gedeutet werden, die durch
dieses Interesse motiviert ist und die zugleich von der Einsicht getragen
ist, daß es einer Theorie der unbedingten Substanz bedarf, von der her erst
eine befriedigende Antwort auf die durch das Interesse hervorgerufenen
Fragen gegeben werden kann. Sie zeigt, daß ein endliches Seiendes in dessen Sein als Modus dieser Substanz bestimmt werden muß.
Daraus ergibt sich, daß die in Teil I entwickelte Theorie der absoluten
Substanz als Erklärungsprinzip für das Sein dessen, was in den weiteren
Teilen entwickelt wird, zu verstehen ist, daß das dort Entwickelte aber
nicht aus der Substanz deduziert werden kann. Wie sollte aus dem, das an
nichts interessiert ist, weil es die in den Dingen sich erfüllende Ursache
von allem ist, ein Seiendes folgen können, das wesentlich durch Interesse
gekennzeichnet ist? Das Interesse an vernünftiger Orientierung ist eine Perspektive, unter der der Mensch sich betrachtet, unter der er aber nicht notwendigerweise steht. Sie wird von Spinoza gegen eine andere Perspektive
zur Geltung gebracht, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Mensch Vorurteilen unterliegt. Auch diese Perspektive hat, nicht anders als jene, ihren
Grund in der Verfassung des Menschen, aus der Spinoza die Vorurteile in
der ihnen eigenen Wirklichkeit verständlich macht. Die vernünftige Perspektive, die sich auf ein adäquates Wissen stützt, wird sich deshalb nur
im Hinblick auf diese Verfassung entwickeln lassen. Hierfür sind die
14
Gott und Mensch
spezifischen Bedingungen zu entfalten, unter denen der Mensch ein adäquates Wissen haben kann, die erst der These, daß er ein solches Wissen
hat und darin frei ist, eine Überzeugungskraft verleihen. Diese Bedingungen gehören zu dem, was es von Teil II an zu explizieren gilt. Das zu explizierende Was wird auch das Feld der Körperlichkeit (Gegenstand auch von
Teil II) und das der Affektivität (Gegenstand von Teil III) umfassen, innerhalb welchen Rahmens die Theorie menschlicher Knechtschaft (Gegenstand
von Teil IV) und menschlicher Freiheit (Gegenstand von Teil V) entwickelt
wird.
Es ist evident, daß die spezifischen Bestimmungen, durch die das menschliche Sein charakterisiert wird, nicht aus der göttlichen Substanz folgen
können, zumindest nicht aus der Struktur, die Eth. I entfaltet hat. Die Analyse, die zeigt, daß unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen aus dem
Wesen Gottes mit Notwendigkeit folgt, zeigt noch nicht, was daraus folgt,
sofern dieses Was ein inhaltlich Bestimmtes ist. Der neue Gegenstand der
Untersuchung in Eth. II, der menschliche Geist, steht im Feld der in
Teil I entwickelten Gotteslehre, doch hat er dort nicht entwickelt werden
können als etwas, das aus dem Wesen Gottes folgt. Das hat nicht darstellungstechnische Gründe, sondern sachliche, die in der Struktur der absoluten Substanz liegen. Denn die Analyse dieser Struktur gibt keinen Bezug
der Substanz zu einem bestimmten Modus her. Ganz gewiß folgt nicht aus
der Definition von Substanz oder auch dessen, was ein Modus ist, daß ein
bestimmtes Seiendes vom Charakter des Modus existiert. Die Definitionen formulieren nur Kriterien für das, was als Substanz bzw. als Modus
anzusehen ist, enthalten jedoch nicht, welches Seiende den Kriterien genügt,
die in die Definition eingehen. 8 Dergleichen muß in Lehrsätzen erwiesen
werden, und Spinoza zeigt es in Eth. I nur für das Seiende, das den Kriterien von Substanzialität genügt, nämlich Gott, nicht jedoch für Seiendes
vom Charakter des Modus. Die Lehrsätze, in denen Modi dort thematisch
werden, bestimmen Modi, unterschieden in unendliche und endliche, unter dem wesentlichen Merkmal der Substanz, potentia zu sein. Aber sie
fassen unendliche und endliche Modi nicht als inhaltlich bestimmte, weil
sich derartige Inhalte nicht aus dem Begriff Gottes gewinnen lassen. Von
ihnen ist auf der Ebene der Strukturanalyse Gottes nur als von Modi überhaupt die Rede. Selbst die Differenzierung des Wesens Gottes in Attribute
bleibt bloß formal und führt nicht schon zu inhaltlich bestimmten Attributen. Als diese sind sie erst in Teil II thematisch und zwar im Zusam8 Vgl. K. Cramer, Kritische Bemerkungen über einige Formen der Spinozalnterpretation. In: Zeitschr. für philosoph. Forschung 31, 1977, S. 527-544.
Unbedingte Substanz und menschliches Interesse
15
menhang des bestimmten Modus Mensch, dessen inhaltliche Bestimmtheit,
nicht aus der Substanz deduziert, axiomatisch eingeführt wird.
Allerdings enthält Eth. I in der dort gegebenen Verhältnisbestimmung
von Substanz und Modi die These, daß es eine Vielheit singulärer Modi
gibt (I, prop. 25, coroll.) und damit eine Vielheit von in sich unterschiedenen Modi, die von der Substanz hervorgebracht wird. Deren Unterschied
kann nur ein inhaltlich bestimmter sein, der über die Formalbestimmung,
Modus zu sein, hinausreicht. Das enthält eine bedeutsame Implikation.
Wenn die These von der Vielheit endlicher Modi zur Theorie der Struktur der unendlichen Substanz gehört und wenn zugleich das, was es macht,
daß eine Vielheit von Unterschiedenem ist, nicht aus der für sich betrachteten Substanz gefolgert werden kann, dann kann erst in der Orientierung
an einem bestimmten Modus in dessen nichtdeduzierbarer Bestimmtheit
eine Generalthese der Gotteslehre expliziert und das heißt bewiesen werden. Insofern diese Orientierung in den Teilen II bis V der >>Ethica<<
geschieht, gehören diese Teile zu der Theorie Gottes, die im ersten Teil
dargelegt wird, als deren integraler Bestandteil hinzu. Sie enthalten nicht
die bloße Applikation von schon Erwiesenem auf einen bestimmten Fall.
Wenn aus der absoluten Substanz, wie sie in Eth. I entwickelt wird, kein
endlicher Modus deduziert werden kann, dann ist in die dort entwickelte
These, daß ein solcher aus ihr folgt, schon der Hinblick auf ein endliches
Seiendes eingegangen, das, wie Eth. II zeigt, der Mensch ist. Ihn zu thematisieren bedeutet, aus seiner Perspektive zu erweisen, daß er von der absoluten Substanz abhängig ist und daß er ohne sie weder sein noch begriffen
werden kann. Deshalb ist der Mensch als Geist (mens), der eine Perspektive einnehmen kann, thematisch. Als dieser ist er von fundamentaler
Bedeutung im Hinblick auf einen zu erweisenden Anspruch der Gotteslehre in Teil I, den zu erweisen zugleich bedeutet, daß der Mensch, der
den Erweis erbringt, einer vernünftigen Orientierung aus sich heraus fähig
ist. Im Gelingen der Orientierung bestätigt er die Gotteslehre, nicht als
eine Theorie, die ein Bestehen für sich hat, sondern als eine Theorie, die
die vernünftige Orientierung ermöglicht.
Darin bestimmen sich die Theorie Gottes und die des Menschen wechselseitig. Der Nachweis, daß der Mensch als Modus von der einen Substanz
abhängig ist, ist der Nachweis, daß der Mensch nicht durch sich selber ist;
er ist aber keineswegs der Nachweis, daß er ein unselbständiges Seiendes
ist, das nicht aus sich heraus handeln könnte. Denn gerade der Nachweis
der Abhängigkeit des Endlichen, der von seiten des Endlichen zu erbringen ist, steht unter der Bedingung der Selbständigkeit eines Endlichen, dessen, der sich in Beziehung zur Substanz bringen kann und darin sich aus
16
Gott und Mensch
der Substanz weiß. Demgegenüber bleibt das Endliche, das das nicht vermag, in einer Weise von der Substanz abhängig, die nichts für es selber ist,
worin sich dieses Endliche faktisch als unselbständiger Teil eines von ihm
selbst undurchschaut bleibenden Zusammenhangs erweist. Darin ist es bloß
leidend, d.h. unfrei, und hat allenfalls die Illusion der Freiheit. Freiheit
ist ein Merkmal des spezifischen Modus Mensch in einer ihm spezifischen
Verfassung, die durch eine bestimmte Weise des Erkennens gekennzeichnet ist.
Spinoza bestimmt, das ist zweifelsfrei, menschliches Handeln unter dem
Aspekt möglicher Freiheit. Der letzte Teil der >>Ethica« handelt von der
menschlichen Freiheit, die freilich nur eine solche ist, wenn der Mensch
sie realisiert und nicht in einer Möglichkeit beläßt. Menschliche Freiheit
muß mit der Theorie Gottes, die der erste Teil entwickelt, vereinbar sein.
Lehrsatz 15 dieses Teils legt jedoch dar, daß es kein Außerhalb Gottes geben
kann: »Was auch immer ist, ist in Gott (quicquid est, in Deo est)<<. Und
der darauffolgende Lehrsatz 16 zeigt, daß das, was in Gott ist, seine Wirklichkeit dadurch hat, daß es von Gott hervorgebracht worden ist. Alles
Wirkliche ist also nicht nur in Gott, sondern Gott ist auch in allem Wirklichen und zwar kraft seiner Kausalität, die sein Wesen ausmacht und damit
seine Realität, durch die alles andere wirklich ist. Von daher ist alles Wirkliche notwendige Folge des göttlichen Wesens, und die Position, die Seiendes anders versteht, ist ein bloßes Vorstellen, das sich von der Wirklichkeit ebenso eine Illusion macht wie, indem sie das, was wirklich ist, nicht
begreift, von Gott selber. Indem die >>Ethica<< mit einer Analyse der göttlichen Substanz, die von keinem Hinblick auf die endliche Subjektivität geleitet ist, beginnt, legt sie die Deutung nahe, daß alles Seiende und damit auch
der Mensch als notwendige Folge des aus seinem Wesen heraus produzierenden Gottes anzusehen ist. Man hätte dann allerdings die - höchst
bedenkliche- Schwierigkeit, die Rede von der menschlichen Freiheit am
Ende als einen Widerspruch zur Gottes-Theorie am Anfang interpretieren
zu müssen. Ihr entgeht man, wenn man den Menschen, der in Teil I der
>>Ethica<< nicht thematisch ist, dort schon präsent sein läßt. Dann eröffnet
sich eine Perspektive, die die menschliche Freiheit mit der Theorie Gottes
nicht nur verträglich macht, die vielmehr darüber hinaus diese Theorie so
versteht, daß sie menschliche Freiheit möglich macht. Das bedeutet allerdings, daß Gott unter der Perspektive des Menschen erscheint\ und wenn
9 Vgl. C. Troisfontaines, Dieu dans le premier Iivre de l'Ethique. In: Revue philosophique de Louvain 72, 1974, S. 467-481.
Unbedingte Substanz und menschliches Wissen
17
etwas charakteristisch für die Philosophie Spinozas ist, dann scheint es dies
zu sein, jene Perspektive als unangemessen zurückzuweisen. Gerade deshalb beginnt die >>Ethica<< ja unmittelbar mit Gott, weil der Weg, der auf
Gott von der Endlichkeit aus hinführt - derWeg Descartes', den Spinoza
vor Augen hat 10 - , zu einer verfehlten Bestimmung Gottes führt, in der
Gott von der endlichen Bedingtheit her gedacht wird und damit gerade
nicht als ein Unbedingtes. Doch ist das nur die eine Seite. Denn dieserWeg
führt nicht nur zu einer unangemessenen Bestimmung Gottes, sondern
auch, und das ist die Pointe Spinozas, zu einer unangemessenen Bestimmung der Endlichkeit. Eine Fehlkonzeption Gottes gereicht nicht Gott,
sondern allein dem Menschen zum Schaden.
3. Unbedingte Substanz und menschliches Wissen
In der Anmerkung zum Folgesatz von II, prop. 10, der eine Erörterung
dessen enthält, was zum Wesen des Menschen gehört, hat sich Spinoza zu
dem fehlerhaften Verfahren derjenigen geäußert, die nicht in rechter Weise
philosophieren (>>ordinem Philosophandi non tenuerint<<). Die diesbezügliche Darlegung ist zwar zu grob, als daß Descartes mit ihr beschrieben
sein könnte; gleichwohlläßt er sich unter das generelle Verfahren, das Spinoza kritisiert, subsumieren. 11 >>Die göttliche Natur, die sie vor allen anderen Dingen betrachten mußten, weil sie sowohl der Erkenntnis wie der
Natur nach das erste ist, haben sie für das letzte in der Ordnung der
Erkenntnis gehalten<< - die Erkenntnis geht nicht von Gott aus, sie führt
erst auf ihn hin. >>Und die Dinge, die man Objekte der Sinne nennt, glaubten sie, gingen allen anderen Dingen voran<< - die Erfahrung ist der Ausgangspunkt des Philosophierens, darunter ließe sich die Subjektivität des
Zweifelns fassen, aus der die Selbstgewißheit des Ich entspringt. >>Das hat
bewirkt, daß sie bei der Betrachtung der natürlichen Dinge an nichts weniger gedacht haben als an die göttliche Natur<< - die Selbstgewißheit des
endlichen Ich wird gegen Gott gewonnen. »Und daß sie später, als sie sich
dann anschickten, die göttliche Natur zu betrachten, an nichts weniger
haben denken können als an ihre anfänglichen Einbildungen, auf die sie
die Erkenntnis der natürlichen Dinge aufgebaut hatten, weil diese nämlich
IO Vgl. hierzu meine Einleitung in: Spinoza, Descartes' Prinzipien der Philosophie ... , Harnburg 1987 (Phi!. Bibi. 94).
11 Zur Abgrenzung Spinozas von Descartes vgl. E. Curley, Behind the Geometrical Method, Princeton 1988.
18
Gott und Mensch
zur Erkenntnis der göttlichen Natur nichts helfen konnten<<- die Theorie
Gottes überschreitet die zuvor gewonnenen Einsichten und ist mit diesen
unverbunden, insbesondere mit der Erkenntnisgewißheit; Gott wird die
Macht einer Gestaltung der Welt zugesprochen, die sich der subjektiven
Einsicht entzieht; das Prinzip, nur Aussagen zuzulassen, die dem Kriterium
der Klarheit und Deutlichkeit genügen, wird, was Gottes Wirksamkeit in
der Welt anbelangt, fallengelassen.
Das Resultat eines solchen methodischen Vorgehens ist dies, daß das
Verhältnis zwischen Gott und Endlichkeit rational unbestimmt bleibtund genau das wird von Spinoza kritisiert: daß ein Gott, auf den von der
Endlichkeit hingeführt wird, letztlich ein die Endlichkeit überschreitender Gott ist, aus dem dann die Endlichkeit nicht verständlich gemacht
werden kann. Daß Gott die alleinige Ursache aller Dinge ist, ist ein leerer
Satz, von dem deshalb gesagt werden kann, er sei allgemein anerkannt
(»apud omnes in confesso est<<). Schwierig wird es erst, wenn darzulegen ist,
wie er es ist, und das heißt, wie verständlich gemacht werden kann,
daß er Ursache von Dingen ist, die von ihm verschieden sind und zu denen
als endlichen er einen Bezug haben muß. Dieser Bezug läßt sich, so Spinoza, nicht angeben, wenn endliche Dinge zunächst unabhängig von
Gott betrachtet werden und dann von ihnen zu Gott fortgeschritten
wird. Denn dieser Fortschritt, in dem das Sein der Dinge erklärt werden
soll, ist ein Fortschritt von dem erklärenden Subjekt zu einem Prinzip,
das die eigene Erklärungsfähigkeit überschreitet. Wird von der eigenen
Endlichkeit aus auf Gott als das unbedingte Prinzip hingeführt, dann
geht die Endlichkeit in Gott dergestalt ein, daß er als eine höchste Vollkommenheit gedacht wird, in der lediglich die eigene Unvollkommenheit überwunden ist. Mit der Übertragung endlicher Prädikate auf Gott,
diese dort in gesteigerter und höchstvollkommener Weise vorgestellt,
wird das Absolute verendlicht und zugleich das Endliche unangemessen
vom Absoluten her verstanden. Das endliche Wesen überträgt auch das
ihm mögliche Wissen auf Gott, nicht nur in dem Sinne, daß das göttliche
Wesen alles in höchstvollkommener Weise weiß, sondern so, daß es
als etwas vorgestellt wird, das sich unserem Wissen entzieht, und daß wir
deshalb die Weise, in der wir und in eins damit die Dinge der Welt durch
es sind und von ihm abhängen, nicht wissen können. Gerade dadurch
wird die Möglichkeit einer Theorie der Endlichkeit in deren Relation
zum Absoluten preisgegeben, die für Spinoza ihre Grundlage darin hat,
daß ein Endliches sich aus dem Absoluten weiß. Der endliche Mensch
ist in seinem Wissen verwiesen auf eine transzendente Macht, deren
Beschlüsse oder wie immer man deren Akte nennen mag, er hinnehmen
Unbedingte Substanz und menschliches Wissen
19
muß, befangen im Nichtwissen, das er schließlich als einen Zufluchtsort
(asylum ignorantiae) 12 akzeptiert.
So ist es eine unangemessene Bestimmung Gottes von der Endlichkeit
her, die es unmöglich macht, daß der Mensch ein adäquates Wissen von
sich haben kann. Daß Gott unangemessen bestimmt wird, ist gewiß ein
Mangel, der den Begriff Gottes betrifft, aber nicht das ist entscheidend,
vielmehr sind es die Konsequenzen, die sich daraus für den Begriff des endlichen Subjekts ergeben: dessen Entmündigung, was zureichendes Wissen
anbelangt. Daß es Spinoza in seiner Philosophie um die Möglichkeit eines
zureichenden rationalen Wissens des Menschen geht, ist die nicht explizit
gemachte Voraussetzung seines Systems. Spinoza erhebt den Anspruch, darlegen zu können, daß der Menschaufgrund von Wissen Lebensverhältnisse
gestalten kann und zwar in Autonomie aus sich heraus. Die Möglichkeit
eines solchen Wissens aufzuzeigen, in dem der Mensch nicht auf transzendente Mächte verwiesen bleibt, denen er gläubig-hinnehmend zu folgen
hätte, ist wesentliches Anliegen Spinozas. Im Hinblick auf dieses Programm
hat die Entfaltung des Gottesbegriffs ihre Bedeutung. 13 Zureichendes Wissen könnte der Mensch in seiner Endlichkeit nicht erlangen, so die These
Spinozas, wenn er nicht schon von Gott bestimmt wäre, der aller Endlichkeit vorausgeht. Aber der der Endlichkeit vorangehende Gott kann nicht
unbezüglich auf die Endlichkeit konzipiert sein, sofern ihm eine Funktion
der Wissensermöglichung zukommt. Das Unendliche, das nicht vom Endlichen her gedacht werden kann, muß doch so gedacht werden, daß Endliches sich aus ihm wissen kann. D.h.: die Weise, in der das Unendliche das
Endliche bestimmt, steht unter der Bedingung, daß sie menschliches
Wissen ermöglicht und zwar ein vollkommen rationales, in dem der Mensch
Gottes und seiner selbst gewiß ist. Das macht es möglich, den Anfang der
12 An dieser Form menschlichen Selbstverständnisses entzündet sich Spinozas Kritik. Was sie dagegen kehrt, vollkommenes Wissen, ist etwas eminent Menschliches. Die
Wendung »ignorantiae asylum« findet sich im Anhang zu Eth. I im Zusammenhang
einer Kritik menschlicher Vorurteile, die Gott einen Willen zuschreiben, über den etwas
erklärt werden soll, das die Menschen nicht zu erklären vermögen. Schon die niederländische Fassunv, der »Cogitata Metaphysica<< enthält diesen Gedanken (Teil II, Kap.
7; Op. I, 261), und amEndeseines Lebens nennt Spinoza in einem Brief an Oldenburg
(Ep. 75) das Zurückführen auf die Unwissenheit (»redigendo ad ignorantiam<<) ironisch
eine neue Art der Argumentation (Op. IV, 313). Eine Skepsis gegen Spinozas absoluten Rationalismus ist auf dem Boden des Rationalismus am nachhaltigsten von F. Alquie,
Le rationalisme de Spinoza, Paris 1984, zum Ausdruck gebracht worden.
13 M. Guerou!t hat diesen Zusammenhang in aller Deutlichkeit herausgearbeitet und
zum Leitfaden seiner Interpretation des 1. Teils der »Ethica<< gemacht (Spinoza I, Paris
1968). V gl. meine Besprechung in »Neuere Spinoza-Literatur<<. In: Philosophische Rundschau 24 (1977), S. 7ff.
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Gott und Mensch
>>Ethica<< funktional auf deren Ende hin zu lesen, auf die Theorie menschlicher Freiheit, die untrennbar mit menschlicher Einsicht verbunden ist.
Der Anfang der >>Ethica<< ist dann, entgegen dem Anschein, nicht voraussetzungslos.
Er ist geleitet von einem Sachverhalt, der durch ihn ermöglicht werden
soll. Dieser Hinblick dürfte dem, was am Anfang thematisch ist, Gott, nicht
äußerlich sein, anders als bei den von Spinoza bekämpften anthropomorphen Vorstellungen Gottes. Gott müßte in diesem Bezug, vollständiges
rationales Wissen des Menschen zu ermöglichen, den ihm angemessenen
Begriff haben. Diese Bestimmung müßte sich aus dem Begriff Gottes selber als wahr erweisen lassen, was aber unmöglich ist, wenn dieser Begriff
nicht schon einen Bezug zum Menschen enthielte. Er kann unmöglich in
einem beziehungslosen Gott liegen, der, produktiv allein aus seiner Natur
heraus, gemäß der eigenen Unendlichkeit mit Notwendigkeit unendlich
Vieles produziert, in dem er ist und innerhalb dessen es von der göttlichen
Natur her kein ausgezeichnetes Seiendes geben kann, das sich von anderem Seienden unterscheidet, insbesondere nicht den Menschen, der durch
ein besonderes Erkenntnisvermögen ausgezeichnet wäre.
Es läßt sich aber zeigen, daß das Zentralstück der Theorie Gottes die fundamentale Bedingung einer Theorie zureichenden Wissens des Menschen
enthält. Es ist die Lehre von der immanenten Kausalität Gottes, derzufolge
die als potentia verstandene Essenz Gottes als eine in den Modi sich erfüllende potentia erwiesen wird, die nichts für sich zurückbehält, das nicht
in den Äußerungen präsent wäre. Nur weil es zum Wesen Gottes gehört,
in den Dingen zu sein, seine Macht also nicht als ein Können verstanden
wird, das in dem, was es hervorbringt, nicht aufgeht, kann Gott überhaupt
begriffen werden. Bezeichnenderweise hat der Lehrsatz, der den Begriff
der immanenten Kausalität einführt, einen polemischen Akzent: »Gott ist
die immanente Ursache (causa immanens) aller Dinge, nicht aber die übergehende (transiens)<< (I, prop. 18). Die Immanenz wird gegen die NichtTransienz eigens abgehoben. Darin kommt er mit dem vorhergehenden
Lehrsatz überein, der das Handeln Gottes positiv und negativ bestimmt:
aus dem Wesen Gottes selbst und nicht aus dem Hinblick auf ein von diesem Wesen Verschiedenes. Beide Lehrsätze sind Konsequenzen des mit
Lehrsatz 15 verknüpften Lehrsatzes 16, der die Notwendigkeit des göttlichen Wesens als hervorbringende Kausalität faßt, die auf alles, was überhaupt ist, gerichtet ist. Wie in I, prop. 15 gelegen ist, daß es kein Außerhalb Gottes geben kann, das ihn zwingen könnte, so ist in I, prop. 16
gelegen, daß Gott in seinem Hervorbringen nicht über sich hinausgeht und
deshalb in dem Hervorgebrachten ist. Daß das, was unvereinbar mit dem
Unbedingte Substanz und menschliches Wissen
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Wesen Gottes ist, nun eigens Inhalt von Lehrsätzen wird, in denen die Positivität Gottes gegen eine auszuschließende Negativität abgehoben wird, zeigt
an, daß die Lehrsätze einen Bezug auf Adressaten haben, der ihrem Inhalt,
dem Wesen Gottes, abgesprochen wird. Indem Gottes Wesen gegen ein
bestimmtes Verständnis von ihm gewendet wird, wird es zugleich auf ein
anderes Verständnis. bezogen, das gegen jenes verteidigt wird. Das kann
nur gelingen, wenn das zu verteidigende Verständnis durch den Begriff Gottes gerechtfertigt wird, der seinerseits hierfür tauglich sein muß. Es gelingt
dann, wenn er sich als bedingender Grund menschlicher Rationalität
erweist.
Diese These nimmt Bezug auf etwas, was prinzipiell bezweifelt worden
ist: daß der Mensch vollständige rationale Einsicht in Weltzusammenhänge
haben kann aufgrund eines Prinzips, das er nicht selber ist, das aber von
der Art ist, daß er in es Einsicht haben kann. Tritt Gott als ein solches
Prinzip auf, bedarf er der Verteidigung. Gott, der nur bei sich selber ist,
bedarf ihrer nicht. Auch die Dinge, die mit Notwendigkeit aus der göttlichen Natur folgen, bedürfen ihrer nicht, es sei denn gegenüber denjenigen, die den Sachverhalt nicht begreifen; doch das wäre dem Sachverhalt
gegenüber äußerlich. Daß Gott aber einen Bezug auf etwas hat, das nicht
aus ihm folgt, ein menschliches Begreifen, das bedarf der Verteidigung.
Denn hier wird Gott unter eine Perspektive gebracht, die eine menschliche ist. Gott erkennt nicht; der Mensch erkennt; und der Mensch erkennt
nicht notwendigerweise in der von Spinoza beschriebenen Form von Rationalität. Sonst gäbe es nicht eine Vielzahl anderer Theorien, die den spinozanischen Anspruch bezweifeln. Gott hat seinen Ausweis darin, daß er rationales Erkennen ermöglicht und damit eine Form von Tätigkeit, die einem
Modus zugesprochen wird. Sie könnte dem Modus nicht zugesprochen werden, wenn er nicht durch Gott bestimmt wäre. Daß Gott ihn aber in dieser Form von Tätigkeit bestimmt, könnte aus einem Gott, der nicht schon
auf den Menschen hin konzipiert wäre, nicht gefolgert werden.
Deshalb folgert es Spinoza auch nicht in Eth. I, die eine Analyse Gottes
enthält, die von keinem Hinblick auf von Gott Verschiedenes geleitet ist.
Steht unser Begreifen unter der Bedingung eines uns vorangehenden Gottes, dann ist Gott auch unabhängig von uns zu analysieren. Nicht nur
darf in ihn nicht ein Verständnis eingehen, das der Mensch von sich selbst
hat, ohne schon durch Gott bestimmt zu sein, also kein falsches Verständnis. Gott darf überhaupt keinen Bezug auf ein begreifendes Subjekt
haben, durch den er ausgezeichnet wäre. Denn dann wäre er, wie auch
immer, vom Subjekt her gedacht und nicht als das absolute Wesen, das
sich seinem Begriff nach nicht auf Bestimmtes einschränkt. Das Begreifen
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Gott und Mensch
ist das Merkmal eines bestimmten Modus, und Gott kann nicht in eminentem Maße Prinzip des Menschen sein, sondern muß gleichermaßen Prinzip von allem sein, das überhaupt ist.
Die Unbezüglichkeit auf den Menschen ist aber notwendigerweise
zugleich die Unbezüglichkeit auf je Bestimmtes überhaupt. Sie wird durch
eine reine Formanalyse gewonnen, die bloße Strukturen exponiert. Die
Struktur Gottes wird durch Eigentümlichkeiten (propria) wie die, daß Gott
einzig, unendlich, unteilbar, ewig ist, beschrieben, vor allem aber durch
Merkmale seines Wesens (essentia), die das als Macht (potentia) bestimmte
Wesen nach den beiden Hinsichten von Produktivität (causa) und Produkt
(effectus) als Attribut und Modus bestimmen, deren unendliche Vielheit
im Begriff der Substanz ihre Einheit hat. Im Vorspann zu Eth. li hat das
Spinoza aufgenommen. Sie, die Substanz, produziert unendlich Vieles (infinita), die Modi, auf unendlich viele Weisen (infinitis modis), nämlich unter
den unendlich vielen Attributen. Aber es sind Attribute überhaupt und
Modi überhaupt, diese differenziert in zwei unendliche und unendlich viele
endliche. Welche es sind, wird nicht gesagt, weil es sich nicht aus der formalen Analyse der Substanz ergeben kann. Auf der Ebene dieser Strukturanalyse kann gar nicht vom Modus Mensch gesprochen werden und nicht
von seinem Erkennen, weil es nicht Gegenstand dieser Analyse sein kann.
Eine formale Strukturanalyse, des Bezuges auf menschliches Erkennen entbehrend, kann offensichtlich das rationale Begreifen als eine Folge Gottes
nur verständlich machen, wenn sie schon daraufhin angelegt ist und wenn
mit ihr etwas verfolgt wird, das nicht selber Gegenstand dieser Analyse
ist. Das ist in der Tat der Fall, insofern das menschliche Erkennen in Eth. I
in Anmerkungen, in denen der Autor auf die zu entwickelnde Sache reflektiert, Thema ist. Dem Deduktionsgang more geometrico äußerlich, gehören die Anmerkungen insofern zur Sache, die entwickelt wird, als sie Ausdruck der Strategie sind, unter der die Sache dargelegt wird.
4. Das menschliche Vorurteil
Der Anhang zu Eth. I bestätigt dies. Dort nimmt Spinoza zu dem Dargelegten Stellung und mißt dabei den Anmerkungen eine besondere Bedeutung bei. Am Beginn faßt Spinoza das in Teil I Dargelegte unter zwei
Gesichtspunkten zusammen: er habe die Natur Gottes und dessen Eigenschaften entwickelt und sich ferner (porro), also darüberhinausgehend,
darum bemüht, Vorurteile auszuräumen, die dem Begreifen (percipere) seiner Beweise hinderlich sein konnten. Er rekapituliert also nicht nur den
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