Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock 3 Verhaltensbiologie 3.1 Angeborenes und erlerntes Verhalten In der Verhaltensbiologie ist die Frage nach dem Ursprung von Verhaltensweisen von großer Bedeutung. Um angeborene Verhaltensweisen von erlernten zu unterscheiden werden KasparHauser-Experimente durchgeführt: Jungtiere werden ohne Artgenossen in reizarmen Umgebungen aufgezogen und Verhaltensweisen gezielt überprüft. Weitere experimentelle Methoden zum Nachweis erbbedingten Verhaltens Isolationsversuche, sogenannte Kaspar-Hauser-Versuche, führen zwar zu sehr guten Ergebnissen in der Unterscheidung von angeborenem und erlerntem Verhalten, sind nicht nur von der Durchführung her anspruchsvoll, von ethischen Gesichtspunkten her gesehen sind sie auch sehr fraglich. In der Verhaltensforschung an Tieren, insbesondere aber am Menschen sind also weitere Forschungsmethoden vonnöten. Beobachtung von Jungtieren unter natürlichen Bedingungen Jungtiere besitzen kaum Möglichkeiten sich erlerntes Verhalten anzueignen. Beispiele: o Vogeljunge sperren den Schnabel auf, sobald sich die Eltern dem Nest nähern. o Das Netz der Kreuzspinnen ist bereits kurz nach dem Schlüpfen genauso kunstvoll wie die späteren. o Neugeborene ergreifen bereits direkt nach der Geburt einen Finger, der ihnen in die Hand gelegt wird (Abb.). Gleiches geschieht übrigens an den Füßen! Beobachtungen an blind und taubblind geborenen Kindern Durch die eingeschränkte Reizaufnahme besitzen diese Konder kaum die Möglichkeit durch Imitieren zu lernen. Gezeigte Bewegungs- und Geräuschverhaltensweisen müssen also angeboren sein. Beispiele: o Blind geborene Kinder reagieren auf Lob wie Sehende mit Lächeln, Kopfsenken, Erröten, … Der abgebildete Elfjährige reagiert auf die Frage nach seiner Freundin (Abb.). o Taubblind geborene Kinder haben dieselbe Mimik beim Weinen, sie zeigen Wut und Zorn (Aufstampfen des Fußes, Zornfalten auf der Stirn) und lächeln oder lachen bei Freude (Abb.) Atrappenversuche Abstrahierte Objekte erzeugen Reaktionen, ohne dass eine direkte Kommunikation stattfinden kann. Zudem können einzelne Reizelemente gezielt untersucht werden. Beispiele: o Affenbabys klammern sich an Kunstpelzen fest (vgl. Kaspar-Hauser-Experimente). o Silbermövenjunge sperren den Schnabel auf, wenn ihnen eine Attrappe eines Mövenkopfes präsentiert wird. Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock Kulturenvergleich Entgegen klassischer Abgrenzungstendenzen lassen sich angeborene Verhaltensweisen nicht ablegen und finden sich deshalb über Kulturen hinweg. Beispiele: o Zahlreiche Ausdrucksbewegungen gleichen sich unter Menschen unterschiedlicher Kulturen. Beispielsweise sind der Ausdruck bei Verärgerung und Ekel einer Amerikanerin und einem Ureinwohner Neuguineas klar vergleichbar (Abb.). Mensch-Tier-Vergleiche Homolog auftretende Verhaltensweisen müssen vererbt sein. Beispiele: o Begrüßungs-, Aggressions- und Versöhnungsverhalten zeigen bei Menschenaffen und dem Menschen große Übereinstimmungen. 3.2 Reflexe Angeborene Reaktionen, die auf einen bestimmten Reiz unter den gleichen Bedingungen immer gleich erfolgen, werden Reflexe genannt. Diese Reaktionen erfolgen schnell, unbewusst und unwillkürlich. Sie sind zudem beliebig oft wiederholbar. Sie werden durch einfache Neuronenverschaltungen ermöglicht. Das dazugehörige Reiz-Reaktions-Schema wird als Reflexbogen bezeichnet. Der Kniesehnenreflex ist ein klassisches, einfaches Beispiel für einen Reflex. Durch Druck auf die Kniesehne unterhalb der Kniescheibe wird der Quadrizeps kurzzeitig gestreckt. Dies aktiviert die sogenannten Muskelspindeln, deren sensorische Nervenfasern ein Signal bis in das Rückenmark schicken. Alle sensorischen Fasern verlaufen durch die hinteren Wurzeln des Rückenmarks. Die Zellkörper der Neurone liegen in der hinteren Wurzel und bilden gemeinsam das sogenannte Spinalganglion. Im Rückenmark bildet die sensorische Nervenfaser eine Synapse mit dem Zellkörper eines Motorneurons aus. Dessen Axon verläuft durch die vordere Wurzel des Rückenmarks bis hin zum Quadrizeps und bildet hier eine motorische Endplatte mit dem Muskel aus. Die Reizung des Muskels bewirkt eine Kontraktion, welche zur Bewegung des Unterschenkels führt. Da dieser Reflex lediglich durch eine Synapse bewirkt wird, wird der Kniesehnenreflex als monosynaptischer Reflex bezeichnet. Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock Das Rückenmark wird im Übrigen, wird ebenso wie das Gehirn, in weiße und graue Substanz eingeteilt. Während die weiße Substanz aus myelinisierten Axonen besteht, welche vor allem Signale entlang des Rückenmarks transportieren, beinhaltet die graue Substanz Interneurone, Zellkörper und Synapsen. Reflexe können anhand von zwei Kriterien eingeteilt werden. Monosynaptische Reflexe werden durch nur eine Synapse verschaltet, polysynaptische Reflexe durch mehr als eine. Bei Eigenreflexen liegen Rezeptor und Effektor in demselben Organ, bei Fremdreflexen in unterschiedlichen. 3.3 Instinkthandlungen Instinkthandlungen sind komplexe, angeborene Verhaltensweisen bei denen verschiedene Synapsen und Muskeln beteiligt sind. Sie bestehen aus drei Elementen, der ungerichteten Appetenz, der Taxis (oder gerichteten Appetenz) und der Endhandlung. Der Reiz, der Taxis und Endhandlung auslöst wird Schlüsselreiz genannt. Während die Endhandlung einer Instinkthandlung nach Auslösung immer gleich abläuft (ähnlich einem Reflex), können Appetenz (Suche nach dem Schlüsselreiz) und Taxis (Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf den Schlüsselreiz) durch Lernprozesse verändert werden. Beispiele siehe AB 26 Das Schlüsselreiz-Konzept Niko Tinbergen und die Stichlinge Der Verhaltensforscher Niko Tinbergen hatte in seiner Zeit als Hochschullehrer in Leiden mehrere Aquarien mit Stichlingsmännchen auf der Fensterbank stehen. „Sooft ein rotes Postauto vorüberfuhr“ schreibt er „schossen sämtliche Stichlingsmännchen auf die Fensterseite ihres Beckens, verfolgten mit dem Blick das Auto und versuchten mit aller Gewalt, durch das Glas hindurchzuschwimmen.“ Ein stationärer roter Gegenstand war für die Stichlingsmännchen hingegen uninteressant. Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock Attrappenversuche Um den Schlüsselreiz zu identifizieren, werden oft Attrappenversuche eingesetzt. Das Rotkehlchen zeigt ebenfalls ein sehr aggressives Revierverhalten gegenüber männlichen Artgenossen. Forscher wollten dieses mithilfe von ausgestopften Rotkehlchen untersuchen. Diese wurden sofort als Eindringlinge erkannt und angegriffen. Übermalte man nun aber die rote Brust der ausgestopften Attrappe mit weißer Farbe, blieb der Angriff aus. Mehr Beispiele siehe AB 27 Betrachtet man das Ziel einer Instinkthandlung, so ist der Schlüsselreiz oftmals nur ein kleines, abstrahiertes Element der wahrnehmbaren Reize des Ziels. Beispiele: Rote Färbung der Unterseite von männlichen Rivalen bei Stichlingen und Rotkehlchen für das Abwehrverhalten Hoher Kontrast des Farbpunktes auf dem Schnabel der Mutter für die Pickreaktion von Mövenküken (tatsächliche Farbe nicht entscheidend!) Ein Schlüsselreiz, der von einem Artgenossen ausgeht, wird auch als Auslöser bezeichnet. (Beispiel: Erkennung von Konkurrenten) Innere Handlungsbereitschaft Neben dem Schlüsselreiz sind haben auf die Durchführung einer Instinkthandlung meist zahlreiche weitere Faktoren Einfluss. Diese können äußere oder innere Faktoren sein. Beispiele: Äußere Faktoren: äußere Zeitgeber (z.B. Sonnenstand, Tageslänge), weitere Reize (z.B. Signale von Artgenossen), ökologische Einflüsse (z.B. Witterung) Innere Faktoren: Geschlecht, Alter, hormoneller Zustand, Ernährungs-/Gesundheitszustand Die Gesamtheit all dieser Faktoren bestimmt die sogenannte innere Handlungsbereitschaft eine Instinkthandlung durchzuführen. Das Prinzip der doppelten Quantifizierung Insgesamt existieren zwei Voraussetzungen für die Durchführung einer Instinkthandlung. Nur wenn sowohl die innere Handlungsbereitschaft als auch der Schlüsselreiz vorhanden sind, wird eine Instinkthandlung auch durchgeführt. Auf die Intensität der Reaktion haben sowohl Qualität als auch Quantität (Stärke) des Schlüsselreizes, als auch Stärke der inneren Handlungsbereitschaft Einfluss. Dies bezeichnet man als Prinzip der doppelten Quantifizierung. Siehe AB 28 Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock Filtermechanismen Aus den unzähligen Reizen, die von einem Tier wahrgenommen werden können, müssen diejenigen Reize herausgefiltert werden, die zur Auslösung einer Instinkthandlung führen. Es muss also im Zentralnervensystem eine Art neurosensorischer Filter für jeden Schlüsselreiz vorliegen. Diesen bezeichnet man als angeborenen Auslösemechanismus (AAM). Auf Zellebene sind vermutlich angeborene Neuronenverschaltungen und –verknüpfungen im Gehirn die Grundlage des AAM. 3.4 Prägung Die Prägung ist ein Lernvorgang der meist in früher Jugend stattfindet und dessen Ergebnisse meist irreversibel sind. Der Zeitraum in dem die Prägung stattfinden kann und entsprechende Signale erwartet werden wird sensible Phase genannt. Gehen die entsprechenden Signale von einem anderen Objekt als dem eigentlichen Ziel aus, kann es zur Fehlprägung auf dieses Objekt kommen. Beispiele: Die Nachfolgeprägung von Gänseküken auf ein bewegtes, Geräusche abgebendes Objekt, ein obligatorischer Lernvorgang um die "Mutter" zu erkennen und ihr zu folgen. Das Erlernen des Vogelgesangs (Gesangsprägung) durch Nachahmung von Artgenossen => Zeitpunkt der Prägung (sensible Phase) und Durchführen der Handlung können weit auseinander liegen! Das Erkennen von Sexualpartnern (sexuelle Prägung) durch Erkennung andersgeschlechtlicher Artgenossen Die Rückkehr zum Geburtsort zur Fortpflanzung (Ortsprägung) Prägungsvorgänge zeichnen sich stets dadurch aus, dass die erlernten Verhaltensweisen extrem bedeutend (obligatorisch) für das Überleben/die Fortpflanzung sind. Die Prägung, die vor allem aus der Tierverhaltensforschung bekannt ist, unterscheidet man vom prägungsähnlichen Verhalten, welches aus der Primatenforschung und vom Menschen bekannt ist. Die sensible Phase ist bei Menschen bedeutend länger, sie wird auch als sensible Periode bezeichnet, und zudem ist der Lernprozess nicht irreversibel. Dennoch finden in der frühen Kindheit durch den Bezug auf die Eltern entscheidende Lernprozesse beim Menschen statt. 3.5 Konditionierung Klassische Konditionierung Bei der klassischen Konditionierung wird ein ursprünglich neutraler Reiz, der in unmittelbarer zeitlicher Nähe (Kontiguität) mit einem unbedingten Reiz auftritt, mit der angeborenen, unbedingten Reaktion auf den unbedingten Reiz, verknüpft. Hierdurch wird der neutrale Reiz zu einem bedingten Reiz, der die bedingte Reaktion auslöst. Man unterscheidet: den bedingten Reflex: der bedingte Reiz löst einen Reflex aus die bedingte Appetenz: der bedingte Reiz löst ein Appetenzverhalten aus (Suchen/Erwarten einer Belohnung) die bedingte Aversion: der bedingte Reiz löst ein Vermeidungsverhalten aus, um einer schlechten Erfahrung zu entgehen Tritt der bedingte Reiz häufig ohne den unbedingten Reiz auf, geht das angelernte Verhalten zurück. Man spricht von Extinktion. Biologie-Skript 11/12, Herr Blaurock Wird die bedingte Reaktion auf weitere Reize übertragen, die dem bedingten Reiz ähnlich sind, spricht man von einer Generalisierung. Operante Konditionierung Bei der operanten Konditionierung wird ein spontan auftretendes Verhalten belohnt oder bestraft. Hierdurch kommt es zu einer Verhaltensänderung. Das Belohnen (positive Verstärkung) einer Verhaltensweise führt zur zielgerichteten Durchführung dieses Verhaltens, es entsteht eine bedingte Aktion Die Bestrafung einer Verhaltensweise führt dazu, dass diese fortan nicht mehr durchgeführt wird. man spricht von einer bedingten Hemmung