Zum Verhältnis von SPD und Gewerkschaften nach der Agenda 2010

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SOZIALER PROTEST & POLITIK
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Zum Verhältnis von SPD und
Gewerkschaften nach der Agenda 2010
Rede anlässlich der Sommergespräche der IG Metall Nordhessen
Von Horst Peter
promiss des Grundgesetzes, der den Einfluss
von Gewerkschaften und Arbeitgeber auf
die Regelung der wirtschaftlichen Angelegenheiten mit Artikel 9 einhegte nicht Wirklichkeit geworden, aber der sozialstaatliche
Konsens des Grundgesetzes machte die Gewerkschaften zu unverzichtbaren Akteuren
bei politischen Entscheidungen.
Dialogpartner waren grundsätzlich alle politischen Parteien, aber naturgemäß war die
Nähe zu den Parteien des linken Spektrums
stets am größten, einschließlich des Arbeitnehmerflügels der recht Volksparteien CDU
und CSU. Die besondere Nähe zur SPD als
der großen linken Volkspartei war nie spannungsfrei. Ich erinnere mich an die Massendemonstration von 80.000 IG-Metallern, die
Franz Steinkühler zur Protestbekundung
gegen den drohenden Sozialabbau durch
die sozialliberale Regierung Schmidt/Genscher aufgerufen hatte.
Im Unterschied zu heute hat sich damals
Herbert Wehner nicht durch das Diktat des
Kapitals, dem Graf Lambsdorff in seinem
Wendebrief seine willige Hand lieh, erpressen lassen. So endete die sozialliberale Koalition – nicht durch die linke Kritik am
NATO-Doppelbeschluss, wie die Legende
behauptet.
Wie erklärt sich die Bereitschaft der engagierten Gewerkschafter 1981/82, gegen die
von ihnen gewollte und gestützte Regierung zu protestieren? Es ging damals wie
heute um die Grundprinzipien des deutschen Sozialstaatsmodells, das über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg von der
großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen wurde und wird.
Mit der Aussage von Artikel 20 (1) des
Grundgesetzes
„Die
Bundesrepublik
Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ identifizieret sich fast
jede Bürgerin und jeder Bürger. Unter aktiver Mitwirkung der Gewerkschaften haben
sich die wichtigen Elemente dieses „historischen Kompromisses“ entwickelt:
• Die Primärverteilung des erarbeiteten
Wohlstands durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Basis der Tarifautonomie
• Die Sekundärverteilung durch Steuergesetze des Staates auf der Basis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuerzahler und der Unternehmen.
• Die solidarische Absicherung der großen Lebensrisiken Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Armut im Alter, Arbeitslosigkeit,
Pflegebedürftigkeit durch ein System von
Sozialversicherungen.
• Staatliche Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
für besondere Lebenslagen.
• Rechtsanspruch auf die Führung eines
menschenwürdigen Lebens bei Armut.
Zusammenfassend lässt sich die Frage nach
dem Verhältnis von Parteien und Gewerkschaften kurz beantworten: Gewerkschaften und linke Parteien stehen bei der zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinie der
Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre
zwischen wohlfahrtsstaatlichen und einem
marktliberalen auf Individualismus und
Leistung ausgerichteten Verständnis von
Politik auf der gleichen Seite.
Horst Peter, war in den 1980er und 1990er Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages und
Sprecher der SPD-Parteilinken im Frankfurter Kreis, seit 1999 Sprecher des spw-Arbeitsausschusses und Vorsitzender des Vereins zur Förderung von Demokratie und Völkerverständigung e. V., lebt in Kassel
Was stellt das Neue nach der Agenda
2010 dar?
Das Gefühl der Sicherheit bei den großen
Lebensrisiken und die Überzeugung, dass
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn ihr unter der Themenstellung „Das
Verhältnis zwischen Gewerkschaften und
Parteien“ zu euerm diesjährigen Sommergesprächen einladet, signalisiert ihr, dass ihr
dieses Verhältnis als gestört, wenn nicht
sogar als krisenhaft anseht. Ich sehe das
genauso. Die aktuelle Ursache heißt Agenda 2010, es gibt aber auch tiefer liegende
Gründe. In meinem Diskussionsimpuls will
ich drei Fragen nachgehen:
1. Wie hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien in der Geschichte
der Bundesrepublik entwickelt?
2. Ist die gegenwärtige Krise des Verhältnisses zu den Parteien, insbesondere zur SPD,
von einer neuen Qualität?
3. Welche Strategien zur Überwindung der
Krise müssen diskutiert werden?
Zu 1. Wie hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik entwickelt?
Zum Grundverständnis der Gewerkschaften
nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gehörten zwei aus den Erfahrungen der Weimarer Republik erwachsenen Grundüberzeugungen. Einmal, dass Einheitsgewerkschaften am wirksamsten die Interessen
der Arbeiterschaft durchsetzen können.
Zum anderen, dass die Gewerkschaften am
der staatlichen Neuordnung Deutschlands
mitwirken müssen. Damit sich der Faschismus nicht wiederholen kann. Daraus ergab
sich, dass Gewerkschaften zwar parteipolitisch unabhängig sind, aber ihre Mitglieder
in den Parteien aktiv an der demokratischen Neuordnung mitwirken und für gewerkschaftliche politische Forderungen
eintreten. Die Gewerkschaften erheben damit den Anspruch auf ein umfassendes politisches Mandat.
Zwar sind die ursprünglichen Kernforderungen: staatliche demokratische Wirtschaftsplanung, Sozialisierung der Schlüsselindustrien, Wirtschaftsdemokratie und soziale Demokratie durch den gesellschaftlichen Kom-
Zu 2. Ist die gegenwärtige Krise des Verhältnisses zu den Parteien, insbesondere zur SPD, von einer neuen Qualität?
Ich beantworte diese Frage mit einem eindeutigen ja. Der Freiburger Wahlforscher
Gerd Mielke analysiert in der Frankfurter
Rundschau unter dem Titel „Das (bedrohte)
Sein prägt das Bewusstsein“: Die politische
Kultur hat die Konfliktlinie zwischen Sozialstaat und Marktliberalismus in ein LinksRechts-Schema transponiert, auf dem die
Bürgerinnen und Bürger sich selbst und
auch die politischen Parteien einordnen.
Die überwältigende Mehrheit der Gewerkschafter ordnet sich und die SPD links und
die CDU rechts ein, obwohl Teile der CDUWählerschaft sich zum Sozialstaatsmodell
bekennen. Nach der deutschen nationalen
Wahlstudie 2002 ordneten sich 44,3 % der
Wählerinnen und Wähler links von der Mitte ein, 73 % der Befragten, die SPD wählen
wollten, ordneten sich als links von der Mitte ein, nur 7,3 % positionierten sich rechts
von der Mitte. Vor der Agenda 2010 war die
SPD nach Ansicht ihrer Wählerschaft eine
linke Volkspartei.
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spw 5 / 2004
der erreichte Lebensstandard gesichert sei,
wird durch die ideologische Wende der
SPD-Elite der Mehrheit der Bevölkerung genommen.
Die Agenda 2010 stellt eine Zäsur im sozialpolitischen Politik- und Gesellschaftsverständnis dar: Die Bundespolitik nimmt Abschied vom historisch gewachsenen Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik mit dem
doppelten Anspruch aller einigermaßen
den erreichten Lebensstandard zu sichern
und die großen Lebensrisiken solidarisch
abzusichern. Nach der Agenda 2010 wird
nur noch die Untergrenze verteidigt, unter
die niemand fallen soll. Damit wagt die
SPD-Führung den Sprung über die Grenze
der gesellschaftlich das Bewusstsein prägenden Konfliktlinie zwischen Sozialstaatsund Marktmodell, und das ohne ein weiteres Identität stiftendes politisch-gesellschaftliches Projekt.
Gerd Mielke beschreibt diesen Wechsel:
„Den ohnehin demoralisierten Traditionskompanien ist gewissermaßen das Offizierskorps abhanden gekommen. Es hat sich im
Casino des Gegners eingerichtet.“
Diesen dramatischen Wechsel auf der Führungsebene, der mit Einschüchterung der
Abgeordneten, unter Einsatz der Vertrauensfrage durch den Kanzler und Parteivorsitzenden bei gleichzeitiger Behauptung
der Alternativlosigkeit dieser Politik auf
dem „Erpressungsparteitag“ in Berlin durchgepaukt, ist die Mitgliedschaft und Anhängerschaft nicht gefolgt. Sie beharrt zu ei-
nem großen Teil auf den programmatischen Vorstellungen der Sozialdemokratie.
Das ist um so erstaunlicher, als sie sich unter dem Trommelfeuer einer öffentlichen
Meinung behaupten muss, in der ihre Einstellung als Relikt einer vergangenen Epoche und als hartnäckiger Widerstand gegen
notwendige Reformen und wirtschaftlichen
Fortschritt diffamiert werden.
Das Ergebnis dieses Paradigmenwechsels:
Es gibt sozialdemokratische Wählerpotenziale, aber keine Partei mehr, die sie vertritt.
Ihre Partei hat auf der für den eigenen
Standpunkt entscheidenden Links-RechtsAchse die Position geräumt und ein politisches Vakuum hinterlassen. Für diese Wählerinnen und Wähler – überdurchschnittlich
den Gewerkschaften nahe stehend – entsteht eine dreifache Vertrauenskrise:
Erstens: Verlust der ideologischen Orientierung auf eine Partei auf der linken Seite der
Links-Rechts-Achse.
Zweitens: Eliminierung aus den meinungsbildenden Medien.
Drittens: Ausgrenzung ihrer handfesten
Notlagen und Ängste aus dem Prozess der
politischen Entscheidungsfindung.
Dieser Zustand trifft auch die Möglichkeiten
der Gewerkschaften ihr politisches Mandat
erfolgreich wahrzunehmen.
Zu 3.: Welche Strategien zur Überwindung der Krise müssen diskutiert werden?
Die Frage nach der politischen Vertretung
dieses Teils der Wählerschaft
ist entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Den Gewerkschaften, obwohl selbst in der politischen
Defensive, fällt große Verantwortung bei der Bewertung
dieser Frage zu. Deshalb
müssen sie sich in die Diskussion der verschiedenen
Strategien zur Überwindung
der Folgen des Agenda 2010Kurses einmischen und eine
eigene Strategie finden, die
die weiterführenden politischen Forderungen klärt.
Ist es hinreichend mit betrieblichen und tariflichen
Kämpfen zu drohen und sich
auf die Montagsdemonstrationen zu verlassen? Betriebliche und tarifliche Forderungen hängen von der Glaubwürdigkeit der Drohung des
erfolgreichen Kampfes ab,
dem sich die Arbeitgeber
stellen müssen. Demonstranten, deren gemeinsamer
Nenner „Jetzt reicht’s!“ ist, leiden unter dem gleichen
Mangel des hinreichenden
Drohpotenzials.
Foto: Herbert Sachs
Kann eine neue linke Partei das politische
Vakuum auf der linken Seite der LinksRechts-Achse auf parlamentarischer Ebene
füllen? Selbst wenn es zur Gründung einer
solchen Partei kommt, ist nicht zu erwarten,
dass diese Partei – im Bündnis mit der PDS
oder nicht – mehr als 10 % erreicht. Das
reicht wahrscheinlich nicht einmal, die Mediensperre gegen abweichende Positionen
zum politischen Hauptstrom des Marktmodells zu durchbrechen und lässt diejenigen,
die nicht bereit sind, eine neue Partei zu
wählen, orientierungslos zurück.
Gibt es Chancen für eine Veränderung
der gegenwärtigen SPD-Politik?
Die Strategie der SPD-Führung
• hoffen auf konjunkturelle Besserungen
mit propagandistisch-verwertbaren Besserungen auf dem Arbeitsmarkt;
• hoffen auf eine Aufklärungs- und Erklärungskampagne;
• hoffen auf Gewöhnung an die Kürzungen
und Vergesslichkeit
• warnen vor CDU und FDP, die noch grausamer das „soziale Netz“ einscheiden würden
darf nicht hingenommen werden. Die
Schwachstelle der SPD-Führungsstrategie
ist die Nichtvermittelbarkeit der Agenda
2010 bei den negativ Betroffenen und die
Weigerung, auch Reiche in die Umverteilung einzubeziehen. Bleibt eine Strategie,
die darauf abzielt, das sture Beibehalten
des Agenda-Kurses zu brechen und gleichzeitig Forderungen zu erheben, die die SPD
zwingt, den Anpassungskurs an das Marktmodell durch einen Kurs der Gegenwehr
gegen das Marktmodell zu ersetzen:
• Wenn es der Trend ist, im Unternehmen
das Diktat der Aktionäre durchzusetzen,
brauchen wir mehr Mitbestimmung;
• Wenn es der Trend ist, Mehrarbeit durchzusetzen, brauchen wir ein wirksames Arbeitszeitgesetz, das gesetzlich die Obergrenze der Mehrarbeit festlegt.
• Wenn es der Trend ist, die großen Risiken zu privatisieren, brauchen wir eine umfassende, solidarische Bürgerversicherung,
in die auch die Reichen nach ihrer Leistungsfähigkeit einbezogen werden.
• Wenn es der Trend ist, Armen den Verbrauch ihres Vermögens bei Erhalt von Fürsorgeleistungen vorzuschreiben, müssen
die Vermögens- und Erbschaftssteuer herangezogen werden.
• Wenn es der Trend der politischen Elite
ist, sich der Verantwortung gegenüber ihren
Wählern zu entziehen, brauchen wir Abgeordnete, die bei ihrer Aufstellung glaubwürdig machen, dass sie sich diesem Trend
widersetzen.
Meine Hoffnung als Gewerkschafts- und
SPD-Mitglied ist es, dass die Resignation
noch nicht so verfestigt ist und möglichst
vielen Genossinnen und Genossen diesen
Weg gehen.
spw 5 / 2004
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