MUSIK UND FORM B e t ra c h t u n g e n z u m Pr i n z i p G e s t a l t u n g i n d e r To n k u n s t „Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.“ (Robert Schumann, Musikalische Hausund Lebensregeln) D ieses Zitat eines klassisch denkenden und empfindenden Romantikers bringt es auf den Punkt: Ohne Formverständnis kein Kunstverständnis. Aufgrund der überragenden Bedeutung, die der Form vor allem in der Kunst zukommt, erscheint es angebracht, einen Moment bei diesem Begriff zu verweilen und den Versuch zu unternehmen, ihn näher zu umschreiben und auszuleuchten. Zunächst steht der Formbegriff in enger Beziehung zum (Auf )Bau, zur (Aus)Bildung oder zur Gestalt(ung) eines Kunstwerkes. Weiterhin spielt in diesem Zusammenhang die Gliederung des Artefaktes eine zentrale Rolle. Und schließlich sind (a)symmetrische Muster und Strukturen als unverzichtbare Bestandteile der Formgebung zu nennen. Der Begriffsdefinition über diverse Formsynonyme folgen sogleich mehrere Fragen: Warum wird der Formbetrachtung gerade in den Künsten so breiter Raum zuteil, welche Aufgaben fallen ihr zu bzw. was für Funktionen erfüllt sie? In erster Linie stellt die Form ein Ordnungsund Organisationsprinzip dar, das sowohl dem schöpferisch tätigen als auch dem nachschaffenden Künstler im vielschichtigen Kosmos der Musik, der Dichtung, der Malerei und bildenden Kunst usw. zu optimaler Orientierung verhilft: Die Form fungiert dabei als Kompass, der den Weg durch das Werk weist. Die unter Zuhilfenahme des Formprozesses initiierte Materialorganisation setzt nunmehr Gestaltungskräfte frei, die andernfalls nicht zur Verfügung stünden und erzeugt Wirkungen, die sonst unerreichbar wären. Die Voraussetzungen sowohl für den Einsatz als auch für den Umgang mit Form sind naturgegeben. Ein Blick in das Universum genügt: Kurz nach dem Urknall beginnt die freigewordene Energie unverzüglich damit, sich zu organisieren und sich nach und nach in Materie umzuwandeln, aus der wiederum höher entwickelte Strukturen hervorgehen usw. Die uns umgebende Flora und Fauna erscheinen als Meisterwerk der Ordnung in jeglicher Hinsicht. Und schließlich ist der Mensch mit seiner visuellen und auditiven Intelligenz geradezu prädestiniert, Muster zu erkennen (z.B. die Symmetrie einer barocken Schlossfassade oder den Ton als periodische Schwingung etc.) und sich darüber in der Welt zurechtzufinden, sei sie nun materiell-körperlicher oder geistig-seelischer Herkunft. Nun zur Tonkunst im Besonderen: Die Musik nimmt im Hinblick auf die Form in den Künsten eine Ausnahmeposition ein. Diese erschließt sich erst im Verlauf (der Zeit), d.h. Ein Beitrag von Hans-Josef Ibler die Form hat hier Prozesscharakter, wie beispielsweise auch der Tanz oder ein Roman (nicht ganz so das Gedicht!); beinahe im Gegensatz dazu steht das Bild in der Malerei, die Skulptur in der bildenden Kunst oder die Frontalansicht eines Bauwerkes in der Architektur. Neben Notwendigkeiten, die sich aus der richtigen Proportionierung eines Werkes ergeben, mag dies ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Wiederholung von Formteilen in der Musik im Sinne einer Orientierungshilfe häufig eine bedeutende Rolle spielt. Die Wiener Klassik mit ihren drei Protagonisten Haydn, Mozart und Beethoven, die als unübertroffene Hochzeit der Formbildung in der abendländischen Kunstmusik angesehen werden kann, findet unvergleichliche und teilweise völlig neue Antworten auf die Frage, wie mit der Sonderrolle der Musik in den Künsten umzugehen ist, damit die Naturgegebenheit der Formentwicklung in der Zeit, wenn die Dynamik des Kunstwerkes danach verlangt, außer Kraft gesetzt werden kann. Die Rede ist von den „metrischen Formen“ (Roland Löbner). Das der Metrik zugrundeliegende Gestaltungsprinzip entspricht einer dem Herzschlag oder der Atmung vergleichbaren, regelmäßig wiederkehrenden Wechselspannung, die auf alle Elemente (z.B. Rhythmus, Melos und Harmonik)der Musik einwirkt. Das kleinstmöglich eigenständige, aus dieser metrischen Grundanlage hervorgehende Formganze ist die achttaktige Periode ( Vorläufer sind u.a. barocke Tanzsätze wie Bourée, Gavotte, Menuett, Polonaise oder Sarabande etc.). Ihre ideale Fasslichkeit (acht und nicht sechs oder zehn Takte Länge), Symmetrie (zwei gleich lange Halbsätze), Funktionalität (jedem Takt fällt eine formspezifische Aufgabe zu) und Finalität (Dynamische, auf den Schluss hin ausgerichtete Spannungsstruktur) ist dekkungsgleich mit klassischen Maximen wie Einfachheit, Ausgewogenheit und Klarheit und präsentiert sich als das Maß aller Dinge in der Formbildung dieses Stils. Man kann die formalen Konstruktions- und Funktionsgrundsätze dieser Epoche in gewisser Weise durchaus mit einem Baukastenprinzip vergleichen, d.h. es besteht die Möglichkeit, einzelne Satzteile, Taktgruppen oder Takte wegzulassen, hinzuzufügen oder hervorzuheben (frei nach Goethe: O Augenblick, verweile, du bist so schön!) und damit eine ganz und gar einzigartige Formspannung zu erzeugen, die mit anderen Mitteln nicht zu erreichen wäre. Gemeint ist ein beinahe paradox zu nennendes Phänomen, das ausschließlich der Musik zu eigen ist: Während die seiende, die ontologische Zeit unentwegt voranschreitet, wird die musikalische Zeit verkürzt, verlängert oder sie bleibt sogar stehen! Die mit derartigen Manipulationen einhergehende Störung der formalen Balance wird dabei vom Komponisten im Sinne eines Gastaltungsfaktors und Ausdrucksmittels absichtlich herbeigeführt und ist als solche nur auf der Basis der normativen Anlage der Idealperiode zu erkennen (vergleichendes Hören). Größere Formkomplexe entstehen in dieser Welt des musikalischen Satzbaus durch Verkoppelung mehrerer Perioden oder periodenähnlicher Teile. Von zentraler Bedeutung in diesem Kanon möglicher Kombinationen ist die Dreiteiligkeit mit eröffnendem Teil (Hauptsatz), Mittelteil (Zwischensatz mit Übergangs- bzw. Brückenfunktion) und schließendem Teil (Reprisenhauptsatz mit Rückgriff auf den Eröffnungsteil). Die Besonderheit der Reprise liegt darin, dass sie dem Satz zu originärer formaler Geschlossenheit verhilft und damit das Prinzip der Finalität entscheidend unterstützt. Die Großform der Klassik schlechthin und ein Gipfelpunkt der Formbildung in der Musik zugleich ist die Sonatenhauptsatzform. Ihre letztendlich auf den Formteilen Hauptsatz-Zwischensatz-Hauptsatz basierende Dreiteiligkeit mit den Abschnitten Exposition, Durchführung und Reprise formuliert eine musikalische Dynamik und Dramatik, die dem abendländischen Formbzw. Kunstverständnis in jeder Hinsicht entspricht. Die solcherart verwirklichten, zeitlosmusikgewordenen Ideale und Werte mögen ausschlaggebend dafür sein, dass sich die Tonkunst dieser Epoche nach wie vor ungebrochener Aktualität erfreut. Hans-Josef Ibler Diesen Artikel können Sie auf unserer Website weiterempfehlen! Mit freundlicher Genehmigung des Bonner Medienkomponisten Barry L. Roshto wurde uns das Bild “Decomposition 01” zu Verfügung gestellt. Siehe oben.