Der Realismus der Finalität

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Christoph Böhr
Der Realismus der Finalität
Thomas von Aquin und Réginald Garrigou-Lagrange
Sein Schriftenverzeichnis umfaßt nahezu tausend Einträge! Seine Lebensspanne
umgreift ein spirituell wie politisch aufgewühltes Jahrhundert und sein Scharfsinn – von seinen stupenden Kenntnissen ganz zu schweigen – ist wohl kaum zu
übertreffen. Die Rede ist von Réginald Garrigou-Lagrange, 1877 in der Vendée
im Süden Frankreichs geboren und 1964 in Rom gestorben. Nach einem Bekehrungserlebnis trat er 1897 in den Orden der Dominikaner ein. Im Alter von 32
Jahren wurde er zum Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der
Universität der Dominikaner, dem Angelicum, in Rom berufen, wo er 1917 den
weltweit ersten Lehrstuhl für Spirituelle Theologie begründete. Er war ein begnadeter Mystiker, ein herausragender Wissenschaftler und ein unermüdlicher
Publizist. Derzeit ist sein Name nur noch in Fachkreisen bekannt, während er
noch vor gut einem halben Jahrhundert als weltweit führender Theologe galt.
Wie konnte das geschehen? Warum erscheinen uns wissenschaftliche Ereignisse
und geistige Strömungen, die gerade erst einmal fünf Jahrzehnte zurückliegen, so
weit entrückt, daß wir uns ihrer kaum noch erinnern? Der Grund ist ziemlich
einfach: Garrigou-Lagrange war der wahrscheinlich vorläufig letzte Thomist,
der diesen Namen wirklich verdient – wohl auch deshalb, weil nach ihm niemand mehr über eine vergleichbar umfassende Kenntnis der Werke des Aquinaten verfügte. Und nachdem der Thomismus von seinen zahlreichen Gegnern
niedergekämpft und – scheinbar – besiegt wurde, ist auch der Name dieses Thomisten in Vergessenheit geraten. Garrigou-Lagrange war – und man übertreibt
nicht, wenn man das so sagt – in der langen Reihe führender Thomisten über
acht Jahrhunderte hinweg einer der klügsten, wenn auch in seiner Deutung nicht
ganz unumstritten. Aber gerade jene Entschiedenheit und Klarheit, mit welcher
Garrigou-Lagrange die Philosophie des heiligen Thomas auf ihren Begriff
bringt, ist nicht nur Anlaß für gelegentlichen Widerspruch im Blick auf andere
Deutungsmöglichkeiten, sondern macht das Lesen seines Buch gerade wegen
seiner unmißverständlichen Standortbestimmung so gewinnbringend.
Die Kenntnis der Literatur und die Schärfe seines Intellekts gehen bei diesem
Mann eine seltene, geradezu bewundernswerte Verbindung ein. Den Hl. Thomas
und dessen Denken zu erschließen, bedeutet für ihn zunächst immer, eine umfassende Sichtung der Quellen vorzunehmen. Was das heißt, kann jeder annähernd
ermessen, der einen Blick ins Bücherregal wirft und sich den Umfang dieser
Quellen vor Augen führt. Garrigou-Lagrange hatte sie nicht nur vor Augen, er
kannte sie in- und auswendig. An die Sichtung der Quellen schließt sich bei ihm
eine Deutung an, die sich im Licht des Gesamtwerks zu einer Darstellung jener
in ihrer inneren Schlüssigkeit bis heute nie überbotenen Sicht auf Gott und die
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Welt fügt, wie sie Thomas hinterlassen hat – in sich nahezu widerspruchsfrei und
immer wieder auf die eine, entscheidende Frage zielend: Wie ist es um die in
unserer Erkenntnis sich offenbarende Wirklichkeit des Seins bestellt?
Da diese Frage heute erneut an die Spitze der philosophisch-theologischen Agenda aufgerückt ist, wäre es an der Zeit, Garrigou-Lagrange wieder neu zu entdekken, um sich mit seinem Blick auf das „Ganze“, wie es den Philosophie von
Thomas entspricht, zu befassen. Und das geschieht. Zu verdanken ist das dem
Einsatz und der Weitsicht von zwei Verlagen, die Kosten und Mühen nicht gescheut haben, hierzulande gleichsam verschollene Schriften in deutscher Sprache
neu vorzulegen. Nur am Rande sei bemerkt, daß es in den Vereinigten Staaten
dieser Anstrengung nicht bedarf. Hier stand der Name von Garrigou-Lagrange
immer und ohne nennenswerte Unterbrechung an der Spitze der Autoren, die
man in Theologie und Philosophie für wichtig gehalten und gelesen hat.
Zurück nach Deutschland: Kürzlich erst hat der rührige Bonner Verlag „Nova et
Vetera“ eines seiner Hauptwerke „Les Trois Ages des la Vie Interieure“, das
1953 und 1955 zweibändig in der Übersetzung von Swidberth Soreth OP unter
dem deutschen Titel „Des Christen Weg zu Gott. Aszetik und Mystik nach den
drei Stufen des geistlichen Lebens“ erschienen war, neu aufgelegt. Und im gleichen Jahr, 2012, erschien in dem nicht weniger rührigen, erst kurz zuvor, 2011,
neu gegründeten Verlag „Editiones Scholasticae“ Garrigou-Lagrange’s wichtiges Buch „Le Réalisme du Principe de Finalité“ aus dem Jahr 1932 unter dem
deutschen Titel „Der Realismus der Finalität“, und zwar – man glaubt es kaum –
erstmals in deutscher Übersetzung:
Réginald Garrigou-Lagrange, Der Realismus der Finalität, übersetzt v.
Joachim Volkmann, Heusenstamm 2012, Reihe: editiones scholasticae, 279
S.
Man kann diesen verlegerischen Mut nicht hoch genug einschätzen, ja, man muß
ihn bewundern, denn erst langsam beginnt hierzulande eine Neuentdeckung der
thomistischen Philosophie als eine – lange schon überfällige – Wiederbegegnung
mit ihren Grundlagen.
Dabei ist es ein spannendes – und noch nicht geschriebenes – Kapitel deutscher
Geistes- und Wissenschaftsgeschichte, den Niedergang des (Neo-) Thomismus
zurückzuverfolgen. Dieser Niedergang war nicht zuletzt auch selbstverschuldet.
Zu starr und zu unbeweglich war diese Strömung zu ihrem Ende hin geworden,
darum bemüht, jedwede Einzelfrage in die Struktur einer strengen Systematik zu
pressen. Mit Thomas – und der Lebenswirklichkeit – hatte das alles nur noch
wenig zu tun. Was Systematik, recht verstanden, heißt, kann man bei ihm lernen,
und hat wenig zu tun mit jenen Lehr- und Handbüchern, in die seine Philosophie
schließlich gepreßt wurde.
Jetzt aber ist die Zeit gekommen, Thomas – und seine Kommentatoren – neu zu
lesen. Und da führt „Der Realismus der Finalität“ mitten hinein in dieses Denken. Es geht um die Frage, inwieweit die Finalität, also die Zielgerichtetheit allen
Seins, eine unübersehbare, im menschlichen Erkennen feststellbare Wirklichkeit
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ist. Thomas behauptet das, Garrigou-Langrange erklärt es. Somit ist dieses Buch
der vielleicht scharfsinnigste Grundwiderspruch zu dem uns heute geläufig gewordenen Denken, das meist ganz selbstverständlich davon ausgeht, daß die
Zielgerichtetheit der Dinge eben nicht deren Sein bestimmen (determinieren),
sondern vom Menschen dem Sein eine Zielgerichtetheit nach freiem Ermessen
untergeschoben wird – bis hin zu der Frage, welchem Geschlecht, dem des Mannes oder der Frau, sich ein Mensch zugehörig fühlen möchte.
In zwei Teilen und dreizehn Kapiteln untersucht Garrigou-Lagrange die Frage:
Hat das Sein eine Zielgerichtetheit in sich und ist dieses Sein samt seiner Zielgerichtetheit eine vom Menschen in seiner Erkenntnis zu erfassende Wirklichkeit?
Schon 1932, als das Buch veröffentlicht wurde, war die Bejahung dieser Frage
Zielscheibe heftiger Angriffe. Nun hängt für den Fortgang der Philosophie und
nicht minder der Theologie alles davon ab, ob diese Behauptung geteilt oder
verworfen wird, wie man sich also am Ende zu dieser Grundfrage nach dem
Prinzip der Finalität einstellt. Aristoteles, Thomas und ihr Kommentator, Garrigou-Lagrange, verteidigen die Bejahung dieser Frage: Jedes Agens (Bewegte),
was auch immer es sei, mit oder ohne Bewußtsein, strebt nach etwas Determiniertem (Festgelegtem, Vorbestimmten), das ihm entspricht: Alles, was geschieht, geschieht im Hinblick auf ein Ziel, alles besteht um seiner Wirkung
willen, oder, anders ausgedrückt: Das Unvollkommene ist für das Vollkommene
das gleiche wie das Relative für das Absolute.
Im Kern geht es also um die Frage, ob menschliches Erkennen gelingen kann,
wenn man von Gott absieht. Viele neigen heute dazu, diese Frage als blanke
Selbstverständlichkeit zu bejahen. Ja, mehr noch: Wir neigen dazu, diese Frage
gar nicht mehr verstehen zu wollen. Wer Garrigou-Lagrange liest – und zwar
den Philosophen Garrigou-Lagrange – wird im Blick auf diese zeitgenössische
Selbstverständlichkeit zutiefst verunsichert. Allein diese Wirkung macht das
Buch zu einem unersetzlichen Gewinn. Es rührt an die Fundamente der zeitgenössischen Vorurteile und Denkgewohnheiten, verunsichert dort, wo wir eine
solche Verunsicherung gar nicht für möglich, geschweige denn vernünftig halten. Dieses Buch ist ein aufrüttelnder Stolperstein auf der abschüssigen Bahn
eines seinsvergessenen Denkens.
Dem Interessierten sei gesagt, daß es der Anstrengung des Begriffs bedarf, dieses
Buch zu lesen. Man muß sich in die Terminologie der aristotelisch-thomistischen
Philosophie einarbeiten. Der Laie wird gelegentlich ein Lexikon zur Hand nehmen müssen.
Da ist es als ausgesprochener Glücksfall zu bezeichnen, daß just in demselben
Verlag, der das hier besprochene Buch von Garrigou-Lagrange aufgelegt hat,
den „editiones scholasticae“, diese erforderliche Handreichung erschienen ist,
und zwar aus der Feder des Verlegers, Rafael Hüntelmann, eines ausgewiesenen
Kenners der scholastischen wie der modernen Philosophie: Im „Grundkurs Philosophie I“ werden die wichtigsten Begriffe der aristotelisch-thomistischen Philosophie wunderbar verständlich und mit nachvollziehbaren Beispielen dargelegt
– und zugleich wird mit diesem Buch eine Einführung in das Denken der Philo473
sophie schlechthin geboten: ein in jeder Hinsicht empfehlenswerter Band, der
zudem zu einem unschlagbaren Preis im Buchhandel angeboten wird:
Rafael Hüntelmann, Grundkurs Philosophie I: Werden, Bewegung und
Veränderung, Heusenstamm 2012, editiones scholasticae, 130 S.
Für beide Bücher gilt: Der Ertrag, der sich beim Lesen einstellt, entlohnt für alle
Mühe. In leichter, verständlicher Sprache führt Hüntelmann in das Denken der
Scholastik ein. Und was das Buch von Garrigou-Lagrange anbelangt: Nach der
Lektüre Hüntelmanns wird auch der Laie die Sorgfalt im Denken dieses großen
Thomisten schnell erfassen. Im übrigen sei ausdrücklich hinzugefügt, daß es
viele Kapitel gibt, die auch der Laie ohne große Anstrengung und gleichwohl mit
großem Gewinn lesen sollte. Beispielsweise die geradezu unvergleichlichen
Ausführungen Garrigou-Lagranges im zweiten Teil des Buches über das Glück
und das Gewissen (5. und 6. Kapitel, S. 195 ff. und S. 216 ff.).
So, wie man den Verlag geradezu im Überschwang loben muß, daß er eine deutsche Übersetzung dieses so wichtigen Buches gewagt hat, so muß man in gleicher Weise den Übersetzer, Joachim Volkmann, loben. Ihm ist es gelungen, eine
ausnahmslos sehr verständliche, flüssige und gut lesbare Übersetzung eines alles
in allem wissenschaftlich sehr anspruchsvollen Buches vorzulegen.
Garrigou-Lagrange, exzellenter Thomist und spiritueller Theologe, war im übrigen der Doktorvater von Karol Wojtyla, der bei ihm mit seiner Arbeit über den
Glauben bei Johannes vom Kreuz („Doctrina de fide apud S. Joannem a Cruce“)
promovierte. Wojtylas Denken, das sich schon in dieser ersten, frühen Arbeit
sehr phänomenologisch ausrichtete, war – und blieb – gleichwohl stark beeinflußt von Garrigou-Lagrange, dem es als Vertreter der so genannten und später
so gescholtenen Seinsphilosophie nie in den Sinn gekommen wäre, das zu bestreiten, was Thomas in seinem Kommentar zur Schrift des Boethius über die
Trinität unmißverständlich zum Ausdruck brachte: daß die philosophische – im
Unterschied zur theologischen – Methode nämlich darin besteht, sich vom sinnlich Wahrnehmbaren zum mit dem Verstand Wahrnehmbaren zu erheben,
gleichsam induktiv bewegt, während die Theologie als ersten Gegenstand den
geoffenbarten Gott hat und im Denken von dem in der Offenbarung erkannten
Gott zu den Geschöpfen absteigt, also gleichsam deduktiv voranschreitet.
Als der Neothomismus mehr und mehr – auf dem Weg zu einer Doktrin – die
theologische an die Stelle der philosophischen Methode setzte, war die Folge,
daß seine Deduktionen irgendwann künstlich wirkten; er beraubte sich schließlich selbst seines philosophischen Anspruchs. Auf eben diesen Anspruch aber
führt Garrigou-Lagrange den Thomismus zurück – in einem Buch, das vor fast
hundert Jahren geschrieben wurde und dessen Erscheinen heute nicht unbemerkt
bleiben darf, weil es unsere Aufmerksamkeit auf eine Denken hinlenkt, daß zwar
aus der Mode gekommen, aber keineswegs veraltet oder gar überwunden ist.
Spätestens ab den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war in den Wissenschaften alles erlaubt, außer man handelte sich den Vorwurf des Essentialismus
ein. Und je mehr Autoren mit ihrer angeblichen Vorurteilsfreiheit kokettierten,
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um so gnadenloser verfolgten sie jene, die daran festhielten, daß der Mensch ein
zur Erkenntnis der Wahrheit befähigtes Geschöpf sei. So ist der Thomismus
zwischen den Mühlsteinen des Positivismus und des Neomarxismus zerrieben
worden – von Strömungen, die ihrem Selbstverständnis nach gar nichts dagegen
hatten, sich in politischer Begrifflichkeit als ‚rechts‘ und ‚links‘ zu verstehen. Da
konnte der Thomismus, der mit solchen wissenschaftsfremden Zuordnungen
nichts anzufangen wußte, nicht mithalten – und verschwand fast gänzlich aus
dem Blick der Öffentlichkeit.
Die Lage hat sich geändert. Heute erscheint als ziemlich dürftig, was in den
siebziger und achtziger Jahren wissenschaftlich als der letzte Schrei galt. Und
folglich steht die Tür einem Denken, das tiefer nachfragt als Positivismus und
Neomarxismus, wieder offen. Die Erstveröffentlichung des Buches von Garrigou-Lagrange lädt dazu ein, einen Blick durch diese offenstehende Tür zu werfen – und vielleicht sogar die Schwelle dieser Tür zu überschreiten, um ein Denken kennenzulernen, das zeitloser nicht sein könnte.
Dr. Christoph Böhr doziert am Institut für Philosophie der Hochschule Benedikt
XVI. Heiligenkreuz/Wien und ist Herausgeber der Reihe „Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“ im Verlag Springer.
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