Regionale Identität Von Matthias Buchecker ([email protected]), Eidg. Forschungsanstalt WSL, 8903 Birmensdorf Weichhart (1990) hat in seinem Werk 'Raumbezogene Identität' diese Thematik in sehr umfassender Form aufgearbeitet, mit dem Ziel, eine Grundlage für eine Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation zu schaffen. Mead (1934), einer der wichtigsten Vorläufer der modernen Identitätsforschung, versuchte nachzuweisen, dass das personale Selbst des Menschen auf dem Weg der sozialen Interaktion entsteht. Stone (1962) führte eine wesentliche Erweiterung des Identitätsbegriffes ein, indem er den Unterschied zwischen 'identification of' und 'identification with' herausarbeitete. Graumann (1983) ging einen Schritt weiter und unterschied drei Stufen von Identifikation: • 'identifying the environment: Erfassung von Abgrenzung zu anderen Körpern (Klassifikation) • 'being identified': Erkenntnis eines Subjektes, dass es selbst klassifiziert wird und eine Rolle übernehmen muss. Dies bedeutet für den Betroffenen, dass er als Zugehöriger zu einer sozialen Klasse einbezogen oder aber ausgegrenzt zu werden. • 'identifying with one's environment': Bezugnahme des Individuums zu seiner sozialen und physischen Umwelt im Prozess der Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit. einheitlichen Körpern und Daraus lässt sich eine Systematik der raumbezogenen Aspekte von Identifikationen ableiten. In einer ersten Teilbedeutung beziehen sich die Begriffe 'Raumbewusstsein' und 'räumliche Identifikation' auf die kognitiv-emotionale Repräsentation von Raumausschnitten. In diesem Sinne wird der Begriff von einer Vielzahl von Autoren aus den Bereichen Psychologie, Ethnologie und Soziologie verwendet. (Proshansky, 1978; Rapaport, 1981; Lalli, 1989). Bei der zweiten Begriffsbedeutung von 'raumbezogener Identität' steht die SelbstIdentität eines Individuums oder einer Gruppe im Vordergrund. Der physische Raum steht dabei als Projektionsfläche für das personale Ich oder das Wir- Gefühl. Die Verknüpfung des Selbst mit Bereichen der Aussenwelt wurde bereits in klassischen Arbeiten herausgestellt (Fried und Gleicher, 1963; Fischer und Fischer, 1981; Tessin, 1983). Der Stellenwert raumbezogener Identität im Gesamtgefüge aller wirksamen Designata von Selbst-Identität sowie ihre relative Bedeutung für Erscheinungsformen der Gruppenidentität kann zur Zeit nicht eindeutig abgeschätzt werden. Kritiker dieses Forschungsansatzes behaupten, dass die gesellschaftliche Entwicklung zu einer zunehmenden Auflösung territorialer Bindungen und schliesslich seiner völligen Unwirksamkeit geführt habe (Hard, 1987). Andere Autoren vertreten demgegenüber die Meinung, dass eine gesellschaftliche Umstrukturierung oder Rationalisierung stattfinde, welche letztlich zu einer Erneuerung der territorialen Bindungen führen werde (Habermas, 1981; Beck1983 und 86; Krüger, 1988). Gerade einer der entscheidenden, soziokulturellen Prozesse der Moderne, der Zwang zur Individualisierung, führe zu einem verstärkten Identifikationsbedürfnis (Beck, 1983; Frey und Hausser, 1987). Dem Zwang zur Identitätsfindung steht jedoch ein Mangel an Identifikationsmöglichkeiten gegenüber, da tradionelle Identitätsnormen und Wertstrukturen nicht mehr gültig sind und neue Formen der individuellen Identifikation innerhalb der bestehenden sozialen Strukturen nur wenig Platz haben (Buchecker, 1999). Vor diesem Hintergrund ist die seit den 80-er Jahren zu beobachtende Renaissance des Heimatbegriffes in der privaten, politischen und wissenschaftlichen Diskussion zu sehen (Pötscher, 1989. Der Heimatbegriff hat dabei einen grundlegenden Wandel erfahren und hat einen ausgeprägt emanzipatorischen Charakter erhalten (Krüger, 1987). Heimat bedeutet nicht mehr sozialen Rückhalt und Geborgenheit, sondern ständiger Umbau von Traditionen und eine selbstbestimmte Lebensraumgestaltung. Die lokale Umgebung sollte zur Schnittstelle zwischen dem persönlichen Selbst und der fremden Welt werden, und dadurch die Möglichkeit der Entfaltung des Selbst bieten (Proshansky, 1983; Terkenly, 1989). Anders als in der traditionellen Welt, in der es galt, das Überleben der lokalen Gemeinschaft durch starre Rollen und Regeln zu sichern, bedarf es zur Erneuerung der modernen Lebenswelt einer Stärkung des kommunikativen Austauschs (Habermas, 1985). Der Wandel des Heimatbegriffes ist jedoch noch längst nicht abgeschlossen; alter und neuer Heimatbezug scheinen in ländlichen Gebieten nebeneinander zu bestehen (Chai et al., 1986). Während ein Teil der Bevölkerung den Raumbezug von Heimat nur als Stilisierung einer nostalgisch-romantisierenden Idealwelt benutzt, um der Realwelt des dörflichen Alltags zu entfliehen, hat ein anderer Bevölkerungsteil eine bewusste Bindung an die Heimat entwickelt, indem sie sich aktiv mit der sozialen und räumlichen Entwicklung auseinandersetzt. Die traditionelle Form der Ortsbindung bzw. der lokalen Identifiaktion scheint aber nach wie vor zu überwiegen (Meyrat-Schlee, 1983); es lässt sich sogar von einer Persistenz der kollektiven Identifikation mit der lokalen Gemeinschaft und der lokalen Umgebung sprechen(Illien, 1983; Buchecker, 1999). Diese Form der Identifikation beruht auf sozialer Abgrenzung und sozialer Anpassung und führt - mangels Integrationsfähigkeit - tendenziell zu kultureller Erstarrung und zu Psychopatologien (Habermas, 1981; Bätzing, 1986). Ein Uebergang zu einer emanzipierten, individuellen Identifikation mit der Alltagsumgebung erfordert neue kommunikative Instrumente und ein neues Rollenverständnis (Habermas, 1981, Krüger, 1987; Thierstein, 1997; Buchecker, 1999) sowie neue Möglichkeiten der Aneignung. Solche Instrumente wurden bereits erfolgreich erprobt, wobei erst kleine Teile der Bevölkerung für eine aktive Mitgestaltung ihrer Alltagslandschaft gewonnen werden konnte (Thierstein, 1997; Buchecker, 1999). Wie grössere Bevölkerung für eine aktive Auseinandersetzung und Identifikation mit ihrer Alltagswelt motiviert werden kann und wie sich dies auf die soziale Integration und die lokale Mitverantwortung auswirkt, ist noch weitgehend unerforscht. Neben der Förderung der individuellen Identifikation bedarf es auch der Erneuerung kollektiver Werte und Normen (Taylor, 1997), welche erst einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt sicherstellen. Ob diese Werte im kommunikativen Austausch entstehen oder ob hierzu weitere Instrumente nötig sind (aktive Kulturförderung), kann aufgrund des bestehenden Wissens nicht beantwortet werden. Literatur Bätzing W., 1988: Die unbewältigte Gegenwart als Zerfall einer traditionsträchtigen Alpenregion. Geographica Bernensia. Geographisches Institut der Universität Bern. Beck U., 1983: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck U., 1986: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung von neuen Formationen und Identitäten. In: R.Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Soziale Welt, Sonderband 2, S. 35-74. Buchecker M., 1999: Die Landschaft als Lebensraum der Bevölkerung NachhaltigeLandschaftsentwicklung durch Bedürfniserfüllung, Identifikation und Partizipation. Dissertation an der Philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Chai et al., 1986: Heimat im Matscher-Tal. Eine kulturgeographische Untersuchung zu Alltag und Identität in einem abgelegenen Hochtal Südtirols. Oldenburg: Wahrnehmungsgeogr. Studien zur Regionalentwicklung, H.4. Frey H.P. und Hausser K., 1987: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung. In: H.P. Frey und K. Hausser, Identität. Stuttgart: Der Mensch als soziales und personales Wesen 7, S. 3-26. Fried M. und Gleicher P., 1961: Grieving for a Lost Home. In: L.J.Duhl (Hrsg.), The Urban Condition. New York und London, S. 151-171. Graumann C. F., 1983: On Multiple Identities. In: International Science Journal 35, 96, S. 309 - 321. Habermas J., 1981b: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.. Habermas J., 1985: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.M.. Hard G., 1987: 'Bewusstseinsräume'. Intrpretationen zu geographischen Versuchen, regionales Bewusstsein zu erforschen. In: Geographische Zeitschrift 75, S. 127-148. Ilien A., 1983: Dorfforschung als Interaktion. Zur Methodologie dörflicher Sozialforschung. Aus: Carl-Hans Hauptmeyer et al.: Annäherungen an das Dorf. Fackelträger, Hannover. Krüger R., 1987: Wie räumlich ist die Heimat? - Oder: Findet sich in Raumstrukturen Lebensqualität?In: Geographische Zeitschrift, Jg. 75. Heft 3 (1987). Krüger R., 1988: Die Geographie auf der Reise in die Postmoderne? Oldenburg: Wahrnehmungsgeographische Studien zur Regionalentwicklung 5. Lalli M., 1989: Stadtbezogene Identität. Theoretische Präzisierung und empirische Operationalisierung. Darmstadt: Institut für Psychologie der TH Darmstadt, Berichte 89-1. Mead G. H., 1995: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus.Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main. Meier-DallachH.P., Hohermuth S. und Nef R., 1987: Regionalbewusstsein, soziale Schichtung und politische Kultur. Forschungsergebnisse und methodologische Aspekte. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7/8, S. 377-393. Meyrat-Schlee E., 1983: Werte und Verhalten. Schlussberichte zum Schweizerischen MABProgramm Nr. 2. Pötscher S., 1989: Das Phänomen Heimat - Ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Diplomarbeit am Geographischen Institut der Universität Salzburg. Proshansky H. M. et al., 1983: Place-Identity. Journal of Environmental Psychology, 3, 5783. Rappoport A., 1981: Identity and Environment: a Cross-cultural Perspective. In: J.S. Ducan (Hrsg.), Housing and Identity. London, S. 6-35. Rischer M. und Fischer U., 1981: Wohnortswechsel und Verlust der Ortsidentität als normative Lebenskrisen. In: S.H. Filipp (Hrsg.), Kritische Lebensereignisse. München: U&S Psychologie, S. 39-153. Stone G.P., 1962: Appearance and the Self. In: A.M.Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes. An Interactionist Approach. London: International Library of Sociology and Social Reconstruction, S. 86-118. Taylor Ch., 1996: Quellen des Selbst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Terkenli T. S., 1995: Home as a region. Aus: Geographical Review, Juli 1995. Tessin W. et al., 1983: Umsetzung und Umsetzungsfolgen in der Stadtsanierung. Basel: Stadtforschung aktuell 4. Thierstein A., 1997: Tatort Region - Mythen der Entwicklung hinterfragen! Disp 131, 22. Weichhart P., 1990: Raumbezogene Identität. Franz Steiner Verlag, Stuttgart. © WSL, März 2000