Larry Jameson, Anthony P. Weetman 335 Erkrankungen der Schilddrüse ür die deutsche Ausgabe Rudolf Hörmann det zwei verwandte Hormone, Thyroxin (T4) und Triiodthyronin (T3) (Abb. 335-1). Über die Wirkung auf Hormonrezeptoren des Zellkerns spielen diese Hormone eine entscheidende Rolle in der Zelldifferenzierung während der Entwicklung und helfen dabei, den Wärmehaushalt und die metabolische Homöostase des Erwachsenen aufrechtzuerhalten. Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse sind entweder in der Lage, eine übermäßige Schilddrüsenhormonbildung zu stimulieren (Hyperthyreose) oder eine Destruktion der Drüse mit nachfolgendem Hormonmangel (Hypothyreose) herbeizuführen. Benigne Schilddrüsenknoten und verschiedene Formen von Schilddrüsenkrebs sind relativ häufig und fallen oft schon bei der körperlichen Untersuchung auf. ANATOMIE UND ENTWICKLUNG hormonproduktion und erreichen eine Teilversorgung des Feten im Falle einer kongenitalen Hypothyreose. Eine frühzeitige hormonelle Substitutionsbehandlung eines Neugeborenen mit kongenitaler Hypothyreose verhindert mögliche schwere Entwicklungsstörungen. Die Schilddrüse besteht aus zahlreichen kugelförmigen Follikeln, die sich aus Schilddrüsenfollikelzellen zusammensetzen und ein proteinartiges Kolloid enthalten, das große Mengen an Thyreoglobulin, dem Vorläuferprotein der Schilddrüsenhormone, aufweist (Abb. 335-2). Die Schilddrüsenfollikelzellen sind polar ausgerichtet: Die basolaterale Oberfläche ist dem Blutstrom entgegen gewandt, während die apikale Membran an das follikuläre Lumen angrenzt. Ein erhöhter Bedarf an Schilddrüsenhormonen wird durch das Thyreoidea-stimulierende Hormon (TSH) reguliert, das an seinen Rezeptor an der basolateralen Membran der Follikelzellen bindet und dadurch zur Wiederaufnahme von Thyreoglobulin aus dem Follikellumen und dessen Proteolyse in der Zelle führt, um die Schilddrüsenhormone für die Abgabe in die Zirkulation bereitzustellen. Die Schilddrüse (griechisch: thyreos, Schild und eidos, Form) besteht aus zwei Lappen, die durch einen kleinen Mittellappen, den Schilddrüsenisthmus, miteinander verbunden sind. Die Schilddrüse liegt im Halsbereich vor der Luftröhre, zwischen Ringknorpel und suprasternaler Einkerbung. Die normale Schilddrüse ist 12 REGULATION DER SCHILDDRÜSENFUNKTION bis 20 g schwer, stark durchblutet und von weicher Konsistenz. Das von den thyreotropen Zellen des Hypophysenvorderlappens Hinter jedem Schilddrüsenpol liegen vier Nebenschilddrüsen, die sezernierte Thyreoidea-stimulierende Hormon (TSH) spielt eine Parathormon bilden (Kap. 347). Der Nervus laryngeus recurrens Schlüsselrolle bei der Regulation der Schilddrüsenfunktion und erdurchzieht den lateralen Schilddrüsenrand und muss zur Vermeiweist sich als sehr nützlicher physiologischer Marker der Schilddung einer Stimmbandlähmung bei Schilddrüsenoperationen drüsenhormonwirkung. TSH ist ein aus einer α- und β-Untereinidentifiziert werden. heit bestehendes 31-kDA-großes Hormon. Die α-Untereinheit ist Die Schilddrüse entwickelt sich während der dritten Schwangerdem TSH gemeinsam mit anderen Glykoproteinhormonen, dem schaftswoche aus dem Boden des primitiven Pharynx. Die sich entluteinisierenden Hormon, dem Follikel-stimulierenden Hormon wickelnde Drüse wandert den Ductus thyreoglossus entlang, um und dem humanen Choriongonadotropin (hCG), die β-Untereinihren endgültigen Platz im Halsbereich zu erreichen. Dieses Verhalheit ist TSH-spezifisch. Das Ausmaß und die Art des Kohlenhydratten ist für die seltene ektope Lage von Schilddrüsengewebe am anteils werden vom Thyreotropin-Releasinghormon (TRH) moZungengrund (Zungengrundstruma) verantwortlich, wie auch für duliert und beeinflusst die biologische Aktivität des Hormons. das Auftreten von Thyreoglossuszysten längs dieses Ganges. Die Der Schilddrüsenregelkreis ist ein klassisches Beispiel eines enSynthese von Schilddrüsenhormonen beginnt üblicherweise ab der dokrinen Rückkopplungsmechanismus. Hypothalamisches TRH elften Schwangerschaftswoche. stimuliert die hypophysäre Produktion des TSH, welches wiederum Die medullären C-Zellen in der Schilddrüse, die Calcitonin, ein die Synthese und Sekretion der Schilddrüsenhormone stimuliert. Kalzium senkendes Hormon, bilden, entstammen dem UltimoÜber eine negative Rückkopplung hemmen die Schilddrüsenhorbranchialorgan der Neuralleiste. Die C-Zellen sind über die gemone die Produktion des TRH und TSH (Abb. 335-2). Der Sollsamte Schilddrüse verteilt, obgleich ihre Dichte am Schnittpunkt wert im Regelkreis wird durch TSH festgelegt. TRH ist der entdes oberen und der zwei unteren Drittel des Schilddrüsenlappens scheidende positive Regler der TSH-Synthese und -Sekretion. Die am höchsten ist. Spitzen-TSH-Sekretion erfolgt ungefähr 15 Minuten nach exoDie Entwicklung der Schilddrüse wird von zahlreichen Transkriptionsfaktoren koordiniert. SchilddrüsenTranskriptionsfaktor (TTF) 1, TTF-2 und Paired Homeobox-8 (PAX-8) werden selektiv, aber nicht I I NH2 ausschließlich in der Schilddrüse exprimiert. Im 3 3 O CH HO 2 CH COOH Zusammenspiel regulieren sie die Entwicklung 5 5 der Schilddrüsenzellen und die Induktion von I I schilddrüsenspezifischen Genen, wie ThyreogloThyroxin (T4) bulin (Tg), Schilddrüsenperoxidase (TPO), Na3,5,3,5-Tetraiodothyronin trium-Iodid-Symporter (NIS) und den TSH-ReDeiodase 1 oder 2 Deiodase 3 2 zeptor (TSH-R). Mutationen in den ent(5-Deiodierung) (5-Deiodierung) wicklungsregulierenden Transkriptionsfaktoren oder ihren nachgeordneten Zielgenen sind selI I I I tene Ursachen für eine Schilddrüsenagenesie oder NH2 NH2 eine Hormonsynthesestörung. Die Ursache für HO O C CH2 CH COOH HO O CH2 CH COOH die meisten Formen einer kongenitalen Hypothyreose ist dennoch unbekannt (Tabelle 335-1). Da I I die kongenitale Hypothyreose bei ungefähr einem Reverses T3 (rT3) Triiodthyronin (T3) von 4000 Neugeborenen vorkommt, wird in den 3,5,3-Triiodothyronin 3,3,5-Triiodothyronin meisten industrialisierten Ländern ein Neugeborenenscreening durchgeführt (siehe unten). Die ABBILDUNG 335-1 Strukturformeln der Schilddrüsenhormone. Thyroxin (TT4) entmütterlichen Schilddrüsenhormone passieren hält vier Iodatome. Durch Deiodierung entsteht entweder das wirksame Hormon Tridie Plazenta vor Beginn der fetalen Schilddrüsen- iodthyronin (T3) oder der inaktive Hormonmetabolit reverses T3 (rT3). 3 Aus: Harrisons Innere Medizin • 17. Auflage, deutsche Ausgabe • In Zusammenarbeit mit der Charité • Herausgegeben von M. Dietel, N. Suttorp, M. Zeitz Copyright © ABW Wissenschaftsverlag GmbH, Kurfürstendamm 57, D-10707 Berlin • www.abw-verlag.de TEIL 15 Endokrinologie und Stoffwechsel gener TRH-Gabe. Dopamin, TABELLE 335-1 GENETISCHE URSACHEN DER KONGENITALEN HYPOTHYREOSE Glukokortikoide und Somatostatin supprimieren TSH, spie- Defektes Gen/ len aber keine wesentliche Protein Vererbung Auswirkungen physiologische Rolle, mit AusPROP-1 Autosomal rezessiv Kombinierter Mangel von Hypophysenhormonen mit Erhalnahme bei Gabe pharmakotung von ACTH logischer Dosen. Erniedrig- PIT-1 Autosomal rezessiv Kombinierter Mangel von Wachstumshormon, Prolaktin und te Schilddrüsenhormonspiegel Autosomal dominant Thyreoidea-stimulierendem Hormon (TSH) steigern die basale TSH-ProAutosomal rezessiv TSH-Mangel TSH-β duktion sowie die TRH-ver- TTF-1 (TITF-1) Autosomal dominant Unterschiedlich ausgeprägte Schilddrüsenhypoplasie, Chomittelte TSH-Stimulation. reoathetose, pulmonale Probleme Hohe Schilddrüsenhormon- TTF-2 (FOXE-1) Autosomal rezessiv Schilddrüsenagenesie, Choanalatresie, stacheliges Haar spiegel hingegen supprimieren PAX-8 Autosomal dominant Schilddrüsendysgenesie schnell und direkt die Expres- TSH-Rezeptor Autosomal rezessiv TSH-Resistenz sion des TSH-Gens und die G (hereditäre OsteoAutosomal dominant TSH-Resistenz sα TSH-Sekretion und hemmen dystrophie Albright) Autosomal rezessiv Iodtransportstörung die TSH-Stimulation durch Na+/I-Symporter TRH. Dies ist ein Hinweis daTHOX2 Autosomal dominant Organisationsdefekt rauf, dass die TSH-Produktion Schilddrüsenperoxidase Autosomal rezessiv Iodorganifizierungsdefekt überwiegend durch die Schild- Thyreoglobulin Autosomal rezessiv Schilddrüsenhormonsynthesestörung drüsenhormone reguliert wird. Pendrin Autosomal rezessiv Pendred-Syndrom: Innenohrschwerhörigkeit und partielle Iodinationsstörung der Schilddrüse Wie andere HypophysenhorAutosomal rezessiv Iodwiederverwertungsstörung mone wird TSH pulsatil frei- Dehalogenase gesetzt und zeigt einen zirkadianen Rhythmus. Die höchsten eine seltene Ursache der kongenitalen Hypothyreose, die dessen Spiegel treten nachts auf. Allerdings sind die Schwankungen des Bedeutung für die Schilddrüsenhormonsynthese unterstreicht. Ein TSH im Vergleich zu denen anderer Hypophysenhormone eher weiterer Iodtransporter, Pendrin, ist auf der apikalen Oberfläche moderat, teilweise bedingt durch die lange Plasmahalbwertszeit (50 der Schilddrüsenzellen lokalisiert und vermittelt den Iodausstrom Minuten) des TSH. Daher sind Einzelmessungen des TSH zur Bestimmung der zirkulierenden Konzentration geeignet. TSH wird mit immunoradiometrischen Assays bestimmt, die hochsensitiv und spezifisch sind. Diese Methoden können problemlos zwischen T3 T4 normalen und supprimierten TSH-Werten unterscheiden, sodass Hypothalamus – der TSH-Spiegel sowohl für die Diagnose der Hyperthyreose (erTSH-R niedrigtes TSH) als auch für die der Hypothyreose (erhöhtes TSH) Basal herangezogen werden kann. NIS I SCHILDDRÜSENHORMONSYNTHESE, -STOFFWECHSEL UND -WIRKUNG Iodmetabolismus und -transport Die Iodaufnahme ist ein erster wichtiger Schritt der Schilddrüsenhormonsynthese. Mit der Nahrung aufgenommenes Iod wird an Serumproteine gebunden, vor allem Albumin. Ungebundenes Iod wird mit dem Urin ausgeschieden. Die Schilddrüse entzieht dem Blutkreislauf das Iod in sehr effizienter Weise. So werden 10 bis 25 Prozent eines radioaktiven Tracers (z. B. 123I) innerhalb von 24 Stunden von der gesunden Schilddrüse aufgenommen. Dieser Wert kann bei der BasedowKrankheit auf 70 bis 90 Prozent ansteigen. Die Iodaufnahme wird durch den Natrium-Iodid-Symporter (NIS) vermittelt, der auf der basolateralen Membran der Schilddrüsenfollikelzellen exprimiert wird. NIS wird in hohem Maße in der Schilddrüse exprimiert sowie auf niedrigem Niveau in den Speicheldrüsen, der laktierenden Mamma und der Plazenta. Der Iodtransport ist stark reguliert, um sich an eine variable Nahrungsiodaufnahme anpassen zu können. Niedrige Iodspiegel erhöhen die Menge an NIS und stimulieren die Aufnahme, während hohe Iodspiegel die NIS-Expression und Iodaufnahme supprimieren. Die selektive Expression von NIS in der Schilddrüse ermöglicht die Durchführung einer Szintigraphie, die Behandlung der Hyperthyreose und die Ablation von Schilddrüsenkarzinomen mit radioaktiven Iodisotopen ohne wesentliche Beeinträchtigung anderer Organe. Eine Mutation des NIS-Gens ist + – Hypophyse Apikal DIT Tg-MIT TSH Ko SCHILDDRÜSENHORMONSYNTHESE Schilddrüsenhormone leiten sich von Thyreoglobulin ab, einem großen iodierten Glykoprotein. Nach seiner Sekretion in den Schilddrüsenfollikel wird das Thyreoglobulin an Tyrosinmolekülen iodiert und werden diese nachfolgend über Etherbrücken miteinander verknüpft. Die Wiederaufnahme des Thyreoglobulins in die Schilddrüsenfollikelzelle ermöglicht die Proteolyse und die Freisetzung des neugebildeten T4 und T3. TRH pp lu + Schilddrüse T4 ng Tg + IIodination Follikelzelle Schilddrüsenfollikel T3 Periphere Wirkungen ABBILDUNG 335-2 Regulation der Schilddrüsenhormonsynthese. Links. Die Schilddrüsenhormone T4 und T3 inhibieren über negative Rückkopplung die hypothalamische TRH-Produktion und die hypophysäre TSH-Produktion. TSH stimuliert die Synthese von T4 und T3 durch die Schilddrüse. Rechts. Schilddrüsenfollikel bestehen aus Schilddrüsenepithelzellen, die ein proteinhaltiges Kolloid umschließen, das Thyreoglobulin enthält. Follikelzellen, die eine polare Ausrichtung haben, synthetisieren Thyreoglobulin und stellen Schilddrüsenhormone her (Einzelheiten siehe im Text). TSH-R = Rezeptor für Thyreoidea-stimulierendes Hormon; Tg = Thyreoglobulin; NIS = Natrium-Iodid-Symporter; TPO = Schilddrüsenperoxidase; DIT = Diiodtyrosin; MIT = Monoiodtyrosin. 4 Aus: Harrisons Innere Medizin • 17. Auflage, deutsche Ausgabe • In Zusammenarbeit mit der Charité • Herausgegeben von M. Dietel, N. Suttorp, M. Zeitz Copyright © ABW Wissenschaftsverlag GmbH, Kurfürstendamm 57, D-10707 Berlin • www.abw-verlag.de Erkrankungen der Schilddrüse den Autoimmunerkrankungen und dem erhöhten Iodbedarf, der mit einer Schwangerschaft verbunden ist. In Iodmangelgebieten n spiegelt die Schilddrüsenvergrößerung einen Kompensationsversuch wider, unter den Bedingungen einer relativ ineffizienten Hormonsynthese Iod anzureichern und genügend Hormon zu bilden. Überraschenderweise sind die TSH-Spiegel üblicherweise normal oder nur leicht erhöht. Der Befund legt die Annahme einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber TSH oder einer Aktivierung über andere Wege nahe, die zum Schilddrüsenwachstum führen. Iod scheint direkt auf die Vaskularisierung der Schilddrüse zu wirken und das Wachstum über vasoaktive Substanzen, wie die Endotheline und Stickstoffmonoxid, zu beeinflussen. Die endemische Struma wird auch durch eine Exposition gegenüber strumigenen Substanzen aus der Umwelt verursacht, wie Casavawurzeln, die ein Thiozyanat enthalten, Gemüse aus der Familie der Cruciferae (z. B. Rosenkohl, Wirsing oder Blumenkohl) und Milch aus Gebieten, wo im Gras Strumigenee vorkommen. Äußerst selten können vererbte Defekte der Schilddrüsenhormonsynthese zu einer diffusen euthyreoten Struma führen. Störungen auf jeder Stufe der Hormonsynthese einschließlich des Iodtransportes (NIS), der Thyreoglobulinsynthese, der Organifizierung und Kopplung (TPO) sowie der Wiederbereitstellung von Iod (Dehalogenase) sind beschrieben. Deutschland gilt im Gegensatz zu den USA als Iodmangelgebiet, obwohl sich die Situation nach Einführung der freiwilligen Iodsalzprophylaxe in den letzen Jahren deutlich gebessert hat. Es bestehen weiterhin beträchtliche regionale Unterschiede in der Iodversorgung, wobei das frühere typische Nord-Süd-Gefälle der Iodversorgug nicht mehr gegeben ist. Die direkte Regulation von intrathyreoidalen Wachstumsfaktoren und Iodlipiden spielt innerhalb des komplexen multifaktoriellen, teils auch genetisch beeinflussten Wachtumsverhaltens der normalen Schilddrüse und der Struma physiologisch und pathogenetisch eine entscheidende Rolle. Der intrathyreoidale Iodmangel regt die Zellhyperplasie der Thyreozyten an, die exogene TSH-Stimulation bewirkt eine Hypertrophie des Thyreozyten. Klinisches Bild und Diagnostik Bei erhaltener Schilddrüsenfunktion sind die meisten Strumen asymptomatisch. Die spontane Einblutung in eine Zyste oder einen Knoten kann plötzlich einen Lokalschmerz und eine Schwellung verursachen. Die Untersuchung einer diffusen Struma zeigt eine symmetrisch vergrößerte, nicht druckschmerzhafte, im Allgemeinen weiche Drüse ohne tastbare Knoten. Das Vorliegen einer Struma wird – etwas willkürlich – definiert als ein Lappen, der größer ist als der Daumen des Untersuchten. Eine stark vergrößerte Schilddrüse kann die Trachea oder den Ösophagus komprimieren. Diese Merkmale finden sich aber meist nicht ohne Knoten oder eine Fibrosierung. Eine retrosternale Strumaa kann zur Obstruktion der Thoraxöffnung führen. Das Pemberton-Zeichen n bezieht sich auf Ohnmachtsanfälle mit Gesichtsschwellung und oberer Einflussstauung der externen Jugularvenen beim Heben der Arme, wodurch die Schilddrüse in die Thoraxapertur hineingezogen wird. Eine Lungenfunktionsuntersuchung sowie eine CT oder MRT werden bei Patienten mit den Symptomen einer Obstruktion zur Abklärung einer retrosternalen Struma vorgenommen. Bei allen Patienten mit einer Struma sollten Schilddrüsenfunktionstests zum Ausschluss einer Hyper- oder Hypothyreose durchgeführt werden. Insbesondere bei Iodmangel ist ein niedriges Gesamt-T4 bei normalen T3- und TSH-Werten im Sinne einer verstärkten Konversion von T4 zu T3 nicht ungewöhnlich. Ein niedriges TSH ist vor allem bei älteren Patienten ein Hinweis auf eine Schilddrüsenautonomie oder eine nicht diagnostizierte BasedowKrankheit mit subklinischer Hyperthyreose. Die Bestimmung der TPO-Antikörper kann sinnvoll sein, um Patienten mit einem erhöhten Risiko für eine Autoimmunthyreopathie zu erkennen. Niedrige Iodspiegel im Urin (< 10 μg/dl) unterstützen die Diagnose eines Iodmangels. Eine Schilddrüsenszintigraphie ist im Allgemeinen nicht notwendig, weist aber einen erhöhten Uptake bei Iodmangel und in den meisten Fällen einer gestörten Schilddrüsenhormonsynthese nach. Auch eine Ultraschalluntersuchung ist bei der diffusen Struma meist nicht erforderlich, sofern nicht bei der körperlichen Untersuchung ein Knoten ertastet wurde. In 335 Deutschland gilt bei einer hohen Strumaprävalenz und wegen der Ungenauigkeit der klinischen Untersuchung (Palpation) die Ultraschalluntersuchung des Halses als ein obligater Bestandteil der Basisdiagnostik einer Struma. Die Methode erlaubt auf einfache und wenig belastende Weise eine genaue Volumenbestimmung der Struma und den Nachweis von eventuell vorhandenen Knoten ab einer Größe von wenigen Millimetern. Die Beurteilung des Echomusters liefert zusätzliche Hinweise auf das Vorliegen einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse. Als weiterer Fortschrittt kommt der Einsatz der Duplex-/Farbdoppler-Sonographie zur Darstellung der Vaskularisierung des Organs und der Knoten hinzu, die wertvolle Hinweise auf Autoimmunerkrankungen oder die Dignität von Knoten geben kann. DIFFUSE, EUTHYREOTE (BLANDE) STRUMA Die Substitution von Iod oder Schilddrüsenhormonen führt zu einer unterschiedlich starken Rückbildung der Iodmangelstruma, abhängig davon, wie lange die Struma schon besteht und welches Ausmaß der Fibrosierungsgrad angenommen hat. Wegen der Möglichkeit einer zugrunde liegenden Schilddrüsenautonomie ist bei Einleitung einer TSHsuppressiven Levothyroxintherapie bei Patienten mit Struma Vorsicht geboten, vor allem wenn das basale TSH im niedrig-normalen Bereich liegt. Bei jüngeren Patienten kann die Levothyroxindosis mit 100 μg täglich begonnen und im Weiteren so angepasst werden, dass das TSH in den niedrig-normalen, aber noch nachweisbaren Bereich abgesenkt wird. Die Behandlung älterer Patienten sollte mit 50 μg täglich begonnen werden. Die Wirksamkeit einer suppressiven Behandlung ist bei jüngeren Patienten und bei weicher Struma besser. Eine signifikante Rückbildung ist gewöhnlich innerhalb von drei bis sechs Monaten zu beobachten, danach wird sie unwahrscheinlich. Von den älteren Patienten und den Patienten mit einem gewissen Anteil an Knoten oder Fibrosierungsgrad zeigt weniger als ein Drittel eine merkliche Abnahme des Kropfes. Eine Operationsindikation besteht bei der diffusen Struma nur selten. Ausnahmen sind eine nachgewiesene Trachealkompression oder eine Obstruktion der Thoraxapertur, wie sie bei einer retrosternalen multinodösen Struma vorkommt (siehe unten). Die subtotale oder nahezu totale Thyreoidektomie aus mechanischen oder aus kosmetischen Gründen sollte von einem erfahrenen Operateur durchgeführt werden, um die Komplikationsrate zu minimieren, die bis zu zehn Prozent beträgt. Auf die Operation sollte eine leicht suppressive Behandlung mit Levothyroxin folgen, um eine Rezidivstruma zu verhindern. Eine Radioiodtherapie verkleinert die Struma bei der Mehrzahl der Patienten um ungefähr 50 Prozent. Sie ist selten mit einer vorübergehenden akuten Schilddrüsenschwellung verbunden, die gewöhnlich ohne Folgen bleibt, es sei denn, es liegt eine Trachealstenose vor. Wenn keine Nachbehandlung mit Levothyroxin erfolgt, sollten die Patienten nach der Radioiodtherapie wegen der Gefahr der Entwicklung einer Hypothyreose kontrolliert werden. Die Strumatherapie in Deutschland unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den amerikanischen Therapiegepflogenheiten, nicht zuletzt aus pathophysiologischen Gründen und Überlegungen, die aus der unterschiedlichen Iodversorgung der beiden Länder herrühren. Im Iodmangelgebiet ist der Ausgleich des bestehenden Iodmangels das wichtigste kausale Therapieprinzip in der Behandlung der Struma. Die Iodidtherapie ist indiziert bei euthyreoter Iodmangelstruma mit und ohne Knotenbildungen und besonders wirksam (mit einer zu erwartenden Volumenabnahme der Struma im Bereich von ungefähr 30 Prozent) bei Kindern, Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen (< 40 Jahre) mit diffuser Struma, weniger effektiv bei Knotenstrumen, isolierten Schilddrüsenknoten und lange bestehenden Kröpfen älterer Patienten. Die Tagesdosis liegt bei 100 bis 200 μg Kaliumiodid. Die Therapiedauer beträgt 12 bis 18 Monate und geht nahtlos und obligat in eine auf Dauer angelegte Rezidivprophylaxe mit niedrigerer Dosis von 100 μg über. Die Nebenwirkungsrate ist bei dieser Dosierung sehr gering. Eine nachweisbare subklinische oder manifeste Hyperthyreose (erkennbar an einer Suppression des TSH unter die untere Referenzgrenze) ist eine Kontraindikation für die Einleitung oder Fortführung der Iodidgabe. Die Therapie der Struma mit Schilddrüsenhormon (Levothyroxin) ist zwar grundsätzlich von vergleichbarer Effektivität, jedoch im Gegensatz zur Iodidtherapie nicht kausal begründet, sondern rein symptomatisch ausgerichtet. Bei ungenügendem Ansprechen der Monotherapie oder einer begleitenden Hypothyreose (z. B. nach operativen Eingriffen 23 Aus: Harrisons Innere Medizin • 17. Auflage, deutsche Ausgabe • In Zusammenarbeit mit der Charité • Herausgegeben von M. Dietel, N. Suttorp, M. Zeitz Copyright © ABW Wissenschaftsverlag GmbH, Kurfürstendamm 57, D-10707 Berlin • www.abw-verlag.de TEIL 15 Endokrinologie und Stoffwechsel und kleiner Restschilddrüse) steht eine fixe Kombinationstherapie mit Iodid und Levothyroxin (in variablen Dosierungen) zur Verfügung. Hervorzuheben ist, dass jede Form einer Levothyroxintherapie bei benignen Erkrankungen der Schilddrüse heute in nicht komplett TSH-suppressiver Dosierung einzustellen ist. Bei vorbestehender Autoimmunerkrankung ist eine Iodidgabe generell kontraindiziert, da bei einem kleinen Anteil der Patienten und bei höherer Dosierung von Iodid ein Anstieg der TPO-Ak beobachtet wird. Bei Nachweis eines klinisch relevanten Schilddrüsenknotens (> 1 cm) erfolgt vor Einleitung der Therapie neben der obligaten Sonographie eine weitere Abklärung (Szintigraphie, Feinnadelbiopsie) sowohl hinsichtlich des Vorliegens eines Malignoms als auch einer Autonomie der Schilddrüse. EUTHYREOTE STRUMA MULTINODOSA Ätiologie und Pathogenese Abhängig von der untersuchten Bevölkerung kommt die multinodöse Struma bei bis zu zwölf Prozent der Erwachsenen vor. Die multinodöse Struma weist bei Frauen eine höhere Prävalenz auf als bei Männern, die mit dem Alter zunimmt. Sie ist in Iodmangelgebieten häufiger, kommt aber auch in Gebieten mit ausreichender Iodversorgung vor, was die vielfältigen genetischen, immunologischen und umweltbezogenen Einflüsse auf die Pathogenese widerspiegelt. Es besteht eine breite Streuung der Knotengröße. Die Histologie weist ein Spektrum unterschiedlicher Morphologien auf, die von Arealen mit hohem Zellreichtum bis zu zystischen Anteilen mit Kolloid reichen. Die Fibrosierung ist oft sehr ausgeprägt und es finden sich Bereiche mit Hämorrhagien oder lymphozytärer Infiltration. Bei Verwendung molekularer Techniken sind die meisten Knoten innerhalb einer multinodösen Struma polyklonalen Ursprungs als Ausdruck einer hyperplastischen Reaktion auf lokal produzierte Wachstumsfaktoren und Zytokine. TSH, das gewöhnlich nicht erhöht ist, spielt möglicherweise eine permissive oder ergänzende Rolle. Monoklonale Defekte kommen ebenfalls innerhalb der multinodösen Struma vor. Es handelt sich um Genmutationen, die einen selektiven Wachstumsvorteil gegenüber der Ursprungszelle mit sich bringen. Klinisches Bild Die meisten Patienten mit euthyreoter multinodöser Struma sind asymptomatisch und schon per definitionem euthyreot. Die multinodöse Struma entwickelt sich typischerweise über mehrere Jahre und fällt bei der körperlichen Routineuntersuchung auf oder wenn der Betroffene eine Vergrößerung im Halsbereich bemerkt. Wenn die Struma groß genug ist, kann sie zu Kompressionssymptomen führen, einschließlich Schluckbeschwerden, Atemnot (Trachealkompression) oder Plethora (venöse Stauung), wobei derartige Symptome selten sind. Symptomatische multinodöse Strumen sind gewöhnlich sehr groß und/oder entwickeln fibrotische Bereiche, die eine Einengung verursachen können. Plötzlich auftretende Schmerzen in einer multinodösen Struma werden oft durch Einblutungen in einen Knoten verursacht. Allerdings sollte auch die Möglichkeit eines invasiven malignen Prozesses bedacht werden. Heiserkeit durch Beteiligung des N. laryngeus recurrens weist auf ein malignes Geschehen hin. Diagnostik Bei der Untersuchung ist die Schilddrüsenarchitektur gestört und es werden mehrere Knoten unterschiedlicher Größe erfasst. Da viele Knoten tief im Schilddrüsengewebe eingebettet oder in hinteren oder retrosternalen Anteilen liegen, sind nicht alle Knoten palpabel. TSH sollte zum Ausschluss einer subklinischen Hyper- oder Hypothyreose bestimmt werden, allerdings ist die Schilddrüsenfunktion gewöhnlich normal. Eine Verlagerung der Luftröhre ist häufig, die Einengung muss aber 70 Prozent des Luftröhrendurchmessers überschreiten, bevor es zu einer signifikanten Atembehinderung kommt. Lungenfunktionsprüfungen werden durchgeführt, um die funktionelle Wirksamkeit einer Einengung zu objektivieren und eine Tracheomalazie nachzuweisen, die durch einen inspiratorischen Stridor charakterisiert ist. CT oder MRT werden eingesetzt, um die Anatomie der Struma und das Ausmaß der retrosternalen Ausdehnung zu beurteilen, das häufig wesentlich größer ist als bei der körperlichen Untersuchung erkennbar. Ein Bariumbreischluck offenbart das Ausmaß der Ösophaguseinengung. Das Risiko eines Schilddrüsenkarzinoms ist vergleichbar mit dem Risiko eines Solitärknotens. Anhand des sonographischen Bildes ist über eine Feinnadelpunktion zu entscheiden, wobei der größte dominierende Knoten oder Knoten mit sonographischen Hinweisen auf Malignität wie Mikroverkalkungen, Echoarmut und Hypervaskularisation punktiert werden sollten. STRUMA MULTINODOSA Die meisten euthyreoten multinodösen Strumen können konservativ behandelt werden. Eine suppressive Levothyroxintherapie ist zur Strumaverkleinerung nur selten wirksam und birgt die Gefahr einer Hyperthyreose, vor allem wenn eine Autonomie vorliegt oder sich während der Behandlung entwickelt. Sofern Levothyroxin eingesetzt wird, sollte mit einer niedrigen Dosis begonnen werden (50 μg) und diese schrittweise unter Kontrolle des TSH zur Vermeidung einer übermäßigen Suppression gesteigert werden. Kontrastmittel und andere iodhaltige Substanzen sollten wegen der Gefahr der Auslösung einer iodinduzierten Hyperthyreose vermieden werden, die durch eine gesteigerte Hormonproduktion durch autonome Knoten gekennzeichnet ist. Die Radioiodtherapie wird häufig therapeutisch eingesetzt, da sie die Struma verkleinert und selektiv autonome Bereiche ausschaltet. Die Dosis von 131I hängt von der Strumagröße und dem Radioioduptake ab, wobei meist ungefähr 3,7 MBq (0,1 mCi) pro Gramm Gewebe eingesetzt werden, mit Korrektur je nach dem Uptake (übliche Dosen 370– 1070 MBq, entsprechend 10–29 mCi). Eine Wiederholung der Behandlung kann erforderlich sein. Bei den meisten Patienten lässt sich eine Verkleinerung der Struma um 40 bis 50 Prozent erreichen. Frühere Bedenken wegen einer strahleninduzierten Schwellung der Schilddrüse und einer Trachealkompression sind geringer geworden, da diese Komplikation nach jüngsten Studien selten ist. Wenn eine akute Einengung auftritt, kann eine Behandlung mit Glukokortikoiden oder eine Operation erforderlich werden. Eine strahlenbedingte Hypothyreose ist seltener als nach Behandlung der Basedow-Krankheit. Allerdings kann nach der Behandlung bei bis zu fünf Prozent der Patienten mit einer euthyreoten multinodösen Struma eine immunogene Hyperthyreose auftreten. Ein chirurgischer Eingriff ist sehr effektiv, jedoch vor allem bei älteren Patienten mit kardiopulmonaren Erkrankungen nicht ohne Risiken. HYPERTHYREOTE STRUMA MULTINODOSA Die Pathogenese der hyperthyreoten multinodösen Struma scheint ähnlich derjenigen der euthyreoten Struma multinodosa, mit einem wesentlichen Unterschied, dass bei der hyperthyreoten multinodösen Struma eine funktionelle Autonomie vorliegt. Die molekulare Grundlage der Autonomie bei der hyperthyreoten multinodösen Struma ist noch nicht sicher geklärt. Wie bei der euthyreoten Struma sind viele Knoten polyklonal, während andere monoklonal und unterschiedlichen klonalen Ursprungs sind. Genetische Anomalien wie aktivierende TSH-R- oder Gsα-Mutationen (siehe unten), die bekanntermaßen mit einer funktionellen Autonomie einhergehen, werden normalerweise nicht in den autonomen Bereichen der hyperthyreoten multinodösen Struma gefunden. Neben den Merkmalen einer Struma umfasst das klinische Bild der hyperthyreoten Knotenstruma eine subklinische oder leichte Hyperthyreose. Der Patient ist gewöhnlich älter und fällt mit Vorhofflimmern oder Palpitationen, einer Tachykardie, Nervosität, Tremor oder einem Gewichtsverlust auf. Eine vorausgegangene Iodexposition mit Kontrastmitteln oder aus anderen Quellen kann eine Hyperthyreose auslösen oder verschlimmern. Der TSH-Spiegel ist niedrig. Der T4-Spiegel kann normal oder leicht erhöht sein. T3 ist häufig stärker erhöht als T4. Das Schilddrüsenszintigramm zeigt ein heterogenes Bild mit zahlreichen Bezirken mit einem erhöhten oder erniedrigten Uptake. Der 24-Stunden-Uptake von Radioiod ist nicht unbedingt erhöht. HYPERTHYREOTE STRUMA MULTINODOSA Die Behandlung der hyperthyreoten multinodösen Struma ist schwierig. Thyreostatika können oft zusammen mit Betablockern die Schilddrüsenfunktion normalisieren und die klinische Symptomatik der Hyperthyreose bessern. Die Behandlung stimuliert jedoch oft das Strumawachstum und anders als bei der Basedow-Krankheit kommt es zu keiner Spontanremission. Radioiod wird zur Behandlung der Autono- 24 Aus: Harrisons Innere Medizin • 17. Auflage, deutsche Ausgabe • In Zusammenarbeit mit der Charité • Herausgegeben von M. Dietel, N. Suttorp, M. Zeitz Copyright © ABW Wissenschaftsverlag GmbH, Kurfürstendamm 57, D-10707 Berlin • www.abw-verlag.de