Islam in Österreich – Bedrohung, Chance oder beides? Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich sehr herzlich für die Einladung bedanken. Ich werde das Thema „Islam in Österreich - Bedrohung, Chance oder beides?“ aus der Sicht eines Theologen behandeln, der seit gut 10 Jahren enge Kontakte zur islamischen community in Oberösterreich hat. Ich kenne Muslime seit Jahren persönlich, und konnte mir durch viele gemeinsame Aktionen und Projekte – so denke ich – ein gutes Bild machen. Ein wichtiges Anliegen meines 20-minütigen Impulses besteht darin, angesichts der weit verbreiteten Ängste – aber auch pauschalen Denunziationen dieser Religion und seiner Gläubigen – möglichst differenziert mit dem Islam bzw. mit dem spannenden Themenkomplex umzugehen. Mein Vortrag besteht aus 4 Schritten – die sich am Titel der Veranstaltung orientieren. Der erste Schritt nimmt den Islam als Religion in den Blick. Der deutsche Islamexperte Michael Lüders hat in seinem neuesten Buch „Allahs langer Schatten“ zu Recht die These aufgestellt, dass ein entsprechendes religionswissenschaftliches Wissen pauschale Angst und Verurteilung nicht rechtfertigen. Wer die Grundlagen des Islam kennt, braucht ihn eigentlich nicht zu fürchten. Der zweite Schritt beleuchtet den Islam in Österreich – und seine gesetzliche Verankerung. Der dritte Schritt behandelt die Frage nach der Bedrohung und den Chancen durch den Islam. Konkret geht es darum, wovon es in der gesellschaftlichen Praxis abhängt, ob der Islam eine Chance oder Bedrohung für die Öffentlichkeit, für den Staat, für unsere Kultur ist bzw. wird? Der vierte Schritt schließlich hat – als zusätzliche Perspektive - die Beschäftigung mit dem eigenen Zugang, mit der eigenen Grundausrichtung im Blick. Ob etwas als Bedrohung oder Chance wahrgenommen wird, hängt wesentlich mit meiner eigenen Einstellung, mit meiner eigenen Grundausrichtung, mit meiner eigenen „Brille“ ab. Letztlich geht es um die Frage nach den vorgefertigten Bildern, ja nach den Vorurteilen in meinem Kopf bzw. in meinem Herz. 1. Der Islam – eine kurze religionswissenschaftliche Standortbestimmung Der große Tübinger Theologe Hans Küng hat ein brauchbares Bild entwickelt, um sich im weiten Meer der Weltreligionen zu Recht zu finden. Er spricht von Flusssystemen bzw. Stromsystemen. Ein Fluss- bzw. ein Stromsystem steht etwa für die indisch-mystischen Religionen, denen es um Meditation und Versenkung sowie dem Ausbruch aus dem Rad der Wiedergeburten geht. Die Religionen in diesem Stromsystem sind die hinduistischen Religionen sowie die zahlreichen buddhistischen Strömungen. Ein weiteres Flusssystem repräsentiert die fernöstlich-weisheitlichen Religionen Chinas und Japans wie Daoismus oder Konfuzianismus. Auch hier gibt es selbstverständlich – trotz der eigenständigen Profile der jeweiligen Religionen – gemeinsame Wurzeln. Ein anderes Stromsystem wiederum symbolisiert die nahöstlich-prophetisch geprägten Religionen wie Judentum, Christentum und Islam. Diese drei Religionen haben – und das ist das Interessante an diesem Bild vom gemeinsamen Stromsystem – gleiches Grundwasser: nämlich den Monotheismus. Das zeigt sich sehr deutlich beim Christentum – Jesus war Zeit seines Lebens nie Christ, er war immer Jude. Insofern sind Jesus selbst und die junge christliche Bewegung nur dann adäquat zu verstehen, wenn man das Judentum als die Grundquelle des Christentums entsprechend kennt und ins Spiel bringt. So gesehen ist das Christentum eine Abzweigung aus dem jüdischen Fahrwasser, aber kein Abbruch. Ähnlich ist es mit dem Islam: er befindet sich im gleichen Fahrwasser und hat jüdische und christliche Einflutungen. Auf den Punkt gebracht, kann man ohne weiteres sagen: Juden und Jüdinnen sind für Christen die älteren Geschwister, weil beide substantiell sehr viel verbindet, Muslime und Muslimas hingegen sind wie Cousins und Cousinen. Es gibt Gemeinsames, aber durchaus auch Unterschiede, die qualitativ anders sind als die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum. Gemeinsamkeiten Aufgrund des gemeinsamen religiösen Stromsystems gibt es unübersehbare Berührungen zwischen Judentum, Christentum und Islam: Der Glauben an den einen Gott, der als wohlwollender Schöpfer gilt, der barmherzig und gnädig ist, demgegenüber man für das eigene Leben Verantwortung trägt, der uns Menschen nicht im Tod und im Verfaulen lässt, sondern neues Leben schenkt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass der Glaube an den einen Gott Folgen, Konsequenzen hat - für das eigene Handeln im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich. Ein Kriterium etwa für den Glauben an Gott ist das gerechte und verantwortete Wirtschaften zugunsten der Menschen. Gemeinsam ist den drei Religionen auch das Wissen um den Wert von Normen und Geboten für eine humane Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft sowie des eigenen Lebens. In allen drei Religionen gibt es ein Grundethos, so etwas wie die 10 Gebote. Im Islam gibt es die fünf bekannten Säulen „Bezeugung des Glaubens, Gebet, Sozialabgabe, Fasten, Wallfahrt“. Diese Säulen stehen dafür, dass der Glaube sich in bestimmten Formen realisieren, zeigen, verdeutlichen muss. Auch Christen wissen darum, dass der Glaube schrumpfen oder gar verloren gehen kann, wenn er nicht konkretisiert wird: Es braucht – so wie im Islam und im Judentum - das gemeinsame „Zusagen“ und sich Verwurzeln im Glauben. Zentral für Christen ist ebenfalls das Gebet. Das „Vater unser“ ist für Jesus der entscheidende Weg, wie die Größe, Weite, Tiefe, Leidenschaft Gottes auf Menschen „abfärben“ kann. So wie im Islam gibt es im Christentum eine enge Verbindung zwischen Gebet und sozialem Engagement bzw. Hinwendung zu den Armen. Gemeinsam ist auch die hohe Wertschätzung des Fastens, das den Menschen „reinigt“ und Wesentliches wieder in den Blick rückt. Nur die Wallfahrt hat für Christen nicht eine ähnlich hohe Bedeutung wie für Muslime. Hochachtung: Das zweite Vatikanische Konzil Es verwundert daher nicht, dass gerade das zweite Vatikanische Konzil mit Hochachtung auf die Muslime – und die anderen Religionen – blickt. In einem eigenen Text über das Verhältnis zu den anderen Religionen heißt es: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, …Sie mühen sich, … (den) verborgenen Ratschlüssen (Gottes) sich … mit ganzer Seele zu unterwerfen ….“. (NA 3) Unterschiede Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es natürlich auch Unterschiede. Der wohl wichtigste Unterschied zwischen Christentum und Islam liegt (religionswissenschaftlich betrachtet) im Offenbarungsverständnis. Während für Muslime Gott gleichsam aus der Ferne mit Menschen kommuniziert, in dem er Sätze auf die Erde sendet, aus denen dann der Koran wird, kommuniziert nach christlicher Erfahrung Gott viel vitaler und dynamischer: Wer dieser Gott ist, wie er es mit der Welt hält, was dieser Gott alles zu bewirken vermag, zeigt sich für Christen in der Person und im Leben des Jesus von Nazaret. Weitere Unterschiede zwischen Christentum und Islam beziehen sich auf die Rolle und Bedeutung Jesu und auf dessen Kreuzestod. Zwei Unterschiede, die im Alltag wohl am meisten auffallen (und unterschiedlich intensiv gehandhabt werden), seien noch genannt: Im Christentum gibt es – trotz der Herkunft aus dem Judentum – keine Speise- und Kleidungsvorschriften, während ganz bestimmte Speisevorschriften oder Kleidungsvorschriften für den Islam konstitutiv sind (etwa die Bedeckung des Körpers bis zu gewissen Stellen bei Frauen). Auffällig ist auch, dass viele Muslime aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds eine andere „Schamgrenze“ im Umgang zwischen Männer und Frauen haben. Während bei uns z. B. ein freundlicher Händedruck, eine Umarmung oder ein freundschaftlicher Kuss nichts Außergewöhnliches sind, halten Muslime einen Respektsabstand zu Frauen, die nicht zu ihrer Familie gehören. Deshalb blicken sie ihr etwa nicht in die Augen oder geben ihr nicht die Hand. 2. Der Islam in Österreich – ein kleiner Einblick Eigentlich ist es nicht ganz korrekt, wen man vom Islam in Österreich spricht. Den Islam gibt es so wenig wie es das Christentum oder den Buddhismus gibt. So wie in den anderen Religionen gibt es auch hier eine Fülle von verschiedenen Richtungen. In Linz gibt es beispielsweise alleine 5 verschiedene Strömungen eines türkischen Islams, die sich mitunter so unterscheiden, dass einige miteinander nicht können. Die Bandbreite der muslimischen Gruppen reicht von sehr aufgeklärten und dialogbereiten islamischen Strömungen bis hin zu sich abschließenden Gruppen. In Österreich leben rund 400.000 Muslime, davon in Oberösterreich rund 55.000. Der Großteil der Muslime in OÖ kommt aus dem Balkan (Bosnien, Montenegro, Kosovo, Albanien, Mazedonien). Gut 40 Prozent kommen aus der Türkei. Es kommt also immer darauf an, genau hinzusehen, mit welchen Muslimen man es zu tun hat, was im besonderen ihr Herkunftsland und ihr Bildungsstand ist. Muslim ist nicht gleich Muslim bzw. Muslima ist nicht gleich Muslima. In Oberösterreich leben die Muslime vor allem im Umkreis der Städte Linz, Traun, Ansfelden, Enns, Wels und Schwanenstadt. Die Zahl der muslimischen Gebetsräume in OÖ wird auf maximal 25 geschätzt. Österreichweit rechnet man mit ca. 200 Gebetsräumen, in denen eine Kuthba, ein reguläres Freitagsgebet mit Ansprache abgehalten wird. Gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft seit 1912 Ein großer Vorteil in Österreich – gegenüber den anderen Ländern in der EU – ist, dass der Islam seit 1912 – also seit fast 100 Jahren – gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft ist. Das heißt, er steht auf gleicher Ebene mit den anderen gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften wie römisch-katholischer Kirche, den evangelischen bzw. reformierten Kirchen AB und HB, den Buddhisten, den Juden etc. Diese Gleichstellung des Islam in Österreich mit den anderen großen Glaubensgemeinschaften hängt mir der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die KuK-Monarchie zusammen. Dadurch gehörten nun Muslime zum Habsburgerreich – und für diese Muslime musste, zunächst im Eherecht, juristische Handreichungen erarbeitet werden. (Im übrigen bestand die Leibwache Kaiser Franz Josefs aus muslimischen Soldaten Bosnien-Herzogowinas.) Durch diese rechtliche Anerkennung ist in der Folge ein demokratisch-konstruktiver Rahmen ermöglicht worden, der von der offiziellen Vertretung der Muslime in Österreich (der „Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“ – IGGÖ) auch in diesem Sinn genützt wird. Die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreichs ist als rechtliche Vertretung der Muslime gegenüber der Republik Österreich – mit Präsident Anas Shakfeh an der Spitze, 1979 gegründet worden. Diesem Dachverband gehören leider nicht alle muslimischen Gruppen in Österreich an – aber es gelingt der Islamischen Glaubensgemeinschaft immer besser, immer mehr Muslime zu repräsentieren. Ich denke, dass die islamische Glaubensgemeinschaft in letzter Zeit auf sehr verantwortliche Weise gezeigt hat, wie wenig Bedrohung von ihr ausgeht: denken Sie nur an den konstruktiven Umgang im Zusammenhang mit den Karikaturen-Streit, der umstrittenen Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI oder die Attacken gegen den Propheten Muhammad von Frau Dr. Winter im Grazer Wahlkampf. Ich würde mir die gleiche Seriosität, Besonnenheit und Differenziertheit von manchen politischen Parteien wünschen. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass es vereinzelt Personen oder kleine Gruppen gibt, die als politisch bedenklich eingestuft werden können. Diese sind jedoch ganz deutlich in der Minderheit. Mit diesen „Grüppchen“ haben die Mehrzahl der Muslime in Österreich – allen voran die IGGÖ – selber ihre Probleme. 3. Islam in Österreich: Bedrohung, Chance – oder beides? Drei Aufgaben Als dritter Schritt soll nun die Frage nach Bedrohung und Chance thematisiert werden. Wovon hängt es ab, ob der Islam eine Chance oder eine Bedrohung für die Öffentlichkeit, für die Gesellschaft, für den Staat, für unsere Kultur wird? Als entscheidendes Kriterium gilt wohl, was Jürgen Habermas in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 genannt hat: Verzicht auf jegliche Gewalt. Habermas im O-Ton: „Aus der Sicht des liberalen Staates verdienen nur die Religionsgemeinschaften das Prädikat ‚vernünftig’, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten Verzicht leisten.“ Darauf aufbauend zählt Habermas dann drei Voraussetzungen bzw. Grundbedingungen für ein gutes Miteinander von Staat bzw. Gesellschaft und Religion auf. Aus der Sicht der Religionen gilt es zum einen das Verhältnis der Religionen zueinander und der Umgang mit dem eigenen Absolutheitsanspruch zu klären. Als zweite „Hausaufgabe“ ist das Verhältnis zwischen der eigenen Religion und der Wissenschaft bzw. Wissensgesellschaft entsprechend zu bestimmen und als dritter Punkt steht das Verhältnis zwischen Religion und Staat bzw. Demokratie auf dem Plan. Ohne diese konstruktive Auseinandersetzung bzw. konstruktiv geklärten Verhältnisse können Religionen auch ein destruktives Potential entwickeln – und zur Bedrohung werden. Andererseits zeigt es sich, dass bei „geklärten Verhältnissen“ Religionen zu geachteten und unverzichtbaren Dialogpartnern werden. Positionierung der Muslime in Österreich und der EU Wie sehen die Muslime diese Herausforderung selbst? Wie stehen sie zu diesen „Aufgaben“? Eine sehr aufschlussreiche „Positionierung“ der Muslime in Europa bzw. in Österreich zu diesen Fragen spiegelt sich in zwei hochrangigen Stellungnahmen wider. In Österreich gab es 2003 in Graz und 2005 in Wien eine Imame-Konferenz. In Graz brachten etwa mehr als 120 Vorbeter aus 35 Ländern ihr Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und die deutliche Verurteilung von Extremismus und Fanatismus deutlich zum Ausdruck. Dieses Bekenntnis wurde anhand islamischer Quellen dargelegt und in ganz Europa gerade in muslimischen Kreisen mit großer Zustimmung aufgenommen. Aus der Schlusserklärung der Wiener Imame-Konferenz 2005 möchte ich zitieren, um die Muslime so selbst zu Wort kommen zu lassen. Mit Blick auf unser Thema ist in der Schlusserklärung etwa folgendes zu finden: „MuslimInnen sehen sich einem starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Die im Zusammenhang mit dem ‚globalen Krieg gegen den Terror’ erfolgte Konzentration auf ein kleines und enges Segment von Radikalen, die in jeder Debatte über den Islam allgegenwärtig sind, ließ einen fatalen Eindruck entstehen: Terror und Intoleranz seien im Islam selbst angelegt und jeder Muslim zumindest potentiell gefährlich. Neu etablierte Wörter wie jenes vom ‚Schläfer’ mussten in der Bevölkerung den Eindruck erwecken, als könne von jedem Muslim Gewalt ausgehen. In dieser Situation tragen die MuslimInnen selbst Verantwortung, eine Bringschuld, für größtmögliche Transparenz zu sorgen und den Fokus endlich wieder auf die überwältigende Anzahl von MuslimInnen zu legen, die gerade in Umsetzung der Lehren ihrer Religion für gegenseitigen Respekt und Verständnis stehen und menschenverachtenden Terrorismus ablehnen. MultiplikatorInnen des friedliebenden und vernünftigen Islam kommt hier eine besondere Rolle zu. Die Stimme der Imame, der Theologinnen und Intellektuellen soll nach innen und außen durchdringen. Sie haben den direkten Kontakt zur Basis und können so viel bewirken. Die eindeutigen Positionen des Islam zu dem Gut der Freiheit, zu Menschenwürde und Frauenrechten müssen Allgemeingut werden. Denn die beste Medizin gegen Hass und Intoleranz ist das Wissen.“ Eher Herausforderung als Bedrohung Unterm Strich überwiegen für mich daher die Chancen und stellt der Islam keine Bedrohung dar – wohl aber eine Herausforderung: eine Herausforderung sich wieder substantiell mit den eigenen Wurzeln zu beschäftigen, mit dem, was für uns wirklich unverzichtbar ist, mit dem, was unsere westlich-europäische Gesellschaft ausmacht und auszeichnet. Der Islam fordert heraus, ja ermutigt dazu, sich mit der Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum und dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen, er fordert heraus, neu über den Zusammenhalt von Familie zu reflektieren oder Kinder als Investition in die Zukunft wiederzuentdecken. 4. Das Problem „davor“: Die eigene „Brille“ Ob etwas als Bedrohung oder Chance wahrgenommen wird, hängt neben anderen Faktoren auch von der eigenen Einstellung, der eigenen Grundausrichtung, der eigenen „Brille“ ab. Letztlich geht es um die Frage nach den vorgefertigten Bildern, den Vorurteilen im eigenen Kopf bzw. im eigenen „Herz“. Jeder von uns kennt wohl die Macht der eigenen Gedanken: diese Gedanken können vieles erleichtern, aber auch vieles erschweren – je nachdem wovon ich mein Denken, meine Einstellungen, meine Zugänge prägen lassen. Von der eigenen Grundausrichtung hängt also ab – ob ich mich verschließe oder öffne, ob ich nur Schlechtes sehe oder auch Gutes, ob ich lernfähig bin oder stur auf meiner Überzeugung beharre. Die Antithesen Mit dem heutigen Tag beginnt die Fastzeit. Diese Zeit dient im besonderen dazu, gerade die eigene Grundausrichtung in den Blick zu nehmen – und zwar konstruktiv in den Blick zu nehmen. Letztlich geht es in der Fastenzeit darum, Halbiertes, Einseitiges, Hemmendes zu erkennen und sich von einer überraschend anderen „Lebenssicht“ inspirieren zu lassen. Es geht darum, zu jenen Quellen zu gelangen, die dem Leben Profil, Rundung, Nahrung und Gehalt geben. Zu so einem runden Leben, zu so einem Leben mit Profil gehört ganz wesentlich der Umgang mit den eigenen Gedanken und Vorurteilen. Eine Textpassage in der Bergpredigt zeigt das auf beeindruckende Weise: die so genannten Antithesen. Antithesen heißen diese Worte deshalb, weil sie mit dem Kontrast spielen: früher oder bisher hat gegolten, war üblich – in den Spuren Jesu ist aber anderes möglich. Gleich in der ersten Antithese lenkt Jesus den Blick auf das eigene Denken bzw. auf den Teufelskreis des negativen Gedankens und der Vorurteile. Er zeigt, wie wir unseren Gedanken und Vorurteilen verfallen können, so verfallen, dass Menschen für uns abgeschrieben sind, keine Chance mehr haben (Wer seinen Bruder einen Dummkopf oder gottlosen Narren nennt). Wie also kann das eigene Leben, aber auch das Zusammenleben gelingen? Die Bergpredigt zeigt als eine Möglichkeit dazu auf: Leben wird dort gelingen und glücken, wo ich den eigenen Vorurteilen nicht mehr „verfalle“, wo ich bewusst Zerrbilder hinterfrage und nicht mehr der Überzeugung zu sein brauche, andere und anderes klein machen, abwerten oder gering schätzen zu müssen. Auch die zweite Antithese bietet wertvolle Orientierung für unser Thema – und für den Umgang mit dem Islam: Leben wird dort glücken, als sinnvoll erlebt, wo Menschen ihren eigenen „Verkürzungen“ und Einseitigkeiten trotzen. Je simpler meine Perspektive, je einfältiger meine Betrachtungsweise, je berechnender mein Zugang umso größer die Gefahr, dem anderen nicht gerecht zu werden und ihm Unrecht zu tun. Es kommt also darauf an, wovon ich mein Denken, mein Handeln, mein Zugang zum Leben, zu den Nächsten, zu einer bestimmten Sache prägen lasse. Eine Kultur „hysterischer Vereinfachungen“ Welchen Stellenwert und welche Auswirkungen unsere „Vor-Urteile“ und „Verkürzungen“ haben können, thematisiert auch der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash. Garton Ash sieht die Schwierigkeiten Europas im Umgang mit den Muslimen von einer Kultur „hysterischer Vereinfachungen“ geprägt. Diese „hysterischen Vereinfachungen“ gehen oft einher mit der unrealistischen Erwartung, dass die anderen, die Fremden, die Zugezogenen, ihre Differenz, ihr Anderssein, ihre eigene Religion aufgeben müssen. Garton Ash schreibt: „Eine Politik, die auf der Erwartung beruht, dass Millionen von Muslimen auf einen Schlag den Glauben ihrer Väter und Mütter aufgeben, ist schlicht und einfach nicht realistisch. Wenn unsere Botschaft an sie lautet, die Aufgabe ihrer Religion sei die notwendige Voraussetzung dafür, Europäer zu werden, dann werden sie sich dagegen entscheiden, Europäer zu sein.“ Es wäre hingegen sinnvoll, so Garton Ash, jene Version des Islam zu unterstützen, die mit den Grundsätzen des modernen, liberalen und demokratischen Europa vereinbar ist. Dr. Stefan Schlager [email protected] www.dioezese-linz.at/theoleb