35:39 Uhr Wenn die Behandlung nicht anschlägt oder ein Rückfall auftritt – Neue Substanzen in der ALL-Therapie Günter Henze Etwa 500-550 Kinder erkranken in Deutschland jedes Jahr neu an einer akuten lymphoblastischen Leukämie, der häufigsten bösartigen Krankheit bei Kindern und Jugendlichen. Durch die Weiterentwicklung der Ersttherapie bleiben heute annähernd 80% von ihnen in anhaltender Erstremission, bedürfen also lebenslang keiner weiteren Behandlung. Allerdings erleiden auch immer noch etwa 20% der Kinder ein Krankheitsrezidiv. Seit 1983 führen wir in Deutschland systematische Studien zur Behandlung von Kindern mit einem Rezidiv der ALL durch. Ähnlich wie bei der Ersterkrankung soll den Kindern ein strukturiertes Behandlungskonzept angeboten werden. In fünf abgeschlossenen, aufeinander folgenden Studien, ALL-REZ BFM 83, 85, 87, 90 und 95, sind mehr als 1600 Kinder und Jugendliche mit einem ersten ALL-Rezidiv behandelt worden. Etwa 40% dieser Patienten sind geheilt, so dass die Heilungsrate bei der ALL im Kindesund Jugendalter insgesamt heute in Deutschland bei etwa 85% liegt. Die Prognose nach einem Rezidiv hängt von verschiedenen Faktoren ab. Kinder mit einem späten Rezidiv (> 21/2 Jahre nach der ersten Diagnose der ALL) gehören in die Gruppe von Patienten mit mittlerem Risiko für das Auftreten eines Folgerezidivs, ebenso wie Kinder, bei denen nicht nur das Knochenmark befallen ist. Sie haben eine vergleichsweise günstige Prognose, die bei durchschnittlich etwa 50% liegt. Zurzeit läuft die Studie ALL-REZ BFM 2002, die von der Deutschen Kinderkrebsstiftung gefördert wird. Erstmals wird im Rahmen dieser Stu- die eine Messung von minimaler residueller Leukämie (MRD) zu bestimmten Zeitpunkten der Therapie durchgeführt, und das Ansprechen auf die Behandlung entscheidet bei Kindern mit mittlerem Rückfallrisiko über die Indikation zu einer Stammzelltransplantation. Kinder, die uns weiterhin größte Sorgen machen, sind solche mit frühen oder sehr frühen (< 18 Monate nach Diagnose der ALL) Rezidiven und/oder mit Rezidiv einer T-ALL. Ihre Prognose ist deutlich ungünstiger. Mit alleiniger Chemotherapie lässt sich bei ihnen keine anhaltende Krankheitsfreiheit erzielen. Sie bedürfen immer einer Stammzelltransplantation mit vorhergehender Konditionierung, in der Regel bestehend aus einer Hochdosis-Chemotherapie mit VP16 und einer Ganzkörperbestrahlung. Oft gelingt es bei diesen Kindern nicht einmal, eine erneute Remission zu herbeizuführen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Remission zu erreichen, beträgt bei Kindern mit einer Erstmanifestation der ALL annähernd 100%. Bei Kindern mit einem Rezidiv sinkt sie in der Summe auf 90%, bei Kindern mit einem sehr frühen Knochenmarkrezidiv sogar auf unter 60%. Wenn keine Remission erreicht wird, so ist die Prognose in aller Regel infaust. Das Erreichen der Remission ist also eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass eine Therapie überhaupt Erfolgsaussichten hat. Bei 51 von 93 Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der ALL-REZ BFM-Studien behandelt wurden und mit der Protokolltherapie keine Remission erreichten, wurden weitere Behandlungsversuche mit ku- rativer Intention unternommen. Mit unterschiedlichen Therapien erreichten 16 (31%) dieser Kinder eine komplette (CR) und 9 (18%) eine partielle Remission (PR). Lediglich zwei der Kinder, die eine CR erreicht hatten, überlebten krankheitsfrei nach einer Stammzelltransplantation. Für Kinder und Jugendliche mit therapierefraktärer Erkrankung ist der Bedarf an neuen Therapieoptionen offensichtlich. Seit kurzem sind neue Medikamente im Handel, die über die europäische Arzneimittelbehörde (EMEA) auch bei Kindern zugelassen sind. Es handelt sich um Weiterentwicklungen von sogenannten Antimetaboliten, d. h. Medikamenten, die mit anderen, im normalen Zellstoffwechsel vorkommenden und für die Teilung der Zellen notwendigen Substanzen konkurrieren. Seit langem bekannte Medikamente dieser Art sind z. B. 6-Mercaptopurin (Puri Nethol®) oder auch Cytosin Arabinosid. Kürzlich wurden auf der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie (SIOP) in Genf Daten über eines der neuen Medikamente, Clofarabine (Evoltra®), vorgestellt. Auch im Internet wurde darüber berichtet, und sowohl betroffene Eltern und Patienten als auch Behandelnde haben auf diese Informationen mit großem Interesse reagiert. Bei insgesamt 61 Kindern und Jugendlichen (< 21 Jahre), die mindestens mit zwei (median 3) Therapieschemata erfolglos vorbehandelt worden waren, wurde Clofarabine in einer Dosierung von 52 mg/m2/d i.v. an 5 aufeinander folgenden Tagen als Monotherapie alle 2-6 Wochen eingesetzt. Zwölf der Fachbegriffe werden auf der nächsten Seite erklärt > WIR 4/2006 27 Klinik und Forschung Patienten (20%) erreichten eine CR (n=7) oder CRp (ohne Erholung der Thrombozyten;(n=5)) und 6(10%) eine partielle Remission. Die Ansprechrate lag somit insgesamt bei 18/61 (30%). In einer gegenwärtig laufenden europäischen Phase II-Studie mit (Evoltra®) zur Behandlung der refraktären und rezidivierten ALL, BIOV-111, wurden bisher 56 Kinder behandelt. Die Ansprechrate lag bei 26% mit 11% (n=6) CR. Bei 3 Patienten konnte eine Stammzelltransplantation durchgeführt werden. Die Dauer der CR betrug bei den 14 Patienten, die angesprochen hatten, 1.6 - 83.9+ Wochen, die Überlebenszeit 9.9 - 88.0+ Wochen. Die beobachteten Nebenwirkungen waren beherrschbar und von Art und Umfang nicht außergewöhnlich. Mit einer Ansprechrate von etwa 30% im Rahmen einer Monotherapie bei Patienten, deren Erkrankung auf mehrere vorangehende Therapien nicht angesprochen hat, ist Clofarabine ein Medikament, dem ein erhebliches Potential bei der ALL zukommen könnte. Bisher gibt es allerdings noch keine prospektiven Studien, in denen Clofarabine mit anderen Substanzen der gleichen Stoffklasse verglichen wurde. Denkbar und aussichtsreich ist der Einsatz von Clofarabine – vermutlich noch wirksamer in Kombination mit anderen Medikamenten – zum Herbeiführen einer Remission und Verbesserung der Remissionsrate bei Hochrisiko-Patienten oder Prof. Dr.med. Dr. h.c. Günter Henze Klinik für Pädiatrie m. S. Onkologie und Hämatologie Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Campus Virchow-Klinikum Charité-Universitätsmedizin Berlin Augustenburger Platz 1 13353 Berlin Tel.: +49 30 450 566031 Fax: +49 30 450 566906 E-Mail: [email protected] auch zur Reduktion von minimaler residueller Leukämie vor einer Stammzelltransplantation bei Patienten mit noch hoher Leukämiezell-Last. Dieses Potential sollte in kontrollierten, prospektiven Studien ausgelotet und bestätigt werden. Ein weiteres solches Medikament ist Nelarabine. Auch diese Substanz hat sich in Studien als wirksam erwiesen. Kontrollierte und vergleichende Studien gibt es allerdings auch für dieses Medikament bisher nicht. Weiterführende Ansätze zur Therapie können sich auch durch Antikörper ergeben, die mit Leukämiezellen reagieren und diese zerstören. Eines dieser Medikamente, ein gegen das Zell-Oberflächenantigen CD20 gerichteter Antikörper, Rituximab, ist seit einigen Jahren bereits im Handel. Sein Einsatz vermochte bei Erwachsenen mit malignen Lymphomen eine Verbesserung der Prognose zu bewirken. Bei Kindern wird seine Rolle in einer von der Deutschen Kinderkrebsstiftung geförderten Studie zur Behandlung von BZell-Lymphomen gegenwärtig geprüft. Erfolgversprechend ist Rituximab ebenfalls bei einigen Autoimmunkrankheiten. Ähnlich wie gegen B-Zellen können Antikörper auch gegen T-Zellen eingesetzt werden. Kontrollierte Studien gibt es allerdings bei Kindern bisher nicht, und die Behandlung ist durchaus mit erheblichen Risiken behaftet, weil gegen T-Zellen gerichtete Antikörper zum Verlust der zellulären Immunität und damit zum Auftreten unkontrollierbarer Infektionen mit opportunistischen Krankheitserregern führen können. Das Spektrum der zur Verfügung stehenden Medikamente zur Behandlung von Kindern mit refraktären oder rezidivierten Leukämien hat sich also durch einige Neubzw. Weiterentwicklungen vergrößert. Der Einsatz dieser Substanzen als Monotherapie kann unter bestimmten Bedingungen bei einzelnen Patienten sinnvoll sein. Über die Indikation muss der behandelnde Arzt entscheiden. Grundsätzlich werden allerdings bei Kindern mit refraktärer oder rezidivierter Leukämie unter kurativem Aspekt Monotherapien eher nicht durchgeführt. In der Regel werden solche Patienten mit einer Kombinations-Chemotherapie behandelt. Über Kombinationen liegen für diese Medikamente bei Kindern allerdings noch keine Daten vor. Begriffsdefinitionen: Autoimmunkrankheit infaust Konditionierung Krankheit, deren Ursache eine überschießende Reaktion des Immunsystems gegen körpereigenes Gewebe ist. ungünstig, infauste Prognose – ohne Aussicht auf Heilung Vorbereitung/Vorbehandlung des Empfängers für die Stammzelltransplantation mit dem Ziel, dessen eigene Knochenmarkzellen und damit die eigene Blutbildung und sein Immunsystem komplett auszulöschen und restliche Tumor-/Leukämiezellen zu vernichten. kurativ auf Heilung ausgerichtet, heilend MRD – minimale Resterkrankung (englisch: minimal residual disease); Restleukämiezellen werden mit hoch empfindlichen molekulargenetischen Verfahren nachgewiesen. Monotherapie Behandlung mit nur einer Wirksubstanz, im Gegensatz zur Kombinationstherapie opportunistische Bakterien, Pilze und Viren, die sich eine Primärerkrankung und die dadurch Erreger geschwächte Verfassung des Körpers zu Nutze machen und eine Infektion verursachen. Sie nutzen die Gelegenheit (lateinisch opportunitas) sich bei geschwächtem Immunsystem des Erkrankten zu vermehren. partiell teilweise prospektiv prospektive Studie, hier: Überprüfung der Hypothese der medizinischen Wirksamkeit einer Behandlungsmethode unter vorheriger Festlegung, welche Hypothese geprüft werden soll. Remission Leukämiezellen sind in Knochenmark- und Blut mikroskopisch nicht mehr nachweisbar und es gibt keine Anzeichen oder Symptome einer Leukämie mehr. Rezidiv Rückfall, Wiederauftreten einer Erkrankung nach Heilung therapierefraktär nicht oder unzureichend auf eine (bewährte) Behandlung ansprechend Thrombozyten Blutplättchen, spielen eine wichtige Rolle in der Blutgerinnung 28 WIR 4/2006