FORSCHUNG UND TECHNIK 56 Mittwoch, 29. Mai 2013 Nr. 121 Neuö Zürcör Zäitung Auf welchem Weg Zitrusfrüchte in den Mittelmeerraum kamen Seite 54 Ein nach unten korrigierter Wert für die Klimasensitivität Seite 54 Verschränkung von Photonen, die niemals koexistierten Seite 55 Cholesterinsenker mit negativen Begleiteffekten Seite 55 Durch menschliche Aktivitäten ausgelöste Erdbeben seit 1840 M 2,7 2009 Landau, D Geothermiekraftwerk, in Betrieb M 5,0 1981 Ekofisk, Nordsee Verpressung von Wasser zur Erdölförderung M 5,3 1967 Denver, USA Verpressung von Chemie-Abfällen M 5,6 1989 Völkershausen, DDR Einsturz Salzstollen M 3,4 2006 Basel, CH Geothermiekraftwerk, vor Inbetriebnahme M 7,9 2008 Zipingpu, China Stausee M 5,0 1939 Hoover, USA Stausee M 6,3 1967 Koyna, Indien Stausee M 5,6 1989 Newcastle, Australien Erschütterung alter Kohlebergwerke Magnitude 7+ 6+ 5+ 4+ 3+ 2+ 1+ Auslöser des Erdbebens Stausee Bergbau (Kohle, Minerale, Edelmetalle, Stein) Verpressung von Flüssigkeiten Geothermie Gasabbau konventionell Ölabbau konventionell NZZ-INFOGRAFIK / cke. QUELLE: CH. KLOSE, JOURNAL OF SEISMOLOGY, 17, p. 109–135 (2013) Wenn der Mensch die Erde beben lässt Was Geologen aus den Geothermiebohrungen in Basel und anderswo lernen Nicht nur in Basel lösten menschliche Aktivitäten Erdbeben aus. Nun wollen Ingenieure lernen, das Risiko selbst für schwache Beben zu beherrschen. Karl Urban Vor Basel und nach Basel – das sind die beiden Epochen, welche die Erdwärmebranche unterscheidet. Die Zeitenwende vollzog sich im Dezember 2006, als Ingenieure unter enormem Druck Wasser in fünf Kilometer tiefes Gestein pumpten, um dort gewaltsam feine Spalten aufzubrechen. Ein ganzer Stadtteil sollte durch die Bohrung mit Strom und Erdwärme versorgt werden. Unmerkliche Erschütterungen waren zwar programmiert – nicht aber spürbare Erdbeben, die sogar etliche Hauswände mit Rissen durchsetzten. Seitdem ruht das Pilotprojekt. Neue Vorhaben in Sachen Erdwärme entwickelten sich hierzulande nur noch in Regionen, in denen natürliche Spalten den Untergrund durchziehen – wie in St. Gallen. Doch das ändert sich gerade: Sieben Jahre lang haben Geophysiker die Lehren aus dem damaligen Beben erarbeitet. Energieunternehmen sind zuversichtlich, schon bald wieder heisse, trockene Gesteine zu erschliessen – und dabei das Spiel tektonischer Kräfte zu kontrollieren. Das wäre ein einmaliger Vorgang. Denn bisher hat der Mensch nur unkontrolliert Beben hervorgerufen. Vielgestaltige Ursachen Die Ursachen menschengemachter Beben sind vielgestaltig. Sie reichen von grossen Stauseen und Bergwerken über Erdöl- und Gasbohrungen bis zu in die Tiefe gepressten Flüssigkeiten. Christian Klose hat sie erst kürzlich in einem Katalog zusammengestellt. Besonders in den letzten 50 Jahren hätten solche Beben enorm zugenommen, sagt der Erdwissenschafter vom New Yorker Beratungsinstitut Think Geohazards. Es verkauft seine Expertise an potenzielle Verursacher von Erdbeben. Kloses Statistik lässt sich daher auch weniger alarmierend lesen: Sie enthält 90 vom Menschen beeinflusste Beben aus den letzten 150 Jahren. Natürlicherweise bebt die Erde dagegen über 10 000-mal in gleicher Stärke – und das jedes Jahr. Allerdings führt die Liste mehrere ernstzunehmende Erdstösse auf, allen voran den Vorfall in der westchinesischen Provinz Sichuan im Mai 2008. Dieser war mit Magnitude 7,9 landesweit das stärkste Erdbeben in 30 Jahren und forderte Zehntausende Menschenleben. Hier kamen wohl zwei ungünstige Umstände zusammen. Einerseits verläuft direkt am Epizentrum die LongmenShan-Verwerfung, die bereits unter hoher Spannung stand. Schwere natürliche Erdbeben waren daher zu erwarten. Dazu kam die neu errichtete, 150 Meter hohe Zipingpu-Staumauer, hinter der sich über 300 Millionen Tonnen Wasser stauen. Das Wasser lastet auf dem Gestein, durch Spalten dringt es in die Tiefe. Daher ist es zumindest plausibel, die Talsperre mit dem Beben in Verbindung zu bringen. Noch gibt es darüber aber keinen wissenschaftlichen Konsens. Messdaten von Chinas nationalem Erdbebennetzwerk verorten den Bebenherd in über 14 Kilometern Tiefe – ausserhalb der Reichweite des Stausees, sagt der Seismologe Liu Qiyuan, der für den staatlichen Erdbebendienst des Landes arbeitet. Shemin Ge und etliche andere Geophysiker widersprechen ihm: Der Zipingpu-Stausee habe das natürliche Sichuan-Erdbeben zumindest um Jahrzehnte bis Jahrhunderte vorweggenommen, so der Seismologe von der Universität Colorado. Liu ignoriere die viel genaueren Daten lokaler Messstationen, die das Beben maximal neun Kilometer tief und damit in Reichweite des schweren Stausees lokalisieren. Als Beweis gilt dieser räumliche Zusammenhang noch nicht, wohl aber als Warnsignal. Stauseen wie der an der Zipingpu-Mauer sind extreme Eingriffe in die Tiefe. Dennoch sind so starke Auswirkungen wie in China selten: Von weltweit Zehntausenden Staumauern sind nur wenige Fälle bekannt, in denen es in unmittelbarer Nähe zu einem schweren Erdbeben gekommen ist. Schwächere Beben wie dasjenige in Basel gibt es dagegen häufig. Oft hängen sie mit in die Tiefe gepumpten Flüssigkeiten zusammen. Der Präzedenzfall liegt hier bereits 40 Jahre zurück und ereignete sich im berüchtigten «Rocky Mountain Arsenal» der US-Armee. Damals pumpten Ingenieure Millionen Liter chemischer Abfälle aus der Waffenproduktion über 3,5 Kilometer tief unter die Grossstadt Denver. Dabei lastete der Druck der Flüssigkeit nicht einige Tage – wie bei heutigen Geothermieprojekten üblich –, sondern jahrelang auf dem Gestein, in dem die Abwässer für die Ewigkeit verschwinden sollten. Das blieb nicht ohne Folgen. Die Messgeräte der Seismologen registrierten 45 Erschütterungen pro Monat, von denen einige die Basler Magnitude von 3,4 überstiegen. 1967 folgte der Paukenschlag: Ein Beben der Stärke 5,2 liess Hochhäuser 15 Sekunden lang schwanken. Noch 280 Kilometer entfernt war die Bodenbewegung zu spüren. In Stadtnähe versenkte Flüssigkeiten sind nicht ungefährlich, das hätte man aus dem Beben von Denver lernen können. Tatsächlich aber werden vergleichbare Eingriffe – und damit auch schwache Beben in deren Nähe – immer zahlreicher. Das zeigen Erdölfelder in der Nordsee, aus denen Öl mit hinab gepumptem Wasser ausgepresst wurde, sowie diverse Erschütterungen in den Erdgasfeldern Norddeutschlands. In den noch dichter besiedelten Niederlanden wird derzeit sogar über die Zukunft des europaweit grössten Erdgasfeldes Groningen diskutiert. Denn im August 2012 bebte die Erde im Umfeld des Förder- gebiets, worauf sich in mehr als 3000 Gebäuden dünne Risse auftaten. Die Magnitude lag mit 3,6 nur knapp über der von Basel. Lehren aus Basel Die Tiefengeothermie steht als bebenauslösende Technologie also nicht allein – und hat doch eine Sonderstellung inne. Nur die Betreiber der Erdwärmekraftwerke sind möglicherweise in der Lage, durch Drosselung ihrer Pumpen Erschütterungen des Bodens bewusst zu begrenzen. Davon geben sich jedenfalls die Teilnehmer der Geothermiekonferenz überzeugt, die Mitte Mai in Freiburg stattfand. Man habe die Physik der Erschütterungen jetzt gut genug verstanden, um das Risiko einschätzen und eingrenzen zu können, fasst der Geophysiker Stefan Baisch vom Beratungsunternehmen Q-Con zusammen. Man habe die Lehren aus Basel gezogen. In Zürich bestätigt Jochen Wössner vom Schweizerischen Erdbebendienst (SED) diese Sicht: Das Beben in Basel habe für die Forschung einen ähnlichen Wert wie das natürliche Tohoku-Beben vor Japan gehabt. Rund 30 seismische Messgeräte waren damals im Umfeld der Bohrung aktiv. Allein während der Injektion von Wasser registrierten sie 10 500 nicht wahrnehmbare Erdstösse und zeigten dabei einen zuvor unterschätzten Effekt: Auch nach einer Notabschaltung der Pumpen infolge eines Erdstosses kam das Gestein tief unten nicht zur Ruhe. Das Wasser diffundierte aus dem Hochdruckbereich langsam nach aussen. Dabei lösten sich die aufgebauten Spannungen und verursachten erst die spürbaren Beben. Für Peter Meier ist das eine wichtige Erkenntnis: Man werde von nun an den Nachlaufprozess und dabei entstehende Beben mit einbeziehen, so der Chef der Geo-Energie Suisse. Diese Vorsicht tut not, will die Gesellschaft aus sieben Schweizer Energieversorgern doch erstmals seit 2006 wie- der künstliche Risse erzeugen. Sie plant vier Kraftwerke, die frühestens 2016 in Avenches, Haute-Sorne, Sursee-Mittelland und Etzwilen entstehen sollen. Die Ingenieure wollen hier das Gestein nicht mehr massiv, sondern in kleinen Scheiben zertrümmern. Auch diesem Verfahren liegen neue Erkenntnisse zugrunde: Anhand der seismischen Daten aus Basel und anderen Geothermiebohrungen hatte man festgestellt, dass kleine stimulierte Gesteinsvolumina schwächere Beben hervorrufen als grosse. «In Basel war die gesamte Fläche aller Risse in der Tiefe so groß wie drei Viertel der Eigernordwand», erklärt Peter Burri vom wissenschaftlichen Beirat der GeoEnergie Suisse. Bei neuen Bohrungen sollen die Risse dagegen in vielen kleinen Arbeitsschritten wachsen. Auch die Seismologen haben aus dem Beben in Basel gelernt. Der SED etwa entwickelte ein Verfahren, das seismische Messdaten in Echtzeit auswertet und anhand dieser kurzfristige Vorhersagen trifft. Damit könne man die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der zu einer bestimmten Zeit ein Beben definierter Stärke stattfinde, erklärt Wössner. Bei Erdwärmebohrungen könne man dann die Pumpen abstellen, bevor der Boden spürbar wackle. Ein letztes Schreckgespenst bleibt: Wenn das eindringende Wasser zufällig auf eine Verwerfung trifft, die bereits unter Spannung steht, dann könnte dies ein natürliches Beben frühzeitig anstossen – wie in Sichuan geschehen. In Basel galt dieses Szenario als denkbar, birgt die Region doch das höchste natürliche Bebenrisiko nördlich der Alpen. Die neuen Bohrungen lägen jedoch alle in Gebieten mit niedrigem natürlichem Erdbebenrisiko, meint Burri beruhigend. Schwache Erschütterungen wollen die Geologen zwar auch hier nicht ganz ausschliessen. Aber die neu entwickelten Strategien versprechen zumindest ein gut Teil Kontrolle über menschengemachte Beben.