Viel heiße Luft - Guten Pillen, schlechte Pillen

Werbung
Unabhängige Informationen zu Ihrer Gesundheit 5/07
Viel heiße Luft
Helfen Ohrkerzen wirklich?
Es klingt nicht nur dubios, es ist
auch dubios. Wer sich Ohrkerzen
in den Gehörgang steckt und sie am
oberen Ende anzündet, soll unter anderem bei Ohrklingeln (Tinnitus),
Ohrenschmerzen, Stirn- und Nebenhöhlenproblemen Erleichterung verspüren. Ohrkerzen sollen sich auch
zur Ohrmassage eignen und für Entspannung und Beruhigung sorgen.
Die 20 bis 30 cm langen, etwa bleistiftdicken Stifte aus Bienenwachs
oder Paraffin und Gaze, sind innen
hohl. Sie enthalten meist ätherische
Öle, pulverisierte Kräuter oder andere Zutaten. Ohrkerzen werden in
Seitenlage in den äußeren Gehörgang geschoben und dann am oberen
Ende angezündet.
Der Verband Freier Heilpraktiker
e.V.1 betont, dass mit der Ohrkerzenbehandlung „Ohrakupunkturpunkte
voll erfasst“ würden, die Reizwirkungen das Trommelfell massiere und
„das gesamte Hörsystem und auch
das Gleichgewichtsorgan beeinflusst“
werde. Selbst der Rachenraum werde
„über die Ohrtrompete, vom Mittelohr aus, beeinflusst.“ Dadurch werde
„auch eine Wirkung auf die Rachenmandeln und die Rachenlymphe erzielt. Somit werden alle mit dem Ohr
verbundenen Organe, Nerven und
die Lymphe miterfasst.“
Das klingt in manchen Ohren vielversprechend, ist jedoch fern jeglicher
Realität. So ist der äußere Gehörgang durch ein normalerweise intaktes Trommelfell abgeschlossen. Wie
die Strukturen hinter dem Innenohr
– etwa Nebenhöhlen oder Ohrtrompete – beeinflusst werden sollen, ist
daher wissenschaftlich nicht nach-
www.gutepillen-schlechtepillen.de
vollziehbar.
Statt der
versprochenen
Massage
und Reinigung,
sind
eher
Unannehmlichkeiten zu erwarten: Wird
die Ohrkerze in den Gehörgang
gesteckt, drückt das Röhrchenende
Ohrenschmalz tiefer in den Gehörgang. Bei falschem Gebrauch ist
sogar zu befürchten, dass Gehörgang
oder Trommelfell geschädigt werden. Wachspartikel, die beim Abbrennen schmelzen und ins Röhrchen fallen, werden meist durch
einen Sicherungsfilter aufgefangen.
Fehlt aber ein solcher Filter müssen
Ablagerungen von jemandem, der
sich auskennt, mit einem Ohrlöffelchen entfernt werden. Dies geht
keinesfalls in Eigenregie. Gerade die
beliebten, jedoch problematischen
Wattestäbchen sind hier völlig ungeeignet, da sie die Rückstände tiefer
in den Gehörgang schieben.
Dass durch Ohrkerzen die „gelösten
und freigesetzten Ablagerungen des
Gehörgangs, sowie der Stirn- und
Nebenhöhlen ... durch den entstehenden Unterdruck zum größten
Teil in den äußeren Gehörgang und
zum Teil in den unteren Teil der
Ohrkerze befördert“1 werden sollen,
ist eine geradezu abenteuerliche Behauptung. Da wäre schon viel Magie
erforderlich, um „Ablagerungen“ aus
dem Inneren des Kopfes durch das
Trommelfell herauszusaugen. Zu-
Cartoon: Thomas Kunz
dem lässt sich noch nicht einmal ein
Unterdruck nachweisen.2 Selbst das
versprochene Wärmegefühl bleibt
aus, da erwärmte Luft nach oben
steigt und nicht im Kerzenröhrchen
nach unten in den Gehörgang sinkt.
Ein HNO-Arzt kommentiert einen
Selbstversuch mit deutlichen Worten: „Eine Trommelfellmassage fand
nicht statt (ich kenne diese noch
von den elektrisch angetriebenen
Trommelfellmassagegeräten früherer
Jahre, die aber aus der Mode kamen,
als es für sie keine Abrechnungsziffer
mehr gab).“3 Weil die Kassen nicht
mehr zahlen, wurde diese obskure elektrische Methode nicht mehr
angeboten. Für die nicht minder
obskuren Ohrkerzen zahlen gutgläubige Verbraucher zwischen einem
und vier Euro pro Stück. Wem die
magische Prozedur gefällt, genießt
eventuell das Drumherum bei der
Anwendung und den speziellen Kerzenduft. Eine gute Stimmung lässt
sich aber auch mit einer Kerze auf
dem Tisch erreichen.
1 Verband Freier Heilpraktiker e.V. Initiative 2002:
Therapie mit Ohrkerzen
2 L.M.L. Dryer: Ear Candling is not a Good Idea,
Quackwatch, 15. Apr. 2005, www.quackwatch.org
3 Pirsig, W.: intern. praxis 2007; 47: 666-8
11
Herunterladen