Münchwieser Hefte Reihe Konzepte Heft Nr. 8 März 1997 Aggressive Störungen Psychosomatische Fachklinik Münchwies Herausgeber: 1. Auflage 1997 ISSN 0946-7351 Psychosomatische Fachklinik Münchwies Ltd. Ärztin Dr. med. Rosemarie Jahrreiss Fachärztin für Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie Fachärztin für psychotherapeutische Medizin Turmstraße 50-58 66540 Neunkirchen/Saar Tel. (0 68 58) 6 91 - 2 15 Fax (0 68 58) 6 91 - 4 20 M. Vogelgesang, J. Martin, A. Gobien, H. Staufer, A. Helms Behandlungskonzept für Patienten mit aggressiven Störungen Ansprechpartner Dr. med. M. Vogelgesang, Oberärztin Telefon: (0 68 58) 6 91-2 12 oder J. Martin, Soz.arb., Bezugstherapeut Telefon: (0 68 58) 6 91-3 65 oder Sekretariat der Ltd. Ärztin Telefon: (0 68 58) 6 91- 2 15 INHALT 1. Einleitung 5 2. Gruppe für aggressiv-unterkontrollierte PatientInnen 6 2.1. Ziele des Gruppeninterventionsprogrammes 6 2.2. Gruppenindikation 6 2.3. Zum Aufbau des Interventionsprogrammes 2.3.1. Beginn der Sitzungen, Vorgehensweisen zur Herstellung der instrumentellen Gruppenbedingungen 2.3.2. Inhaltliche Gestaltung der Sitzungen 2.3.3. Therapieverfahren 2.3.4 Repräsentative Therapiebausteine • Therapiebaustein „Die Auslöser meiner Aggressivität“ • Therapiebaustein „Teile meiner Aggressivität“ • Therapiebaustein „Der Preis meiner Wut“ • Therapiebaustein „DieTeufelsspirale der Aggression“ • Therapiebaustein „Mein Selbstbild“ • Erlebnisaktivierende Therapiebausteine Hockey, Tschoukball, ein Friedhofsbesuch • Therapiebaustein „Was kann ich statt dessen tun?“ • Beendigung einer Gruppensitzung 6 3. Gruppe für meist überkontrollierte Patienten mit passageren aggressiven Durchbrüchen 3.1. Ziel des Gruppeninterventionsprogramms 3.2. Gruppenindikation 3.3. Aufbau des Interventionsprogramms 3.3.1. Inhaltliche Gestaltung der Sitzungen 3.3.2. Therapieverfahren 7 8 9 9 15 15 16 16 17 17 3.3.3. Therapeutische Themenschwerpunkte und repräsentative Therapiebausteine • Der Entladungszyklus der Aggressivität • Dysfunktionale übergeordnete Einstellungen und Umgang mit Gewissenskonflikten • Assertivität • Problemlösen • Gefühlswahrnehmung und Gefühlsausdruck 17 4. Zuweisungskriterien für die Abteilung für psychische und psychosomatische Störungen bzw. die Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen 22 5. Behandlungsrahmen 22 6. Literatur 24 4 1. Einleitung Üblicherweise ist es erstaunlich selten, daß aggressive Auffälligkeiten in der Therapie von Patienten thematisiert oder gar zum Gegenstand des therapeutischen Bemühens werden (Tennent et al. 1993). Das Nicht-wahrhaben-wollen und Verschweigen aus Schuld- und Schamgefühlen mag hierbei eine Rolle spielen bei den Patienten, die ihre Gewalttätigkeit als ich-dyston und ihren Wertvorstellungen zuwiderhandelnd betrachten. Mangelndes Problembewußtsein hindert hingegen jene, ihre Aggressivität während der Therapie zu thematisieren, die diese unreflektiert akzeptieren oder gar als gewinnbringenden Teil der eigenen Persönlichkeit kultivieren. Ein dritter Grund für die mangelnde Präsenz aggressiver Störungen gerade in der Therapie von alkoholabhängigen Patienten liegt wohl auch in der stark simplifizierenden Meinung mancher Therapeuten begründet, der Alkohol allein sei das Grundübel. Wenn der Patient es also schaffe, zukünftig nicht mehr zu trinken, dann werde er auch nicht mehr aggressiv werden. Diese inzwischen glücklicherweise überholte Auffassung stammt aus der Zeit, bevor die moderne Psychotherapie den Suchtkranken entdeckte. Sie wird der Komplexität der Störung nicht gerecht, da sie die individuelle Funktionalität der Aggressivität unbetrachtet läßt. Neben Schamgefühlen oder mangelndem Problembewußtsein bei den Patienten und einem zu kurz greifenden, ausschließlich suchttherapeutischen Ansatz gibt es jedoch einen vierten Grund, der die therapeutische Bearbeitung aggessiver Störungen mit Macht verhindert: Die Hilfs- und Hoffnungslosigkeit oder gar Ängstlichkeit des Therapeuten angesichts eines Themenkomplexes, zu dessen Bearbeitung ihm in der Regel in seiner Ausbildung nicht das nötige Handwerkszeug zur Verfügung gestellt wurde. Hinzu kommt, daß hierbei in irritierender Weise eigene Persönlichkeitsanteile angesprochen werden können oder gar längst vergessen Geglaubtes aus der Therapeutenbiographie aktiviert werden kann, was verwirren und die wohlwollende therapeutische Distanz auf eine harte Probe stellen kann. 5 2. Gruppe für aggressiv unterkontrollierte Patienten 2.1. Ziele des Interventionsprogrammes Der Patient soll durch die Teilnahme an dem Interventionsprogramm dazu befähigt werden, die Funktionalität seiner aggressiven Auffälligkeiten zu erkennen, ihre Auslöser zu identifizieren und den kurzfristigen positiven Folgen mittel- und langfristige negative Konsequenzen gegenüberzustellen. Er sollte es lernen, zwischen Kognitionen, Emotionen und den entsprechenden Handlungen zu unterscheiden. Der Patient soll durch die Teilnahme an dem Programm bessere soziale Problemlösestrategien und alternative Verhaltensweisen finden und diese einüben. 2.2. Gruppenindikation Eher unterkontrollierte Patienten und Patientinnen mit aggressiven Störungen, welche voraussichtlich von dem dargestellten Gruppeninterventionsprogramm profitieren können, werden diesem durch ihren Bezugstherapeuten zugeteilt. Die häufigsten, mit dem aggressiven Verhalten in Zusammenhang stehenden Diagnosen sind hier nach DSM-IV-R (APA, 1994) die antisoziale und narzißtische Persönlichkeitsstörung, die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Alkoholabhängigkeit. Eine intermittierende explosible Störung wird bei den Patienten in der Klinik Münchwies in der Regel nicht diagnostiziert, da meist andere zusätzliche Störungen vorliegen, die potentiell mit einem Verlust der Kontrolle über aggressive Impulse einhergehen, was die Diagnose einer intermittierenden explosiblen Störung ausschließt. Das Programm ist nicht auf Patienten mit endogenen oder organischen Psychosen zugeschnitten. 2.3. Zum Aufbau des Interventionsprogramms Die Gruppe mit dem Namen „Umgang mit Aggressivität“ wird einmal wöchentlich für die Dauer von zwei Stunden mit 10 bis 12 Patientinnen und Patienten durchgeführt, wobei durchgängig das männliche Geschlecht in einer Relation von etwa 8 : 2 überwiegt. Die Teilnahme 6 erfolgt auf freiwilliger Basis. Ausschlußkriterien sind eine Verletzung der Schweigepflicht bezüglich der Gruppe sowie die Androhung oder Durchführung von Gewalttaten. Die Patienten wissen, daß letzteres zum Schutz der Mitpatienten in der Regel zur Entlassung aus der Klinik führt. Selbstverständlich wird auch in diesen – seltenen – Fällen eine adäquate Nachsorge eingeleitet. Die Gruppe ist halboffen, das heißt, bei Ausscheiden eines Mitglieds kann ein neuer Teilnehmer hinzukommen. Die Teilnahmedauer sollte nicht weniger als 6 Sitzungen betragen und kann entsprechend der individuellen Erfordernisse der Gesamtdauer des stationären Aufenthaltes entsprechen. Das Gruppeninterventionsprogramm wurde von einem verhaltenstherapeutisch orientierten Gruppenpsychotherapeuten unter Supervision entwickelt und seit ihrem Beginn (1990) geleitet. Die co-therapeutische Begleitung erfolgt durch einen psychotherapeutisch ausgebildeten Sport- und Bewegungstherapeuten, der langjährig in diesem Bereich tätig ist. Grundvoraussetzung für einen optimalen individuellen Lernprozeß in der Gruppe ist nach Dziewas (1980) das ausreichende Vorhandensein von Vertrauen, Offenheit, Gruppenkohäsion und einer kooperativen Arbeitshaltung. Diese Basismerkmale werden unter dem Begriff der instrumentellen Gruppenbedingungen zusammengefaßt. Aufgrund der oben beschriebenen Auffälligkeiten der betroffenen Patienten ist das Schaffen dieser Grundvoraussetzungen bei der dargestellten Gruppe schwierig und eher langwierig. Der Therapeut muß immer wieder die Gruppenatmosphäre überprüfen und gegebenenfalls korrigierende Maßnahmen einleiten. 2.3.1. Beginn der Sitzungen, Vorgehensweisen zur Herstellung der instrumentellen Gruppenbedingungen Jede Sitzung beginnt mit einem „Blitzlicht“, in dem die Mitglieder kurz ihre momentane Befindlichkeit schildern und Themenwünsche anmelden können. Zur Integration neuer Gruppenmitglieder wird bei Bedarf das Eingangsblitzlicht zu einer kurzen Vorstellungsrunde erweitert. Hierbei wird der neue Patient dazu ermutigt, sowohl seinen Hoffnungen als auch den Befürchtungen bezüglich der Gruppe 7 Ausdruck zu geben. Daran anschließend stellt der Therapeut kurz Inhalte und Ziele des Programmes dar oder er regt die „älteren“ Gruppenmitglieder dazu an. Hierbei wird das Schweigepflichtsgebot und das Verbot der Androhung und Ausübung von Gewalt hervorgehoben. Nach dieser Informationsvermittlung kann, falls notwendig, auf eventuell weiterbestehende Vorbehalte des neuen Gruppenmitgliedes eingegangen werden und die zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen und Erwartungen können gemeinsam in individuelle Therapieziele umformuliert werden. Diese Vorgehensweise fördert die innerliche Einstimmung auf die folgende Sitzung, die Integration neuer Mitglieder und somit die Gruppenkohäsion. Sie wirkt entängstigend und ist Grundlage für die Herstellung von Vertrauen und Offenheit. Die Einbeziehung der als positives Modell fungierenden Mitpatienten auch in die Vermittlung des Therapiekonzeptes dient auf kognitivem Wege zu dessen repetitiver Verinnerlichung, demonstriert Mitverantwortung für den Therapieprozeß und fördert somit eine kooperative Arbeitshaltung. 2.3.2. Inhaltliche Gestaltung der Sitzungen Die Sitzungen setzen sich aus sechs doppelstündigen, zwar nicht zwingend aufeinander aufbauenden, jedoch inhaltlich miteinander verbundenen Themenblöcken zusammen, wobei Bezug genommen wird auf die jeweiligen, sich aus der Anamnese sowie aus dem aktuellen Verhalten ergebenden individuellen Problemkonstellationen der Gruppenmitglieder. Das sechswöchige Programm ist inhaltlich in die zwei- bis viermonatige stationäre Gesamttherapie integriert. Die in dieser Gruppe gewonnenen Erkenntnisse können direkt real im sozial dichten Klinikalltag überprüft werden, ebenso wie hier mit alternativen Verhaltensweisen experimentiert werden kann. Auf diesem Hintergrund kann dann der Transfer der Verhaltensänderungen in die alltägliche soziale Lebenswirklichkeit des Patienten stufenweise zuerst im Rahmen sozialer Belastungstrainings anläßlich kurzer Heimfahrten und dann nach der Entlassung zu Hause stattfinden. 8 2.3.3. Therapieverfahren Unter durchgehend verhaltenstherapeutischer Ausrichtung und unter der Berücksichtigung interaktionell-gruppendynamischer Aspekte kommen schwerpunktmäßig und auf erlebnisaktivierender Basis kognitive Interventionen zum Einsatz. Weitere grundlegende Bestandteile bilden Interventionen aus dem Bereich des Problemlöse- und Assertivitätstrainings, häufig in Verbindung mit Feedback und Rollenspielen, imaginativen und entspannenden Verfahren, die Verwendung von Geschichten und Anekdoten sowie körpertherapeutische Vorgehensweisen aus dem Bereich der Sport- und Bewegungstherapie. 2.3.4. Repräsentative Therapiebausteine • Therapiebaustein „Die Auslöser meiner Aggressivität“ Ziele sind die Identifikation der individuellen Auslöser aggressiven Verhaltens und hierauf aufbauend sowie hiervon abstrahierend das Kennenlernen der grundlegenden Ursachen von Aggressivität. Weiterhin wird nach einem alternativen Umgang mit den Auslösern gesucht. Zur Durchführung: An die Beantwortung der Frage nach den individuellen Aggressionsauslösern kann zum Beispiel folgende Hausaufgabe heranführen: „Mit wem aus Deiner Gruppe kommst Du nicht zurecht? In welcher Situation hast Du besondere Schwierigkeiten mit ihm?“ Gemeinsam sammelt die Gruppe nun die individuellen Auslöser des aggressiven Verhaltens der einzelnen Gruppenmitglieder und abstrahiert davon ausgehend unter der Anleitung des Therapeuten die zugrundeliegenden Ursachen aggressiven Verhaltens wie zum Beispiel Gefühle des Bedrohtseins, des Neides, der Angst, der Unterlegenheit und der Hilflosigkeit. Weiterhin wird nach möglichen Auslösern im aktuellen Klinikalltag geforscht. Es werden Alternativen zu den Auslösesituationen gesucht bzw. eine Verminderung der Konfrontation mit ihnen in Erwägung gezogen. 9 • Therapiebaustein „Teile meiner Aggressivität“ Ziele sind das Erkennen der kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Bestandteile der individuellen Störung und das Herausarbeiten von zugrundeliegenden Gemeinsamkeiten der jeweiligen aggressiven Auffälligkeiten unterschiedlicher Patienten. Zur Durchführung: Nachdem die Frage „Was kann man von außen beobachten und was geht innen in mir vor, wenn ich wütend bin?“ am Ende der vorangehenden Sitzung als Hausaufgabe aufgegeben wurde, leitet der Therapeut nun die Gruppe dazu an, gemeinsam mögliche Antworten unter den Rubriken Gefühle, Gedanken und Verhalten zu sammeln. Diese können auf einer Tafel aufgelistet werden, wobei, nachdem die gegenseitige Beeinflussung der drei verschiedenen Bereiche herausgearbeitet wurde, diese durch entsprechende Pfeile gekennzeichnet werden können. Auf derzeitig bestehende aggressive Auffälligkeiten wird hierbei besonders intensiv eingegangen. Häufig kann herausgearbeitet werden, daß der Einsatz von Alkohol eine entscheidende Rolle als Auslöser aggressiven Verhaltens hat. • Therapiebaustein „Der Preis meiner Wut“ Ziele sind die Gegenüberstellung der kurzfristig positiven Folgen aggressiven Verhaltens mit dessen mittel- und langfristig negativen Konsequenzen sowie die Fähigkeit zur kognitiven Repräsentanz der Nachteile des aggressiven Verhaltens in der Auslösesituation. Zur Durchführung: Die vorbereitende Hausaufgabe hatte die Frage „Was habe ich von meiner Wut?“ zum Thema. Die Antworten werden unter den Kategorien positiv bzw. negativ eingeordnet, wobei schließlich herausgearbeitet wird, daß die positiven Konsequenzen immer kurzfristig auftreten, die negativen Folgen jedoch mittel- und langfristige Nachteile bringen. Die Möglichkeiten, diese Nachteile in der Auslösesituation, in der in der Regel nur die kurzfristig positiven Folgen antizipiert werden, kognitiv zu repräsentieren, werden auf die individuellen Begebenheiten bezogen gesammelt. So möchte sich zum Beispiel ein Vater zweier kleiner Töchter deren Foto an das Armaturenbrett seines Autos befestigen, um so daran erinnert zu werden, nicht fahrlässig durch 10 aggressive Raserei im Straßenverkehr seine Kinder zu Waisen zu machen. • Therapiebaustein „Die Teufelsspirale der Aggression“ Ziele sind das Erkennen des Circulus vitiosus aggressiver Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen. Weiterhin soll Aggressivität als oft ungeeignetes Mittel bei der Lösung von Problemen identifiziert werden. Wege des Aussteigens aus der Teufelsspirale sollen gefunden werden und die Patienten sollen zu alternativen adäquaten Problemlösestrategien befähigt werden. Zur Durchführung: Zur Einstimmung läßt der Therapeut die Patienten eine Begebenheit imaginieren, die sehr verkürzt wie folgt aussieht: Ein Mann muß unbedingt durch eine Tür, die jedoch von einem grimmig knurrenden Hund bewacht wird. Welches Verhalten würde der jeweilige Patient anstelle des geschilderten Mannes spontan zeigen und welche Vorgehensweise wäre am ehesten erfolgversprechend? Am Beispiel des spontanen Verhaltens der Patienten, das in der Regel Aggression und dessen Eskalation beinhaltet, kann die Teufelsspirale der Gewalt veranschaulicht werden. Besänftigendes Vorgehen wird als am ehesten erfolgversprechend herausgearbeitet, ausgehend von der Prämisse, daß die Ursache des Zähnefletschens bei dem Hund evtl. Angst oder Irritation sein könnte. Darauf basierend werden Wege des Aussteigens aus der Teufelsspirale diskutiert. Einen weiteren wichtigen Therapiebestandteil bildet die Herausarbeitung individueller alternativer Vorgehensweisen zur Lösung von Problemen. Diese Überlegungen führen dann meist zu einem individuell zugeschnittenen Training sozialer Kompetenzen. • Therapiebaustein „Mein Selbstbild“ Ziele sind die Identifikation des durch aggressives Verhalten geprägten Selbstbildes und darauf aufbauend die Herausarbeitung der Funktion und der Schwächen der Modelle und Ideale. Zur Durchführung: Die diese Stunde vorbereitende Hausaufgabe lautete entweder „Wenn Ihr ein Tier wäret, welches Tier würdet Ihr verkörpern?“ oder „Welchem Filmhelden kommt Euer Verhalten am nächsten?“ 11 Die Gruppe sammelt die Antworten und diskutiert sie kritisch gemeinsam. So wird zum Beispiel das hinterlistige Vorgehen einer Schlange mit der unverstellt habgierigen Aggressivität eines Krokodils verglichen. Oder es wird die Einsamkeit eines von John Wayne verkörperten Helden als Kehrseite seiner Dominanz herausgearbeitet. • Erlebnisaktivierende Therapiebausteine Hockey, Tschoukball, ein Friedhofbesuch Ziele sind die Emotionale Aktivierung von Gefühlen, die in Situationen entstehen, welche aggressives Verhalten verbieten bzw. fordern und die Förderung der Fähigkeit zur kritischen Reflexion eigenen Verhaltens direkt nach der Aktivität unter Einbeziehung der korrespondierenden Emotionen und Kognitionen. Zur Durchführung der Ballspiele: Für 10 Minuten wird in der Sporthalle unter Anleitung des Sport- und Bewegungstherapeuten Tschoukball gespielt. (Dieses Mannschaftsspiel findet in der Sporttherapie zunehmend Beachtung, da seine ungewöhnlichen Regeln jede Form der Aggressivität bestrafen, Puttmann, 1990.) Daran anschließend bespricht die Gruppe die beobachtbaren Verhaltensweisen unter Einbeziehung der begleitenden Emotionen und Kognitionen. Es kann dabei z.B. herausgearbeitet werden, wie die ständige Unterdrückung von Aggressivität bei manchen Patienten zu einem unangemessenen aggressiven Durchbruch führen kann. Daran anschließend werden 10 Minuten Hallenhockey gespielt, wobei ein recht hohes Ausmaß an Aggressivität Bestandteil des Spieles ist. Auch dieses Spielverhalten und die begleitenden Gedanken und Gefühle werden kritisch, nicht zuletzt in Beziehung zu dem vorangegangenen Spiel, besprochen. Ausgehend von diesen Aktivitäten werden die Patienten dazu angeleitet, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sie sich zukünftig in Situationen, in denen sie üblicherweise aggressives Verhalten zeigten, friedlich verhielten. Patienten, die sporadisch aggressive 12 Durchbrüche nach längeren Phasen der Aggressionshemmung zeigten, wird die Gelegenheit gegeben, über ihre Erfahrungen mit sozial gefordertem offensiven Verhalten zu berichten und Bezüge zu ihren Alltagssituationen herzustellen. Zur Durchführung des Friedhofbesuches: Nachdem die Patienten zu Beginn der Gruppensitzung dazu aufgefordert wurden, über Situationen zu berichten, in denen sie gewalttätig wurden, werden sie zu einem Spaziergang aufgefordert. Während dieses recht raschen Marsches sorgen die Therapeuten dafür, daß die Aggressivität weiterhin bei den Gruppenteilnehmern Thema bleibt. Nach etwa 10 Wegminuten wird der Friedhof erreicht. Die in der Regel recht verblüfften Patienten werden nun dazu aufgefordert, ihre Gespräche zu beenden. Jeder Einzelne soll sich allein ein Gräberfeld aussuchen, die Grabsteine betrachten und sich Gedanken über die Menschen machen, die hier beerdigt worden sind. Nach 10 bis 15 Minuten trifft sich die inzwischen sehr schweigsam gewordene Gruppe wieder am Friedhofsausgang. Auf dem in einem eher langsameren Tempo zurückgelegten Weg zur Klinik werden die Patienten dazu angeleitet, ihre Empfindungen zu beschreiben. Sie werden auf ihr verändertes Verhalten aufmerksam gemacht. Zurück in der Klinik wird gemeinsam darüber diskutiert, welche Hintergründe das üblicherweise zu beobachtende plötzliche Verschwinden der zuvor aggressiv getönten Stimmung haben könnte. Der Friedhofsbesuch wird als eindrückliches Beispiel dargestellt, wie ein radikaler Settingwechsel die Spirale der Aggressivität unterbrechen kann. Die plötzliche Konfrontation mit existentiellen Themen, insbesondere der Vergänglichkeit des Daseins, bringt die Verhaltensweisen der Patienten in andere Sinnzusammenhänge und läßt die Anwendung von Gewalt als inadäquates Mittel zur Lösung von Problemen erscheinen, die aus der inzwischen geänderten Perspektive plötzlich nichtig und unwesentlich erscheinen. Im Angesicht der absoluten Destruktivität des Todes verdeutlicht sich den Friedhofsbesuchern die zerstörerische Gewalt aggressiver Handlungen in einem erschreckenden Ausmaß, hinzu kommt, daß sich die Ruhe der Gräber durch keine Art von Aggressivität erschüttern läßt, 13 daß also dieses Setting eine Umgebung darstellt, die sich vollständig der Macht der Gewalt entzieht. • Therapiebaustein „Was kann ich statt dessen tun?“ Ziele sind das Herausfinden und Erproben individuell geeigneter alternativer Strategien statt der bekannten aggressiven Verhaltensweisen. Zur Durchführung: Die allgemeinen und grundlegenden Maßnahmen, die gewährleisten sollen, daß aggressives Verhalten erst gar nicht entstehen soll, sind Gegenstand des über die vorgestellte Gruppe hinausgehenden Procedere der Alkoholentwöhnungstherapie der Klinik Münchwies. Zu den hierbei angestrebten Zielen gehören im wesentlichen die Übernahme von Eigenverantwortlichkeit, die Fähigkeit zur aktiven Problemlösung, der Abbau von dysfunktionalen Denkstilen, eine differenziertere Gefühlswahrnehmung, das Erlernen einer sinnvollen Freizeitstrukturierung, eine an einer individuellen Wertehierarchie orientierte Lebensplanung, ein konstruktiver Umgang mit Schuld- und Schamgefühlen, der Aufbau sozialer Kompetenzen und nicht zuletzt die Verbesserung des Selbstwertgefühles und der Genußfähigkeit. Darüber hinausgehend wird in der dargestellten Gruppe aufbauend auf identifizierten Frühwarnsymptomen eine Auswahl individuell wirksamer alternativer Verhaltensweisen erarbeitet. Hierzu gehört auf der kognitiven Ebene die Einübung einer inneren Bilanzierung von antizipierten Vor- und Nachteilen der evtl. intendierten aggressiven Handlung, d.h. die Frage danach „Was habe ich davon?“ und „Welchen Preis muß ich dafür zahlen?“. Auf der Verhaltensebene werden Gespräche mit Vertrauenspersonen sowie auch genußorientierte Maßnahmen als entlastend erlebt. Orte, Situationen und Personen, die individuell aggressionsverstärkend wirken könnten, sollten möglichst gemieden werden. Schließlich sollte jeder Patient über sogenannte Notfallmaßnahmen verfügen zur Möglichkeit des raschen Ausstieges aus der schon fortgeschrittenen Teufelsspirale der Aggressivität. Hierzu gehören zum Beispiel Abreaktionen der aggressiven Energie in Form von körperlicher Betätigung. Dies ist z.B. auf einfache Weise durch schnelles Laufen möglich. Akut wirksam sind im Sinne einer Aggressionsverhinderung 14 auch das rasche Verlassen der Problemsituation bzw. eine radikale Veränderung des Settings. • Beendigung einer Gruppensitzung Die letzten fünf Minuten zum Abschluß eines jeden Gruppentreffens sind für eine Schlußrunde reserviert, in der die Patienten ausdrücken sollen, was sie bewegt hat und was sie gelernt haben. In der Regel faßt der Therapeut die Quintessenz der Sitzung zusammen. Die Schlußrunde gibt Anstöße, die vergangene Sitzung kurz zu reflektieren und sich über ihre individuelle Bedeutung klar zu werden. Auf diese Weise in Verbindung mit der Zusammenfassung des Therapeuten werden kognitive Strukturen geschaffen, die den Lernprozeß (Corey 1992) erleichtern. Sie werden von Patienten als äußerst günstig erlebt und stellen eine unabdingbare Voraussetzung für die angestrebte Verhaltensänderung dar (Yalom 1989). Der Patient hat ein wesentliches Therapieziel erreicht, falls er individuell wirksame Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalttätigkeit kreativ und, falls nötig, auch unkonventionell anzuwenden gelernt hat. 3. Gruppe für meist überkontrollierte Patienten mit passageren aggressiven Durchbrüchen 3.1. Ziel des Interventionsprogramms Der Patient soll dazu befähigt werden, die Funktionalität sowohl seines aggressionsgehemmten überkontrollierten Verhaltens als auch seiner Aggressionsdurchbrüche zu erkennen. Er soll es lernen, störverhaltensrelevante übergeordnete Einstellungen kritisch zu hinterfragen und soziale Problemlösestrategien zu finden sowie auch diese einzuüben. Durch Teilnahme an dem Gruppenprogramm soll er zu einer bedürfnisorientierten, sozial assertiven Lebensführung finden. 15 3.2. Gruppenzuweisung Eher überkontrollierte Patienten und Patientinnen mit passageren aggressiven Durchbrüchen tätlicher oder auch nur verbaler Natur, welche voraussichtlich von dem dargestellten Gruppeninterventionsprogramm profitieren können, werden diesen durch den Bezugstherapeuten zugeteilt. Die häufigsten, mit dem überkontrolliert-aggressiven Verhalten in Zusammenhang stehenden Diagnosen sind hier nach DSM IV (APA, 1994) selbstunsichere Persönlichkeitstörungen mit sporadischen aggressiven Impulsdurchbrüchen, wie sie z. B. von Heilemann (1996) beschrieben werden; weiterhin werden dieser Gruppe auch Patienten und Patientinnen mit zwanghaft-rigider Persönlichkeit sowie mit passiv-aggressiven Persönlichkeitszügen zugeteilt. Substanzmißbrauch oder Abhängigkeit hat bei vielen dieser Patienten und Patientinnen eine enthemmende Funktion bzw. wird nach dem aggressiven Durchbruch aus Schuldgefühlen eingesetzt. 3.3. Aufbau des Interventionsprogramms Die Gruppe wird einmal wöchentlich für die Dauer von zwei Stunden mit 10-12 Patientinnen und Patienten durchgeführt, wobei die Geschlechterrelation meist ausgewogen ist. Ausschlußkriterien sind eine Verletzung der Schweigepflicht bezüglich der Gruppe sowie die Androhung oder Durchführung von Gewalttaten. Die Gruppe ist halboffen, die Teilnahmedauer sollte, falls möglich, nicht weniger als sechs Sitzungen betragen und je nach den entsprechenden individuellen Erfordernissen der Gesamtdauer des stationären Aufenthaltes angepaßt werden. Das Gruppeninterventionsprogramm wurde von einem verhaltenstherapeutisch orientierten Gruppenpsychotherapeuten unter Supervision entwickelt und seit Beginn der Therapie (1992) geleitet. Die cotherapeutische Begleitung erfolgt durch eine verhaltenstherapeutisch ausgebildete Ärztin. 16 3.3.1. Inhaltliche Gestaltung der Sitzungen Während der Sitzungen werden verschiedene, nicht zwingend aufeinander aufbauende Themenblöcke behandelt, wobei Bezug genommen wird auf die jeweiligen, sich aus der Anamnese sowie aus dem aktuellen Verhalten ergebenden individuellen Problemkonstellationen der Gruppenmitglieder. Das Programm ist inhaltlich in den Rahmen der stationären Gesamttherapie integriert. Die in dieser Gruppe gewonnenen Erkenntnisse können direkt real im sozial dichten Klinikalltag überprüft werden, ebenso wie hier mit alternativen Verhaltensweisen experimentiert werden kann. Auf diesem Hintergrund kann dann der Transfer der Verhaltensänderungen in die alltägliche soziale Lebenswirklichkeit des Patienten stufenweise zuerst im Rahmen sozialer Belastungstrainings anläßlich kurzer Heimfahrten und dann auch nach der Entlassung zu Hause stattfinden. 3.3.2. Therapieverfahren Grundlegende Therapiebestandteile bilden Interventionen aus dem Bereich des Assertivitäts- und Problemlösetrainings, häufig in Verbindung mit Feedback und Rollenspielen, imaginativen und entspannenden Verfahren sowie die Verwendung von Methoden aus der Gefühlswahrnehmung und der Körpertherapie. Unter der Berücksichtigung interaktionell gruppendynamischer Aspekte kommen schwerpunktmäßig und auf erlebnisaktivierender Basis hauptsächlich kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen zum Einsatz. 3.3.3. Therapeutische Themenschwerpunkte und repräsentative Therapiebausteine • Der Entladungszyklus der Aggressivität Durch den gezielten Austausch der Gruppenmitglieder über die zeitlichen Abläufe ihrer Problemverhaltensweisen kann herausgearbeitet werden, daß die aggressiven Entladungen sich an Phasen übergroßer 17 sozialer Kontrolliertheit und Zurückhaltung anschließen (Bentheim & Firle, 1996). Zur Verdeutlichung wird die Metapher des Staudammes erläutert, wo nach längerem Aufstauen nach Erreichen des kritischen Bereiches das Hinzufügen einer relativ geringen Wassermenge genügt, um den Damm zum Bersten zu bringen. Durch Erstellen differenzierter Bedingungsanalysen einzelner Gruppenteilnehmer können individuelle Phasen der Ärgerunterdrückung als die eigentlichen Ursachen der folgenden aggressiven Entladungen herausgearbeitet und relativ unwichtigen, letztendlich als Auslöser fungierenden Frustrationen und Kränkungen gegenübergestellt werden. Wichtig ist auch eine Analyse der Konsequenzen der Aggressivität, die nach einer kurzfristigen Entlastung mittelfristig zu sehr großen Schuldgefühlen und daraus resultierend häufig zu einer noch strengeren Selbstkontrolle und einem weiteren Übergehen der eigenen Bedürfnisse nach sozialer Durchsetzung und Abgrenzung führen, was auf die Dauer nicht durchgehalten werden kann und in einem Circulus vitiosus erneut zu aggressiven Durchbrüchen führt. • Dysfunktionale übergeordnete Einstellungen und Umgang mit Gewissenskonflikten Insbesondere durch die Analyse der im Elternhaus und im sozialen Kontext der Betroffenen geltenden Normen werden handlungsleitende übergeordnete Einstellungen der Patienten und Patientinnen herausgearbeitet, wie zum Beispiel „Ich darf niemandem weh tun“, „Kritik wird mit Liebesentzug bestraft“ oder „Ich muß von allen geliebt werden“. Die Dysfunktionalität dieser Leitsätze wird im konkreten Fall herausgearbeitet, und es wird nach alternativ möglichen, übergeordneten Einstellungen gesucht, wie zum Beispiel „Ich muß nicht von jedem geliebt werden“ oder auch „Ich darf mich ärgern“. Die wichtigsten dieser Leitsätze werden auf ein Plakat geschrieben, das an der Wand des Gruppenraumes befestigt wird, so daß immer wieder hierauf Bezug genommen werden kann. 18 Gewissenskonflikte werden differenziert analysiert und einerseits als bedingt durch die Orientierung an nicht lebbaren und krankmachenden Normen zurückgeführt. Dies bezieht sich insbesondere auf die Skrupel, sich assertiv und Grenzen setzend zu verhalten, d. h. sich adäquat zu schützen und für sich einzustehen. Andererseits haben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der dargestellten Gruppe häufig durchaus realitätsadäquate Schuldgefühle wegen ihrer aggressiven Durchbrüche, die oft in der gegebenen Situation nicht hinreichend begründet waren und zur falschen Zeit die falsche Person trafen. Als Möglichkeiten der Entlastung von solchen Schuldgefühlen werden klärende Gespräche mit den Geschädigten und adäquate Möglichkeiten der „Wiedergutmachung“ diskutiert. Eine aus den Schuldgefühlen resultierende überrestriktive Lebensführung wird als falsche Wiedergutmachungsstrategie herausgearbeitet, die genau das Gegenteil von dem Intendierten bewirkt. • Assertivität Zum Training der sozialen Durchsetzungsfähigkeit und der adäquaten Grenzsetzung werden die verschiedensten Übungen aus dem Assertivitätstraining durchgeführt. Die GruppenteilnehmerInnen lernen hier z.B. auch, sich zu streiten. So bekommt ein Patient zum Beispiel ein Handtuch mit der Aufgabe, dessen Besitz gegen die Forderungen und Angriffe eines Mitpatienten zu verteidigen. Die Gruppe beobachtet hierbei Erfolg und Ausdruck des Verhaltens sowie Mimik und Gestik der beiden KontrahentInnen. In einer sich an das Rollenspiel anschließenden Rückmeldungsrunde wird dieses Verhalten diskutiert und mit den Gefühlen und Kognitionen verglichen, die die beiden Streitenden hatten. Durch eine solche erlebnisaktivierende Übung können häufig auch schnell die oben erwähnten dysfunktionalen übergeordneten Einstellungen identifiziert werden. Abschließend werden von der gesamten Gruppe Verhaltensmodelle entwickelt, wie die Verteidigung des Besitzes hätte assertiv durchgeführt werden können. In einer anderen Übung werden zur Beantwortung der Frage: „Wie lange wahre ich meine Interessen, wie schnell gebe ich nach?“ die PatientInnen z.B. dazu angeleitet, zu imaginieren, daß der Gruppe Schokoladentorte zu einer Kaffeepause geliefert wurden, dann jedoch festgestellt wird, daß ein Stück Torte zu wenig da ist. Es folgt 19 nach der Imagination ein Austausch über die folgenden Fragen: Was sind die Phantasien der Einzelnen? Wie intensiv werden sie sich darum bemühen, ein Stück Torte zu bekommen? Wie schnell werden sie aufgeben, den anderen den Vortritt lassen und selbst dabei leer ausgehen? Wurden alternative Lösungswege des Problemes erwogen? • Problemlösen Elemente des Problemlösetrainings nach D’Zurilla & Goldfried (1972) sind die Problemidentifikation, das Erwägen von Problemlösungsmöglichkeiten im Brainstorminng in der Gruppe, die abwägende Entscheidungsfindung der am adäquatesten erscheinenden Lösung, die Planung von Handlungsschritten zur Umsetzung, eventuell die Erprobung dieser Schritte in Rollenspielen und danach die Durchführung des geplanten Verhaltens in der Realität. Schließlich erfolgt eine Überprüfung, ob das gewählte Verhalten wirklich zu dem gewünschten Ziel führte und falls dies nicht der Fall war, werden korrigierende Handlungsschritte erwogen, geplant und schließlich durchgeführt. • Gefühlswahrnehmung und Gefühlsausdruck Es fällt immer wieder auf, daß bei den GruppenteilnehmerInnen eine Diskrepanz besteht zwischen dem beobachtbaren Gefühlsausdruck und dem vorherrschenden Gefühl. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn der Betroffene ärgerlich ist oder ähnliche aggressive Gefühle verspürt. Diese Inkongruenz kann die Kommunikationspartner verwirren und die Interaktion erschweren. Ziel der therapeutischen Interventionen bezüglich dieses Themenbereiches ist es, dem Betroffenen zu einer möglichst frühen Wahrnehmung seiner aggressiven Gefühle zu verhelfen, so daß er auf dieser Grundlage adäquate Handlungsschritte einleiten kann. Das zugrundeliegende Denkmodell wird den PatientInnen mit der Maskenmetapher verdeutlicht: Es ist auf Dauer allzu anstrengend, sich einen dem gegenwärtigen Empfinden entgegengesetzten Ausdruck aufzuzwingen. Das Äußere wird hierdurch zur das wahre Selbst verdeckenden Maske, was auch die Mitmenschen als unangenehm erleben. Irgendwann übersteigt das sich Verstellen die Kräfte des Betroffenen, und er reißt sich die Maske vom Gesicht, wobei nun all die zuvor mühsam verdeckte Wut mit ungehemmter Wucht zum Ausdruck kommt. Gemeinsam mit der Gruppe werden mögliche Alterna- 20 tiven zur Maske erarbeitet und die damit verbundenen Befürchtungen bzw. die erhofften Erleichterungen diskutiert. Die Gruppenleiter geben den TeilnehmerInnen immer wieder Anstöße, ihre Gefühle zu dem gegebenen Zeitpunkt zu aktualisieren, mit der Frage „Wie geht es Ihnen im Moment? Welches Gefühl haben Sie jetzt? Welche Farbe hat dieses Gefühl? Hat dieses Gefühl auch einen Geschmack? Welche Gedanken begleiten dieses Gefühl? Was sagt Ihnen dieses Gefühl? etc.“ In Nähe-Distanz-Übungen geht es darum zu erspüren, wieviel Raum jeder Einzelne für sich braucht, welcher Abstand zum anderen für ihn angenehm bzw. unangenehm ist und welche Gefühle und Gedanken in ihm aufkommen, wenn dieses Schutzterritorium durchbrochen wird. • Notfallmaßnahmen All die Übungen der vorangegangenen Themenbereiche sollen dazu dienen, daß es nicht mehr zu einem längerfristigen Anstauen von aggressiven Gefühlen kommt, und daß auf diese Weise auch letztendlich eine explosive Aggressionsentladung nicht mehr „notwendig“ wird. Realistischerweise müssen die Patienten und Patientinnen jedoch auch darauf vorbereitet werden, was sie tun können, wenn sie entgegen ihrer Vorsätze wieder in altgewohnte Verhaltensmuster zurückgefallen sind, sich wieder während einer längeren Zeit überangepaßt verhalten haben und nun wieder kurz davorstehen, „zu explodieren“. Diese Maßnahmen sollen individuell erarbeitet und falls möglich in Testsituationen eingeübt werden. Hierzu gehören zum Beispiel das raschen Verlassen der Problemsituation bzw. eine radikale Veränderung des Settings, aber auch ein Abreagieren der aggressiven Energie in Form von körperlicher Betätigung, zum Beispiel durch schnelles Laufen, evtl. durch Telefonate mit Vertrauenspersonen oder auch, falls die Denkmöglichkeiten durch die Wut noch nicht allzu sehr beeinträchtigt sind, die ausführliche Aktualisierung der möglichen Nachteile der intendierten Aggressivität. Es wird darauf geachtet, daß die Notfallmaßnahmen einfach handhabbar und in Krisenzeiten ohne größeres Nachdenken präsent sein können. 21 4. Zuweisungskriterien für die Abteilung für psychische und psychosomatische Störungen bzw. die Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen Patientinnen mit Auffälligkeiten aus dem gesamten Formenkreis psychischer und psychosomatischer Störungen mit Ausnahme akuter Psychosen und manifester Substanzabhängigkeiten werden der Abteilung für psychische und psychosomatische Störungen zugeteilt. Patientinnen mit einer Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit werden in der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen behandelt, wobei selbstverständlich auch in dieser Abteilung die häufig vorliegenden, die Abhängigkeitserkrankung begleitenden Störungen therapiert werden. PatientInnen, bei denen zwar Probleme im Umgang mit chemischen Substanzen bestehen, sich jedoch noch keine manifeste Abhängigkeitserkrankung herausgebildet hat, werden in der Abteilung für psychische und psychosomatische Erkrankungen behandelt, wobei sie hier eine gesonderte Gruppe für Patientinnen und Patienten mit Substanzabusus besuchen können. Falls die Abgrenzung zwischen einem Substanzmißbrauch und einer Substanzabhängigkeit im Vorfeld unklar ist, bietet die Psychosomatische Fachklinik Münchwies ambulante Vorgespräche an, um eine adäquate Zuteilung zu ermöglichen. 5. Behandlungsrahmen Die Psychosomatische Fachklinik Münchwies besteht aus einer Abteilung für psychische und psychosomatische Erkrankungen und einer Abteilung für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. In beiden Abteilungen wird aus diagnostischen und therapeutischen Gründen eine möglichst realitätsgetreue Abbildung der sozialen Wirklichkeit durch den Mikrokosmos der therapeutischen Gruppe vorgesehen (Jahrreiss 1987). Das heißt, die Patienten und Patientinnen leben in einer sogenannten Wohngruppe und durchlaufen das 22 Basistherapieprogramm (bestehend aus hochfrequenter interaktionell-problemlösungsorientierter Gruppenpsychotherapie, Sport- und Bewegungstherapie sowie Ergotherapie) gemeinsam, ebenso wie sie die Freizeit zusammen verbringen. In diesem die Lebenswirklichkeit recht gut abbildenden Milieu können persönlichkeitsspezifische Konflikte und interpersonale Störungen schnell identifiziert und wirksam bearbeitet werden. Den individuellen Erfordernissen angepaßt bilden die Einzeltherapie und indikationsspezifische Gruppenangebote weitere wichtige Therapiebestandteile. In einem Therapiekonzept, das aggressive Auffälligkeiten als gelerntes, fehlangepaßtes Verhalten ansieht, sind störungsspezifische Gruppeninterventionsprogramme für Patienten und Patientinnen mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten zur Verbesserung der sozialen Lernmöglichkeiten als zusätzlicher Therapiebaustein in Ergänzung zur diagnostisch heterogen zusammengesetzten Basisgruppe sinnvoll. 23 6. Literatur American Psychiatric Association (1994). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4th ed., sev.) Washington D.C.: American Psychiatric Association Bentheim A. & Firle M. (1996). Ansatz und Erfahrungen in der Arbeit mit gewalttätigen Männern. In Brandes H. und Bullinger H (Hrsg.) Handbuch Männerarbeit. S. 223-242. Corey, G. (1992). Group Techniques (2nd ed.) Pacific Grove, California, Brooks/Cole. Heilemann M (1996) Verhaltenstraining mit gehemmt aggressiven Männern. In Brandes H. und Bullinger H (Hrsg.) Handbuch Männerarbeit. S. 223-242. Jahrreiss, R. (1993). Das Konzept der Psychosomatischen Fachklinik Münchwies. St. Ingbert, Westpfälzische Verlagsdruckerei. Puttmann, M. (1990) Internationale Tchoukballregeln. Sport Praxis, 4, 44-46. Tennent, G., Tennent, D., Prins, H., Bedford, A. (1993). Is Psychopathic Disorder a Treatable Condition? Medicine, Science And The Law, Vol. 33, 63 – 66.Yalom, I. (1989). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. München, Pfeiffer. Vogelgesang, M., Martin, G., Staufer, H., Wagner, A. (1995) Gruppeninterventionsprogramm für Patienten mit aggressiven Störungen. Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 2, 149 –169. 24 Die „Münchwieser Hefte“ werden von der Klinik seit 1985 herausgegeben. Im wesentlichen sind darin die Referate der jährlich stattfindenden Münchwieser Symposien niedergelegt, ein Sonderheft enthält Informationen für Angehörige von Suchtpatienten. Neu eingeführt wurde die Reihe „Konzepte“ der Münchwieser Hefte. In dieser Reihe haben wir seit 1996 begonnen, Behandlungskonzepte einzelner Therapiebausteine, die bisher in unterschiedlicher Form und Ausführung vorlagen, zusammenzufassen. Das Gesamtkonzept der Klinik erscheint weiterhin in der bisherigen Form, d. h. außerhalb dieser Reihe. Es kann – wie die Münchwieser Hefte und die Reihe Konzepte der Münchwieser Hefte – in der Klinik angefordert werden. In der Reihe sind bisher erschienen: Heft 1 – Pathologisches Glücksspiel Heft 2 – Stationäre Rückfallprävention als Auffangbehandlung Heft 3 – Angststörungen Heft 4 – Der chronisch Kopfschmerzkranke Heft 5 – Anorexia/Bulimia nervosa Heft 6 – Adipositas permagna Heft 7 – Sexueller Mißbrauch Heft 8 – Aggressive Störungen Heft 9 – Frauenspezifische Therapieangebote Heft 10 – Männerspezifische Therapieangebote Heft 11 – Depression Heft 12 – Suchtmittelmißbrauch psychosomatisch Kranker Heft 13 – Einführungstraining in die Psychosomatik Heft 14 – Medikamentenabhängigkeit (in Vorbereitung) ISSN 0946-7351