trans - Diaphanes

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Jean-Luc Nancy
Die Erfahrung der Freiheit
Aus dem Französischen von
Thomas Laugstien
diaphanes
Titel der französischen Originalausgabe
L’expérience de la liberté
© Editions Galilée, Paris, 1988
© diaphanes, Zürich-Berlin 2016
ISBN 978-3-03734-533-7
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Layout: 2edit, Zürich
Druck: Steinmeier, Deiningen
Inhalt
§ 1 Notwendigkeit der Freiheitsthematik
Prämissen und vermischte Schlussfolgerungen
9
§ 2 Unmöglichkeit der Freiheitsfrage
Vermischung von Faktum und Rechtsprinzip
23
§ 3 Sind wir so frei, von der Freiheit zu sprechen?
37
§ 4 Der von Heidegger frei gelassene Raum
47
§ 5 Das freie Denken der Freiheit
61
§ 6 Philosophie: Logik der Freiheit
81
§ 7 Mit-Teilung der Freiheit
Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit
87
§ 8 Erfahrung der Freiheit
Und abermals der Gemeinschaft, der sie widersteht
105
§ 9 Freiheit als Sache, Kraft und Blick
123
§ 10 Absolute Freiheit
137
§ 11 Freiheit und Schicksal
Überraschung, Tragik, Freigebigkeit
143
§ 12 Das Böse. Die Entscheidung
157
§ 13 Entscheidung. Wüste. Darbietung
185
§ 14 Fragmente
195
»… weil es die Freiheit ist,
welche jede angegebene Grenze übersteigen kann.«
Kritik der reinen Vernunft,
Transzendentale Dialektik, I, 1
§1
Notwendigkeit der Freiheitsthematik
Prämissen und vermischte Schlussfolgerungen
Wenn die Existenz nicht mehr produziert oder deduziert wird,
sondern einfach gesetzt (diese Einfachheit entsetzt unser ganzes
Denken), und wenn sie dieser Setzung – und durch sie – ausgesetzt ist, müssen wir die Freiheit dieser Aussetzung denken.
Mit anderen Worten, wenn die Existenz nicht mehr der Essenz
»vorausgeht« oder »folgt«, oder »aus ihr folgt« (spiegelbildliche
Formulierungen der Existentialismen und der Essentialismen,
beide gefangen in einem Wesensunterschied von Essenz und Existenz) –, wenn also die Existenz selbst die Essenz ausmacht (»Das
›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz«*, Sein und Zeit, § 9)1
und deshalb beide Begriffe und ihr Gegensatz nicht mehr nur zur
Geschichte der Metaphysik gehören, dann gilt es auf der Grenze
dieser Geschichte die Frage jenes anderen Begriffs, der »Freiheit«,
zu denken. Die Freiheit kann weder »essentiell« sein noch »existentiell«, weil sie im Chiasmus dieser Begriffe impliziert ist; es gilt zu
denken, was die Existenz in ihrem Wesen, der Freiheit ausgesetzt,
frei macht für diese Aussetzung, ihr hingegeben [livrée] und in ihr
verfügbar. Vielleicht lässt sich das Wort und der Begriff der »Freiheit« selbst nicht aufrechterhalten. Wir kommen darauf zurück.
Wenn aber das der Existenz ausgelieferte [livrée] Wesen nicht auf
irgendeine Weise die Existenz in ihrem eigensten Wesen »befreit«,
dann hat das Denken nichts mehr zu »denken« und die Existenz
nichts mehr zu »leben«; beide sind jeder Erfahrung beraubt.
1 Mit Asteriskus gekennzeichnete Zitate oder Begriffe werden im Original
deutsch zitiert (A.d.Ü.).
9
Mit noch einmal anderen Worten: Wenn die Existenz sich klar
darbietet (diese Klarheit blendet uns), nicht mehr als etwas Empirisches, das auf Bedingungen der Möglichkeit zu beziehen oder
in einer Transzendenz jenseits ihrer selbst aufzuheben ist, sondern als eine Faktizität, die in sich und als solche, hier und jetzt,
den Grund ihrer Anwesenheit und die Anwesenheit ihres Grundes
enthält, dann gilt es, was immer die Formen dieses »Grundes«
und dieser »Anwesenheit« sind, ihre »Tatsache« als »Freiheit« zu
denken. Es gilt also zu denken, was die Existenz auf sich selbst
zurückwirft, und nur auf sich selbst, sie verfügbar macht als
­Existenz, die weder Wesen noch bloße Gegebenheit ist. (Die Frage
ist nicht eigentlich: »Warum gibt es etwas?«, auch nicht eigentlich jene andere Frage, mit der die Freiheit sichtbarer verbunden
scheint: »Warum gibt es das Böse?«, sie wird zu: »Wozu eigentlich
diese Fragen, durch die sich die Existenz im selben Zuge behauptet und aufgibt?«)
Wenn nämlich die Faktizität des Seins – die Existenz als solche – oder ihre Haecceitas, das Das-Da-sein, das Sein-das-­diesesDa-ist, das Da-sein* in der örtlichen Intensität und zeitlichen
Ausdehnung seiner Einmaligkeit, nicht aus sich selbst heraus
und als solches von der stillen, ahistorischen, unlokalisierbaren,
selbst­setzenden Unbeweglichkeit des Seins als Prinzip, Substanz
und Subjekt dessen, was ist, befreit werden kann (oder dessen
Befreiung sein kann) – kurz: wenn das faktische Sein, oder das
Faktum des Seins, nicht die Befreiung des Seins selbst sein kann,
in jedem Sinne dieses Genitivs –, dann ist das Denken (dann sind
wir) verdammt zu der Unmittelbarkeit jener Nacht, in der nicht nur
alle Katzen grau sind, sondern in der auch alles, was reflektiert –
und damit wir selbst – untergeht in einer bruchlosen Immanenz,
die nicht einmal undenkbar ist, weil sie von vornherein außerhalb
allen Denkens, auch eines Denkens des Undenkbaren liegt.
Wenn wir nicht das Sein selbst, das Sein der ausgesetzten Existenz oder das Sein des In-der-Welt-seins als »Freiheit« denken
(vielleicht auch als eine Freiheitlichkeit oder Freigebigkeit, die viel
ursprünglicher als jede Freiheit ist), dann sind wir dazu verdammt,
die Freiheit als eine bloße »Idee« oder als ein bloßes »Recht« zu
denken, das In-der-Welt-sein hingegen als eine für immer blinde
und dumpfe Notwendigkeit. Seit Kant wird die Philosophie und
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unsere Welt immer wieder dieser Zerrissenheit ausgesetzt. Das ist
der Grund, warum heute die Ideologie die Freiheit verlangt, aber
nicht denkt.
Die Freiheit ist alles andere als eine »Idee« (das wusste in gewisser Hinsicht auch Kant). Sie ist ein Faktum, wovon wir in diesem
Versuch nicht aufhören werden zu reden. Sie ist aber das Faktum der Existenz als ihres eigenen Wesens. Die Faktizität dieses
Faktums ist deshalb nicht die einer überhistorischen Anschauung,
sie stellt sich her [se fait] – und gibt sich zu erkennen – durch
eine Geschichte. Nicht durch die Geschichte der Freiheit, als dem
teleologischen und eschatologischen Epos der Offenbarung und
Verwirklichung einer Idee (durch die eine ihrer Selbstvergegenwärtigung vergewisserte Freiheit nur selbst zur Notwendigkeit
werden kann), sondern durch die Freiheit der Geschichte, durch
die Wirklichkeit eines Werdens, in dem etwas geschieht, in dem,
mit Hamlet gesprochen, »die Zeit aus den Fugen gerät«, durch die
Generativität oder Freigebigkeit des Neuen, das (sich) zu denken
gibt. Jede Existenz aber ist neu, in ihrer Geburt wie auch in ihrem
Tod in der Welt.
Die Existenz als ihre eigene Essenz – die Singularität des Seins –
hat sich gezeigt, als die Geschichte die Grenzen eines Denkens des
Seins als Grund aufwies. In diesem Denken konnte die Freiheit nur
als begründete gegeben sein; als Freiheit musste sie aber begründet sein in der Freiheit selbst. Dieser Notwendigkeit entsprang ihre
Verkörperung oder Versinnbildlichung in einem höchsten Wesen,
einer causa sui, deren Existenz und Freiheit jedoch, im Namen
des Seins überhaupt, begründet sein musste in der Notwendigkeit.
Wenn Gott nicht mehr die Willkürlichkeit seiner eigenen Existenz
und die Liebe zu seiner Schöpfung ist (ein Gegenstand des Glaubens, nicht des Denkens), wenn er allen Existenzen ihres Grundes verpflichtet ist, dann wird »Gott« zum Begriff einer notwendigen Freiheit, deren Selbstvernotwendigung den metaphysischen
Begriff von Freiheit bestimmt (wie auch den der Notwendigkeit).
Die freie Notwendigkeit des Seins erscheint damit als das höchste
Seiende, dessen Idee das vollzieht, was man die metaphysische
Umfunktionierung des Seins nennen könnte: entbunden von seinem eigenen Faktum, seinem Da-sein*, begründet es gleichwohl
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dieses Faktum, aber auf einem Grund und als sein eigener seiender Grund. Die Freiheit der Notwendigkeit ist das dialektische
Prädikat des Seienden als Subjekt des Seins. Mit allen Existenzen
findet sich also das Sein darin unterworfen [assujetti].
Wenn aber die Freiheit überhaupt etwas ist, dann das, was sich
durch seine Begründung zunichte macht. Auch die Existenz Gottes musste frei sein dergestalt, dass die Freiheit, auf der sie beruht,
nicht zu einem ihrer Eigenschaften oder Prädikate wird. Theologie
und Philosophie haben diese Grenze – dieses Dilemma – durchaus erkannt. Gott als notwendiges Sein der Freiheit könnte (ohne
subtile Ad-hoc-Argumentationen) gleichermaßen die Zerstörung
seiner selbst und der Freiheit sein.2 Die Freiheit der Götter (wenn
hier von Göttern die Rede ist …) macht diese, wie jede Freiheit,
frei für die Möglichkeit von Sein oder Nichtsein (sie können sterben); sie ist nicht ihr Attribut, sondern ihr Geschick. Ein Seiendes
hingegen, das als das Sein als solches aufgefasst wird, als Begründung der Freiheit, aus dem es selbst sich begründet, bezeichnet
die innere Grenze der Ontotheologie: die absolute Subjektivität als
Essenz der Essenz, und der Existenz.
Diese Grenze ist erreicht, wenn die Logik und Bedeutung der
Grundlegung schlechthin verwirklicht ist, die Philosophie. Das Endziel der Philosophie beraubt uns gleichermaßen einer Begründung
der Freiheit und der Freiheit als Begründung; diese »Beraubung«
war aber schon enthalten in der philosophischen Aporie, die dem
Denken einer Begründung der Freiheit oder der Freiheit als Begründung entspricht. In der Philosophie selbst wurde diese Aporie vielleicht schon ausgesprochen und zugleich zum Pro­blem, wenn Spinoza die Freiheit ausschließlich einem Gott attribuierte, der kein
Grund war, sondern reine Existenz – und dem vielleicht auch der
Hegelsche Geist verpflichtet war und der Marxsche Mensch –, was
die noch unbemerkte Frage einer ­existierenden, nicht begründeten
Freiheit oder einer Befreiung der Existenz bis hin zu ihrem Grund
(ihrem Wesen) aufwarf. Der Endzweck der Philosophie wäre also
2 »Ist nicht die Freiheit das, was Gott fehlt, oder nur in Worten hat, weil er
nicht ungehorsam sein kann gegenüber der Ordnung, die er ist, deren Garant er
ist?« (Georges Bataille, La littérature et le mal, Paris 1957 [dt.: Die Literatur und
das Böse, München 1987], S. 39)
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