Kapitel 1 Geschichtliche Entwicklung und Grundkonzepte der Herstellung und Anwendung von Teilchenstrahlen 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 1.1 2 Geschichte der Teilchenstrahlen Geladene Teilchenströme in Glimmentladungen 1839 studierte Michael Faraday erstmals genau die Funken- und Glimmentladung. Plücker (1858) und Hittorf (1869) experimentierten mit solchen Entladungen bei geringem Restgasdruck, woraus die Entdeckung der Elektronen- und Ionenstrahlen, die durch Bohrungen in der Kathode in einer Gasentladungsröhre austraten (sogenannte Kanalstrahlen), hervorgegangen ist. Beim Beschuss der Elektronenstrahlen auf ein metallisches Target entdeckte Röntgen 1895 die nach ihm benannten Röntgenstrahlen. 1897 maß J.J. Thomson den Wert e/m für die Elektronen mithilfe eines Massenspektrometers. Die Bestimmung der Ladung von Kathodenstrahlen gelang, indem er die Teilchen durch einen Schlitz in der Anode austreten ließ und durch Magnete in eine seitliche Röhre auf ein Elektrometer lenkte. In Abbildung 1.1: Thomson-Experiment der Apparatur, dargestellt in Abbildung 1.1, bei der Kathodenstrahlen durch zwei Spalte kollimiert wurden und auf einem Leuchtschirm einen Lichtpunkt erzeugten, maß Thomson die Ablenkung im elektrischen und magnetischen Feld und konnte so das Verhältnis e/m von Masse und Ladung der Teilchen bestimmen: Kondensator 1 eEy l2 1 e · Ey l2 y = at2 = · 2 = 2 2 m vz 4Ekin (1.1) 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 3 Dipolmagnet mv 2 = evB; p = eBR R (1.2) Sind Ey , y, Bx und R bekannt so gilt: p2 e2 B 2 R2 4y e Ey l2 m= = ; = 2Ekin 2eEy l2 m 2B 2 R2 y (1.3) Im Jahr 1896, ein Jahr nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung, wollte Antoine Henri Becquerel herausfinden, ob fluoreszierende Minerale nach Einstrahlung von Sonnenlicht auch Röntgenstrahlen emittieren könnten. Er legte Mineralien eingewickelt in schwarzes Papier auf eine Photoplatte und setzte sie dem Sonnenlicht aus. Auf der entwickelten Platte erschien ein Bild der Probe und Becquerel folgerte zunächst, dass tatsächlich Röntgenstrahlung emittiert worden sein mußte. Durch die Untersuchung einer weiteren Probe mit Uransalz, die allerdings nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt war, aber dennoch ein Abbild auf der Photoplatte hinterließ, konnte er das Vorhandensein von Radioaktivität nachweisen. Die Bezeichnung Radioaktivität stammt allerdings von Marie Curie im Jahre 1898. Gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Curie beschäftigt sie sich mit dem Mineral Pechblende, da sie davon überzeugt war, dass sich die Radioaktivität auch bei anderen Elementen nachweisen lässt. Sie isoliert die bisher unbekannten Elemente Radium und Polonium. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhundert untersuchte Ernest Rutherford neben anderen Physikern die von den radioaktiven Kernen emittierten Strahlen und klassifizierte die Fähigkeit der Strahlen Materie zu durchdringen durch α-, β- und γ-Strahlung. 1911 entdeckt er dann die kleine Ausdehnung des Atomkerns über die α-Streuung (Abbildung 1.2). 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 4 Abbildung 1.2: Schema der Versuchsanordnung zur Untersuchung des Rutherfordschen Atommodells [TP99] Im Jahre 1919 weist Rutherford die erste künstliche Kernreaktion durch Beschießen von Stickstoff mit Alphateilchen nach (Abbildung 1.3). Abbildung 1.3: Versuchsanordnung zur Untersuchung der Kernreaktion nach Rutherford Neutrale Atomstrahlen Otto Stern und Walter Gerlach führten 1924 ein Experiment über die Ablenkung von Silberatomen in einem inhomogenen Magnetfeld durch. Aufgrund der ablenkenden Wirkung des Magnetfeldes auf die Silberatome, konnten sie zeigen, dass das Elektron einen Eigendrehimpuls besitzt- den Elektronenspin. 1939 entwickelte Isidor Isaac Rabi eine Atomstrahlresonanzmethode zur Präzissionsmessung magnetischer und elektrischer Momente und von Hyperfeinstrukturaufspaltungen in Atomen und Molekülen. Eine der möglichen Anwendungen ist in Abbildung 1.4 dargestellt. Aus einem Ofen treten die Moleküle durch eine Öffnung ins Vakuum und werden durch einen Spalt kollimiert. In einem inhomogenen Magnetfeld A werden sie entsprechend ihrer magnetischen Momente abgelenkt und durch ein zweites inhomogenes Magnetfeld B wieder in die umgekehrte Richtung gelenkt, so dass sie den 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 5 Abbildung 1.4: Rabi-Methode [DR00] Detektor am Ende des Experiments erreichen können. Wird zwischen den beiden Magneten A und B ein statisches Magnetfeld C angelegt und eine Hochfrequenzwelle eingestrahlt, so induziert sie magnetische Dipolübergänge zwischen benachbarten Zeeman-Komponeten d.h. es ändert sich die Orientierung der magnetischen Dipolmomente und führt somit zu einer Signaländerung am Detektor [DR00]. Mit einer Messmethode ähnlich der Atomstrahlresonanzmethode konnten Willis Lamb und Robert Retherford im Jahre 1946 die Lamb-Verschiebung messen. Weitere wichtige Anwendungen des Atomstrahls mithilfe der Zustandstrennung durch ein inhomogenes Magnetfeld (Quadrupol, Sextupol) sind: • MASER • Atomuhr Höhenstrahlung und kosmische Strahlung Im Jahre 1933 entdeckte Carl David Anderson bei der Untersuchung der kosmischen Hintergrundstrahlung mithilfe einer verbesserten Wilson-Kammer das Positron. In Zusammenarbeit mit Neddermeyer entdeckte er dann im Jahre 1937 das Myon, ein kurzlebiges Teilchen mit der 207-fachen Masse eines Elektrons. Diese und weitere bedeutende Experimente zur Teilchen-, Kernund Atomphysik konnten mit natürlichen bzw. simplen Strahlungsquellen durchgeführt werden. 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 6 Entwicklung von Ionenstrahlen Im Jahr 1924 schlägt der Schwede G. Ising einen Linearbeschleuniger mit Driftröhren vor, bei dem die Teilchen durch eine hochfrequente Wechselspannung beschleunigt werden (siehe Abbildung 1.5) [HB07]. Abbildung 1.5: Driftröhrenprinzip [HB07] 1928 baut R. Wideröe den ersten Linearbeschleuniger und beschleunigt N a+ und K + -Ionen mit einer Hochfrequenzspannung von zwei mal 25 kV auf eine Endenergie von 50 keV. Seine Versuche zur Entwicklung eines Betatrons scheitern wegen der fehlenden transversalen Fokussierung. R.J. van de Graaff baut den ersten MV-Hochspannungsgenerator im Jahr 1930 (siehe Abbildung 1.6). Er erreicht eine Spannung von 1,5 MV. Im selben Jahr entwickelt E. O. Lawrence die Idee zum Bau eines Zyklo- Abbildung 1.6: Schema des Van de Graaff-Bandgenerators [HB07] trons. 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 7 1932 bauen J. D. Cockroft und E. T. S. Walton den ersten elektrostatischen Beschleuniger unter Verwendung eines 800 kV Kaskadengenerators. Die Spannungsfestigkeit der Anlage liegt bei 700 kV. Sie beobachten die erste Kernreaktion mit 400 keV Protonen. Es handelt sich um die Reaktionen: 7 Li + p → 7Be + n (1.4) Li + p → 4He + 4He (1.5) und 7 Cockcroft und Walton erhalten 1951 den Nobelpreis. 1945 entdecken V. I. Veksler (UDSSR) und E. M. McMillan (USA) unabhängig voneinander das Synchrotronprinzip. Da mit der Energie der Teilchen ihr Bahnradius wächst, muss das Magnetfeld synchron mit der Energie hochgefahren werden. Im Jahr 1946 entwirft L. W. Alvarez den ersten 200 MHz Linearbeschleuniger im E010 -Mode in Berkley (siehe Abbildung 1.7). Vier Jahre später, im Jahr 1950, erkennt E. M. McMillan die Unmöglichkeit Abbildung 1.7: Alvarez-Struktur der gleizeitigen transversalen und longitudinalen Fokussierung im elektrischen Feld einer zylindersymmetrischen Driftröhrenanordnung (siehe Abbildung 1.8). Im selben Jahr entdecken Christofilos, E. Courant, M. S. Livingston und H. Snyder das Prinzip der starken Fokussierung. In Berkley wird 1954 ein 6,2 GeV Protonensynchrotron, das sogenannte Bevatron, in Betrieb genommen und 1958 werden am Bevatron Antiprotonen und Antineutronen erzeugt. E. Segré und O. Chamberlain erhalten dafür den 1.1. GESCHICHTE DER TEILCHENSTRAHLEN 8 Abbildung 1.8: McMillan Kriterium Nobelpreis. 1981 wird am CERN die SPS- Maschine als Proton-Antiproton Collider eingerichtet und der Nachweis der intermediären Vektorbosonen der schwachen Wechselwirkung W + , W − und Z 0 im Jahr 1983 erreicht. Im Jahr 1984 erhalten dafür C. Rubbia und S. van der Meer den Nobelpreis. Das SPS kann außerdem Blei-Ionen auf 180 AGeV beschleunigen, die zur Untersuchung des Quark-Gluonen-Plasmas dienen. Bei DESY in Hamburg wird 1990 der Elektron-Proton Collider HERA (HadronElektron-Ring-Anlage) in Betrieb genommnen. Die Energien der entgegengesetzt umlaufenden Elektronen- bzw. Protonenstrahlen betragen 30 GeV bzw. 820 GeV. Mit HERA wurde die höchste Auflösung bei der Untersuchung der Struktur des Nukleons erreicht. Am 10. September 2008 wurde der LHC (Large Hadron Collider) am CERN in Betrieb genommen. Der LHC ist ausgelegt für Proton-Proton Kollisionen bei einer Energie von 6 TeVp. Die Ergebnisse, die der LHC liefern soll, könnten Aufschluss über die fundamentale Struktur des Universums geben, wie: • Dunkle Energie • Dunkle Materie • Extra Dimensionen • Higgs • Supersymmetrie 1.2. STOSSKINEMATIK 9 Entwicklung von Elektronenstrahlen 1939 wurde das Klystron, eine Elektronenröhre, in der der Elektronenstrahl in einem Hohlraumresonator durch den Laufzeitunterschied der einzelnen Elektronen gebuncht wird und dessen Pulzfrequenz eine zweite Cavity resonant anregt, so dass die in ihm entstehende HF-Welle ausgekoppelt werden kann, von W. W. Hansen und den Varian-Brüdern erfunden. D. W. Kerst und R. Seber bauen im Jahr 1941 das erste funktionierende Betatron mit einer Endenergie von 2,5 MeV. In Stanford erreicht E. L. Ginzton gemeinsam mit Kollegen 1947 die Beschleunigung von Elektronen mit dem ersten 2,855-GHz- Linearbeschleuniger bis zu einer Energie von 4,5 MeV. 1954 nimmt R. R. Wilson gemeinsam mit Mitarbeitern das erste Elektronensynchrotron mit starker Fokussierung an der Cornell Universität in Betrieb. Die Endenergie von 1,1 GeV wird erreicht. In Frascati (Italien) geht 1961 der erste Speicherring für Elektronen und Positronen mit einer maximalen erreichbaren Energie von 250 MeV in Betrieb. In Hamburg wird 1964 das DESY, das Elektronen auf Energien bis zu 6 GeV beschleunigen kann, in Betrieb genommen. Durch Elektron-Positron Kollisionen (ca. 2 mal 20 GeV) konnten ab 1970 am SLAC-PEP und DESY-PETRA neue Teilchen und Phänomene gefunden werden. Ein Beispiel dafür ist die Beobachtung eines neuen, schweren Teilchens mit dem Doppelnamen J/Ψ oder des c-Quarks. Außerdem begann man sich die emittierte Synchrotronstrahlung zu nutze zu machen z.B. beim HASYLAB. 1989 wurden durch den Elektron-Positron Collider LEP am CERN die intermediären Vektorbosonen detailliert studiert. 1972 wurde von R. B. Palmer die Möglichkeit, einen FEL (Free-ElectronLaser) an einem Teilchenbeschleuniger zu betreiben, vorgeschlagen. Aktuell wird ein kurzwelliges, linearbeschleunigergetriebenes FEL-System entwickelt (FLASH und XFEL bei DESY). 1.2 Stosskinematik Die zur Verfügung stehende Energie bei geraden, zentralen Stößen zweier Teilchen im Schwerpunktsystem ist in vielen Experimenten zur Kern- und Teilchenphysik eine entscheidende Größe. 10 1.2. STOSSKINEMATIK Viererimpuls eines Teilchens Ei /c p~i (1.6) Viererimpuls eines Teilchenensembles P i Ei /c P ~i ip (1.7) Daraus ergibt sich die Transformationsinvariante Ecm mit: X X 2 Ecm =( Ei )2 − ( p~i c)2 i (1.8) i Ecm ist die kinetische Energie im Schwerpunktsystem zuzüglich der Summe aller Ruhemassen. Für zwei Teilchen im geraden, zentralen Stoß gilt dann: 2 Ecm /c4 = (γ1 m1 + γ2 m2 )2 − (β1 γ1 m1 ± β2 γ2 m2 )2 (1.9) Das Minuszeichen in der zweiten Klammer bezieht sich auf eine antiparallele Bewegung beider Teilchen zueinander. Wir vergleichen den Strahlbeschuss eines im Labor ruhenden Targets mit dem Fall zweier kollidierender Strahlen. Dabei seien die stoßenden Ruhemassen identisch. Fall 1 cp = √ p1 = p; p2 = 0; m1 = m2 = m (1.10) E1 = E = γmc2 (1.11) E 2 − m2 c4 = p γ 2 − 1mc2 = βγmc2 = βE 11 1.2. STOSSKINEMATIK Zur Verfügung stehende Reaktionsenergie: Eact = Ecm − 2mc2 (1.12) Für Ecm ergibt sich: 2 /c4 = Ecm = = = (γm + m)2 − (βγm)2 m2 (1 + γ)2 − β 2 γ 2 m2 m2 [(1 + γ)2 − (γ 2 − 1)] m2 2(1 + γ) Daraus folgt: p 2(1 + γ)mc2 p = mc2 ( 2(1 + γ) − 2) Ecm = (1.13) Eact (1.14) Fall 2 p1 = p; p2 = −p; m1 = m2 = m (1.15) 2 Ecm /c4 = (2γm)2 − 0 (1.16) Ecm = 2γmc2 Eact = 2mc2 (γ − 1) (1.17) (1.18) Daraus folgt: 1.2. STOSSKINEMATIK 12 Abbildung 1.9: Verhalten der Geschwindigkeit von Protonen und Elektronen bei Variation der Energie Abbildung 1.10: Darstellung des Verhältnisses aus kinetischer Energie und der Reaktionsenergie bei kollidierenden Strahlen und dem fixed Target Experiment