Vortrag Kassel, Auswirkungen des neuen Denkens im Islam für die

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Vortrag Kassel, Auswirkungen des neuen Denkens im Islam für die Begegnung von
Christen und Muslimen.docAuswirkungen des neuen Denkens im Islam für die
Begegnung von Christen und Muslimen
Christoph Elsas
Neues Denken im türkischen Islam
Neues Denken im Islam begegnet uns Christen in Deutschland vor allem mit türkischen Muslimen und ihren Theologien. Einige von ihnen stellen sich in besonderer Weise der historischen Kritik und betreiben einen Prozess der Erneuerung durch Bildung, vor allem über die
theologische Ausbildung, indem sie an das erinnern wollen, was an islamischen Voraussetzungen der Koranauslegung in Vergessenheit geriet. Hier ist besonders die Koranhermeneutik des Autorenkreises um das offene islamisch-innovative Diskussionsforum der Ankaraner Zeitschrift Islamiyāt zu nennen, die Ömer Özsoy z.Z. auf der Stiftungsprofessur für Islamische Religion in Frankfurt/Main repräsentiert. Sein Ansatz betont: Koran ist primär „Rede“,
nicht „Text“, und deshalb muss jede Stelle aus ihrer Ursprungssituation verstanden werden,
d.h. aus damaligen Fragestellungen, auf die der Koranvortrag reagiert. Damit ist das IrdischMenschliche an der Offenbarung beteiligt. Sonst hat sie das, was für die Zeit vorauszusetzen
ist, belassen. Auch zeigte der spätere Kalif Omar, dass von den Zielen des Koran auszugehen
ist, statt von der wörtlichen Regelung im Koran. So werden der Prophet und die islamische
Urgemeinde zum Normierenden. Deren Zeit und unsere Zeit sind zu analysieren, damit der
geschichtliche Kontext die arabische koranische Rede eindeutig macht - die nach ihrer Selbstaussage auf eine unbegreifliche Urschrift bei Gott zurückgeht - und die Gegenwartsdeutung
den Transfer auf eine Auslegung für heute ermöglicht1. Mit solcher Absage an fundamentalistische Schriftauslegung wird hoffentlich u.a. eine Instrumentalisierung des Koran für politischen Terrorismus erschwert, eine Begründung von Gerechtigkeit im Rollenverständnis von
Mann und Frau erleichtert und Religionsfreiheit als Impuls des Koran deutlich.
Dazu könnten Überlegungen beitragen, wie eine sachgerechte Verbindung mit dem Ansatz
des islamischen Theologen und Politikers Yaşar Nuri Öztürk möglich ist, der in der Türkei
und bei uns besonders Aufmerksamkeit erregt, indem er zur Neugestaltung aus dem Ursprung
aufruft: Gott selbst gründet die Religion, wobei der Prophet nur für die offenbarten Prinzipien
Beispiele geben soll. Der Menschennatur entspricht die Hingabe an Gott. Deshalb ist alles
Unkoranische als menschliches Brauchtum auszuschalten. Das bedeutet etwa: Theokratie ist
an die Prophetie gebunden und mit ihr zuende. Das Gebot, einen vom Islam Abgefallenen zu
1
Vgl. Felix Körner SJ, Alter Text – neuer Kontext, Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg 2006, 77101.
2
töten, ist nach- und unkoranisch. Anders als die traditionell-islamische loyalistisch-fatalische
Staatslehre vertritt der Koran im Interesse von Unterdrückten den Kampf gegen die Unterdrücker. Wenn eigenständige islamische Rechtsfindung aus den offenbarten Prinzipien abgelehnt wird, bedeutet das einen Personenkult, indem den Gelehrten des Traditions-Rechts das
Recht auf Letztentscheidung zugesprochen wird, das koranisch allein Gott hat.2
Damit beide Ansätze im Rahmen der Vorgaben des Amtes für religiöse Angelegenheiten in
der Türkei kombiniert werden können, ist dabei ein Ausgleich mit dessen Anliegen zu finden,
den Erfahrungsschatz aus der türkisch-islamischen Geschichte einzubringen. Dazu gehört,
dass zeitgemäße Interpretation des Koran kein neues Phänomen ist. Der in den Kontexten von
Ankara wirkende Jesuit Felix Körner, hat diese Ansätze im deutschen Sprachraum vorgestellt.
Dabei regt er für heutige christlich-muslimische Gespräche über Offenbarung an, anzusetzen
bei der biblischen und koranischen Rede 1) vom Gericht, 2) von den Zeichen Gottes und 3)
von Seiner Barmherzigkeit: (1) „Offenbarung muss nicht als abgeschlossen, sondern kann als
eschatologich-offen gedacht werden. Dann ist ein Offenbarungszeugnis eine Präsentation der
noch ausstehenden Vollendung der Geschichte; eine Präsentation, deren Bedeutung durch jedes neue Geschehen besser erhellt, aber bis zum Ende der Geschichte nicht abschließend erkennbar ist. Ein Offenbarungstext wäre demnach ein je neu zu verstehender Vorblick auf
Vollendung.“ (2) „Offenbarung muss nicht als bestimmtes Ensemble von Setzungen, sondern
kann als Geschichte gedacht werden. … Kontroversen aber sind gerade Kennzeichen eines
Gemeinwesens, in dem nicht die öffentliche Hand die Offenbarungserkenntnis monopolisiert
und darauf aufbauende Entscheidungsvollmacht beansprucht. Und nur so wird es auch möglich, innerhalb des sich als offenbart ausgebenden Materials erkennend zu scheiden. Eine
Scheidung zwischen Koran und nicht immer korangemäß agierendem Propheten wird ja auch
von Muslimen – und vom Koran selbst – vorgenommen.“ Und (3) „Offenbarung muss nicht
im Wesentlichen als imperativ, sondern kann als Heilungsangebot verstanden werden. Dies ist
dann möglich, wenn das Offenbarungszeugnis ein Einzelgeschehen präsentiert, das das Gesamt der Geschichte zusammenfasst und als Versöhnungsprozess eröffnet.“3
Neues Denken im Weltislam
Seit dem 2007 Aufsehen erregenden Aufruf muslimischer Autoritäten an die Christen kann
und sollte dieser spezifische Weg neuen Denkens zusätzlich innerhalb eines Aufbruchs zu
neuem Denken bei führenden Vertretern des Islam überhaupt gesehen werden: Angeregt vom
2
Vgl., ebd., 209-243.
Felix Körner, Kritik der historischen Kritik – eine neue Debatte in der islamischen Theologie in: Urs Altermatt/
Mariano Delgado/ Guido Vergauwen (Hrsg.), Der Islam in Europa, Stuttgart 2006, 127-142, hier 140f.
3
3
königlichen Aal-al-Bayt-Institut für Islamisches Denken unterzeichneten mehr als 130 führende Islam-Gelehrte aus aller Welt zum Ende des Fastenmonats am 13.10.2007 einen Offenen Brief an die leitenden Persönlichkeiten der christlichen Kirchen unter dem Titel „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch“4. Weltsituation und Verpflichtung durch die jeweilige Offenbarungsschrift werden dabei aufeinander bezogen: „Muslime und Christen gemeinsam stellen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden religiösen Gemeinschaften kann es keinen Frieden von Bedeutung in der
Welt geben“.
Auf dieses Anerkennen der Behauptung unterschiedlicher Positionen folgt das Erkennen gemeinsamer Interessen. Im Offenen Brief der Islam-Gelehrten heißt es nämlich: „Die Zukunft
dieser Welt hängt vom Frieden zwischen Christen und Muslimen ab. Die Grundlage für diesen Frieden und dieses Verständnis gibt es bereits. Sie ist Bestandteil der grundlegenden Prinzipien beider Glaubensüberzeugungen: Liebe zu dem Einen Gott und Liebe zum Nächsten“.
Für die Christen werden dabei Jesu Worte zum Doppelgebot nach Markus 12, 29-31 zugrundegelegt – diese gehen ihrerseits zurück auf das 5. Buch Mose 6,4-5 und das 3. Buch Mose
19,17-18. Für die Muslime wird vor allem eben der Vers Sure 3,64 zugrundegelegt, aus dessen Aufruf an die Christen – und die Juden – der Titel des Briefs stammt: „O Volk der Offenbarungsschrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und Euch: dass wir
keinen außer dem einen Gott anbeten und dass wir ihm keinen Partner zuschreiben“. Die Fortsetzung dieses Gebots der Gottesliebe - „Dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren
nehmen neben Gott“ - wird mit einem wichtigen alten Korankommentar so interpretiert, „dass
keiner von uns dem anderen gehorchen soll, wenn das Ungehorsam darstellt gegenüber dem,
was Gott angeordnet hat“. Und es wird auf das Gebot der Nächstenliebe bezogen, „weil Gerechtigkeit und Religionsfreiheit ein essentieller Teil der Nächstenliebe sind“ (So in der vorangestellten Zusammenfassung des Aufrufs der Gelehrten).
Das führt zur Akzeptanz von Kooperationsvoraussetzungen: Für Muslime komme die Gottesliebe täglich mindestens 17 mal in Erinnerung durch die Rezitation der Eröffnungssure „Im
Namen Gottes, des unendlich Guten, des Allbarmherzigen“. Die muslimischen Gelehrten zitieren aber auch aus den Offenbarungsschriften der Juden und Christen, mit dem Ergebnis:
„Was all diesen Versionen gemeinsam ist – ungeachtet der sprachlichen Unterschiede zwischen dem hebräischen Alten Testament, den Originalworten von Jesus Christus in Aramäisch
und dem wirklich überlieferten Griechisch des Neuen Testaments – ist die Aufforderung, Gott
gänzlich mit Herz und Seele zu lieben und ihm gänzlich ergeben zu sein“.
4
Der Text der muslimischen Autoritäten findet sich auf www.accommonword.org zusammen mit jüdischen und
christlichen Antworten.
4
Zur Nächstenliebe wird etwa Sure 3,97 zitiert: „Ihr werdet nicht zur Rechtschaffenheit gelangen, ohne dass ihr von dem austeilt, was ihr liebt. Was immer ihr austeilt, davon weiß Gott“.
Der Offene Brief kommentiert das: „Ohne dass wir dem Nächsten geben, was wir selbst lieben, lieben wir nicht wirklich Gott oder den Nächsten“.
Die Islam-Gelehrten zitieren auch hier „die Worte des Messias, Jesus Christus“ und das vorangegangene Nächstenliebegebot des Alten Testaments und kommentieren: „So verlangt das
zweite Gebot genauso wie das erste Gebot Großzügigkeit und Selbstaufopferung“. (II)
Daraufhin bedeutet der oben genannte Aufruf des Koran an die, die sich an Offenbarungsbüchern orientieren, für die Islam-Gelehrten, „dass Muslime, Christen und Juden die Freiheit haben sollten jeweils dem Folge zu leisten, was Gott für sie anordnete“.
Dafür führen sie Sure 2,256 an: „Es soll kein Zwang sein im Glauben“ und Sure 60,8: „Gott
verbietet euch nicht, gegen Jene, die euch nicht bekämpft haben des Glaubens wegen und
euch nicht aus euren Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein und gerecht mit ihnen zu
verfahren. Gott liebt ja die, die gerecht handeln“.
Interreligiöse Verständigung zur Glaubensverbreitung heißt hier zunächst, dass Muslime
Christen einladen, sich an Jesu Worte vom Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten
zu erinnern.
Im Blick auf Förderung friedlichen Zusammenlebens auch in Zeiten raschen sozialen Wandels wollen die Islam-Gelehrten sich mit ihrem Aufruf gleichsam als Unterstützer von außerhalb ansehen und berufen sich dafür auf das für Jesus überlieferte Wort „Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Markus 9,40; vgl. Lukas 9,50). Denn damit seien Menschen gemeint, „die Jesus anerkannt haben, aber keine Christen waren“.
Der Aufruf schließt deshalb „Lasst uns miteinander nur um Rechtschaffenheit und gute
Werke wetteifern. Lasst uns einander respektieren, lasst uns fair, gerecht und freundlich zueinander sein, in echtem Frieden, in Harmonie und gegenseitigem Wohlwollen miteinander
leben“. Die Basis dafür ist Gottes Wort in Sure 5,48: „Einem jeden von euch haben Wir eine
klare Satzung und einen deutlich Weg vorgeschrieben“.
Hermeneutische Zuordnung von Islam und Christentum
Wie wirkt sich in diesem Kontext das mit historischer Kritik in der Koranauslegung verbundene neue Denken türkischer Theologen aus? Die Einbettung in die Initiative des weltweiten
Islam macht hermeneutische Überlegungen zum Koran als Text erneut aktuell, die Aref Ali
5
Nayed, der als einer der treibenden Intellektuellen hinter dem Offenen Brief gilt5, 1996 beim
zweiten Marburger Rudolf-Otto-Symposion mit einem Modell vortrug, das Texte als „aktivierbare Artefakte“ behandelt, d.h. als Kulturprodukte voller Wirkungsmöglichkeiten: „Menschen fertigen Artefakte nicht wahllos an. Sie tun es stets mit Bedacht und verfolgen einen bestimmten Zweck … Die Eigenschaften, die ein Werkzeug nützlich machen, sind keine bloß
statischen, sondern dynamische Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind temporär, aufeinander folgend und beschreiben Aktivitäten“.6 Für Texte als aktivierbare Artefakte gilt dabei:
„Nur Menschen, die in der Lage sind, in den Bereich der Sprache einzudringen, in der eine
Äußerung verfasst ist, können mit ihr arbeiten oder von ihr beeinflusst werden … Ein Buch
besteht üblicherweise aus eng aufeinander bezogenen Äußerungen … Um eine Maschine in
Betrieb zu nehmen, müssen nicht die Überlegungen des Konstrukteurs neu vollzogen oder der
ursprüngliche Konstruktionsprozess wiederholt werden …. Analog dazu besitzt ein Text eine
Struktur, die in seinen Aufbau eingebaut ist … Und immer wenn ein Text erfolgreich wirkt,
erfüllen sich die Intentionen des Autors im Einsatz. Daß dies sich so abspielt, liegt nicht an
einem mentalen Neuvollzug von Intentionen, sondern an in die Struktur eingebauten Intentionen.“7 Trotz dieser „Wirkkraft“, die er besitzt, „kann der Text nichts ausrichten oder bei der
Herstellung von irgendetwas mitwirken, wenn er nicht von einem Interpreten eingesetzt wird,
der ein Interesse daran hat, etwas zu produzieren, für das der Text ihm aufgrund seiner Struktur dienen kann und aufgrund des Willensaktes, den sein Autor in ihn eingebaut hat.“8
Beim gleichen Marburger Rudolf-Otto-Symposion 1996 hat Jacques Waardenburg hervorgehoben, dass der Koran in religionswissenschaftlichen Kategorien eine Sammlung von arabischen Versen ist, die als ājāt einen Zeichen- und Symbolwert für die Muslime haben“: „Durch
die Anwendung dieser ājāt erlaubt der Koran den Menschen, zu jeweils eigenen Interpretationen dieser Wirklichkeit zu gelangen … Folglich ist die Koranauslegung selten nur eine Übung
zum Verständnis der ājāt als solcher, sondern dient vielmehr der Entdeckung eines Sinnes im
Leben und in der Wirklichkeit sowie dem Erkenntnisgewinn.“ Der Koran als „ein in sich abgeschlossenes Korpus textuell fixierter Zeichen und Symbole“ ist für die Muslime das Wunder Gottes schlechthin und damit das wichtigste religiöse „Zeichen und Symbol“ des Islam,
die „āja par excellence“9.
5
Vgl. Christian W. Troll, „Unsere Seelen sind in Gefahr“. Ein beispielloser islamischer Appell zum Dialog mit
den Christen – und eine katholische Antwort, in: Die Zeit Nr. 43 vom 18. Oktober 2007, 14.
6
Aref Ali Nayed, Ein alternatives Modell zur Bewertung von Texten und ihres Gebrauches, in: Hans-Martin
Barth/ Christoph Elsas (Hrsg.), Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog,
Hamburg 1997, 75-83, hier 75f.
7
Ebd. 77-79.
8
Ebd., 83.
9
Jacques Waardenburg, gibt es im Islam hermeneutische Prinzipien? A.a.O., 51-74, hier 72f.
6
Nun ist es religionshistorisch gesehen so, dass damit der Koran das Zentrum des islamischen
Glaubens ist. Er tritt so neben das Zentrum des christlichen Glaubens, für den Jesus Christus
das Wunder Gottes schlechthin ist10. Muslime erfahren die Nähe Gottes als besonderes Mysterium bei der Koranrezitation, Christen bei der Abendmahlsgemeinschaft. Ganz parallel zu
Waardenburgs Charakterisierung des Koran als „ein in sich abgeschlossenes Korpus textuell
fixierter Zeichen und Symbole“ und damit die „āja par excellence“ lässt sich so formulieren:
Bis hin zur Gestalt des Korpus am Kreuz und zugleich der lebendigen Stimme des Evangeliums, die im Heiligen Geist die Heilige Schrift erschließt, ist dieser Jesus Christus das
wichtigste religiöse „Zeichen und Symbol“ des Christentums, islamisch ausgedrückt „die āja
par excellence“.
Die jeweils grundlegende āja, Jesus Christus und Koran, sind beide nur über die partikularen
ājāt zugänglich, über die Wirkkraft der Verse und Versgruppen der jeweiligen Heiligen
Schrift, aus denen der Gesamteindruck Jesus Christus, das Wunder Gottes, bzw. der Gesamteindruck Koran, das Wunder Gottes, resultiert. Ohne den wirkungsgeschichtlich primär bedeutsamen Gesamteindruck aus den Augen zu verlieren, geht es für wissenschaftliche Schriftauslegung deshalb jeweils darum, die „Wirkkraft“ des einzelnen Überlieferungsstücks so genau wie möglich zu analysieren, die, „in die Struktur eingebauten Intentionen“ (um das hermeneutische Modell Nayeds noch einmal aufzunehmen).
Bei solcher religionsgeschichtlicher Zuordnung sind heute gerade der historische Ansatz und
das hermeneutische Denken der Ankaraner Schuler in der Koranauslegung bedeutsam für den
christlich-islamischen Dialog. Alle Begegnung im Westen ist stark von der Aufklärung geprägt. Deshalb dient solche Auslegung, die der Aufklärung kompatibel ist, hoffentlich auch
vielen der Muslime in der Diaspora zur „Entdeckung eines Sinnes im Leben und in der Wirklichkeit sowie dem Erkenntnisgewinn“ (um die Symboltheorie Waardenburgs noch einmal
aufzunehmen).
Ömer Özsoy stellt sich ausdrücklich in den gesamtislamischen Kontext: „Alle Muslime gehen
davon aus, dass die von Muhammad empfangenen Worte göttlicher Herkunft waren und von
Muhammad treu weitergeleitet wurden“.11 Religionshistorisch gesehen lässt sich in allem parallel dazu formulieren: Alle Christen gehen davon aus, dass der von Maria empfangene Sohn
göttlicher Herkunft war und von Maria treu auf seinem Weg begleitet wurde. Özsoys spezieller Ansatz betont dann: „Die koranische Offenbarung trat durch das Arabische in die damalige
arabische Kulturwelt ein, wodurch sie zu Arabern eben einen aktuellen Kontakt aufnahm …
10
Vgl. meine Rezension zu Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999,
in: Der Islam 79/2001, 174-176.
11
Ömer Özsoy, Darf der Koran historisch-hermeneutisch gelesen werden? In: Der Islam in Europa, a.a.O.
7
Am Anfang war der Koran … nicht etwas zum Lesen, sondern etwas zum Hören … Er hat die
Adressaten durch seine Eigenschaften ergriffen, welche ihn für sie zu einer aktuellen Anrede
machten, die ihn aber im gleichen Maße uns, den späteren Generationen fremd machen“.12
Religionshistorisch gesehen müsste dazu als abgewandelte Entsprechung wohl formuliert
werden: Die Offenbarung des Evangeliums, nämlich die Offenbarung der guten Botschaft von
Jesus als dem Christus, trat durch die jüdische Mutter in die damalige jüdische Welt ein, und
sie trat durch das Griechische des neutestamentlichen Zeugnisses (nämlich von der vollkommenen Verwirklichung des göttlichen Willens in diesem Sohn der Maria) in die damalige
griechisch-römische Kulturwelt des römischen Weltreichs ein, wodurch sie zu Juden und
Griechisch-Sprachigen im Römerreich eben einen aktuellen Kontakt aufnahm … Am Anfang
war die Offenbarung dieses Evangeliums nicht etwas zum Lesen, sondern etwas zum Sehen
und zum Hören … Es hat die Adressaten durch seine Eigenschaften ergriffen, usw. In dieser
Art lässt sich Özsoys Ansatz der Koranforschung in Beziehung setzen zur historisch-kritischen Leben-Jesu-Forschung.
Historisch-kritische Bestimmung des Verhältnisses Christen/Muslime nach der
Intention der Koranverse zuAbraham
Özsoy hat 2007 einen deutschen Beitrag publiziert unter dem Titel „’Leute der Schrift’ oder
Ungläubige? Ausgrenzungen gegenüber Christen im Koran“.13 Ich möchte versuchen, daran
anknüpfend die vorgetragenen theoretischen Zugänge auf ein Beispiel anzuwenden, das für
das Verhältnis von Christen und Muslimen grundlegend wichtig ist, nämlich die Versgruppe
zu Abraham als Vorbild des reinen Glaubens in Sure Al-Baqara (2,124-141)14. Özsoy sieht in
den Koranpassagen aus der mekkanischen Periode selten und nur in Bezug auf ihre Vorstellungen von Jesus Kritik an den Christen. Diese positiven Eindrücke von Christen in Mekka
hätten sich weithin auch in der medinensischen Periode erhalten – siehe Sure Al-Maida (5,8284). Nach Özsoys Beschreibung der historischen Situation beschränkten sich die Erwartungen
des Koran an die Leute der Schrift allerdings jetzt darauf, „dass sie ihre eigene religiöse Lehre
von den Missverständnissen und den späteren Veränderungen und Entfremdungen reinigen
und eine entsprechende Haltung zeigen sollten (5,46f. 65f.). In diesem Sinne könnte man von
einem ‚islamischen Christentum’ und einem ‚islamischen Judentum’ sprechen, die der Koran
schätzen würde, da sie keine von der monotheistisch-abrahamitischen Lehre entfremdenden
12
Ebd. 156f.
In: Hansjörg Schmid u.a. (Hg.), Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und
Islam, Regensburg 2007, 107-118.
14
Koranübersetzung von Adel-Theodor Khoury.
13
8
Elemente mehr enthielten“. „Islamisch“ bezeichnet dabei auch ohne direkte Zugehörigkeit zu
Muhammad „sich Gott ergebend“, nämlich als ein „Muslim“ wie Abraham – siehe Sure AlImran (3,19f. 67.83-85)15. Das Gegenteil wäre nach Özsoy kufr, nicht als „Unglaube“, sondern „Undankbarkeit“ – „eine religiös-ethische Einstellung, die manche Muslime auch einschließen könnte“.16
Um Özsoys Ansatz zu folgen, will ich der wahrscheinlichen Chronologie folgen und jeweils
die Abraham-Thematik in den Suren der spätmekkanischen und dann der medinensischen
Periode skizzieren, um die Abrahamspassage Sure 2,124ff. einzuordnen: Sure 6,74ff. charakterisiert die Rolle der Vernunft für Abrahams monotheistische Einsicht. Sure 37,103 nennt
Abraham und seinen nicht namentlich festgelegten Sohn in der Bereitschaft zum Opfer des
Sohns „beide ergeben“, gefolgt von der Verheißung in 37,109f.: „Friede sei über Abraham!
So vergelten wir den Rechtschaffenen“. Sure 51,24 bezieht sich auf die Tradition von der Ankündigung des Sohnes von Abraham und Sara: „Ist denn die Geschichte von den geehrten
Gästen Abrahams zu dir gelangt?“ Sure 16,120 konstatiert: „Abraham war ein Vorbild, Gott
demütig ergeben und Anhänger des reinen Glaubens, und er gehörte nicht zu den Polytheisten“, um 16,123 zu bekräftigen: „Folge der Glaubensrichtung Abrahams“.
Sure 14,35 spricht von Abrahams Bitte für das Gebiet um Gottes heiliges Haus: „Mein Herr,
mache dieses Gebiet sicher, und laß mich und meine Söhne es meiden, den Götzen zu dienen“.
Sure 21,51 leitet die wohl letzte Abrahamspassage aus Mekka ein: „Und Wir haben zuvor
Abraham zu seinem rechten Verhalten geleitet. Und Wir wussten über ihn Bescheid“. Es folgt
die auch aus der nachbiblischen jüdischen Tradition bekannte Charakterisierung von Abraham
als Ikonoklast und darin archetypische Figur der Absage an die Idolatrie der Vorväter-Tradition, um ihm in 21,69 den Schutz Gottes zuzusprechen: „O Feuer, sei kühl und harmlos für
Abraham“.
Sure 2,241ff. ist die erste Abrahamspassage von Medina und soll anschließend näher untersucht werden. Ihr folgt in Sure 3,65ff. der Appell an die Schriftbesitzer: „O ihr Leute des Buches, warum streitet ihr über Abraham, wo doch die Tora und das Evangelium erst nach ihm
herabgesandt wurden? Habt ihr denn keinen Verstand? … Abraham war weder Jude noch
Christ, sondern er war Anhänger des reinen Glaubens, ein Gottergebener, und er gehörte nicht
zu den Polytheisten. Diejenigen unter den Menschen, die am ehesten Abraham beanspruchen
dürfen, sind die, die ihm gefolgt sind und dieser Prophet. … So folgt der Glaubensrichtung
Abrahams ... Bakka (Mekka) … ist die Stätte Abrahams“. Sure 4,125 bekräftigt: „Und wer hat
eine schönere Religion als der, der sich völlig Gott hingibt und dabei rechtschaffen ist und der
15
16
Ebd., 112f.
Ebd., 117.
9
Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens, folgt? Gott hat sich Abraham
ja zum Vertrauten genommen“. Sure 22,26 führt die Riten der Mekka-Wallfahrt auf Gottes
Weisung an Abraham zurück: „Und als Wir den Abraham in die Stätte des Hauses eingewiesen haben“. Die wohl letzte Koranaussage zu Abraham betrifft in Sure 9,114 dessen Verhältnis zu seinem Vater und damit dem Polytheismus: „Als es ihm aber deutlich wurde, dass er
ein Feind Gottes war, sagte er sich von ihm los. Abraham war voller Trauer und langmütig“.
Auswirkungen für das Verständnis von Sure 2,124ff. als Positionsbestimmung der neuen
Religion Islam neben Judentum und Christentum
Wie verhält sich solche chronologische Annäherung an die Intention, die die Abrahamspassage Sure 2,124-141 für die Zeit ihres Erstvortrags erkennen lässt, zu dem, was Yaşar Nuri
Öztürk hervorhebt, nämlich dass Gott selbst die Religion gründet, wobei der Prophet nur für
die offenbarten Prinzipien Beispiele geben soll? Wie verhält sich die historisch rekonstruierbare Intention und ihre Exemplifizierung in den Koranversen zum Aufruf der islamischen
Autoritäten zur Rückbesinnung auf die Gottes- und Nächstenliebe, die den Juden, Christen
und Muslimen aufgetragen ist? Wie verhält sie sich zu Felix Körners drei Gesichtspunkten für
das Gespräch über Offenbarung: 1) Endzeit-Gericht und damit Offenheit 2) Zeichen Gottes
und damit Geschichtlichkeit, 3) Gottes Barmherzigkeit und damit Versöhnungsprozess?
Diese erste medinensische Abrahamspassage lässt in der Tat den Propheten über die von Gott
gegründete Religion als Beispiel für die offenbarten Prinzipien vortragen. Das beginnt in
2,124 mit einem Redewechsel zwischen Gott und Mensch: „als Abraham von seinem Herrn
durch Worte auf die Probe gestellt wurde und er sie erfüllte. Er sprach: ‚Ich mache dich zum
Vorbild für die Menschen’. Er sagte: ‚Und auch welche von meiner Nachkommenschaft’. Er
sprach: ‚Mein Bund erstreckt sich aber nicht auf die, die Unrecht tun’.“ Die Stichworte „Vorbild“, „mein Bund“ und „Unrecht tun“ sind dabei mit Körners Gesichtspunkten von den Zeichen Gottes in der Geschichte („Vorbild“), vom Versöhnungsprozess aus Gottes Barmherzigkeit („Bund“) und von der Offenheit bis zum Endzeit-Gericht („Unrecht tun“) in Verbindung
zu bringen. Da sie hier durchgängig thematisiert werden, entsprechen diese Gesichtspunkte
wohl dem geschichtlichen Kontext des Rededuktus (mit Ömer Özsoy gesprochen). Dieser
würde als Grundbestand auch durch die Struktur des Textes wirken (mit Aref Ali Nayed gesprochen), zu dem die Abraham-Verse mit den sie rahmenden „Versen“ niedergeschrieben
wurden. Das Stichwort „Vorbild“ wäre dann etwa in 2,18 vorbereitet durch „Zeichen“ und in
2,122 durch „bevorzugt“. Die Stichworte „mein Bund“ und „Unrecht tun“ wären vorbereitet
durch „Freudenboten“ und „Warner“ in 2,179 sowie „Gnade“ und „Tag“ in 2,122f. Die mehr-
10
fache Wiederholung des Gesichtspunkts „Zeichen“ in 2,142f. würde die Konsequenz aus der
Abrahamspassage ziehen mit den Stichworten „Gebetsrichtung“, „Gott führt“, „ihr Zeugen“,
„der Gesandte Zeuge“. So tritt die von Jerusalem nach Mekka abgeänderte Gebetsrichtung als
ein vom Propheten gegebenes Zeichen für die von Gott gegründete Religion in die Geschichte
der Zeichen, zu der das von ihm zuvor mitgeteilte Vorbild Abraham gehört, ebenso wie die
kurz zuvor als Zeichen benannten Koranverse und die ebenso zu wertende Bevorzugung der
Kinder Israels.
Dieser Gesichtspunkt von den Zeichen Gottes in der Geschichte ist in der Abrahamspassage
weiter aufzufinden im Thema vom heiligen Haus Gottes und dessen Reinigung durch Abraham und Ismael (2,125), das in der Sure „Ibrahim“ (14,35) aus Mekka vorbereitet war; von
den von Gott gezeigten Riten (2,128); von dem Gesandten aus ihrer Mitte und den durch ihn
rezitierten Zeichen (2,129); von der Auserwählung Abrahams (2,130); von der von ihm und
auch Jakob den Nachkommen aufgetragenen (reinen) Religion, die Gott für sie erwählt hat
(2,132); von der nicht auf Juden oder Christen beschränkten Rechtleitung gemäß „der Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens“ (2,135); von dem, was als Koran
und was für Abraham und seine Nachkommen als Offenbarung herabgesandt wurde und was
Mose und Jesus (als Gesandten für die Juden und die Christen) und den (anderen) Propheten
von Gott zugekommen ist (2,136); von der dabei in den offenbarten Prinzipien gleichen
Rechtleitung (2,137); vom Kennzeichen Gottes, das als das schönste Kennzeichen ihm allein
dienen lässt (2,138); schließlich vom Zeugnis von Gott, das nicht verschwiegen werden darf
(2,140).
Die Gesichtspunkte vom Versöhnungsprozess aus Gottes Barmherzigkeit und von der Offenheit bis zum Endzeit-Gericht sind schon als Strukturelemente begleitend in der ganzen Abrahamspassage und in den voranstehenden Versen aufzufinden. Sie tragen erheblich zur Wirkung der Rede und des Textes bei. Vor den anschließenden Versen von der Gebetsrichtung als
Zeichen findet man dann in den letzten Versen der Abrahamspassage (2,139-141) massiv die
eschatologische Offenheit unterstrichen: „Was streitet ihr mit uns über Gott, wo Er unser Herr
und euer Herr ist? … Und wir sind zu ihm aufrichtig … Wer ist denn ungerechter als der,
der … verschweigt? Das ist eine Gemeinschaft, die … erhält, was sie erworben hat, und ihr
erhaltet, was ihr erworben habt“. Dann bleibt zu hoffen, dass es im Sinne vom Versöhnungsprozess aus Gottes Barmherzigkeit zu verstehen ist, wenn dem als Schluss der Abrahamspassage folgt: „Und ihr habt nicht zu verantworten, was sie zu tun pflegten“.
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