Das geologische Fenster von Vättis

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Das geologische Fenster
von Vättis
Die ältesten Gesteine des UNESCO-Welterbes der Tektonikarena Sardona
im Taminatal
Dr. Stefan Hesske, Pfäfers, und David Imper, Mels-Heiligkreuz
«… Mitten in den Bergen öffnet die Erde hier
ihr Innerstes. Sie gewährt Einblick in fernste
Vergangenheiten, als Berge sich erhoben und
die Landschaft gefaltet wurde …»
So formulierte Bundesrat Moritz Leuenberger in seiner Festrede am 30. Mai 2009
in Flims die Besonderheit des Gebietes
zwischen Linth, Rhein und Seez-Walensee
anlässlich der Aufnahme der Tektonik­
arena Sardona in die Welterbeliste der
UNESCO. Und der ETH-Geologieprofessor Albert Heim hielt bereits 1921 wissenschaftlich etwas nüchterner fest: «Vättis
hat als eine der klassischen Stellen zu
gelten, wo der Sedimentmantel einem
Zentralmassiv diskordant auflagert.» (in:
Heim 1921)
Der neugierige Leser mag sich da nun fragen, was es denn da so Besonderes gibt in
der Ostschweiz, das nicht nur durch einen
Bundesrat eine Erwähnung findet, sondern
dem neben Generationen von Geologen
auch die UNESCO Beachtung schenkt. Der
geologischen Besonderheit in der Umgebung von Vättis, die ein wichtiger Bestandteil der Tektonikarena Sardona ist, soll in
diesem Artikel nachgegangen werden.
Veränderungen wie das Wachstum eines
Quarzkristalls oder das Ansteigen eines
ganzen Gebirges aus den Tiefen eines Ozeans laufen hingegen so langsam ab, dass
wir sie in einem Menschenleben kaum
wahrnehmen können. Vielmehr glauben
wir, vergleichbar mit einer Eintagsfliege, in
einer statischen und unveränderten Welt zu
leben. Um die unvorstellbare Langsamkeit
von solch fundamentalen Landschaftsveränderungen trotzdem zu erkennen, wie
beispielsweise die Verwandlung ein und
desselben Ortes von einer sonnenversengten Wüstenlandschaft in eine türkisblaue Ozeanküste, benötigen wir Menschen einen Zeitraffer. Und solch einen
«Zeitraffer» stellt die Gegend um das Taminataler Dorf Vättis im Süden des Kantons
St. Gallen dar. Es erlaubt einen Rückblick in
eine prähistorische Vergangenheit, die über
300 Millionen Jahre zurückreicht. Wie ist
dies möglich?
Unvorstellbare Langsamkeit
Wir sind uns gewohnt, durch ein Zimmerfenster das Jetzt zu erblicken. Bedenken wir
aber, dass sich eine Landschaft in einem
wenn auch äusserst langsamen, so doch
steten Wandel befindet, so müssen wir die
heutige Landschaftsansicht als eine Momentaufnahme in einem schier endlosen
Film auffassen. Die Landschaftsdynamik
weist aber sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten auf. Die schnellen Veränderungen
sind für uns Menschen immer wieder und
eindrücklich erfahrbar (wie beispielsweise
Felsstürze, Murgänge oder Lawinenabgänge). Die geologisch langsam ablaufenden
Vättner
Fenster
Tödi
Fenster
Limmern
Fenster
Aarmassiv
Abb. 1: Das Aarmassiv ist auf dem Ausschnitt der tektonischen Karte der Schweiz unten links im Bild in roter Farbe dargestellt. Lokal taucht es am
Bifertengletscher (Tödi), am Limmernboden und bei Vättis wieder auf. Alle anderen Farben stellen verschiedene Ablagerungsgesteine dar, die über
dem Aarmassiv liegen. (Tektonische Karte der Schweiz, 1:500 000, 1980)
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oberst und die älteste zuunterst liegt.
Üblicherweise verdeckt daher jeweils die
jüngste Ablagerungsschicht die darunterliegenden. Frisst sich nun aber ein Bach,
Fluss oder Gletscher von oben nach unten
in die Schichten hinein, wie ein Hobel in
eine geschichtete Schwarzwäldertorte, so
legt er tiefere und damit ältere Schichten
für unser Auge frei (durch den sog. «Erosionsprozess»).
Ablagerungsgesteine
Wanderung durch die
Erdgeschichte
kristallines
Grundgebirge
Abb. 2: Die Überlagerung des kristallinen Grundgebirges (Aarmassiv) mit Ablagerungsgesteinen
am Chrüzbachtobel beim Kiesfang (im Vordergrund) nördlich des Dorfkerns von Vättis. Die punktierte rote Linie zeigt den ungefähren Verlauf des Grenzkontakts zwischen Kristallin und Sedimenten an. (Foto vom 11.4.2010)
Begeht nun ein Wanderer nördlich des
Dorfkerns von Vättis den steilen Wanderpfad westwärts Richtung Drachenberg,
so steigt er mit jedem Schritt in einen
jüngeren Zeitabschnitt der Landschaftsgeschichte von Vättis hinauf (vgl. Abb.
4). Begleiten wir ihn ein Stück weit! Seine
Zeitreise beginnt im Chrüzbachtobel bei
den ältesten Gesteinen der Gegend.
Das Grundgebirge Europas
Ein Naturbuch lesen
Wie Seiten eines Buches ist das Sarganserland, wie auch weite Teile der Schweiz,
vorwiegend aus Ablagerungsschichten
(sog. Sedimenten) von früheren Meeren
aufgebaut (vgl. Abb. 1). Öffnen wir dieses
von der Natur geschriebene Buch und
blättern wir darin, Seite für Seite bzw.
Schicht für Schicht! Wir müssen nur die
Schrift der Natur zu lesen lernen, wie es
die Geologen tun.
Dieses Naturbuch erzählt eine Landschaftsgeschichte, wobei jede Schicht Informationen über die damaligen Umgebungsbedingungen enthält. Finden wir
beispielsweise in Kalksteinen des Taminatales Korallenreste und gehen wir davon
aus, dass heutige Lebensprozesse auch
früher genauso abliefen, so ist dies ein
Hinweis, dass dieser Ort in der Vergangenheit einmal von einem mindestens 25° C
warmen Meer bedeckt war, das auch nur
wenige Meter tief war. Denn dies sind die
Lebensbedingungen, die heutige Korallen
an ihre Umgebung stellen.
Die Schichtung, die in Felswänden als
­Linien oder als bankförmig hervorstehende Felsplatten erkennbar ist (vgl. Abb.
2 und 3), ist ein charakteristisches Kennzeichen der Sedimentgesteine. Überlagern
sich mehrere Schichten, ergibt sich ein
Zeitarchiv. Denn bereits 1669 hatte der
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­ änische Arzt Nikolaus Steno erkannt,
d
dass in einer Abfolge von Sedimentgesteinen, welche seit der Ablagerung nicht
durch Faltungen oder Überschiebungen
gestört wurde, die jüngste Schicht zu­
Abb. 3.: Geschichtete
Sedimente überlagern
das kristalline Grundgebirge im Chrüzbachtobel bei Vättis.
Die gestrichelten roten
Linien zeigen den
ungefähren Verlauf
des Grenzkontakts
zwischen Grundgebirge und Sedimenten
an. Die Grenze wird
an einem steil verlaufenden Bruch (rote
Strichpunktlinie) versetzt. (Im oberen Hintergrund der Berger
Calanda, aufgebaut
aus Sedimenten der
Jura- und Kreidezeit.
Foto vom 11.4.2010.)
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Wohl am besten erkennbar sind die Gesteine im Bacheinschnitt beim Einfluss des
Chrüzbachs in den Kiesfang (vgl. Abb. 2).
Es sei aber erwähnt, dass bereits Hügi 1941
vermerkte, dass «die Lagerungs- und Auf-
Sedimente
Sedimente
kristallines
Grundgebirge
Ablagerungsgesteine
Chrüzbachtobel
kristallines
Grundgebirge
Vättis
Abb. 4.: Die Schichtabfolge der Gesteine, die
im geologischen Fenster von Vättis einsehbar
sind. Als Basis dient zuunterst das kristalline
Grundgebirge. Darüber lagern sich stets jüngere Sedimentschichten ab. Ihr Alter ist in der
linken Säule mit den Namen der geologischen
Zeitabschnitte sowie rechterhand mit den absoluten Altern in Millionen Jahren vor heute
angegeben. (nach: Weissert & Stössel 2009)
schlussverhältnisse in Vättis unübersichtlich sind». Schuttüberdeckung bestimmt
weitgehend die Landschaftsformen und
behindert das Studium des Kristallins
(Hügi 1941, S. 68/69). Eine Erkennungshilfe mögen aber die steil südfallenden
Schieferungsebenen der kristallinen Gesteine sein. Sie erscheinen aus der Ferne
massig und ohne jegliche Ausrichtung,
während die unmittelbar darüberliegen­
den, mehr oder weniger horizontalen
Ablagerungsgesteine aus einzelnen, gut
erkennbaren Bänken bestehen (vgl. Abb. 5
und 6).
Diese also eher unscheinbar wirkenden
Gesteine sind teilweise aus einer heissen
Gesteinsschmelze (sog. «Magma») entstanden, die aus den Tiefen des Erdinnern in die Erdkruste eingedrungen ist
(als sog. «Magmaintrusion»). Teile davon
können aber auch aus alten Sedimentgesteinen bestehen, die durch hohen Druck
und erhöhte Temperaturen umgewandelt
worden sind. In Tiefen von etwa 25 km
kühlten diese Gesteine langsam ab (Weissert & Stössel, 2009, 59), sodass sie zu
Abb. 5: Die ungefähre geologische Grenze zwischen dem oft grasbewachsenen Kristallin und den
darüberliegenden, geschichteten Ablagerungsgesteinen westlich des Dorfes Vättis (Blick vom
Gegen­hang [Gnapperchopf] auf das Chrüzbachtobel und Vättis, links im Bild). Die Ablagerungsgesteine sind in der rechten Bildmitte mit der gelblich anwitternden, etwa 50 Meter hohen Felswand
des Rötidolomits erkennbar. (Foto vom 5.9.2010)
des Schwarzwaldes in Deutschland fort
(Weissert & Stössel, 2009, 59) und wird
daher auch als das Grundgebirge Europas
bezeichnet. Das Alter der kristallinen Gesteine wird auf etwa 330 Millionen Jahre
geschätzt (Weissert & Stössel, 2009, 59),
also auf eine Zeit, als es die Alpen noch
gar nicht gab. Stattdessen hat das Vättner
Kristallin noch ältere Gebirgsbildungen
durchgemacht, wobei die Gesteine unter
hohen Druck bei erhöhten Temperaturen
gerieten und umgewandelt wurden zu den
heutigen im Chrüzbachtobel liegenden
Mineralien auskristallisieren konnten und
sog. kristalline Gesteine oder «Urgesteine»
entstanden. Einmal abgekühlt und durch
Hebung und Verwitterung an die Erdoberfläche gelangt, bildeten sie die Unterlage für die viele Jahre später folgenden
mächtigen Sedimentablagerungen, die
heute weite Teile der Schweiz überdecken.
Die Vättner kristallinen Gesteine gehören zum westlich gelegenen Aarmassiv.
Dieser kristalline Untergrund setzt sich
im Norden mit den ebenfalls kristallinen
Gesteinen der Vogesen in Frankreich und
Abb. 6: Die steil südfallenden Gneise des kristallinen Grundgebirges mit hellen und dunklen
Gang­gesteinen (angegeben mit den verschiedenen Signaturen im zentralen Profilbereich) werden
im Chrüzbachtobel von flacher liegenden Ablagerungsgesteinen (oben links) überdeckt. (Profillänge ca. 160 m, Profilskizze von Hügi 1941, S. 74)
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der Jura- und der Kreidezeit (vor 210 bis
65 Millionen Jahren), als die Dinosaurier
die Welt beherrschten und erste Vögel
in die Lüfte abhoben. Die Tethys erlebte
damals ihre grösste Ausdehnung, die nach
heutigen Schätzungen von der damaligen
afrikanischen Küste bis zur europäischen
Küste bis gegen 1000 km betragen haben
soll (Weissert & Stössel 2009, S. 31).
Geburt der Alpen
Abb. 7: Beispiel eines gebänderten Gneisgesteins des kristallinen Grundgebirges im Kiesfang­
becken des Chrüzbachs. Der Hammer dient zum Grössenvergleich. (Aufnahme vom 5.9.2010)
Gesteinen, den sog. «Gneisen» (vgl. Abb. 2,
6 und 7). Magmen drangen anschliessend
in die umgewandelten Krustengesteine
ein und es kam zur Bildung von Ganggesteinen, die beispielsweise im Chrüzbach­
tobel als dunklere oder hellere Gesteine
erscheinen. In Gneisklüften bildeten sich
später kleine Calcit- und Quarzkristalle
(«Bergkristalle»). Diese Kluftmineralien
animierten schon früher Strahler, aber
auch die Vättner Dorfjugend zur «Schatzsuche» im Tobel. Eine wissenschaftliche
Beschreibung der Gesteine und ihres Mineralbestandes findet der interessierte Leser in Hügi (1941, S. 70 ff.).
Trogablagerungen aus der Permzeit, die in
der Tektonikarena Sardona Zeugen einer
damaligen Wüstenlandschaft sind. Mangels einer Altersbestimmung könnten es
aber auch Triasablagerungen sein.
Deutlich sind aber am Chrüzbach als
Ablagerungsschichten die gelblich anwitternden, sonst aber hellgrauen und
horizontal geschichteten Dolomitgesteine
aus der Triaszeit (vor 250 bis 210 Millionen Jahren) zu erkennen (u. a. der sog.
«Röti­dolomit», vgl. Abb. 2, 4 und 5). Sie
belegen ein Flachmeer, das sich vor 230
Millionen Jahren, also zur Zeit der ersten
Dinosaurier, durch das Auseinanderdriften von Afrika und Europa zu bilden begann. Meerwasser, das den eingeebneten
alten Kontinent überspülte und danach
verdunstete, hinterliess diese Karbonatablagerungen.
Wandel von einer Wüsten­
landschaft zur Ozeanküste
Steigen wir den Wanderweg nun weiter
hinauf, so passieren wir den Übergang
vom Aarmassiv zu den darüberliegenden
Ablagerungsgesteinen. Das bewachsene
Gelände lässt jedoch keine scharfe Trennlinie erkennen. Aufgrund der unterschiedlichen Lagerungsverhältnisse des steil
südfallenden Kristallins und der horizontal darüber lagernden Sedimentgesteine
muss das Grundgebirge bereits zu einem
Teil abgetragen worden sein, bevor sich die
heute darauf liegenden Quarzsandsteine
und Konglomerate ablagern konnten (vgl.
Abb. 6). Unsicher ist, ob es sich dabei
um die mit rund 300 Millionen Jahren
ältesten Sedimentgesteine des Sarganserlandes handelt, die sog. «Verrucano»3/2010
Ein Ozean mit Fischsauriern
Mit der Triaszeit begann die Entstehung
eines Ost-West-verlaufenden Ur-Mittel­
meers, das von den Wissenschaftlern nach
der griechischen Meergöttin ­«Tethys» benannt wurde. Die Existenz dieses Tethysmeeres belegen dem Wanderer auf deutliche Weise die heute bergwärts auf den
Dolomitschichten lagernden, mächtigen
Kalkstein- und Mergelschichten. Sie bauen
im Osten des Taminatals bei Vättis den
Calanda auf und im Westen zu einem grossen Teil den Gelb- und den Drachenberg
(vgl. Abb. 8). Es sind Ablagerungsprodukte
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Vor 100 Millionen Jahren, also immer
noch zur Dinosaurierzeit, begannen unvorstellbar grosse Kräfte Ur-Afrika gegen
Ur-Europa zu bewegen. Damit hatte die
Alpenfaltung begonnen. Die mächtigen
Ozeanablagerungen der Tethys wurden
im Laufe von Jahrmillionen zwischen den
beiden Kontinenten zusammengedrückt
und zum Alpengebirge aufgefaltet und
zusammengeschoben.
Als die Dinosaurier plötzlich von der Erde
verschwanden (vor 65 Millionen Jahren),
guckten bereits die ersten Spitzen der zukünftigen Alpen aus dem Ur-Mittelmeer.
Die Hauptfaltungsphase ereignete sich
aber während der Tertiärzeit vor etwa
20 bis 40 Millionen Jahren. Die einst
horizontal abgelagerten Sedimente wurden aufgefaltet, zerbrochen und teilweise
überschoben, sodass ein komplizierter
Gebirgsaufbau entstand. Das Aarmassiv
erfuhr im Gebiet von Vättis eine kuppelförmige Aufwölbung, das in der Literatur
auch als «Vättiser Gewölbe» bezeichnet
wird (vgl. Abb. 8a und b).
Sobald sich die ersten Berge über den
Meeresspiegel erhoben hatten, waren sie
den atmosphärischen Verwitterungskräften ausgesetzt, die sie wieder abzutragen
begannen. Vor 20 Millionen Jahren zog
sich das Meer endgültig aus dem Gebiet
der Schweiz zurück. Abtragungskräfte beherrschten nun das Alpengebiet. Bäche
und Flüsse transportierten riesige Mengen an alpinem Abtragungsschutt in die
Ebenen nördlich und südlich der Alpen,
auf denen heute die Siedlungsflächen des
Schweizer Mittellandes und der italienischen Poebene stehen.
Das geologische Fenster
Im Raum Vättis haben sich allmählich, aber stetig Wasser und Eis mehrere
Hundert Meter tief in die aufgetürmten
Meeressedimente des Tethysozeans ein-
Abb. 8a: Das Vättner Gewölbe in einem historischen Profilschnitt von NW nach SE, aus der Sicht von Jacob Oberholzer (1933). Über dem domförmi­
gen Aarmasssiv (rot) lagern Triassedimente (orange), Jurakalksteine (hellgelb), Kreideablagerungen (grün) und tertiäre Sedimente (dunkelgelb).
geschnitten, sodass dabei das Taminatal
gebildet wurde. Während den Eiszeiten
war das Gebiet stark vergletschert. Bei
Vättis vereinigte sich ein Arm des Rheingletschers, der über den Kunkelspass floss,
mit dem Calfeisengletscher und formte
ein Tal mit steilen oberen Talwänden und
einem breiten Talboden, was die Geologen
als Trog- oder U-Tal bezeichnen. Immer
noch liegen die jüngeren Ablagerungsschichten hoch über dem Tal und bauen
die Bergkämme des Calandas und des
Drachenbergs auf. An den Talwänden sind
nun aber rund 2000 Meter mächtige Ab­
lagerungsschichten frei einsehbar, in denen der Zeitraum zwischen etwa 300 und
30 Millionen Jahren vor heute weitgehend
dokumentiert ist (Imper 2004). Der unermüdlichen Erosionsarbeit von Wasser und
Eis ist also nicht nur die Entstehung des
Taminatals zu verdanken, sondern auch
die Freilegung der ältesten Gesteine der
Tektonikarena Sardona, des kristallinen
Grundgebirges im Chrüzbachtobel. Aus
der Vogelschau erscheinen die Urgesteine
bei Vättis von den jüngeren Ablagerungs-
Bifertengletscher (Tödi) im Glarnerland
(vgl. Abb. 1). Den Geologen ist dieses
Phänomen aber schon früh aufgefallen.
So stammt die erste geologische Beschreibung des Vättner Fensters von 1851 aus
dem Werk «Geologie der Schweiz» von B.
Studer (in: Hügi 1942, S. 67).
Noch heute bezeugen Erosions- und Sedimentationsprozesse wie Murgänge, Erdrutsche und Felsstürze die dynamische
Weiterentwicklung der Landschaft. Die
geologische Geschichte von Vättis ist also
noch nicht abgeschlossen und wird es
wohl auch noch lange nicht sein.
Abb. 8b: Eine heutige Darstellung des geologischen Fensters von Vättis (Profilschnitt
NNW-SSE). Rot: Aarmassiv, grün: autochthone
(= nicht verschobene) Sedimente, blassgelbe
Gipfelpartien links (NNW) von Vättis: Kreideablagerungen, dunkelgelb: tertiäre Sedimente.
(Quelle: Bundesamt für Wasser und Geologie,
2005)
gesteinen umrahmt. Es ist, als schaute man
wie durch einen Fensterrahmen durch die
abgetragenen Gesteinsschichten hindurch
in die Vergangenheit der Erde (vgl. Abb. 1).
Dieses geologische Phänomen bezeichnen
die Erdwissenschaftler als «geologisches
Fenster» oder auch als ein Erosionsloch,
in welchem tiefere Baueinheiten der Alpen
sichtbar werden (Labhart 1995, S. 194).
Solche Fenster sind rar in der Schweiz.
Während das Aarmassiv im Osten von
Vättis nicht mehr aufgeschlossen ist, erscheint es als nächste Lokalität im Wes­
ten im Limmernboden-Fenster sowie am
Zitierte Quellen
– Bundesamt für Wasser und Geologie, 2005: Tektonische Karte der Schweiz, 1:500 000, Bern.
– Heim, Albert, 1921: Geologie der Schweiz. Band I
und II, Leipzig.
– Hügi, Theodor, 1941. Zur Petrographie des östlichen Aarmassivs (Bifertengletscher, Limmernboden, Vättis) und des Kristallins von Tamins.
– Schweizerische Mineralogische und Petrographische Mitteilungen, Band 21, S. 1–120.
– Imper, David, 2004: Der Geopark SarganserlandWalensee-Glarnerland, in: 90. Band der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft St. Gallen, St. Gallen,
S. 101–136.
– Imper-Filli, David & Ladina, 2010: Alte Schichten
– neue Sichten. Den geologischen Phänomenen
auf der Spur. Broschüre zum UNESCO-Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona, Impergeologie
AG, Heiligkreuz.
– Labhart, Toni, 1995: Geologie der Schweiz. 3. überarbeitete Auflage, Ott Verlag Thun, S. 194.
– Leuenberger, Moritz, 2009: Im Kino des Kosmos.
Rede zur Aufnahme der Tektonikarena Sardona
in die Welterbeliste der UNESCO, Rede von Bundesrat Moritz Leuenberger in Flims vom 30. Mai
2009, Eidgenössisches Departement für Umwelt,
Verkehr, Energie und Kommunikation GS-UVEK.
– Oberholzer, Jacob, 1933: Geologie der Glarneralpen. Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz,
Geologische Kommission der Schweiz. Naturforschenden Gesellschaft.
– Schweizerische Geologische Kommission, 1980:
Tektonische Karte der Schweiz, 1:500 000.
– Studer, B., 1851: Geologie der Schweiz. Band 1,
Bern und Zürich.
– Weissert, Helmut & Stössel, Iwan, 2009: Der Ozean
im Gebirge – Eine geologische Zeitreise durch die
Schweiz. Vdf Verlag, Zürich, 178 S.
Abb. 9: Das geologische Fenster von
Vättis bildet den
östlichsten Zipfel des
UNESCO-Weltnaturerbes Tektonikarena
Sardona. (Grafik aus:
Imper-Filli 2010)
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