Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst Allgemeine Bestimmung des philosophischen Begriffs von Kunst Heinz Paetzold veröffentlicht seine Schrift Neomarxistische Ästhetik (1974) zu einer Zeit, zu der kaum noch ein nennenswertes Verhältnis zwischen philosophischer Reflexion und Kunstpraxis bestand. Um Philosophie aus ihrer akademischen Isolation zu lösen und erneut zum kulturellen Feld der Kunstproduktion hin zu öffnen, knüpft Paetzold nicht an die großen Entwürfe der philosophischen Ästhetik von Kant bis Schopenhauer und Nietzsche an, sondern greift die ideologiekritische Kunstphilosophie von Bloch, Benjamin, Adorno und Marcuse auf. In den vergangenen Jahren – dem Zeitraum, auf den wir heute schon als die (kurze) Phase der Postmoderne zurückblicken – hat sich diese Situation radikal verändert: Sowohl in der akademischen Philosophie als auch in der gesellschaftlichen Realität feiert Ästhetik ihren glänzenden Triumphzug. Aus dem einst kümmerlichen Dasein der philosophischen Ästhetik ist ein blühendes Gewächs hervorgegangen (vgl. Paetzold 1990). Begriffe und Schlagwörter wie ästhetische Erfahrung, ästhetische Rationalität, Ästhetik des Erhabenen, des Hässlichen, Ästhetik der Existenz, ästhetische Argumente, ästhetische Urteile, ästhetische Praxis usw. überwuchern jeden kunsttheoretischen Diskurs. Trotz – oder vielleicht wegen – dieses Booms der philosophischen Ästhetik sind schwerwiegende Mängel an dieser Euphorie auszumachen: 1) Die Grundbegriffe der vorherrschenden theoretischen Ästhetik spiegeln so gut wie nichts von der Dynamik der zeitgenössischen Kunstentwicklung wider (vgl. Schusterman 1994). Grob gesagt, bleibt die Aufgeregtheit der Kunsttheoretiker ohne jede nennenswerte, um nicht zu sagen emanzipatorische Rückwirkung auf die Kunstentwicklung selbst. Angesichts des grundbegrifflichen Mangels an Aktualität und der Ewiggestrigkeit des Selbstverständnisses der philosophischen Ästhetik verwundert es kaum, dass Künstler herzlich wenig Interesse und Bedarf an Philosophie und deren Reflexion auf die Kunst (d.h. ihr Tun) haben. In Kunstzusammenhängen interessiert Philosophie höchstens als nachträgliche Umrahmung, d.h. in keiner normativen, sondern rein instrumentellen Bezugnahme als Theoretisiermaschine. 2) Als Folge der Ausbreitung und Veralltäglichung des Ästhetischen droht sich die philosophische Ästhetik in der Grenzenlosigkeit ihres Gegenstandsbereiches zu verlieren. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund wird fraglich, inwieweit eine Philosophie der Kunst heute überhaupt noch möglich – und nötig – ist. Sicherlich, eine gelegentliche Beschäftigung mit den ›schönen Künsten‹ hat nicht nur für den Durchschnittsmenschen etwas Angenehmes und Erbauliches, sondern erfreut eben auch den Sinn für Schöngeistiges der Philosophen. 3) Trotz des offenkundigen Interesses der akademischen Philosophie spricht für die Unmöglichkeit und für das Unnötige einer philosophischen Ästhetik gerade deren von je her dreiste Anmaßung, den freien Künsten sagen zu wollen, was sie (bedeuten) sollen, worin ihr Wert bzw. Unwert liegt, was ein authentisches Kunstwerk, was ephemer sei, etc. Der Vorwurf der Überheblichkeit ist mehr als berechtigt, sofern dabei die Herablassung kritisiert wird, mit der die Philosophen meinen, die Künstler bräuchten ihre Hilfe, erst die Philosophie sage aus, was die Kunst bloß vor sich Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 hinstammle. 4) Gemessen an diesem ihrem (überheblichen) Anspruch, Wissenschaft der Kunst zu sein bzw. Kunstkritik und sprachliche Vermittlung von Kunst zu leisten, betreibt die philosophische Ästhetik ihr Geschäft im Vergleich zu den profunden und kenntnisreichen Diskursen einer etablierten Kunstwissenschaft (Kunstgeschichte und -theorie) geradezu dilettantisch. Wenn sich die philosophische Ästhetik auf einzelne Künstler und Kunstwerke einlässt, dann geschieht dies oft beliebig (in Unkenntnis vieler kunstwissenschaftlicher Einzelheiten) und zumeist bloß zur Illustration der eigenen These. Aber wie auch immer, generell lässt sich sicherlich ohne zuviel Risiko behaupten: eine in technischen, historischen, individuellen, kontextuellen und zeitgeistigen Einzelheiten kenntnisreiche Betrachtungsweise der Kunst bleibt bei der überwiegenden Zahl der philosophischen Ästhetiken aus – von einigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Paetzold, abgesehen. Dreierlei Wege Die angeführten Bedenken stellen den Philosophen vor die Wahl, in einer von drei Richtungen fortzufahren: Man überlässt denjenigen, die ohnehin mehr von den einzelnen Künsten und ihren aktuellen Entwicklungen verstehen, das Feld. Immerhin wäre über diesen Weg der Enthaltung die angesprochene Schwierigkeit zu umgehen, sich als philosophischer Wanderer in der Grenzenlosigkeit des Geltungsbereiches des Ästhetischen zu verlieren. Oder man lässt sich auf das Wagnis ein und bewaffnet sich mit einer ›neuen Ästhetik‹. Deren Clou könnte darin bestehen, anstatt weiterhin den philosophischen Anspruch zu erheben, eine Theorie der Kunst zu liefern, stärker auf den anderen Pol der traditionellen Ästhetik zu setzen, nämlich eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung neu zu begründen. Die Vertreter dieser Richtung verbinden damit die Hoffnung, die philosophische Ästhetik für eine Naturästhetik einerseits und eine Besinnung auf die ästhetisierte Lebenswelt andererseits anschlussfähig zu machen. Den dritten Weg – weder Königsweg noch Holzweg, am ehesten noch Umweg – gibt jener windige Pfad vor, den das ursprüngliche Interesse der Philosophie an den Künsten leitet: ein normatives, emanzipatorisches Interesse an Kunst als Erkenntnis der Wahrheit und Praxis der Freiheit. Diese beiden Grundmotive, Wahrheitserkenntnis und Freiheitspraxis, sind bekanntlich auch die Impulsgeber der neomarxistischen Kunstphilosophien gewesen. Wenn also ein ideologiekritischer Anspruch und ein normatives Erkenntnisinteresse weiterhin den Sinn und Zweck einer philosophischen Reflexion der Kunst ausmachen sollen, und dies ist hier und im folgenden ausdrücklich beabsichtigt, dann ist heute eine zeitgemäße – gemessen an der kulturellen Vorherrschaft der Ästhetik jedoch, mit Nietzsche gesprochen, unzeitgemäße – Kunstphilosophie nur unter dem leitenden Gedanken eines kritischen Begriffs guter Kunst möglich und nötig. Die erste und vorläufige Bestimmung einer nicht-ästhetischen Kunstphilosophie lautet also: jenseits einer (rein) empirischen Kunstwissenschaft einerseits und einer (bloß) schöngeistigen Beschäftigung andererseits begreift eine (wahrhaft) philosophische Betrachtungsweise die Kunst als eine Erkenntnis von Wahrheit und eine Praxis von Freiheit. Allerdings hat man mit der Idee, den normativen Begriff ›guter‹ Kunst zum Leitgedanken einer Philosophie der Kunst zu machen, herzlich wenig getan, um den berechtigten Vorwurf der Überheblichkeit zu entkräften. Im Gegenteil. Sollte man meinen. Trotz der Kritik an der philosophischen Ästhetik wird sich hier Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 in der Tat erdreistet, den normativen Anspruch einer philosophischen Bestimmung des Sinns und Zwecks von Kunst zu erneuern und diesbezüglich ihr Gutes zu rechtfertigen. Philosophie der Kunst – welcher Genitiv? Dass gegen Philosophen, die über Kunst nachdenken und darüber, was ein authentisches Kunstwerk bzw. was gut und schlecht, was wahre Kunst und was bloß schöner Schein ist, sehr schnell von Seiten der Künstler wie der Kunstliebhaber der Vorwurf der Anmaßung laut wird, ist meistens berechtigt, erklärt sich aber auch oft aus deren eigener Unsicherheit und Seichtigkeit des Standpunktes. Da ist dann die eingeforderte Rechtfertigung des Sinns und Zwecks künstlerischer Produktivität unbequem und lästig. Jedenfalls sollte allseits Klarheit darüber bestehen, dass die Philosophie der Kunst nicht bestimmt und nicht bestimmen sollte, ob Kunstproduktion überhaupt sei oder nicht, wie dies in Platons – und nicht nur Platons – Forderung, die Kunst aus dem idealen Staat zu verdammen, der Fall ist. Die Existenz von Kunst hängt (muss das wirklich eigens gesagt werden?) nicht von den Philosophen und deren Urteilen über dieselbe ab; sie hängt einzig und allein von dem alles andere als selbstverständlichen Faktum künstlerischer Produktion und öffentlicher Rezeption ab. Der leicht fällige Vorwurf der Überheblichkeit erweist sich dann als unberechtigt, wenn Philosophie sich ihrem Selbstverständnis nach in einem normativen Sinn auf Kunst bezieht. Denn dies besagt, dass sie sich nicht als die (empirische) Wissenschaft oder Theorie irgendwelcher (thematisch, zeitlich, spartenspezifisch) bestimmter Kunstrichtungen und -produktionen missversteht. Eine normative und emanzipatorische Kunstphilosophie, die ihren Geltungsanspruch nicht in einer ohnehin unhaltbaren Wissenschaftlichkeit verankert1, versteht sich als Selbstreflexion, d.h. sie ist die selbstkritische Vergegenwärtigung des Sinns und Zwecks der philosophischen Aktivität als kulturelle Praxis der Gegenwart. Kunstphilosophie versucht über das wissenschaftliche und ästhetische Selbstverständnis der Philosophie hinaus ein künstlerisches Verständnis der philosophischen Arbeit, d.h. Philosophie als Kunst (-verwandtes) zu begründen. Dann hat eine Philosophie ›der‹ Kunst auch nicht, wie üblich, die Bedeutung einer Unterdisziplin (Philosophie des Rechts, der Freundschaft, der Moral, der Natur, etc.). Vielmehr realisiert die Kunstphilosophie lediglich das freie Erkenntnisinteresse und versteht sich als der künstlerische Versuch, uns eine Wahrheit der Kunst zu vergegenwärtigen, um so – wie im folgenden gezeigt werden soll – ein kulturelles Verständnis von geistiger Freiheit zu präsentieren.2 Dies zu leisten – Freiheit zu denken und begrifflich darzustellen –, ist meiner 1 Nietzsche begriff als erster, dass die Philosophie hinsichtlich eines nachmetaphysischen Selbstverständnisses den Anspruch, eine ›Wissenschaft‹ zu sein, aufgeben muss und nur – und besser! – als eine der Kunst verwandte Erkenntnis überlebt. 2 Freilich ist die Rede von der Philosophie als Kunst nicht neu, vor allem aber fällt sie leicht Missverständnissen und falschen Deutungen anheim. Philosophie als Kunst zu verstehen, sollte nicht mit der Auffassung verwechselt werden, die ›die‹ Philosophie im ganzen der Kunst angleichen will und womöglich nun ihrerseits unterordnet (wie dies sich zeitweise bei Nietzsche oder neuerdings bei Rorty finden lässt). Noch soll damit behauptet werden, es gäbe keinen Unterschied zwischen Philosophie und Kunst (vgl. Habermas’ Kritik an Derrida). Zunächst, auf der Ebene der Arbeitsform, ist entgegen der traditionellerweise behaupteten Differenz von Philosophie (verstanden als Wissenschaft) und Kunst (verstanden als Kultur) ohne weiteres eine immanente Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Auffassung nach eine genuine, wenn nicht die Arbeit der philosophischen Reflexion. Diese setzt in ihrer Kritik an einem rein ästhetischen Kunstverständnis auf die mögliche Selbstkritik der Kunstproduzenten und -rezipienten im Geiste dieser Freiheit. Das entscheidende Argument dafür, dass Kunstphilosophie die kritische Selbstvergegenwärtigung von Kunst und Philosophie bezweckt, ergibt sich aus der Sache selbst – aus der Bestimmung eines philosophischen Begriffs guter Kunst. Zu dessen Erörterung kann nun übergegangen werden. Im Folgenden soll dieser gegenüber der herkömmlichen Ästhetik und ihrem falschen Begriff guter Kunst als schöner Kunst abgegrenzt werden. Ästhetik: Theorie der sinnlichen Erkenntnis? In ihrem Selbstverständnis als Ästhetik greift die Philosophie den Erkenntnischarakter von Kunst über eine Theorie der Wahrnehmung, der »sinnlichen Erkenntnis« (dazu: Paetzold 1991) auf, wie dies schon der griechische Ursprung des Begriffs ›aisthesis‹ anzeigt. Der Grundgedanke basiert hier auf der bescheidenen Annahme, dass Kunstwerke über Sinne wahrgenommen werden: wir sehen Bilder und hören Musik. Freilich hatte Hegel bereits eingeräumt, dass diese Begründung nicht nur unzureichend ist, sondern überhaupt fehlgeht, weil sich im wesentlichen »das Sinnliche der Kunst nur auf die beiden theoretischen Sinne des Gesichts und Gehörs [bezieht], während Geruch, Geschmack und Gefühl vom Kunstgenuss ausgeschlossen bleiben« (Hegel, Ästhetik I: 61). Das aber heißt umgekehrt, eine im üblichen Sinne ästhetische Betrachtungsweise begreift unseren Umgang mit Kunst nicht in Bezug auf die Tatsache, dass sie geistige Reflexion und in diesem eigentlichen Sinne aisthetische Verstehensleistungen verlangt,3 sondern bezogen auf den letztlich unzutreffenden Sachverhalt einer Sinneswahrnehmung (Aisthesiologie). Neuerdings wird diese Problematik zu verschleppen versucht durch eine Erweiterung der Theorie bloßer und konzeptuelle Verbindung von Kunst und Philosophie festzustellen, beispielsweise in dem mehr oder weniger philosophisch-begrifflichen Charakter künstlerischer Arbeit z.B. in Literatur und Konzeptkunst ebenso wie in dem mehr oder weniger rhetorisch-poetischen Charakter philosophischer Sprachlichkeit. So weist Paetzold ausdrücklich auf den künstlerischen Schreibstil von Adorno, Bloch, Benjamin und Marcuse hin. Zu Adorno beispielsweise wird ausgeführt: »Adornos parataktischer Schreibstil will in der Theorie selbst forminnovativ Momente der atonalen Musik zur Geltung bringen.« Paetzold 1990: S. 209 3 Genauer betrachtet, zielt der Aisthesis-Begriff des Aristoteles auch nicht auf eine Lehre der Sinnesempfindungen, sondern auf eine Theorie einer geistigen Reflexionstätigkeit (vgl. Stern-Gillet 1995: 21). Aristoteles’ Überlegungen versuchen jenseits eines reinen Sensualismus einerseits und eines reinen Rationalismus andererseits eine dritte, mittlere erkenntnistheoretische Position zu formulieren, die von der Existenz eines eigenständigen Erkenntnisvermögens der Selbstreflexivität ausgeht. Diese alle Lebensvollzüge begleitende praktische Geistesgegenwärtigkeit (Reflexionsaktivität) wird von Aristoteles mit aisthesis, aisthanometha, aisthanesthai beschrieben. So spricht er auch von einer »ethischen aisthesis« als dem Gewahren des Tätigseins seiner selbst. Welsch weist nach, dass Aristoteles selbst die erkenntnistheoretische Differenz zwischen Sinneswahrnehmungen und (geistiger) Selbstreflexivität immer wieder verwischt. Welsch kommt zu dem Ergebnis, dass Aristoteles letztlich doch einer rationalistischen Reduktion der aisthesis als bloßer Materialbeschaffungsinstanz für das begrifflich-logische Denken (logos) das Wort rede. So beschränkte Aristoteles das von ihm in Aussicht gestellte »Projekt einer Aisthetik« schließlich doch auf eine »Aisthesiologie«, »die in der Tradition dann bestimmend wird« (vgl. Welsch 1987: 25 ff). Demgegenüber wäre mein Vorschlag, die individuelle Erkenntnis von Wahrheit im eigentlichen Sinn Wahr-Nehmen im Unterschied zum reinen Sinnesempfinden (Sinnesempfindung) zu nennen, und die Selbstreflexion im Umgang mit Kunst wäre nicht Ästhetik, sondern Aisthetik, zu deutsch: Verstand. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Sinneswahrnehmung hin zu der Konzeption einer spezifisch »ästhetischen Wahrnehmung«, die der Umgang mit Kunst begünstigen soll. Seel führt hierzu aus: »In ästhetischer Wahrnehmung sind wir uns selbst als Wahrnehmende gegenwärtig – nicht lediglich als ihrer selbst bewusste Wesen, sondern als Wesen, die ihr leibliches Sensorium ausdrücklich tätig sein lassen« (Seel 1991: 52). Sinn und Zweck von (ästhetischer) Kunst liegt dieser Auffassung zufolge also darin, eine ästhetische Praxis zu ermöglichen, die den Wahrnehmenden die eigene leibliche Wahrnehmungsaktivität als eine »unersetzliche Form eines ohne weiteres wertvollen Tätigseins« (Seel 1991: 23) eröffnet. Vor dem Hintergrund einer strukturell entsinnlichten und gefühls-losen Lebenswelt kommt, Paetzold zufolge, einer sich als kritisch verstehenden Ästhetik die emanzipatorische Aufgabe zu, auf »die eingreifende Kraft der Kunst« und auf »normative Komponenten der ästhetischen Erfahrung« hinzuweisen. Denn – so der Gedanke – die ästhetische Erfahrung von Kunst »zielt auf die Integrität des Leibes. Sie führt damit zur Vervollkommnung sinnlicher Vermögen. Durch ästhetische Erfahrungen erwerben die Menschen eine freie Verfügung über ihre Sinne. Die Sinne werden feiner, subtiler und artikulierter« (Paetzold 285f.; ähnlich Böhme 1994). Ohne an dieser Stelle auf die einzelnen Nuancen der verschiedenen Positionen innerhalb dieser ästhetischen Theorie eingehen zu können, sind hier wenigstens zwei Dinge festzuhalten: Versteht sich die philosophische Behandlungsweise der Kunst als Ästhetik, i. S. einer Theorie der sinnlichen Erkenntnis bzw. in erweiterter Form als Theorie der ästhetischen Erfahrung, beinhaltet dies eine (oft unbemerkte) Verengung der Perspektive auf die Rezeption – eben die Wahrnehmung von Kunst.4 In ihrer Beschäftigung mit Kunst nehmen die Philosophen allzu selbstverständlich den Standpunkt des Betrachters von Kunst(-werken) ein. Die Kunstpraxis und -produktion bleibt unterbelichtet, oft ganz ausgeblendet. Bezeichnenderweise scheint es sich in dem vorherrschenden Diskurs der philosophischen Ästhetik von selbst zu verstehen, dass sich Begriffe wie ästhetische Erfahrung, ästhetische Praxis, ästhetische Rationalität auf die Rezipienten, nicht aber auf die Produzenten beziehen. Erst diese grundbegriffliche Reduktion macht es möglich, dass die philosophische Ästhetik ihre Selbstdefinition in einer Theorie der sinnlichen Wahrnehmung findet. Will die Kunstphilosophie sich nicht in dieser ebenso falsch vereinseitigten Grundbegrifflichkeit wie letztlich inhaltsleeren Selbstvergewisserung verlieren, wird sie – wie wir sehen werden – der künstlerischen Praxis und Produktion einen normativen Vorrang 4 Freilich muss es nicht zu dieser Verengung kommen. Ein philosophisches Verständnis der Kochkunst, auf das hier nur hingewiesen werden kann, lässt sich – sowohl gegen Hegels Ästhetik (siehe oben) als auch gegen Kants Geschmacksästhetik (die die Küche und den eigentlichen Geschmack ebenfalls aus der Kunstphilosophie verbannt) und selbst noch gegen Platons und Adornos falsche Vorbehalte – eine Erneuerung der philosophischen Ästhetik (der Küchenpraxis wie des Geschmackssinns) als eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis unternehmen, und in diesem thematischen Bezug wäre ein spezifischer ›essthetischer‹ Sinn und Zweck von Kunst (Eat Art im weitesten Sinne) herauszuarbeiten. Einen ersten Ansatz zu diesem völlig unbeachteten Potential einer gastrosophischen Ästhetik oder Essthetik wurde vom Verfasser vorgelegt: Harald Lemke, Ästhetik des guten Geschmacks. Vorstudien zu einer Gastrosophie, in: (Hrsg.) Roger Behrens, Kai Kresse, Ronnie Peplow, Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge, Hannover 2001. Harald Lemke, Jeder Mensch ist ein Kochkünstler. Oder Josef Beuys’ Wohnküche als Erdstation einer revolutionären Lebenskunst, in: Mitteilungen des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens, Heft 12/ 2004 Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 einzuräumen haben gegenüber dem faktischen Übergewicht ihrer Präsentation und Rezeption. Den Erkenntnischarakter der Kunst darin zu bestimmen, dass sie unserem ›Sinnesbewusstsein‹ auf die Sprünge helfen soll, treibt paradoxerweise der Kunst gerade ihren eigenen Sinn aus, denn entsprechend der eben beschriebenen Positionen beruht die ästhetische Erfahrung im wesentlichen nicht auf dem Verstehen von geistigen Inhalten, von Bedeutungssinn, sondern auf der Sinneswahrnehmung um ihrer selbst willen. Ist die Kunsterfahrung einmal so unverständig vorgestellt, dann bedarf sie der hilfsbereiten Philosophie. Paetzold bringt diese Denkfigur auf den Punkt: »Die subversive Kraft einer aus der Sinnlichkeit aufsteigenden Reflexivität ist von der Philosophie zu erretten. Die Philosophie bedarf immer wieder der Irritationen aus der ungeregelten Sphäre der Kunst. Auch vermöge ihrer Andersheit kann die Philosophie die künstlerische Sensibilität formen und herausfordern. Natürlich gibt es immer ein ›wildes‹ Nachdenken über die Phänomene, das sich nicht legitimieren muss. Die Philosophie will es nicht zerstören, sondern eher klären und läutern, ohne seine Substanz zu beschädigen.« (Paetzold 1990: 286) Dass die Philosophie ihrerseits der Kunst bedarf, um ihrer drohenden Anämie zu entgehen, scheint angesichts des merkwürdig arbeitsteiligen Verhältnisses zwischen ihnen (hier Klärung und Läuterung, Formung und Herausforderung, dort Ungeregeltheit und Andersheit, Sensibilität und ›Wildheit‹) allerdings ein eher kleiner Trost. Was bleibt, ist die schon kritisierte Anmaßung, Kunst wäre ohne Philosophie aufgeschmissen und käme erst in ihr zu sich. Denn darin schwingt mit, dass alleine die ästhetische Theorie der Kunst ihren Erkenntnisgehalt sichert.5 Dennoch hat eine philosophische Ästhetik ihr Richtiges – nämlich eine Reflexion ästhetischer Kunst zu sein. Keineswegs geht es hier darum, die Existenz und das eigene Gute einer Kunst zu leugnen, die auf Wahrnehmungsaktivität zielt. Diese ästhetische und oft schöne Kunst kann von einer philosophischen Ästhetik reflektiert und zu ihrem legitimen Gegenstand gemacht werden. – Nur eben: ästhetische bzw. schöne Kunst ist nicht per se gute Kunst und ihr philosophisches Verständnis arbeitet nicht mit ihrem wahren Begriff. Diesen zu bestimmen, tritt die Kunstphilosophie an, um – statt die inhaltliche Bedeutung (bzw. den aisthetischen Schein) von einzelnen Kunstwerken, -richtungen etc. zu erläutern – den formalen Prozess der künstlerischen Sinnproduktion zu begreifen. Metaphysische Erkenntnis des Schönen Die Bestimmung des Erkenntnischarakters von Kunst stand ursprünglich ohnehin nicht im Zusammenhang mit einer Theorie der ästhetischen Wahrnehmung bzw. der sinnlichen Erkenntnis, sondern mit dem Schönen als einer Wahrheit (der traditionellen Wahrheit einer übersinnlichen Wirklichkeit). Der nicht-ästhetische philosophische Begriff von Kunst, ganz 5 Freilich rechtfertigt sich dieses dialektische Ergänzungsverhältnis bei Adorno primär aus seinem Anliegen einer radikalen Selbstkritik der Philosophie. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dabei letztlich die falsche Gegenüberstellung von Philosophie als dem Medium der eigentlichen Erkenntnis und Kunst als dem Medium eines inferioren Begreifens nicht überwunden, sondern nur umgekehrt wird. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 gleich, ob sie nun als schön gilt oder hässlich, zielt auf diesen normativen Bezug zur Wahrheit sowie auf die gesellschaftliche Funktion von Kunst als Reflexionsmedium der kulturellen Selbstverständigung und freier Vergegenwärtigung des Sinns der Gegenwart. Anstatt auf eine ästhetische Wahrnehmungstheorie rekurriert der Grundgedanke einer normativen Philosophie guter Kunst auf die alles andere als selbstverständliche historische Gegebenheit und gesellschaftliche Gegenwart geistiger Freiheit. Eine solche Freiheit des Geistes ist die Voraussetzung für das Wahrheitsgeschehen, das eine Aneignung des Sinns des (unreflektiert buchstäblich) sinnlosen Daseins ermöglicht. Der springende Punkt ist nun, dass zwar die großen Kunstphilosophien von Platon bis Heidegger und Adorno wahre Kunst als Freiheit und Praxis kultureller Selbstreflexion richtig bestimmen, jedoch diese Einsicht in einem metaphysischen Bezugsrahmen steht. Dadurch bleibt die normative Funktion freier Kunst, ihr Erkenntnis- und Wahrheitscharakter, auf ein Absolutes (sei’s die Idee des Schönen, Gott, das Sein oder das Nichtidentische) ausgerichtet und zugerichtet. Die philosophischen, im Kern metaphysischen Ästhetiken verpflichten den Geist der Kunst auf ein Absolutes. Kunst, die auf die Erkenntnis metaphysischer Wahrheiten zielt, ist ›schöne Kunst‹. Schöne Kunst ist trotz ihrer philosophisch richtigen Bestimmung als Erkenntnis von Wahrheit doch der falsche, bloß schöngeistige Begriff des wahren Sinns von Kunst. Mit anderen Worten: Während ästhetische Kunst sinnlose Sinnesreflexivität bietet, liefert schöne Kunst übersinnlichen Sinn potenziell für alles. In einer nachmetaphysischen Zeit wie der unsrigen leistet die Sinnstiftung durch solche Kunst sicherlich ihren Dienst. Aber ein kritisches Denken gibt sich mit metaphysischem Sinn nicht zufrieden und betrachtet diesen als unwahr – als Un-Sinn, der die kulturellen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen unseres heutigen Geistes unvollständig befriedigt. Daraus ergibt sich, um hier vorzugreifen, das Ende der schönen (in Wahrheit aber unsinnigen) Kunst sowie der ästhetischen (in Wahrheit aber sinnlosen) Kunst samt ihrer philosophischen Ästhetik. Um einen (im wahrsten Sinne des Wortes) sinnvollen Begriff von guter Kunst zu fassen, ist sie als freie Erkenntnis unserer selbst zu bestimmen. Das heißt, was Kunst zu guter Kunst macht, betrifft ihren Versuch, Gegenwart zu verstehen und dieses experimentelle Selbstverstehen als historische Wahrheit unserer Jetztzeit zu präsentieren, zu vergegenwärtigen. Erst als diese freie Selbstreflexion auf die Frage der Aktualität kommt der normative Zusammenhang zwischen Freiheit und Wahrheit für den Lebensbereich der Kunstpraxis richtig zum Tragen. Üblicherweise wird in der philosophischen Ästhetik von der Freiheit der Kunst als ihrer Autonomie gesprochen. Dieser verbreiteten Auffassung nach besteht künstlerische Autonomie darin, keinen fremden (lebenspraktischen) Zwecken und keinem ökonomischen Nutzen unterworfen zu sein, um die Möglichkeit zu sichern, tun zu können, was man will und wie man es will. Diese negative Bestimmung ihrer Autonomie hat die Auffassung genährt, dass der Zweck der Kunst nur durch ihre Zweckfreiheit und Nutzlosigkeit realisierbar sei, dass Kunst ihre Freiheit gegenüber der Gesellschaft am eindeutigsten und offensichtlichsten in der subjektiven Beliebigkeit wie allgemeinen Unverständlichkeit ihrer Inhalte und Darstellungsformen beweist. Und nur dadurch, dass etwas dem luxuriösen Sonderbereich eindeutig und unmissverständlich zugeordnet werden kann, der von der gesellschaftlichen Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Realität und der gewöhnlichen Lebenspraxis befreit ist, gilt es als ›Kunst‹. Gleichwohl, wie insbesondere von Marcuse kritisch herausgestellt wurde, bleibt dieser Bereich des Anderen doch Teil des gesellschaftlichen Ganzen. So mag autonome Kunst sich in der Beliebigkeit ihrer Inhalte und Formen ergießen, aber mit einer gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Leistungen kann sie erst dann rechnen, sofern sie angenehme und anregende Ablenkungen von den alltäglichen Notwendigkeiten, sofern sie den Genuss des Schönen bietet, das über das Unschöne des realen Lebens wenigstens zeitweise hinwegtröstet. Mit anderen Worten: Diesen »profanen Schönheitsdienst« (Benjamin) leistet die freie Kunst, indem sie affirmative Kunst produziert, um so ihre Autonomie zu behaupten. Auch vor diesem Hintergrund gibt sich die herkömmliche philosophische Ästhetik als eine schöngeistige Betrachtungsweise der Kunst zu erkennen. Demgegenüber bleibt eine kunstphilosophische Durchdringung des Zusammenhangs von Freiheit und Wahrheit nicht in einer rein negativen Bestimmung künstlerischer Autonomie stehen. Denn geistige Freiheit beinhaltet auch die Freiheit zur kulturellen Selbstbestimmung, d.h. der Möglichkeit der Individuen, sich ein Verständnis darüber zu erarbeiten, was es heißt, hier und heute zu leben. Die Erkenntnis von Wahrheit, die Kunst reflektieren kann, zielt auf die Frage der Aktualität: wer wir selbst sind und welche Bedeutung, welchen Sinn unser Leben hat. (Um jedem Missverständnis entgegen zu wirken: nur in diesem (freiheitlich selbstreflexiven) Sinne soll an dem schalen Begriff der ›Wahrheit‹ festgehalten werden.) Nur sofern die Freiheit des Geistes ihren Sinn und Zweck darin findet, Geist der Freiheit zu sein, der auf die Sinnfrage zielt, ist die Freiheit künstlerischer Praxis auch in einem positiv bestimmten Sinn die individuelle Praxis geistiger Freiheit und der Selbstzweck einer Freigeisterei. Als Aktivität des freien Geistes reflektiert gute Kunst Gegenwart also nicht in Form einer (beschönigenden und verschönten) Abbildung des gesellschaftlichen Seins. Die Reflexionsfunktion freier Kunst lässt sich in dem hier vertretenen Sinne einer kritischen Selbstverständigungspraxis, einer sinnvollen Aneignung und individuellen Gegenwartsdeutung auffassen. Kurz: Ihrem philosophisch sinn-vollen Begriff nach ist unter guter Kunst die freigeistige Selbstreflexion zu verstehen, die die gesellschaftliche Erkenntnis darüber, wie wir uns ›selbst‹ allgemein verstehen, hervorbringt.6 Im Hinblick auf diese Hervorbringung eines Selbstverständnisses ist freie Kunst gut – erklärt sich das allgemeine Gute guter Kunst und beweist sich künstlerische Praxis als eine unerlässliche Form einer für uns alle sinn- und wertvollen Tätigkeit. Nicht die schöngeistige Zweckfreiheit und das interesselose Wohlgefallen des Ästhetischen, sondern im Gegenteil: das eigene Erkenntnisinteresse an 6 Die deiktische Unbestimmtheit der Pronomen ›uns‹, ›wir‹ oder wie an anderer Stelle ›selbst‹, ›heute‹, ›hier‹ etc. verwende ich bewusst, um einerseits eine inhaltliche Unbestimmtheit anzudeuten, deren Bedeutsamkeit allein dadurch gewährleistet ist, dass ihr Sinn frei selbst bestimmt werden kann. Andererseits soll dabei doch die substanzielle Bestimmtheit der historisch veränderlichen, nicht metaphysisch unveränderlichen Zeitgenossenschaft angezeigt sein. Gleichwohl vermeide ich den neuerdings im Anschluss an Goodman viel verwendeten Begriff der Welterschließung, da im Terminus ›Welt‹ zu sehr eine erkenntnistheoretische und metaphysische Ausrichtung mitschwingt. Es geht aber nicht um Welterkenntnis, sondern um die freiheitliche, historisch kulturelle Selbst-Bestimmung, um ein Gegenwartsverständnis unserer ›selbst‹, was den Bezug zu Welt, Natur, Gesellschaft, Vergangenheit, Zukunft, Anderen, Ich u. ä. umfasst. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 einer freiheitlichen Selbst-Bestimmung wie einer kritischen Selbst-Aneignung ist der höchste Zweck geistiger Freiheit, der Selbstzweck guter Kunst. Der Grund dafür, warum anfangs gesagt wurde, die philosophische Reflexion der Kunst sei zugleich eine kritische Selbstbesinnung der Philosophie und eine (individuelle) Weise der sinnvollen Bestimmung ihres Selbstverständnisses als kulturelle Praxis, findet hier seine Bestätigung. Wie gute Kunst, so ist auch gute Philosophie nichts anderes als das (sokratische) Unternehmen freier Selbsterkenntnis und der Versuch, auf die zeitkritische Frage der Wahrheit unseres Lebens nicht metaphysisch, sondern selbstreflexiv zu antworten.77 Nicht nur auf die Frage nach der Kunst und dem Kulturleben, sondern aufs Ganze der Lebenspraxis bezogen, folgt daraus des weiteren: Gute Philosophie reflektiert zum einen die (Sinn-)Frage, wie frei und selbstbestimmt wir tatsächlich leben, und versucht sich darüber hinaus an der Begründung eines richtigen, d.h. verallgemeinerungsfähigen Verständnisses des Guten sowie der lebenspraxischen Bedingungen der Möglichkeit seiner Verwirklichung. Die allgemeine Betrachtungsweise der Kunst (und Philosophie) als freigeistiger Vergegenwärtigung der Gegenwart bestimmt das Gute derselben also darin, die Substanz kultureller Demokratie, nämlich zum einen die lebenspraxische Verwirklichung geistiger Freiheit zu sein. In dieser Hinsicht kann gute Kunst auch als präsente Kunst bezeichnet werden. So verstanden, ist die künstlerische Arbeit kein Luxus der Selbstverwirklichung einer elitären Bildungsschicht, nicht bloß gut für schöngeistige Erbauung, sondern gesellschaftlich notwendige Arbeit. In präsenter Kunst (und Philosophie) ereignet sich zeitkritische Gegenwartsreflexion, geschieht die Arbeit einer »historischen Ontologie unserer selbst« (Foucault). Zum anderen bildet die Praxis des kulturellen Lebens das empfindliche Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft. Wissenschaft, Religion, Kulturindustrie Präsente Kunst stellt nur ein Sinnangebot unter vielen anderen dar, aus denen sich das historische Bewusstsein des kulturellen Selbstverständnisses einer Zeit zusammensetzt. Die Konkurrenz, die von Wissenschaft und Religion einerseits und Kulturindustrie andererseits ausgeht, ist weit mächtiger als der kleine Sektor der freien Kunstproduktion. Zwar geht durch die fachspezifische Arbeitsteilung der verschiedenen Einzelwissenschaften zwangsläufig der Blick fürs Ganze (unserer selbst) verloren. In dem Maße aber, in dem einzelne Wissensgebiete, wie die Informationswissenschaften und Gentechnologien, alle Lebensbereiche durchdringen, vervielfacht sich die Anzahl der publizierten (populär)wissen7 Ursula Wolf fasst diesen Gedanken zusammen: »Das würde heißen, dass es Philosophie und Kunst um dasselbe geht, um Selbstverständigung vor dem Hintergrund der Frage nach dem guten Leben. ... Es gibt hier in der Tat ein Interesse, in dem sich Kunst und Philosophie überschneiden.« (Wolf 1991: 111) Sokrates’ aufschlussreiche Antwort auf die Frage, warum er nicht Musik, sondern Philosophie praktiziert habe, lautet: er hätte ja im Grunde nichts anderes getan als »Musik zu machen, weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist und ich dies doch trieb.« (Phaidon 61a.) Diese auf den ersten Blick enttäuschende Rechtfertigung beinhaltet ja zweierlei: Musik und Philosophie sind lediglich verschiedene Praktiken einer vergleichbaren Beschäftigung. Sokrates persönlich entscheidet sich aber für Philosophie. Letztlich war sogar diese Entscheidung nur vorübergehend und drückte keine prinzipielle Präferenz aus. Im hohen Alter begann Sokrates (mehr schlecht als recht) Musik zu machen (vgl. Diog. Laert II, 32). Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 schaftlichen Bücher, die ein wissenschaftliches Welt- und Selbstverständnis entwerfen. Die zunehmende Verbreitung eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses stellt indes nicht den endgültigen Sieg der Wissenschaften mit ihren absoluten Wahrheitsansprüchen über alle anderen Formen ungesicherten und veränderlichen Wissens dar. Im Gegenteil: Darin kündigt sich die Wiederkehr eines sich selbst absolut setzenden Denkens an. Wie der Mythos, so gibt sich auch die Cyborg-Science als ein totaler und unhinterfragter Sinn- bzw. Funktionszusammenhang zu verstehen, in dem der Mensch nur noch als codiertes Programm vorkommt. Auch gegenüber den massenwirksamen Bindungskräften von Religionen nimmt sich die Sinnproduktion freigeistiger Kunst wie ein Kleinbetrieb aus. Zwar bezahlt der religiöse Glaube mit der Preisgabe der Freiheit eines ungebundenen Geistes und der kulturellen Möglichkeit einer zeitkritischen Selbstbestimmung. Aber Religionen stiften den leichtverständlichen Sinn ganzer Selbstbilder: ein metaphysisch sinnerfülltes, scheinbares Ganzes, in das der Einzelne sich im Prinzip reflexionslos einfügen und unterordnen kann. Einen weiteren Großlieferanten für Lebenssinn stellt der medial vertriebene Zeitgeist. In ihm reflektiert sich der Geist einer Zeit am selbstverständlichsten – gerne im Schönen, wenn auch unfrei. Der fundamentale Unterschied zwischen einer industriell gemachten und vertriebenen, zeitgeistigen (Sinn-)Kultur zu einer selbst gemachten und individuell betriebenen, freigeistigen wird besonders deutlich in dem unterschiedlichen Umgang mit den negativen Seiten der gesellschaftlichen Realität. Die kulturindustriell erzeugte Gegenwart bietet und duldet nur Angenehmes, Glanzvolles, Rühmliches, Erfolgreiches, kurz: alles Schöne und Positive und blendet alles Unangenehme, Elendige, Mangelhafte, Gescheiterte, kurz: alles Hässliche (Unschöne) und Negative aus. Auch gehen kulturindustriell vermarktete Selbstbilder und Werte nicht auf freie Erkenntnis und Wahrheit unserer selbst, sondern bezwecken Erträge und Profitmaximierung. Gerade in der Hinwendung auf solche Negativität und dem Aufzeigen auch seiner kritischen Erfahrungszusammenhänge zeigt sich der emanzipatorische Sinn und Zweck künstlerischer Praxis. Sie hält gegen die kulturindustriell erzeugte Unwahrheit einen Geist der Freiheit und nimmt diesem Unwahren seine reale Übermacht. Gute Kunst macht dies Falsche erkennbar und hält noch der Sinnlosigkeit und Unsinnigkeit des Daseins stand, indem sie diese wiedergibt. Die konstruierte Sinnlosigkeit ›moderner› Kunst8 ist folglich nicht eigentlich Zeichen der Sinnentleerung und Sinnverweigerung, sondern der Versuch einer kritischen Spiegelung realen Seins; der Versuch, das Abgründige zu verstehen, das Unverständliche zu zeigen und einen Irrsinn zu produzieren, der die allgemeine Sinnerwartung in die Irre gehen lässt. In der kritischen Aufklärung ansonsten ausgeblendeter Realitäten und im Standhalten auch gegenüber der Negativität des Daseins bewährt sich und ereignet sich die Wahrheit guter Kunst. Wie das ästhetische, so bringt auch das kulturindustrielle Selbstverständnis keinen kritischen, negatorischen Sinn hervor, sondern liefert im Gegenteil eine schön- und zeitgeistige Ablenkung von der Wahrheit des Ganzen und dessen 8 Bereits Platons radikale Antihaltung zur Kunst erhebt den Vorwurf, sie würde nur negative, kritische Erfahrungen unverschönt darstellen und so aufrührende Wirkungen haben. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Unwahrem (Adorno). In allen ihren Erscheinungsformen, sei’s der Sinnlosigkeit ästhetischer Kunst, sei’s dem metaphysischen Sinn schöner Kunst oder dem zeitgeistigen Sinn kulturindustrieller Selbstverständlichkeiten, wird (Un-)Sinn erzeugt – kultureller Sinn, der das Bestehende beschönigt. Diese Ideologiekritik am affirmativen Charakter von Kulturindustrie und Kunstinstitutionen macht mit der gegebenen Freiheit des künstlerischen Geistes ernst, keinen Unsinn produzieren zu müssen.99 Ist nun, wer diese Kritik äußert, überheblich? Entgegen dem großen Einfluss der Kunstphilosophie Adornos und der sowohl bei Produzenten wie Rezipienten verbreiteten Auffassung, alleine Sinnverweigerung und Unverständlichseinwollen wären Zeichen guter Kunst, muss jedoch hervorgehoben werden, dass sich ihr wahrer Sinn und Zweck nicht in Negativität beschränkt. Es macht vielleicht Sinn, in diesem Zusammenhang zwischen Negativität und Kritik zu unterscheiden. Negatorisch verfährt Kunst (und Philosophie), sofern sie das Negative widerspiegelt, d.h. dies reflektiert und zur Darstellung bringt. Kritisch ist das Selbstverständnis künstlerischer Arbeit zu nennen, wenn es dabei um die Reflexion und Darstellung der Bedingungen und Begrenzungen möglicher Freiheit geht. Kritik, so verstanden, richtet sich nicht nur auf Negatives, sondern beinhaltet auch wesentlich das Utopische und das Aufzeigen von Möglichem und Anderem. Solch positiver Vorstoß der Veränderung aus dem Bestehenden heraus ist im Vollsinn des Wortes avantgardistisch. Die mögliche Negativität von Kunst als ihre ausschließliche Funktion zu begreifen, wäre nur richtig, sofern das gegenwärtige Leben im Ganzen jede Freiheit total unmöglich machte. Dies aber lässt sich nicht sagen, solange dem (eigenen) Denken diese Freiheit gesellschaftlich zugrunde liegt. Die geistige Freiheit zur kulturellen Selbstbestimmung umfasst, gegenüber allem einen (kritischen) Reflexionsprozess zu aktivieren. Unter anderem gehört dazu auch die mühsame Arbeit, dasjenige an der Gegenwart zu begreifen, was »der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt« (Foucault 1990: 53). Statt einer Werkästhetik eine Produktionsästhetik Eine nicht-ästhetische Kunstphilosophie, so habe ich gesagt, verlagert den Schwerpunkt ihrer Grundbegriffe von der Wahrnehmung (des Betrachters von Kunstwerken) zu der Tatsache künstlerischer Produktivität und der individuellen Produktion von Sinn. Der normative Vorrang des künstlerischen Tätigseins leitet sich daraus ab, dass ein nicht bloß ästhetisches Selbstverständnis unserer Gegenwart einzig aus der Produktion und dem Sinn guter, präsenter Kunst hervorgeht. Eine emanzipatorische Philosophie der Kunst reflektiert folglich den universellen Sachverhalt, dass eine demokratische Gesellschaft ihre kulturelle Substanz aufgrund der Praxis der Freiheit im Geiste verwirklicht. Hinsichtlich des normativen Vorrangs der Kunstpraxis und -produktion ist entscheidend, dass Individuen künstlerisch tätig sind, und nicht primär, welche Kunst sie machen. Ihre Arbeit stellt eine freigeistige Reflexion dar als die Hervorbringung von Sinn (Wahrheitsgehalt) durch eine 9 Allerdings ist die moralische Geißelung des ideologischen Gehaltes einzelner Arbeiten oder Bewegungen letztlich wenig ergiebig, weil sie hinsichtlich deren ästhetischen, schön- oder zeitgeistigen Selbstverständnisses ohnehin ins Leere läuft. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 individuelle Aneignung und verständige Vergegenwärtigung unserer Gegenwart. Der individuelle Versuch, ein Verstehen zu präsentieren, thetischen Sinn zu produzieren, lässt sich als der eigentlich poetische Akt präsenter Kunst bezeichnen.10 Entsprechend hält eine aktuelle Kunstphilosophie dem traditionellen Schlüsselbegriff der Ästhetik den der Sinnthetik entgegen: gute Kunst bringt Sinn hervor durch reflexive Aneignung von Gegenwart; dies macht ihre synthetisierende Erkenntnisleistung aus. Sie ›setzt‹ bzw. präsentiert dieses individuelle Verständnis und teilt es so der Allgemeinheit mit; dies ist ihre thetische und tätige Präsenz. Im Hinblick auf die Mitteilung verlangt die Sinnproduktion dem künstlerisch Tätigen die Arbeit eines methodischen, d.h. nachvollziehbaren Selbstverstehens ab. Für den Künstler, die Künstlerin ist diese methodische Reflexion und sinnvolle Selbstbildung auf das hin, um dessen Sinn es dabei geht (gehen soll), der gegenüber Präsentation und Rezeption vorrangige Zweck der eigenen Arbeit. Trotz dieses Primats der individuellen Praxis geht die Kunstpraxis über den selbstzwecklichen Vollzug, über das künstlerische Tätigsein hinaus, insofern der weitere Zweck der Kunstproduktion ihre Präsentation und Rezeption umfasst. Unter grundbegrifflichem Einbezug dieses Mitteilungszwecks ist künstlerische Arbeit genau genommen keine Praxis, sondern eine Poiesis11 – ein Hervorbringen von ›etwas Seiendem‹, dem Sein von freigeistigem Sinn, dessen Wirklichkeit nicht allein im Vollzug dieses Tuns besteht; die Poetologie künstlerischen Tätigseins beruht vielmehr darauf, dass erst in der präsentativen Vermittlung Kunst wird. Erst indem das Produzierte, d.h. der beanspruchte und mitgeteilte Sinn, von Anderen verstanden wird, vollendet sich präsente Kunst. Fehlende Präsentationsmöglichkeiten und Resonanz lassen deshalb die künstlerische Betätigung auch sinn- und zwecklos erscheinen. Poetische Praxis als geistige Tätigkeit zu bezeichnen, schließt keineswegs den sinnlichen, den körperlichen und emotionalen Charakter dieses Tuns aus. Dabei ergibt sich der jeweilige und ganz unterschiedliche Spielraum und Grad an Bewegungsausdruck aus den jeweiligen Kunstformen und Projekten. Sinnthetisch gesehen beinhaltet aber jede künstlerische Arbeit geistige Arbeit. Von daher ist zum einen das Vorurteil zurückzuweisen, eine philosophische Betrachtungsweise, die Sinn und Zweck guter Kunst in ihrer Erkenntnisfunktion bestimmt, führe zu einem kunstfeindlichen Kognitivismus. Zum anderen lässt sich auch die immer noch grassierende Genievorstellung der romantischen Ästhetik vermeiden: zum praxologischen Charakter künstlerischer Arbeit gehört der Umstand, dass alles an ihr eine Sache der Praxis, und das heißt, der Übung und praktischen Erfahrung ist – demgegenüber hilft göttliche Eingebung oder geheimnisvolle Begabung wenig. Um in ihrer Arbeit gut zu sein, müssen Künstler gut werden und ein Selbstverstehen ausbilden können. (Das heißt – um hier späteren Ausführungen vorzugreifen –, die gesellschaftliche Existenz bzw. Wahrscheinlichkeit von guter Kunst hängt wesentlich von den Rahmenbedingungen ihrer Produktion ab.) 10 Wenn ich von individueller Kunstpraxis spreche, beinhaltet dies ausdrücklich auch die Möglichkeit einer kollektiven Praxis (Gruppenzusammenhänge, Netzwerke etc.). 11 Zum Ursprung des Ausdrucks Poesie aus dem griechischen Poiesis: Heidegger 1962: 34 Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 In diesem Zusammenhang gilt es für einen Moment zwischen dem Gutsein von Künstlern einerseits und guter Kunst andererseits zu unterscheiden. Das Gutsein von Künstlern hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, das eigene Selbst-Verstehen allgemeinverständlich zu machen. Dies besagt nicht einfach, dass sie sich anderen mitteilen. In Umkehrung der metaphysischen Auffassung Hegels, der zufolge wahre Kunst »das Allgemeine individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung bringt« (Ästhetik I: 77), besteht die Leistung guter Künstler darin, Individualität zu verallgemeinern, d.h. ein individuelles Verstehen unserer selbst uns (anderen) verständlich zu machen. In solcher individuellen Allgemeinverständlichkeit erkennt eine Gesellschaft einen Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses, reflektiert sie die Wahrheit ihres Seins. Die Allgemeinverständlichkeit der individuellen Praxis Um zu einer solchen individuellen Allgemeinheit fähig zu sein, bedarf es eines allgemeinen Begriffs des Selbst. Für schöne Kunst genügt es, wenn das Künstlersubjekt seine allerpersönlichsten Gefühle und Empfindungen, seine geheimnisvolle Innerlichkeit, subjektive Vorlieben und Eindrücke einer Privatwelt in seinem Werk ›ausdrückt‹. Das rein ästhetische Selbstverständnis basiert auf dem idiosynkratischen Begriff des Selbst als expressiver Innerlichkeit. Für die Produktion guter Kunst bedarf es eines allgemeinen Selbstverständnisses, das das Selbst als etwas von allen gemeinsam Geteiltem begreift und diese allgemeine Lebenserfahrungen zu verstehen versucht. Die Kunstwahrheit bezieht sich demnach auf diejenigen Selbsterfahrungen, deren Erkenntnis das Gemeinsame betrifft, das sowohl mit Anderen geteilt wird als auch hinsichtlich des Verständnisses, wie wir leben, von Bedeutung ist. In diesem Sinn beruht die allgemeine Verständlichkeit und Geltung präsenter Kunst auf der Mitteilbarkeit einer allgemein-gültigen Selbsterkenntnis vermöge des Individuellen freigeistiger Praxis. Diese individuelle Allgemeingültigkeit wird weder durch die Autorität, kraft der Autorenschaft des Produzenten ins Werk gesetzt, noch ist Individualität mit der Innerlichkeit des Künstlersubjekts gleichbedeutend. Sie ergibt sich eigens, sie ereignet sich als das Gelingen guter Kunst im Zusammenspiel von Produktion, Präsentation und Rezeption. Ein weiterer Grundbegriff der herkömmlichen Ästhetik, die künstlerische Phantasie oder Einbildungskraft, ließe sich dahingehend neu bestimmen, dass poetisch tätige Individuen Allgemeines in ihr Selbstverständnis hinein nehmen und aus dieser freien (Hin-)Einbildung die Fähigkeit erwerben, individuelles Selbstverstehen allgemeinverständlich zu machen. Künstlerische Einbildungskraft ist dann freilich nichts anderes, als jene individuelle Allgemeinbildung, die reflektierte Zeitgenossenschaft auszeichnet und Teil geistiger Arbeit und Freiheit ist. Die vorangegangene Beschreibung der freien Einbildungskraft dient der formalen Bestimmung der inhaltlichen Grundlagen künstlerischer Produktivität. Dadurch wird nicht von außen kunsttheoretisch festgelegt, welche konkreten Inhalte der einzelne Künstler durch welche Ausdrucksmittel, Materialien und Methoden zu präsentieren habe. Selbstverständlich bringen bei der Auswahl der Mittel und Darstellungsweisen insbesondere diejenigen Formen und Inhalte eine avancierte, d.h. eine aktuelle Bedeutsamkeit mit sich, die bereits Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 mit einem allgemeinen Vorverständnis und einem zeitgeschichtlichen Sinn aufgeladen sind. Ob und auf welche Weise der präsentierten Kunst eine Verstehbarkeit des arrangierten Zusammenspiels von Form und Inhalt gelingt, reicht in den eigentlichen Bereich künstlerischer Praxis hinein. Gute künstlerische Arbeit ist der Versuch eines gelingenden Zusammenspiels von Form und Inhalt. Dies macht die notwendig experimentelle Eigenart guter Kunst aus. Diese Experimentalität beruht allerdings weniger auf spektakulärer Unkonventionalität, der gestischen Destruktion oder stilistischen Negation traditioneller Vorlagen und kanonischer Vorgaben. Präsente Kunstpraxis ist experimentell, insofern dem Ganzen eine individuelle Konstruktion zugrunde liegt und insofern Form und Inhalt auf eine konzeptuelle Art und Weise ineinander eingearbeitet sind (zum Begriff der Konzeption: Paetzold 1990: 211 ff.). Diese bringt die Sinnthetik der betreffenden Arbeit zur Darstellung, d.h. die Konstruktion versucht das Ganze verstehbar zu machen. Der experimentelle Charakter guter Kunst hängt folglich mit dem erhobenen Anspruch zusammen, ein konzeptuelles Selbstverstehen, eine konstruierte Erkenntnis zu präsentieren. Dennoch versteht sich dieser Geltungsanspruch nicht als absolut. Er zielt auf ein Sinnganzes, dessen methodische Einheit keine Eindeutigkeit verlangt, um allgemeingültig zu sein. Diese (stimmige) Uneindeutigkeit ermöglicht die erforderliche Offenheit einer Rezeption, die Freiraum für das Verstehen, die kritische Auseinandersetzung und eine individuelle Aneignung des Präsentierten lässt. Die Verstehbarkeit von Kunst vollzieht sich über eine Unein-, Mehr- und Vieldeutigkeit ihres Sinns, der sich darin von bloßer Information unterscheidet. Die Experimentalität poetischer Praxis ergibt sich also aus dem Interesse der Produzenten, das Ganze für Andere verstehbar zu machen, und der gleichzeitigen Ungewissheit, ob es so, wie es präsentiert wird, wirklich für Andere auch Sinn macht und ein Selbstverstehen bewirkt. B. Präsentation und erlebtes Sein von Sinn Aus dem praxologischen Vorrang des künstlerischen Tätigseins leitet sich eine Kritik an der grundbegrifflichen Fixierung auf Kunstwerke und ihre Wahrnehmung ab. Eine kunstphilosophische Betrachtungsweise setzt anstelle des Werkbegriffs der herkömmlichen philosophischen Ästhetik den Begriff der Präsentation. Dieser soll dem performativen Charakter künstlerischer Praxis und projekt- bzw. prozessartigen Kunstformen und Aktivitäten entgegenkommen. So muss nicht länger an der falschen Vorstellung festgehalten werden, wonach Kunstproduktion sich notwendig in einem gegenständlichen Objekt, einem fertigen Produkt, einem abgeschlossenen Werk zu vollenden hat. Indem Kunst zur Präsentation kommt, tritt sie ins öffentliche Sein, wird sie präsent. Und nur sofern produzierte Kunst sich auch präsentieren kann, kann sich überhaupt herausstellen, ob und inwieweit sie gut oder schlecht ist. In der Präsentation von (bestenfalls guter) Kunst wird reflektierte Gegenwart vergegenwärtigt, kommt wahrer Sinn ins allgemeine Leben. In der Präsentation guter Kunst ereignet sich sinnerfüllte Gegenwart. Die Lebendigkeit des kulturellen Lebens einer Gesellschaft zeigt sich demnach einerseits in dem Grad der realen Präsenz künstlerischer Präsentationen und andererseits im alltäglichen Erleben sinnerfüllter Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Gegenwart (vgl. Schustermans Ausführungen zur HipHop-Kultur, 1994: 157 ff.). In der alltäglichen Präsenz guter Kunst können die Beteiligten im vollen Sinn die Sinnlichkeit des Sinns des Seins tatsächlich erleben. Diese mit Sinn erfüllte Erlebnisdichte teilt die freie Kunst mit ihrem großen Bruder, dem Mythos. Während ihr freilich die Erhabenheit des Mythos, dessen Allmacht der totalen Sinnerfüllung und seiner alleinigen Herrschaft über den gesellschaftlichen Sinnhorizont fehlt, hat sie diesen Erlebnis- und Festcharakter der kontemplativen Schwere der begrifflichen Reflexion allemal voraus. Hinsichtlich ihrer freiheitlichen Selbstdefinition lässt sich für eine demokratische Gesellschaft daraus, wie wir noch sehen werden, der kulturpolitische Auftrag ableiten, solche Präsentationsmöglichkeiten zu gewährleisten und zu fördern. Das oberste Kriterium hierfür ist die öffentliche und unvorbestimmte Zugänglichkeit und Benutzbarkeit von geeigneten Präsentationsstätten. Wie weit die bestehende staatliche Kulturpolitik und die subventionierten Kunstinstitutionen von diesem Selbstverständnis entfernt sind, zeigt die unglaubliche Diskrepanz des Umfangs der Produktions- und Präsentationsförderung von so genannter Hochkultur (etablierter Kunst) im Vergleich zur so genannten Subkultur (junger Nachwuchskunst). C. Rezeption: Verstehen statt Wahrnehmen Trotz des normativen Vorrangs der künstlerischen Praxis besteht ein faktisches Übergewicht ihrer Präsentation und Rezeption bzw. ihrer präsentativen Vermittlung. In den traditionellen Ästhetiken sind diese beiden analytisch zu unterscheidenden Ebenen zumeist vermischt. Aber ihre ontologische Differenz hat eine zentrale Bedeutung für die philosophische Betrachtungsweise von Kunst. Denn die individuelle Beurteilung einer Arbeit bezieht sich nicht auf den Sachverhalt, dass Kunst machen ein Gut für sich sei. Künstlerische Praxis ist gut für den so Tätigen, insofern in diesem Tätigsein eine freigeistige Selbsterkenntnis und Lebenspraxis verwirklicht bzw. die Wirklichkeit der sinnvollen Aneignung eines individuellen Gegenwartsverständnisses ein Allgemeingut wird. Darüber hinaus ist freie Kunstproduktion als Verwirklichungsgeschehen geistiger Freiheit gut für alle und ein demokratisches Gut, insofern es dabei um den unersetzlichen Versuch geht, von der Freiheit des Geistes zum Zwecke einer allgemeinen Selbstverständigung öffentlichen Gebrauch zu machen. Welche Bedeutung und welchen Wert Kunst im einzelnen für die kulturelle Selbstbestimmung der Allgemeinheit hat, muss sich herausstellen können. Die gewöhnliche Kunstrezeption betrachtet das voraussetzungsvolle Faktum, dass Individuen existieren, die für poetische Praxis tätig sind und für sich und die Allgemeinheit freigeistige Kunst produzieren, unbedacht als etwas Selbstverständliches. Eine philosophische Reflexion der Kunst nimmt die gesellschaftliche Gegebenheit und individuelle Tatsache künstlerischen Tätigseins nicht für selbstverständlich; sie expliziert vielmehr die konstitutiven Voraussetzungen für die Faktizität dieser Praxis. Was aber im Einzelfall gute, was schlechte, was schöne, was unsinnige, was ästhetische Kunst ist, welche Kunst als wahre Erkenntnis verstanden, welche als nur schöner Schein genossen wird – darüber urteilt der einzelne Rezipient und die interessierte Öffentlichkeit, die die Einzelnen zusammen als Allgemeinheit bilden. Während ästhetische Kunst lediglich Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 ein interesseloses Wohlgefallen zu wecken hat und zu einem schöngeistigen Kunstgenuss genügt, verlangt präsente Kunst ihren Rezipienten ein reflektiertes, ebenso freigeistiges Erkenntnisinteresse ab. Die Rezeption guter Kunst gelingt nicht, wie dies vielleicht für ästhetische Kunst der Fall sein mag, in der künstlich zweckfreien Einstellung eines interesselosen Wohlgefallens. Die Rezeption wahrer Kunst verlangt ein Verstehen und die Erkenntnis ihres Sinns. Die Kunstrezeption kann dann nur unter der Voraussetzung einer individuellen Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung gelingen. Nicht durch die ganz beliebige, bloß schöngeistige Haltung wird etwas zu Kunst; gute Kunst ist überhaupt nur, indem sie individuell, d.h. bei jedem rezipierenden Individuum neu, verstanden wird. Im Kunstverstehen, im Verstandensein der präsentierten Kunst beruht deren Sinn, deren Wahrheit. Dann ist die individuelle Erkenntnis (von Seiten der Rezipienten) ein Verständnis der individuellen Erkenntnis von Gegenwart (von Seiten der Produzenten). Künstler, die ihre Präsentationsmöglichkeit nicht einfach dafür nutzen, die von ihnen verfertigte Arbeit in Kunsträumen »abzustellen« (Beuys), sondern die situative Präsenz und Aktion der Kunst derart gebrauchen, dass die anwesenden Rezipienten (das Publikum) einen Bestandteil der Produktion bilden, radikalisieren die Erkenntnisfunktion von freier Kunst – solche partizipative Praxis legt den Wahrheitskern der Kunst, den Verständigungsprozess, für die anwesende Allgemeinheit gleichsam zum Anfassen und Begreifen frei. Diese Kunstpraxis funktioniert, falls sie funktioniert, als die ereignishafteste Aneignungsform freigeistigen Sinns. Sinn für Kunst Die hier präsentierte philosophische Betrachtungsweise der Kunst ist zwar eine voraussetzungsvolle und darin anspruchsvolle Betrachtungsweise, die Kunst als Quelle der Selbsterkenntnis ernst nimmt, dabei aber doch eine alltägliche. Sie interessiert sich für Kunst nicht aus dem unsinnigen Motiv der bloßen Erbauung. Ein alltägliches Kunstinteresse und ein Alltagsverständnis künstlerischer Arbeit beruht auf der Tatsache, dass der Umgang mit Kunst einen wesentlichen Bestandteil der Lebenspraxis der betreffenden Rezipienten ausmacht. Aus der eigenen künstlerischen Tätigkeit oder aus den individuellen Erfahrungen, die in einem alltäglichen Umgang mit Kunst gesammelt werden, gehen kunstwissenschaftliche Kenntnisse hervor. Aus diesem theoretischen und praktischen Kenntnisreichtum entsteht eine individuelle Kunstverständigkeit, die in Verbindung mit einem philosophischen Kunstbegriff das ergibt, was man den Sinn für Kunst nennen könnte. Wie nun die Wahrnehmung schöner Kunst eine ästhetische Einstellung der Betrachter erfordert, so verlangt das Verstehen wahrer Kunst den kunstsinnigen Habitus. Die Verständlichkeit einer einzelnen Arbeit bzw. der Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern verlangt folglich die Nachvollziehbarkeit ihres Sinns, also der Stimmigkeit des Zusammenspiels von Form und Inhalt. Man versteht das Präsentierte, wenn es, so wie es präsentiert wird, (für einen selbst) Sinn macht, d.h. wenn die Gründe – Schritte, Bestandteile, Aspekte, Abfolgen, Stücke, Momente etc. –, warum es so gemacht wurde, wie es gemacht wurde, der eigenen Kunstsinnigkeit eingängig sind. Die Verständlichkeit der Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Konstruktion ist die Sinnfälligkeit oder Sinnigkeit der Arbeit. Weil diese Sinnigkeit aus dem gelungenen Nachvollzug des konzeptuellen Ganzen resultiert, heißt präsente Kunst verstehen, ihren Sinn zu erschließen und teilhaftig zu werden. Der Rezipient steht dabei Kunst nicht gegenüber, wie der Betrachter einem Bild gegenüber steht. Der für ein Verstehen erforderliche Nachvollzug verlangt keine ästhetische Einstellung, sondern eine reflektierende Teilnahme und einen habitualisierten Kunstverstand. Diese Teilnahme betrifft das Sicheinlassen auf das, was präsentiert ist und verstanden werden will. Im teilnehmenden Verstehen von dessen Wahrheit (dies ist im eigentlichen Sinn das WahrNehmen von Kunst) vollzieht sich gewöhnlicherweise eigenes Präsentsein, selbst erlebte sinnvolle Präsenz. Bei diesem teilhabenden Erleben des Präsentierten handelt es sich nicht um die zurecht zerstörte Aura der Kunstwerke, sondern um die partizipatorische und sinnerfüllte Erfahrung eines Selbstverstehens. Weil das individuelle Verständnis für den Rezipienten bedeutet, einer Selbsterkenntnis, eines Stückes Wahrheit teilhaftig zu werden, ist diese Kunst für die betreffenden Person gute Kunst. Vollzieht sich dieses Verstehen im Rahmen einer (alltäglichen) Präsentation, wird das Kunstgeschehen als selbstreflektierte Gegenwart erlebbar. Um allerdings in einem allgemeinen Sinn gute Kunst zu sein, muss unter allen, wenigstens aber unter mehreren und möglichst vielen, ein Einverständnis hinsichtlich des Sinns dieser Arbeit herrschen. Dieses Einverständnis beruht aber nicht darin, dass der Sinn der betreffenden Arbeit eindeutig und nach allgemeinverbindlichen Regeln und Prinzipien beurteilbar wäre. Damit ist lediglich gemeint und gefordert, dass die betreffende Arbeit ein gemeinsames Verstehen, d.h. eine diskursive Verständigung und sinnvolle Auseinandersetzung, ermöglicht. Denn dies bedeutet, dass tatsächlich eine allgemeine Verständlichkeit seiner individuellen Bedeutsamkeit für unser Selbstverständnis gelingt. Experimentelle Kunst wird gute Kunst also in ihrer allgemeinen Rezeption und findet in diesem gelungenen Allgemeinverständnis ihre faktische Vollendung. Wegen der Verschiedenheit und Individualität der Standpunkte kommt ein allgemeines (Ein-)Verständnis selten zustande. Deshalb ist gute Kunst selten und die meiste Kunst wahrscheinlich schlecht. Während aber ästhetische Kunst, auch wenn sie schlecht ist, immerhin schön sein und allgemein gefallen kann, entwertet sich präsente Kunst, die auf die Wahrheit der Selbstvergegenwärtigung zielt, selbst durch ihre Unverständlichkeit und erscheint dann sinnlos. Dies muss so sein und nimmt der Produktion solcher Kunst auch keinesfalls ihren gesellschaftlichen Wert. Vielmehr gehört es zur Experimentalität künstlerischer Praxis, dass der individuelle Versuch, eine Erkenntnis erkennbar zu machen, am allgemeinen Unverständnis scheitert. Letztlich zählt jedoch nicht das faktische und wahrscheinliche Übergewicht an guter oder schlechter Kunst, sondern der normative Vorrang der Produktion künstlerischer Arbeiten. Zwar entscheidet einzig die individuelle Rezeption als Akt einer selbstreflexiven Eigenleistung über ein Verstehen oder Nichtverstehen, jedoch findet durch Kunstinstitutionen, Kunstmarkt und Kulturindustrie eine Vorbeurteilung des produzierten Sinns bzw. eine Vorinformierung und Vermittlung der allgemeinen Rezeptionsweise statt. Dieses institutionelle Vorverständnis ebenso wie die kulturindustrielle Sinnproduktion können hilfreich sein. Weil meist aber neben dem Erkenntnisinteresse immer auch Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 ökonomische und kunstwissenschaftliche Interessen hineinragen, gewinnt anstelle des Kriteriums der freigeistigen Experimentalität die schön- und zeitgeistige Konsumierbarkeit an Übermacht. Dass also etwas allgemein nicht als gute Kunst gilt, muss keineswegs an der künstlerischen Qualität der Arbeit liegen. Stattdessen kann es sein und ist es historisch gesehen auch oft der Fall, dass gute Kunst von der Allgemeinheit nicht verstanden und verkannt wird, obwohl in ihr ein Stück erarbeitete Wahrheit der Zeit verborgen liegt. Ästhetische Utopie und emanzipatorischer Avantgardismus Im Mittelpunkt des emanzipatorischen Selbstverständnisses der neomarxistischen Kunsttheorie steht die auf Schiller zurückgehende Idee einer ästhetischen Utopie (vgl. Paetzold 1974). Diese Hoffnung, derentwegen die Philosophie sich der Kunst und ihren avantgardistischen Bewegungen zuwendet und sie zum Thema macht, zielt auf die revolutionäre Aufhebung der Kunst in einer neuen Lebenspraxis. Über die gesellschaftliche Veralltäglichung des Ästhetischen, so der Grundgedanke dieser Utopie, vollzieht sich die Verwirklichung von Freiheit im Leben. Die Überwindung des Gegensatzes der Kunst zum Rest der Gesellschaft und die Reintegration der ästhetischen Produktivkraft in die entfremdete Alltagspraxis bildet, bei unterschiedlichen Ausformulierungen im Einzelnen, das gemeinsame politische Programm der avantgardistischen Kunstrichtungen und ihrer Theorie.12 Herbert Marcuse, ein früher und langjähriger Verfechter der Utopie des Ästhetischen, hat sich unter dem Eindruck der schon nach kurzer Zeit einsetzenden gesellschaftlichen Vermarktung und institutionellen Integration der avantgardistischen Kunst der 60er Jahre selbstkritisch das unüberbrückbare Problem dieses Ansatzes klargemacht: eine Veralltäglichung von Freiheit mit ästhetischen Gestaltungsmitteln und künstlerischen Techniken zu verwirklichen, führt bloß zu einer Totalisierung des Ästhetischen in Form einer oberflächlichen Verschönerung der bestehenden Lebensverhältnisse (vgl. Marcuse 1969: 67). So lässt sich die gegenwärtige Totalästhetisierung der postmodernen Gesellschaft als die faktische Einlösung der ästhetischen Utopie der Moderne begreifen. Zugleich bestätigt sich darin Marcuses Einsicht, dass die Veralltäglichung einer Praxis der Freiheit so nicht funktioniert und nicht gedacht werden sollte. Die Befreiung künstlerischer Praktiken aus den begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des Kulturbereichs und ihr grenzenloser Einsatz als gesellschaftliche Produktionskraft führt nicht geradewegs zu einer revolutionären Veränderung der Lebenspraxis, sondern mit ein wenig Mut zum unternehmerischen Risiko zur Gründung einer Werbeagentur. Der Triumph des Ästhetischen demonstriert die subtile Fortsetzung realer Unfreiheit; die reale Aufhebung der Kunst betreibt die Beschönigung des Falschen. 12 Während Peter Bürger (1977) die ästhetische Utopie der historischen Avantgarden als gescheitert betrachtet, halten Paetzold und Schusterman jeder auf seine Art daran fest. Paetzold glaubt in der ökologischen und feministischen Kunst, die an politische Initiativen und soziale Bewegungen rückgebunden sind, ein revolutionäres Potential ausmachen zu können (1990: 232ff). Schusterman arbeitet den mutmaßlichen Avantgardismus der populären Kunst heraus (1994: 109ff). Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Neuer Ansatz – Ethik und Ästhetik: das Leben als Kunstwerk? Vielleicht auch aus diesen Gründen versucht Foucault in seiner Spätphilosophie den emanzipatorischen Impuls der ästhetischen Utopie anders umzusetzen. Nicht länger steht die waghalsige Vorstellung einer Revolutionierung ›der Gesellschaft‹ im Mittelpunkt. Foucault setzt am anderen Pol an – bei der Existenz des einzelnen Individuums. Das avantgardistische Programm beruht demnach auf einer »Ästhetik der Existenz«, bei der es darum geht, das eigene Leben zu einem Kunstwerk zu machen (Dreyfus/Rabinow: 273). In der postmodernen Kultur nimmt diese Ästhetisierung der Existenz die Form einer Stilisierung und Verschönerung des Lebens, eines Dandyismus bzw. eines forcierten Lifestyles an, auch wenn Foucault selber dabei die Neubegründung einer politischen Ethik des Selbst im Blick hatte.13 Buchstäblich umgesetzt, führt eine Ästhetik der Existenz jedenfalls nicht zu einer Aufhebung der Kunst in einer neuen und selbstbestimmten Lebenspraxis, sondern ihrerseits in das absurde Gegenteil: die Negation der eigenen Existenz in Form einer »living sculpture«.14 Wie durch die neomarxistische Theorie einer ästhetischen Utopie der Gesellschaft, so wird auch durch Foucaults Idee einer Ästhetik der Existenz die normative Absicht einer Philosophie der Kunst falsch eingelöst, weil sie die Verwirklichung von zu gestaltender Freiheit in der tagtäglichen Lebenspraxis als die Veralltäglichung des Ästhetischen denkt. Anstatt nun aber diese Hoffnung ganz aufzugeben (z.B. Seel 1985: 332), ist eine richtige Einlösung im Rahmen einer »Philosophie der Praxis«, wie Paetzold zu Recht herausstellt, durchzuführen. Wie ist der Zusammenhang von Freiheit, Kunst und Leben richtig, also nicht-ästhetisch zu denken? Eine Verwirklichung von Freiheit, eine »Praxis der Freiheit« (Foucault), ist nur möglich durch die Lebenspraxis der Individuen. Soweit lässt sich rückblickend Foucaults richtige Einsicht in die revolutionäre Bedeutung der Lebensgestaltung des Einzelnen reformieren. Insofern lässt sich, wie versucht, die Praxis der Kunst bzw. des künstlerischen Tätigseins als die Praxis geistig-kultureller Freiheit verständlich machen. Kulturelle Freiheit verwirklicht sich in der individuellen Praxis freier Kunst und auch nur dadurch, dass Individuen künstlerisch tätig sind. In der künstlerischen Arbeit wird diese (Praxisform der) Freiheit verwirklicht und voll gelebt. 15 Das gesellschaftliche Faktum der Kunstpraxis resultiert aus der freien Entscheidung des Einzelnen, Kunst zu produzieren und dies zu einem wesentlichen Teil der Gestaltung des eigenen Lebens zu machen. Diese individuelle Wahl, das Gute geistiger Freiheit zu wollen und in Form künstlerischen Tätigseins voll zu leben, zeichnet sich als Ethik 13 An anderer Stelle bin ich darauf genauer eingegangen: Harald Lemke, Die schwierige Lebenskunst. Foucault, Schiller und Marcuse über den ästhetischen Begriff der Freiheit, in: Ders., Michel Foucault. In Konstellationen, Maastricht 1995 (www.haraldlemke.de/licht/foucault-art4.htm) 14 Wolf Jahn, Die Kunst von Gilbert & George oder Eine Ästhetik der Existenz, München 1989 15 Ich greife hier auf eine praxisphilosophische Bestimmung eines ethischen Begriffs des Voll-lebens zurück; siehe: Harald Lemke, Freundschaft. Ein philosophischer Essay, Darmstadt 2000, S. 47ff. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 aus.16 Der eigentliche Avantgardismus liegt heute in einem solchen ethischen Individualismus, der Individualethik des künstlerischen Tätigseins. Hier wird ein zentraler Punkt eines philosophischen Verständnisses der Kunst deutlich: der richtige Zusammenhang zwischen Kunst und Leben, zwischen poetischer Praxis und gelebter Freiheit entsteht nicht in der Ästhetik, wie viele Theorien der philosophischen Ästhetik heute glauben machen, sondern aus einer Ethik. Damit ist keine Ästhetisierung des Ethischen in dem Sinn gemeint, dass die Individuen ihr Leben zu einem schönen Werk gestalten. Auch nicht die umgekehrte Version einer Ethisierung des Ästhetischen, der zufolge wir im Umgang mit schöner Kunst unser leibliches Sensorium tätig sein lassen (siehe oben). Man muss sich hier gegenüber den ästhetizistischen Denkgewohnheiten auf kritische Distanz bringen. Der Kunstphilosophie geht es um die Ethik der Künstlerexistenz – nicht als falsch verstandene Lebenskunst, sondern um die ethische Praxis des Einzelnen, Kunst zu leben, und das heißt, wenn die vorgenommenen Überlegungen stimmen: künstlerisch selbst tätig zu sein. In dieser Ethik gehorcht der künstlerisch Tätige keiner moralischen Pflicht oder einem politischen Zwang, vielmehr macht einer Kunst, weil es die Praxis von dem Guten einer freien Selbst-Vergegenwärtigung ist, weil Kunst-leben einen wesentlichen Bestandteil eines Gut-lebens ausmacht. So schließt sich der Kreislauf von guter Kunst und gutem Leben: Die Verwirklichung eines guten Lebens besteht unter anderem in der vollgelebten Praxis geistiger Freiheit. Diese Praxis vollzieht sich in dem künstlerischen Tätigsein als der Prozess der kulturellen Selbstreflexion. Dann bedeutet, als Individuum künstlerisch tätig zu sein und Kunst produzieren zu wollen, eine politische Ethik des Selbst und die teilweise Verwirklichung eines guten Lebens. Praxis der Kunst als individuelle Praxis kultureller Freiheit und Bestandteil einer richtig guten Lebenspraxis Entgegen Kants Auffassung, der zufolge die Beschäftigung mit Kunst durch »völlige Gleichgültigkeit in Ansehung der Existenz« (KdU §2) kennzeichnend ist, und auch entgegen Adornos Resignation gegenüber »dem Abgrund zwischen der Praxis und dem Glück« (1973: 26) machen die vorangegangenen Erörterungen deutlich, dass durch die Gegebenheit einer Ethik des Individuums das Glück von Freiheit in der Praxis von Kunst als Gut für sich tatsächlich gelebt werden kann. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich die Stärke und der Stellenwert einer Kunstphilosophie: sie verhilft zu der weit reichenden Einsicht in den lebenspraxischen Zuschnitt einer Ethik des guten Lebens, der Begrenzungen und eigenen Wirkungsbereiche der Praxisformen gelebter Freiheit. So macht die Gestaltung eines guten Lebens unter anderem die Praxis von Kunst erforderlich, weil künstlerisches Tätigsein und den alltäglichen Umgang mit Kunst zu leben bedeutet, das Gute geistiger Freiheit und 16 An Marx´ Kritik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wurde am stärksten das (produktions-)ästhetische Ideal einer Aufhebung entfremdender Lohnarbeit rezipiert. Richtig an seiner Kritik ist allerdings auch ihre andere, wenig beachtete Seite, nämlich die Begründung des ethischen Ideals einer arbeitsteiligen Lebenspraxis des Individuums, was »mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker werden [zu müssen]«. MEW III:33 Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 kultureller Selbstreflexion zu leben. Das Beispiel der Kunstpraxis verdeutlicht, dass die Verwirklichung von Freiheit lebenspraxisch nicht den spektakulären Charakter historischer Großtaten verlangt. In einigen Lebensbereichen veralltäglicht sich dieses behäbige Wort in ganz unspektakulären Kleinigkeiten täglicher Verrichtungen, Erfolge und Rückschläge. Dieses Tun wird jedoch, wie sich zeigte, berechtigterweise in dem richtigen Bewusstsein gelebt, dass diese Lebensweise gut ist und sein muss. Während sich ästhetische Theorien die Verwirklichung von Freiheit nur so vorzustellen vermögen, dass alles kunstmäßig und alle Künstler werden, verfolgt die Kunstphilosophie, die sich als Teil einer Praxisphilosophie der Freiheit versteht, den Marxschen Gedanken, dass »es keine Maler [gibt], sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen« (MEW III: 379).17 Denn in der künstlerischen Praxis verkörpert sich nicht ›die‹ Freiheit, sondern lediglich deren Verwirklichung in bloß einem und nur in diesem eingegrenzten Bereich der Lebenspraxis des Individuums.18 So verstanden, ist ›Künstler sein‹ kein Beruf, keine arbeitsteilige Existenzform, die aufgeteilt und einigen überlassen wird, die sie für alle anderen erfüllen. Künstlerisch tätig sein bedeutet, in einem Bereich des eigenen Lebens die mögliche Freiheit praktisch und reflektiert selbst zu verwirklichen, mit anderen Worten: Selbst-Bestimmung voll zu leben. Daran hängt die Marxsche Utopie eines vollen Menschseins als einem in selbstbestimmten Formen vielseitiger Lebenspraxis tätigen Individuums.19 Das besagt aber auch: Wer sich nur als ›Künstler‹ versteht und dem eigenen Selbstverständnis nach nur ›für seine Kunst lebt‹, lebt zwar ein Stück Freiheit und teilweise gut, gleichzeitig aber auch eine vereinseitigte, eindimensionale Lebenspraxis und kein vielseitig tätiges und nur so insgesamt gutes und freies Leben. Diese individuelle Ambivalenz gilt auch für den alltäglichen Umgang mit Kunst der kunstsinnigen Rezipienten: einerseits ist ihr Tun sinnvoll und ein Stück gutes Leben, weil sie über Fragen des Sinns des Lebens und der Selbsterkenntnis frei reflektieren. Andererseits kommt es doch ganz wesentlich darauf an, welchen Stellenwert und welche praktischen Wirkungen diese Beschäftigung in der konstellativen Zusammensetzung aller anderen ihrer Lebensaktivitäten hat. So arbeitet die Kunstphilosophie einer kritischen Theorie der praktischen Ethik zu und hält durch ihre Kritik an der philosophischen wie postmodernen Ästhetik eine Dialektik der Aufklärung in Gang. Kunst und Politik Mit ihrer Kritik an einer vereinseitigten Lebenspraxis und dem eindimensionalen Menschen versucht eine aktuelle Kunstphilosophie den revolutionären Auftrag, den die ästhetische Utopie der Kunst auferlegt, noch in einer anderen, politischen Hinsicht zu revidieren. Das normative Potenzial der Kunstpraxis entfaltet seine politische Wirkung dergestalt, dass 17 Vgl. Hans-Christian Dany, Neokollektivistische Ökonomie zum Abgang!, in: Liqueur. Forum Stadtpark Graz, Nr. 1, 1996 18 Die philosophische Problematik liegt in der richtigen Bestimmung dieser Vielseitigkeit lebenspraxischen Tätigseins, so dass hier keine beliebigen (idealistischen, materialistischen, essentialistischen, kulturalistischen, etc.) Lebensaspekte, Verrichtungen, Handlungen aufgeführt werden. Eine richtige Bestimmung allgemeiner (universeller) und lebenspraxischer (ethischer) Lebenstätigkeiten muss aus den spezifischen Praxisformen abgeleitet werden, die für die Verwirklichung eines insgesamt guten Lebens, eines vollen und ganzen Wohllebens, konstitutiv sind. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 durch die Tatsache der individuellen Sinnproduktion die allgemeine Wirklichkeit eines Geistes der Freiheit bewirkt wird. Die Arbeit des Künstlers liefert den kulturellen Sinn und so die Substanz des gesellschaftlichen Kulturlebens. Das Politische der Kunst beruht auf der alles andere als selbstverständlichen Tatsache, dass das allgemeine Gute kultureller Selbsttätigkeit individuell praktiziert wird. Als Teil des gesellschaftlichen Ganzen hat diese ethische Lebenspraxis an sich einen politischen Charakter. Denn wer Kunst produziert, praktiziert in einem Lebensbereich eine individuelle Verwirklichung des demokratischen Gemeinguts freigeistig tätiger Selbstbestimmung. Dass das gesellschaftliche Faktum freier Kunstpraxis an sich schon politisch ist und Kunst nicht nur dann politisch ist, wie die herkömmliche Vorstellung künstlerischen Avantgardismus meint, wenn sie sich bestimmten Inhalten (Weltanschauungen, Idealen, Programmen, Traditionen, etc.) verpflichtet, wird durch den Sachverhalt der gesellschaftlichen Notwendigkeit kultureller und freier, selbsttätiger Sinnproduktion bestärkt. Denn wenn, wie gesagt wurde, gute Kunst die unentbehrliche Veranstaltung der demokratischen kulturellen Selbstreflexion der Gegenwart darstellt, dann ist die dafür erbrachte Arbeit kein schöner Luxus, keine private Muße der persönlichen Selbstverwirklichung, sondern in Tat und Wahrheit gesellschaftlich notwendige Arbeit. In diesem Sinne kommt Sokrates in seiner Verteidigungsrede auf den politischen Charakter seiner Kunst zu sprechen. Er rechtfertigt seine philosophische Praxis als kulturelle Tätigkeit mit der Begründung, dass, auch wenn er nicht im engeren Sinn politisch tätig gewesen sei, sein Tun dennoch politische Bedeutung habe und im Grunde genommen die wahre Politik sei. Denn er habe eine Politik der Wahrheit praktiziert und kultiviert, indem er sich als Individuum an der Frage des Lebenssinns und der allgemeinen Reflexion über das Gute und Schlechte, Richtige und Falsche unseres Daseins versucht habe. Statt dafür bestraft zu werden durch Geringschätzung, Verachtung und sogar Tod, fordert Sokrates eine seiner freigeistigen und darin demokratischen Lebensweise angemessene Belohnung. Er fordert für seine wertvolle Unternehmung der philosophischen Praxis »freie Speisung im Prytaneion« (Apol. 37a), mit anderen Worten: staatliche Grundsicherung für Kultur- schaffende, nicht als Almosen und Luxusausgabe, sondern als notwendige und selbstverständliche Entlohnung einer wahrhaft demokratischen Politik (vgl. Bourdieu/ Haacke 1995). Vom Ende der schönen Kunst zur Unendlichkeit der freien Kulturarbeit Dieser Hintergrund wirft ein ganz anderes Licht auf Hegels düstere Prognose des Endes der Kunst. Auf das Richtige darin wurde bereits hingewiesen: Schöne und ästhetische Kunst und ihre sinnliche und gefällige Erkenntnis lassen heute das allgemeine Reflexionsniveau und unsere (frei-)geistigen Bedürfnisse unerfüllt. Ihr Mangel an kritischer selbstreflexiver Zeitgenossenschaft, ihr schöngeistiges Selbstverständnis gleicht sie der kulturindustriell produzierten Zeitgeistigkeit an und lässt einen zeitkritischen Geist der Freiheit unscheinbar werden. Dem Ende der schönen Kunst und der philosophischen Ästhetik steht die unendliche Aufgabe guter Kunst, ihrer philosophischen Reflexion und ihres sinnthetischen Verständnisses gegenüber. Wenn, wie behauptet wurde, in der Konkurrenz zu anderen und Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 ideologischen Sinnproduktionsweisen einzig von guter Kunst eine freigeistige, demokratische Vergegenwärtigung unserer Gegenwart geleistet wird,19 ergibt sich daraus eine nachhaltige Aufwertung dieser kulturellen Praxis. Die freigeistige künstlerische Beantwortung der »Grundfrage des Menschen« (Wolf) bedient sich eines Sinns, der ständig einer zu erneuernden Erfüllung bedarf, der nicht absolut und ewig gleich feststeht, sondern seine Substanz nur der Arbeit gegen seine Entleerung verdankt. Gute Kunst ist historische Wahrheit im Freiraum eines metaphysischen Vakuums. Daraus ergibt sich wiederum das prinzipiell unendliche Arbeitsaufkommen einer kulturell voll gelebten Demokratie in Form individuell selbsttätiger Kunstpraxis. Das Gute an einem solchen künstlerischen Tätigsein auf den Begriff zu bringen, ist Sinn und Zweck und Rechtfertigung einer Philosophie der Kunst. Die notwendige begriffliche Arbeit zu leisten, macht sie – um Paetzolds Forderung einer Fortsetzung des utopischen Denkens kritischer Theorie nachzukommen – »zum Teil einer umfassenden Philosophie der Praxis« (Paetzold 1990: 219). Von der Kunstphilosophie zur Kulturpolitik Aus der Einsicht in den gesellschaftlichen Wert und in die Notwendigkeit der kulturellen Arbeit von Kunst (und Philosophie) lassen sich einige Prämissen für ein richtiges Verhältnis zwischen Staat und Kultur bzw. gute Kulturpolitik ableiten. Aus der demokratischen Selbstdefinition eines politischen Gemeinwesens ergibt sich (auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht) sein eigenes Interesse und die allgemeine, gesellschaftliche Verpflichtung einer nachhaltigen und ausreichenden Gewährleistung und Förderung experimenteller Kunst als einer den anderen traditionellen Formen gesellschaftlicher Arbeit gegenüber gleichwertigen und gleichwichtigen, aber im wesentlichen Unterschied zu ihnen freiwilligen (Kultur-)Arbeit.20 Demgegenüber kennzeichnet es die schlechte Kulturpolitik, ihr Verhältnis zur freien Kunst zu moralisieren und in diesem Sinn falsch zu politisieren, so dass Kunst unter Gesichtspunkten bestimmter Inhalte (Partei-Interessen, Weltanschauungen, Ideale des Schönen und Ästhetischen, etc.) bewertet wird, anstatt lediglich die erforderlichen äußeren und lebenspraxischen Bedingungen zu er-möglichen, dass gute Kunst produziert werden kann. Schon Platons konservative Kulturpolitik rechtfertigt, Kunst nur dann staatlich zu fördern, 19 Man missversteht den kulturellen und gesellschaftlichen Wert freier Kunst und ihre normative Bedeutung hinsichtlich der Beantwortung der Sinnfrage und der Befriedigung des Sinnbedürfnisses, sobald man dies nicht im Zusammenhang der Sinnangebote ihrer Konkurrenten sieht. Ohne diesen Zusammenhang, also zusammenhanglos betrachtet, führt freilich der Versuch, die gesellschaftliche Funktion von Kunst in ihrer Sinn stiftenden Funktion zu bestimmen und der »Kunst die neue Rolle der Verwalterin der Sinnfrage« (Wolf 1991: S.120) zuzuschreiben, zu einer falschen Remythologisierung der Überbauleistungen der Kultur und deren Bewusstseinsarbeit. 20 Gegenüber neoliberalen Tendenzen stellen Bourdieu und Haacke zu Recht mit allem Nachdruck die kulturpolitische Verantwortung des Staates heraus (vgl. Bourdieu/ Haacke 1995). Demgegenüber entwirft Martha Nussbaums »aristotelischer Sozialdemokratismus« mit dem »Schutz der Künste als wesentlicher Voraussetzung für die Entfaltung der Phantasie und der Gefühle sowie als Quelle der Freude« (Nussbaum 1999: 65) ein eher jämmerliches kulturpolitisches Programm. Zu Einzelheiten einer demokratischen Kulturpolitik: Lemke, Grundsätze und Selbstverständnis einer guten Kulturpolitik, Vortrag gehalten auf Einladung der Bundesarbeitsgemeinschaft »Kultur« Der GRÜNEN/ BÜNDNIS 90, 1998 (zugänglich unter: www.harald lemke.de/frage/) Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 wenn die Künstler das scheinbar Schöne des gesellschaftlichen Seins zur Anschauung bringen.21 Eine emanzipatorische Zielsetzung staatlicher Kunstförderung liegt demnach nicht in schöngeistiger Repräsentationskultur, die sich die Allgemeinheit leistet, um zu zeigen, dass sie sich den gesellschaftlich nutzlosen Luxus von »höheren Genussmitteln« gönnt. Die kulturpolitische Verantwortung des Staates besteht vielmehr darin, die Grundversorgung der kulturellen Bedürfnisse hinsichtlich der Erfüllung der Sinnfrage zu bieten, um so einen freigeistigen Begriff von sich selbst zu gewinnen. Solche substanzielle Ermöglichungspolitik der Kunstpraxis, Kunstproduktion und Kunstpräsentation verstünde sich als eine gute kulturpolitische Fortsetzung der individuellen Ethik mit staatlichen Mitteln. Literatur: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973 Luc Boltanski: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 Pierre Bourdieu und Hans Haacke: Freier Austausch. Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, Frankfurt am Main 1995 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, 1972 Hans-Christian Dany: Neokollektivistische Ökonomie zum Abgang!, in: Liqueur. Forum Stadtpark Graz, Nr. 1, 1996 Michel Foucault: Was ist Aufklärung?, in: (Hg.) Axel Honneth, Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1990 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, Frankfurt am Main 1986 Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962 Wolf Jahn: Die Kunst von Gilbert & George oder Eine Ästhetik der Existenz, München 1989 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft Harald Lemke: Grundsätze und Selbstverständnis einer guter Kulturpolitik, Vortrag, gehalten auf Einladung der Bundesarbeitsgemeinschaft »Kultur« Der GRÜNEN/ BÜNDNIS 90, 1998 (http://www.gruene.de/bag.kultur/posit.htm) 21 Die Motive von Platons radikaler Kunstfeindschaft liegen bekanntlich weniger in einer prinzipiellen Geringschätzung der Kunst als in seiner Enttäuschung darüber, dass Kunst einen höheren Stellenwert und größere Resonanz bei der Allgemeinheit hatte als sein eigenes Metier, die damals noch junge und nicht etablierte Philosophie. Seine Polemik zielt auf eine Abwertung der Arbeit seiner Künstlerkollegen – und seiner eigenen »Jugendliebe« (Pol. 607e), der Dichtung –, um seine philosophische Reflexion aufzuwerten. Dafür schlägt Platon vor, die Künstler und Kunstfreunde mögen doch »in ungebundener Rede« über den gesellschaftlichen Wert von Kunst sprechen, also in einen philosophischen Disput mit ihm treten und ihn mit Argumenten überzeugen. Das aber heißt, sie müssten im Medium der Philosophie ihre Kunst verständlich machen. Was nicht geht. Folglich konstatiert Platon, dass sie eine Verteidigung und begriffliche Darstellung des gesellschaftlichen Wertes ihres Treibens »nicht zustande bringen«. – Bei dieser atemberaubenden Beweisführung, Platon nennt sie nicht ohne Selbstironie einen »Zauberspruch« (Pol 608a4), spielt er den Vorteil der Philosophie, den diese gegenüber den anderen Künsten hat, aus, denn den eigenen Wahrheitsanspruch und das versuchte Selbstverständnis gegenüber Anderen argumentativ und in Form von Gesprächen vertreten und Inhalte im allgemeinen Mitteilungsmedium der Rede präsentieren zu können, macht die Eigenart der philosophischen Reflexion, ihrer begrifflichen Arbeitsweise und ihrer Kunst aus. Harald Lemke, Zu einer nicht-ästhetischen Philosophie der Kunst; erschienen in: Infection Manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit, No. 5, 2004, S. 7-24 Harald Lemke: Jeder Mensch ist ein Kochkünstler oder Joseph Beuys' Wohnküche als Erdstation einer revolutionären Lebenskunst, in: Mitteilungen des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens, Nr. 12, Heidelberg 2004 Harald Lemke: Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik, Nietzsche-Forschung VI 1999 Harald Lemke: Michel Foucault. In Konstellationen, Maastricht 1995 Harald Lemke: Texte unter: www.haraldlemke.de Herbert Marcuse: Über die Befreiung, Frankfurt am Main 1969 Karl Marx: Die deutsche Ideologie, MEW III Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main 1999 Heinz Paetzold: Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne, Wien 1990 Heinz Paetzold: Neomarxistische Ästhetik: Bloch – Benjamin – Adorno – Marcuse, Düsseldorf 1974 Richard Schusterman: Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1994 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, 1985 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung, in: (Hg.) Koppe, Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt am Main 1991, S. 36ff Wolfgang Welsch: Aisthesis, Stuttgart 1987 Ursula Wolf: Kunst, Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, in: (Hg.) Koppe, Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt am Main 1991, S. 109ff