GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG 12. GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird die Zahl gerontopsychiatrisch erkrankter älterer Menschen stark ansteigen. Diese Entwicklung stellt nicht nur die Träger von Hilfeangeboten, sondern auch die Planungsverantwortlichen in Kommunen und Kreisen vor neue Herausforderungen. Sie müssen im Rahmen ihrer Aufgaben zur Daseinsvorsorge sicherstellen, dass heute und in Zukunft quantitativ und qualitativ angemessene Versorgungsangebote bereitstehen. Das Sozialministerium Baden-Württemberg geht davon aus, dass „etwa bei einem Viertel aller über 65-Jährigen eine psychische Störung vorliegt, die diese in ihrem Wohlbefinden oder in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen beeinträchtigt“.1 Zu diesen Krankheitsbildern gehören Depressionen, Wahnvorstellungen, Suchterkrankungen und Demenz. Bei mangelnder Intervention besteht die Gefahr, dass die Betroffenen in die Isolation und Verwahrlosung geraten. 12.1. Gerontopsychiatrische Erkrankungen 12.1.1. Depression Depression ist im Alter eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Nach der Berliner Altersstudie (1997, Kongressbericht) haben 4,8 % aller Älteren eine schwere Depression und zusätzlich 17,8 % eine nicht näher bezeichnete affektive Störung. Nur etwa 40 % der Erkrankten suchen einen Arzt auf. 70 % der Depressionen kehren wieder (rezidivieren) und 20 % werden chronisch. Jeder sechste Depressive stirbt durch Suizid.2 Altersdepressionen werden häufig ausgelöst durch Verluste von Gesundheit und Selbstständigkeit, von Bezugspersonen und Kontakten, von Rolle, Status und Selbstwertgefühl, von Einkommen und von religiöser Bindung. Ältere verstecken ihre Depression häufig hinter körperlichen Beschwerden wie Schmerzen, Appetit- und Gewichtsverlust, Schlafstörungen und Morgentief. Sie klagen über Vergesslichkeit (Pseudodemenz), reagieren ängstlich, unzufrieden, abweisend und ziehen sich zurück. Sie sind zwanghaft perfektionistisch, eingeschlossen in frühere Denkschemata von Schuld und Versagen. Zur Selbstbestrafung werden sie indirekt selbstdestruktiv, z. B. wenn sie die Nahrung und Hilfsangebote verweigern. 12.1.2. Wahn und Lebensangst Misstrauen und Wahn begleiten sowohl manche psychische als auch körperliche Erkrankung. Sie können aber auch isoliert auftreten. Unter Wahn ist eine Fehlbeurteilung der Realität zu verstehen, die unabhängig von gemachten Erfahrungen als absolute Gewissheit vertreten wird. Durch den Wahn (es gibt verschiedene Arten: z. B. Verarmungs-, Bestehlungs-, Vergiftungs- oder Eifersuchtswahn), der beispielsweise auch in Zusammenhang mit einer Demenz oder schweren Depression vorkommen kann, wird der Betroffene in seiner Lebensweise erheblich beeinträchtigt und eingeschränkt. Ist er z. B. davon unbeirrbar überzeugt, dass Angehörige ständig seine Sachen verlegen oder stehlen, so wird er diesen kaum noch trauen. Letztlich ist es noch unbekannt, warum Menschen einen Wahn entwickeln. Eines gilt aber als sicher: Bestimmte lebensgeschichtliche Ereignisse können zu dessen Ausprägung beitragen. Daher trägt auch die Kenntnis belastender Vorfälle im Lebenslauf des Erkrankten wesentlich zu dessen Verständnis bei und erleichtert den Umgang mit ihm. Meist steckt hinter einem Wahn eine massive, zum Teil existenzielle Lebensangst, die es zu begreifen gilt. Das Gespräch darüber ist für den Kranken hilfreich. Mit ihm über seinen Wahn zu diskutieren und ihn ständig mit der Realität zu konfrontieren, ist aber falsch und kann zur Verstärkung der Symptome führen. Medikamente können zwar zu einer Verringerung der Ängste führen, aber nur selten den Wahn auflösen. Nichtwahnhafte Gedanken und Handlungen zu fördern und zu verstärken, ist häufig die beste Hil71 Die Zahl der psychisch veränderten älteren Menschen hat deutlich zugenommen. GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG fe. Wichtig sind für den Kranken Vertrauen, Geborgenheit und das Gefühl der Zusammengehörigkeit. 12.2. Sozialpsychiatrischer Dienst für alte Menschen (SOFA) Seit 1994 ist der Sozialpsychiatrischer Dienst für alte Menschen (SOFA) auch in Esslingen tätig. Die Nachfrage an SOFA entwickelte sich rasant, und SOFA war bis 2003 mit 1,5 Stellen in der Stadt Esslingen tätig. Eine Reduzierung infolge von Umstrukturierungs-Maßnahmen erfolgte in diesem Jahr von 1,5 auf 1,2 Stellen. Träger von SOFA ist der Landkreis. SOFA betreut und berät ambulant psychisch kranke alte Menschen ab 60 Jahren (bzw. deren Angehörige). Unter den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter finden sich die „Altersverwirrtheit“ (z. B. Alzheimerkrankheit), Veränderungen in der Stimmungslage (z. B. Depressionen), aber auch Verkennungen der Realität, wie Verfolgungsgedanken oder Vergiftungsängste (paranoide Syndrome) sowie offene oder verborgene Suchtmittelabhängigkeit (Alkohol, Medikamente). SOFA unterstützt Angehörige in Form von Einzelberatungen, Familiengesprächen und Angehörigengruppen und bietet für in der Altenhilfe Tätige geronto-psychiatrische Fortbildungen und Fallbesprechungen an. Im Jahr 2003 wurden 69 Patienten SOFA zugewiesen: Die Zuweisungen erfolgten durch Ordnungsamt, Gesundheitsamt, Polizei, Hausärzte, Pflegedienste und die Beratungsstelle für Ältere. Als Erstdiagnose wurden genannt: 23 depressive Syndrome, 16 demenzielle Syndrome, 12 paranoid-halluzinatorische Syndrome, 7 Suchtproblematik, 1 keine/sonstige, 10 unbekannt (in diesen Fällen kam wahrscheinlich kein Kontakt zustande).3 Die gerontopsychiatrische Versor gung im Hinblick auf Diagnose, Behandlung und Betreuung muss weiter ausgebaut werden. 12.3. Psychiatrische Instituts-Ambulanz (PIA) Die Psychiatrische Instituts-Ambulanz an Krankenhäusern gem. § 118 SGB V arbeitet vernetzt im System der Versorgung psychisch kranker Erwachsener. Ihr Angebot richtet sich an Versicherte, die von anderen Versorgungsangeboten nur unzureichend erreicht werden. Darüber hinaus kann PIA dazu beitragen, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden und die stationäre Verweildauer ihrer Zielgruppe zu verkürzen. Der Träger der PIA stellt sicher, dass die für die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung erforderlichen Ärzte und nichtärztlichen Fachkräfte sowie die notwendigen Einrichtungen in medizinisch ausreichendem und zweckmäßigem Umfang bei Bedarf zur Verfügung stehen. Die Behandlungsangebote der PIA richten sich an Kranke, die wegen Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung eines solchen besonderen, krankenhausnahen Angebotes bedürfen. Dies gilt besonders für Patienten, bei denen einerseits langfristige, kontinuierliche Behandlung medizinisch notwendig ist und andererseits mangelndes Krankheitsgefühl, mangelnde Krankheitseinsicht oder mangelnde Impulskontrolle der Wahrnehmung dieser kontinuierlichen Behandlung entgegensteht. Ebenso Patienten, die eine psychiatrische Notfallbehandlung benötigen, um ggf. stationäre Behandlung zu vermeiden. Die PIA kann ebenfalls in Anspruch genommen werden von Patienten mit Ersterkrankung, die einen Arztbesuch konsequent ablehnen und durch einen Erstkontakt mit Hausbesuch in eine Behandlung eingebunden werden könnten. PIA behandelt Menschen mit: Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, affektiven Störungen, schweren Persönlichkeitsstörungen, geronto-psychiatrischen Erkrankungen, Suchterkrankungen. 72 GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG Mit einer Außenstelle sitzt PIA seit 2003 in Räumen der Stadt Esslingen in der Ritterstraße 16. BESTAND Die Zunahme von geronto-psychiatrischen Patienten mit einer Depression, Wahnerkrankung, Lebensangst wird insbesondere vom Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen (SOFA) und von der Beratungsstelle für Ältere erkannt. Auf Grund des Krankheitsbildes ist es schwierig, mit einem Pflegeangebot Zugang zu dem Betroffenen zu bekommen. Nur durch genaue medizinische Diagnose und Behandlung durch einen Neurologen, der auch in der Geronto-Psychiatrie kompetent ist, kann eine Behandlung erfolgreich sein. Ergänzend sind kontinuierliche Besuche durch SOFA und die Stärkung des Selbstwertgefühles, um so der Krankheit zu begegnen und weitere Maßnahmen einzuleiten. So ist in Zusammenarbeit mit dem Ev. Krankenpflegeverein Nord und SOFA ein Gruppenangebot für Frauen mit einer depressiven Erkrankung entstanden. Ziel ist es, Kontakte untereinander zu bilden und gemeinsam Veranstaltungen zu besuchen. Die Altenhilfe-Fachberatung hat 1997 den „Arbeitskreis Geronto-Psychiatrie“ ins Leben gerufen. Dieses Gremium verfolgt das Ziel, die Versorgung von geronto-psychiatrisch erkrankten Menschen in der Stadt Esslingen zu thematisieren und dementsprechende Maßnahmen zu konzipieren/umzusetzen bzw. Träger zu beraten. Immer wieder ist die mangelnde Zusammenarbeit und die fehlende Kompetenz der niedergelassenen Ärzte im Bereich der Gerontologie und der Mangel an Neurologen Thema in den Sitzungen. Bei der Versorgung von geronto-psychiatrisch auffälligen Patienten zeigen sich auch die Grenzen der ambulanten Dienste. Bei den oben genannten Krankheitsbildern sind die Mitarbeiter oft überfordert und benötigen Unterstützung. In diesem Zusammenhang ist auch eine Zunahme von verwahrlosten Haushalten festzustellen. Der Arbeiter-Samariter-Bund Esslingen hat seit einem Jahr eine 50-%-Stelle eingerichtet, die insbesondere in verwahrlosten Haushalten tätig ist. Mitglieder des Arbeitskreises sind: Sozialpsychiatrischer Dienst für alte Menschen (SOFA) Psychiatrische Instituts-Ambulanz (PIA) Allgemeiner Sozialdienst Aerpah-Klinik Kennenburg Arbeiter-Samariter-Bund Esslingen Beratungsstelle für Ältere Gesundheitsamt Betreuungsverein Esslingen Krankenhaus-Sozialdienst Geriatrischer Schwerpunkt Ordnungsamt BEDARF Bei der Versorgung von geronto-psychiatrischen Patienten zeigen sich oftmals die Grenzen der ambulanten Dienste. Bei den oben genannten Krankheitsbildern sind die Mitarbeiter oft überfordert und benötigen Unterstützung. Immer wieder ist die mangelnde Zusammenarbeit und die fehlende Kompetenz der niedergelassenen Ärzte im Bereich der Gerontologie und der Mangel an Neurologen Thema in Besprechungen. Eine bessere Zusammenarbeit und ein Denken über die eigene Disziplin hinweg wird häufig als Wunsch geäußert. Ein weiterer Bedarf von Gesprächsgruppen und Angebote für depressive ältere Menschen besteht. Auch eine Integration in die Begegnungsstätten und Bürgerhäuser muss angestrebt werden. 73 GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG Maßnahmen Erhalt des Beratungs- und Begleitungsangebotes von SOFA. Hausbesuche in Zusammenarbeit mit den Ärzten von PIA und SOFA zur Erstellung von Diagnose und Behandlung. Enge Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten, gemeinsame Durchführung von Fortbildungen durch die Kreisärzteschaft. Fortbildungsangebot für die Mitarbeiter der ambulanten Dienste. Ausbau von Gesprächsgruppen für depressive Personen. Integration in Freizeit- und Beschäftigungsgruppen, z. B. in den Begegnungsstätten und Seniorengruppen. 12.4. Demenz Eines der dringendsten altenpolitischen Themen im Zusammenhang mit der Bewältigung von Pflegebedürftigkeit ist das Thema Demenz. Zurzeit leben ca. 1,2 Millionen demenzkranke Menschen in Deutschland. Was ist Demenz? Mit Demenz wird ein fortschreitender Verlust an Gedächtnisleistungen und kognitiven Funktionen bezeichnet, der meist nach mehrjährigem Verlauf in geistigen Verfall mit Verlust der Sprachfähigkeit übergeht und schließlich zur völligen Pflegebedürftigkeit und zum Tode führt. Der Oberbegriff „Demenz“ umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern mit unterschiedlicher Ursache. Rund 60 % der Demenzformen werden der Alzheimerkrankheit zugerechnet, die nicht geheilt werden kann. Etwa 20 % sind die Folge gefäßbedingter (vaskulärer) Erkrankungen, die behandelt werden können. Deshalb ist eine genaue diagnostische Abklärung der Demenzursache wichtig. 12.4.1. Krankheitsbild und Verlauf „Weg vom Geist“ bzw. „ohne Geist“ – so lautet die wörtliche Übersetzung des Begriffs „Demenz“ aus dem Lateinischen. Damit ist das wesentlichste Merkmal von Demenzerkrankungen vorweg genommen, nämlich der Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit. Am Anfang der Krankheit treten kleinere Gedächtnislücken und Stimmungsschwankungen auf, die Lern- und Reaktionsfähigkeit nimmt ab. Hinzu kommen erste Sprachschwierigkeiten; die Erkrankten benutzen einfachere Worte und kurze Sätze oder stocken mitten im Satz und „verlieren den Faden“. Die Kranken werden antriebsärmer und verschließen sich zunehmend gegenüber Neuem. Information und Fortbildung über das Krankheitsbild Demenz bei Älteren, Angehörigen, Fachkräften und Ärzten scheint erforderlich. Im weiteren Verlauf der Krankheit werden die Symptome offensichtlich. Beruf und Autofahren müssen spätestens jetzt aufgegeben werden. Die kranke Person ist bei den Alltagsaufgaben wie Körperpflege oder Nahrungsaufnahme zunehmend auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen. Kennzeichnend für dieses Stadium ist eine hochgradige Störung des Gedächtnisses; nahe Verwandte können nicht mehr namentlich benannt werden, das Zeit- und Orientierungsgefühl geht verloren und die Sprache wird undeutlich und inhaltsleer. 4 Die Erkrankten können ihre Gefühle kaum noch kontrollieren, plötzliche Stimmungsschwankungen, Aggressionen und Depressionen treten verstärkt auf. Im Spätstadium ist der Kranke vollkommen auf Pflege und Betreuung anderer angewiesen. Familienmitglieder werden nicht mehr erkannt, eine verbale Verständigung ist unmöglich. Körperliche Symptome wie Gangunsicherheit, Schluckstörungen und Krampfanfälle treten vermehrt auf, die Kontrolle über Blase und Darm schwindet. Bettlägerigkeit erhöht die Gefahr von Infektionen. Die Kranken sterben häufig an einer Lungenentzündung.5 74 GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG 12.4.2. Zunahme von Demenzerkrankungen in der Bundesrepublik Wenn bundesweit die Zahl Demenzkranker ca. 1,2 Millionen beträgt, so kommen auf die Stadt Esslingen, statistisch heruntergerechnet, rund 1460 Demenzkranke. Verschiedene epidemiologische Untersuchungen haben ergeben, dass rund 5 bis 7 % aller über 65-Jährigen an einer Demenz leiden. Die Häufigkeit der Demenz nimmt mit dem Alter zu. So wird z. B. für die Altersgruppe 65 bis 69 Jahre mit einer Häufigkeit von 2,4 bis 5,1 %, für die Altersgruppe 75 bis 79 Jahre von 10 bis 12 % und bei 80 bis 90 Jahre von 20 bis 24 %, bei den über 90Jährigen über 30 % gerechnet. 12.4.3. Zunahme von Demenzerkrankungen in Esslingen Im Jahr 2004 (gesamt) Anzahl der Dementen (%) Im Jahre 2010 (gesamt) 65 bis 69 Jahre (5826 Pers.) Ø 221 (3,8 %) 65 bis 69 Ø 202 Jahre (3,8 %) (5335 Pers.) 65 bis 69 Ø 181 Jahre (3,8 %) (4761 Pers.) 75 bis 79 Jahre (3290 Pers.) Ø 362 (11 %) 75 bis 79 Ø 406 Jahre (11 %) (3692 Pers.) 75 bis 79 Ø 554 Jahre (11 %) (5035 Pers.) 80 bis 90 Jahre (3879 Pers.) Ø 853 (22 %) 80 bis 90 Ø 1.103 Jahre (22 %) (5013 Pers.) 80 bis 90 Ø 1.226 Jahre (22 %) (5571 Pers.) über 90 Jahre (757 Pers.) Ø 227 (30 %) über 90 Jahre (861 Pers.) über Ø 356 90 Jahre (30 %) (1188 Pers.) Quelle: Anzahl der Dementen (%) Ø 258 (30 %) Im Jahr 2015 (gesamt) Anzahl der Dementen (%) Statistisches Landesamt Baden-Württemberg Bevölkerungsvorausberechnung für die Stadt Esslingen auf der Basis der Bevölkerung zu 31. 12 .2001, Variante mit Wanderungssaldo +300 BESTAND Rund 80 % der Demenzkranken werden von ihren Angehörigen zu Hause betreut. Die Diagnose „Demenz“ bedeutet für die Betroffenen, dass sie aufgrund des fortschreitenden Gedächtnis- und Orientierungsverlustes zunehmend auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Für die Angehörigen heißt das, dass die Verantwortlichkeiten und Aufgaben innerhalb der Familie neu verteilt werden müssen. In einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit benötigen die Betroffenen häufig Betreuung und Ansprache „rund um die Uhr“. Primäres Ziel ist es deshalb, pflegende Angehörige in ihrer Pflege- und Betreuungssituation zu unterstützen, um ein möglichst langes Verbleiben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Welche Art der Unterstützungsmöglichkeiten für Angehörige und Betroffene sinnvoll ist, hängt vom Stadium der Krankheit ab. Die Altenhilfe-Fachberatung hat der Versorgung Demenzkranker und somit auch der Unterstützung pflegender Angehöriger oberste Priorität eingeräumt. So wurden in Kooperation mit ambulanten und stationären Einrichtungen niederschwellige Betreuungsangebote entwickelt und umgesetzt. 75 GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG Ausbau weiterer niederschwelliger, individueller Betreuungsangebote. 12.4.4. Der Schöne Nachmittag Seit 2001 besteht in Esslingen ein „Betreuungsangebot für Demenzkranke“, der den Titel „Der Schöne Nachmittag“ trägt. An jedem Dienstagnachmittag werden demente Personen in einer kleinen Gruppe für drei Stunden liebevoll betreut. Die fachliche Leitung liegt in Händen einer erfahrenen Ergotherapeutin. Sie wird unterstützt von neun bürgerschaftlich Engagierten, die gezielt auf ihre Betreuungsaufgabe vorbereitet wurden und fortlaufend Begleitung durch eine hauptamtliche Mitarbeiterin des Pflegeheims Obertor und der Beratungsstelle für Ältere erfahren. Die Teilnehmerzahl für die Gruppe ist auf acht Personen begrenzt, im Idealfall ergibt sich somit eine Eins-zu-Eins-Betreuung, durch die es gelingt, auch schwerkranke oder auch weglaufgefährdete Personen in die Gruppe aufzunehmen, die im Rahmen konventioneller Tagespflege oftmals nicht zu halten wären. Das Angebot des „Schönen Nachmittags“ möchte: die Angehörigen in der Pflege wenigstens stundenweise entlasten, der psychischen und physischen Erschöpfung entgegenwirken, die Kranken so betreuen, wie es ihrem jeweiligen Krankheitszustand entspricht, die breite Öffentlichkeit für das Thema Demenz sensibilisieren und Hilfepotenziale stärken. Die Betreuung ist geprägt von wertschätzender Haltung gegenüber den Kranken. Vorhandene Fähigkeiten werden unterstützt und gefördert, eine Überforderung oder gar Konfrontation mit den Defiziten wird bewusst vermieden. Die Trägerschaft hat das Städtische Alten- und Pflegeheim Obertor übernommen. Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich auf 13,73 € und ist im Rahmen der Pflegeversicherung entweder als Leistung der Verhinderungspflege oder des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes erstattungsfähig. Die acht Plätze des „Schönen Nachmittags“ sind immer belegt. Es besteht eine Warteliste und es wird Bedarf für eine weitere Gruppe gesehen. Der Evangelische Krankenpflegeverein Oberesslingen hat eine ähnlich konzipierte Gruppe im Januar 2004 gegründet. Er bietet alle 14 Tage eine ebenfalls dreistündige Betreuung für Demenzkranke an. 12.4.5. Samstagstreff für Demenzkranke und Angehörige Im Mai 2004 wurde in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle für Ältere und der Altenhilfe-Fachberatung ein „Treff“ für demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen gegründet. Die Veranstaltung fand einmal im Monat im Bürger- und Vereinshaus in Mettingen statt und ab September 2005 trifft sich die Gruppe im Altenpflegeheim Obertor. Die Leitung der Gruppe liegt in der Hand einer erfahrenen Fachkraft, die mit sieben bürgerschaftlich Engagierten den Nachmittag gestaltet. Die Umsetzung des Projektes wurde durch eine Förderung der Esslinger Bürgerstiftung möglich. Dabei wird viel mit Musik gearbeitet, die in der Fachliteratur als „Königsweg zur Demenz“ beschrieben wird. Mit Musik und Bewegung soll ein Zugang zu den Demenzkranken geschaffen und Erinnerungen an vergangene „gute Tage“ belebt werden. Mit dem Angebot soll den Kranken und den Angehörigen gemeinsam wieder eine „Normalität“ der Begegnung mit anderen ermöglicht werden. Wenn es gelingt, den Kranken mit Musik und Liedern zu berühren, sehen pflegende Angehörige den Erkrankten oftmals aus einer ganz anderen Perspektive und erkennen in ihm die Person früherer Tage wieder. Freude und Spaß am Leben sollen vermittelt werden, damit neue Kraft geschöpft werden kann für den Pflegealltag. Urlaub ohne Kofferpacken und betreute Urlaubswochen Die Evangelischen Krankenpflegevereine Esslingen-Nord und Sulzgries bieten gemeinsam „Urlaub ohne Kofferpacken“ in einem Esslinger Waldheim an. Das Angebot 76 GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG richtet sich an Pflegebedürftige. „Betreute Urlaubswochen am Bodensee“ ist ein Ferienprogramm für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. BEDARF Die prognostizierten Daten weisen darauf hin, dass Menschen mit Demenz zu der Hauptgruppe der Schwerstpflegebedürftigen gehören und in Zukunft gehören werden. Gleichzeitig sind die Versorgungsformen, die derzeit üblich sind, problembehaftet. Es Bedarf vielfältiger neuer Ansätze wie z.B. der Koordination, gegenseitiger Information und Kooperation zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Pflegediensten und Familien. Aber auch neue innovative Versorgungsformen zwischen ambulant und stationär sind auf kommunaler Ebene zu entwickeln. 12.4.6. Früherkennung Bevor Patienten versorgt werden können, bedarf es einer qualifizierten Diagnostik. Dazu ist es erforderlich, dass Memorykliniken, Gedächtnissprechstunden und Gerontopsychiatrische Ambulanzen eingerichtet werden, zumal im Frühstadium der Krankheit wesentlich bessere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Außerdem können Patienten und Angehörige langfristig auf die zu erwartende Änderungen hingewiesen und begleitet werden. 12.4.7. Neue Konzepte In anderen europäischen Ländern haben sich schon seit einigen Jahren Betreuungsmodelle wie z. B. „Wohngruppen für Demenzkranke“ entwickelt, die Alternativen zur traditionellen Versorgung im Pflegeheim darstellen. Diese Modelle werden in der Fachwelt insbesondere aufgrund des positiven Milieus für die Erkrankten als qualitätvolle Versorgungskonzepte angesehen. Das Wohngruppenkonzept ist eine Variante, die für einen Teil der Dementen sicher eine geeignete Versorgungsform darstellt. Wichtiger ist es jedoch, in den vorhandenen Pflegeeinrichtungen geeignete Strukturen zu schaffen, um eine bedarfsgerechte Versorgung der dort lebenden Demenzkranken zu ermöglichen. Zur Unterstützung der Angehörigen sollten Selbsthilfegruppen beim Aufbau gefördert und Gesprächsgruppen begleitet werden. 12.4.8. Finanzierung Die Gruppe der Demenzkranken stellt einen großen, immer weiter wachsenden Anteil an der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit dar. Deshalb war es unerlässlich, den Begriff der Pflegebedürftigkeit im vorrangigen Sozialleistungssystem der gesetzlichen Pflegeversicherung dahingehend zu ergänzen, dass bei Demenzkranken deren Hilfebedarf für die allgemeine Beaufsichtigung und Betreuung in zeitlich begrenztem Umfang zusätzlich berücksichtigt wird. Darauf hat der Gesetzgeber mit der Einführung des § 45 c Abs. 3 SGB XI reagiert. Damit können Angebote, die bei den Krankenkassen zugelassen sind, jährlich bis zu einem Betrag in Höhe von 460 € zusätzlich zu den bisherigen Leistungen der Pflegeversicherung abgerechnet werden. Maßnahmen Auch wenn in den letzten Jahren in der Stadt Esslingen eine Reihe von Unterstützungsmaßnahmen für Demenzkranke und ihre Angehörigen aufgebaut worden sind, so muss nun eine Gesamtstrategie erarbeitet werden, die insbesondere die Bereiche Prävention und Kooperation mit Ärzten beinhaltet. Die wichtigsten Prinzipien für die Ausgestaltung der zukünftigen Versorgung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Aufbau eines Angebotes zur Früherkennung, z. B. durch eine Gedächtnissprechstunde oder Geronto-psychiatrische Ambulanz. Träger könnte die Psychiatrische Instituts-Ambulanz (PIA), der Sozialpsychiatrische Dienst für alte Menschen (SOFA) sein oder die Geriatrische Klinik Kennenburg. 77 Informationsund Motivationsarbeit ist erforderlich, damit Angehörige die Angebote in Anspruch nehmen und sich dadurch entlasten. GERONTOPSYCHIATRISCHE BETREUUNG UND VERSORGUNG Integration neuer Angebote in ein kommunales Versorgungsnetz mit koordinierten Übergängen zwischen den einzelnen Angeboten. Der Ausbau wohnortnaher Angebote ist anzustreben: z. B. Besuchsdienste für Demenzkranke. Die Qualifizierung des Personals ambulanter und teilstationärer Anbieter auch für die Bedürfnisse „schwierig“ zu betreuender Demenzkranker mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten (wie z. B. Weglauftendenzen, Aggressionen, große Unruhe) z. B. durch SOFA. Die Sicherstellung der Qualität geronto-psychiatrischer Betreuungs- und Pflegeangebote ist eine gemeinsame Aufgabe von Kreis, Kommune, Kostenträgern und Anbietern. 1 2 3 4 5 Sozialministerium Baden-Württemberg: 4. Plan zur ambulanten Versorgung, 2004. Lade, Eckhard: Ratgeber Altenarbeit, Teil 10/3. Seite 4, Juni 2002. Sozialpsychiatrischer Dienst für alte Menschen. Wojnar, Jan: Betreuung Demenzkranker. Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern: Die Versorgung Demenzkranker, 2001. 78