Abitur Philosophie 2004 Gk Seite 2 Hinweise für den Schüler Aufgabenwahl: Ihnen werden zwei Prüfungsarbeiten vorgelegt (Block A und Block B). Wählen Sie einen Block aus und bearbeiten Sie diesen. Bearbeitungszeit: Die Bearbeitungszeit beträgt 210 Minuten. Zusätzlich werden 30 Minuten Einlesezeit für die Wahl der Aufgaben gewährt. Hilfsmittel: Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung Sonstiges: Alle Prüfungsunterlagen sind geschlossen zurückzugeben. Entwürfe zur Reinschrift können ergänzend zur Bewertung nur herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa 3/4 des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfasst. Abitur Philosophie 2004 Gk Seite 3 Block A Thema: Metaphysik: Gottesbeweise als philosophisches Problem Textgrundlage: Georg Büchner, Dantons Tod. Ein Drama, Leipzig 1973, S. 50 ff. (Text leicht geändert und gekürzt) Aufgaben: 1. Stellen Sie die Argumente dar, mit denen Payne die Annahme von der Existenz Gottes zu widerlegen sucht. 2. Gegen welches Bedürfnis der Menschen richtet sich Paynes Polemik? 3. Analysieren Sie, ob in Paynes Argumentation eigene metaphysische Ansätze auszumachen sind. 4. Überlegen Sie unter Einbeziehung der folgenden Auffassung Freuds, ob in Paynes Kritik an den Gottesvorstellungen ein Verlust oder eine Chance liegt. „Gewiss wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss hinaus ins ‚feindliche Leben’. Man darf das ‚die Erziehung zur Realität’ heißen (...).“ (Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt am Main 1993, S. 151). Gewichtung der Aufgaben: 3 : 1 : 2 : 4 Abitur Philosophie 2004 Gk Seite 4 In seinem Drama „Dantons Tod“ hat Georg Büchner (1813 - 1837) die Spätphase der Französischen Revolution in eine dramatische Form gebracht. Robespierre vertritt den konsequenten und rigiden, Danton den gemäßigten Flügel. Danton wird des Hochverrats bezichtigt. Im dritten Akt wartet Danton mit seinen Anhängern auf die Hinrichtung. In dieser Situation argumentiert der Engländer Payne folgendermaßen: 5 10 15 20 25 30 35 40 Payne: E s g i b t k e i n e n G o t t, denn: Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht. Hat er sie nicht geschaffen, so hat die Welt ihren Grund in sich, und es gibt keinen Gott, da Gott nur dadurch Gott wird, daß er den Grund allen Seins enthält. Nun kann aber Gott die Welt nicht geschaffen haben; denn entweder ist die Schöpfung ewig wie Gott, oder sie hat einen Anfang. Ist letzteres der Fall, so muß Gott sie zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen haben, Gott muß also, nachdem er eine Ewigkeit geruht, einmal tätig geworden sein, muss also einmal eine Veränderung in sich erlitten haben, die den Begriff der Zeit auf ihn anwenden läßt, was beides gegen das Wesen Gottes streitet. Gott kann also die Welt nicht geschaffen haben. Da wir nun aber sehr deutlich wissen, daß die Welt oder daß unser Ich wenigstens vorhanden ist und daß sie dem Vorhergehenden nach also auch ihren Grund in sich oder in etwas haben muß, das nicht Gott ist, so kann es keinen Gott geben. Quod erat demonstrandum. Mercier: Halten Sie, Payne! Wenn aber die Schöpfung ewig ist? Payne: Dann ist sie schon keine Schöpfung mehr, dann ist sie eins mit Gott oder ein Attribut desselben, wie Spinoza sagt; dann ist Gott in allem, in Ihnen Wertester, im Philosoph Anaxagoras und in mir. Das wäre so übel nicht, aber Sie müssen mir zugestehen, daß es gerade nicht viel um die himmlische Majestät ist, wenn der liebe Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Tripper haben, lebendig begraben werden oder wenigstens die sehr unangenehmen Vorstellungen davon haben kann. Mercier: Aber eine Ursache muß doch da sein. Payne: Wer leugnet dies? Aber wer sagt Ihnen denn, daß diese Ursache das sei, was wir uns als Gott, d. h. als das Vollkommne denken? Halten Sie die Welt für vollkommen? Mercier: Nein. Payne: Wie wollen Sie denn aus einer unvollkommnen Wirkung auf eine vollkommne Ursache schließen? Wer einmal nichts hat als Verstand und ihn nicht einmal konsequent zu gebrauchen weiß oder wagt, ist ein Stümper. Mercier: Ich frage dagegen: kann eine vollkommne Ursache eine vollkommne Wirkung haben, d. h. kann etwas Vollkommnes was Vollkommnes schaffen? Ist das nicht unmöglich, weil das Geschaffne doch nie seinen Grund in sich haben kann, was doch, wie Sie sagten, zur Vollkommenheit gehört? Chaumette: Schweigen Sie! Schweigen Sie! Payne: Beruhige dich, Philosoph! – Sie haben recht; aber muß denn Gott einmal schaffen, kann er nur was Unvollkommnes schaffen, so läßt er es gescheiter ganz bleiben. Ist’s nicht sehr menschlich, uns Gott nur als schaffend denken zu können? Weil wir uns immer regen und schütteln müssen, um uns nur immer sagen zu können: wir sind! Müssen wir Gott auch dies elende Bedürfnis andichten? – Müssen wir, wenn sich unser Geist in das Wesen einer harmonisch in sich ruhenden, ewigen Seligkeit versenkt, gleich annehmen, sie müsse die Finger ausstrecken und über Tisch Brotmännchen kneten? Aus überschwenglichem Liebesbedürfnis, wie wir uns ganz geheimnisvoll in die Ohren sagen. Müssen wir das alles, bloß um uns zu Göttersöhnen zu machen? Ich nehme mit einem geringern Vater vorlieb; wenigstens wird ich ihm nicht nachsagen können, daß er mich unterm Stande in Schweineställen oder auf den Galeeren habe erziehen lassen. Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz: nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir Abitur Philosophie 2004 Gk 45 50 Seite 5 es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in die Schöpfung von oben bis unten. Mercier: Und die Moral? Payne: Erst beweist ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott! - Was wollt ihr denn mit eurer Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was Gutes gibt, und habe deswegen doch nicht nötig, meine Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur gemäß; was ihr angemessen ist, ist für mich gut und ich tue es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt. Erläuterungen: Quod erat demonstrandum: (lat.) was zu beweisen war; Schlusssatz zu einem (mathematischen) Beweis Anaxagoras: griechischer Philosoph (500 - 428 vor Chr.); er nimmt einen unpersönlich gedachten Weltgeist an, der die Weltordnung verbürgt. Der „Urstoff“ ist nach A. eine Vielzahl von kleinsten Elementen, die je nach Art des Dings von verschiedener Zahl sind. Spinoza: Baruch de, holländischer Philosoph (1632 - 1677); S. lehrt, dass Natur und Geist, ihrem Wesen nach identisch, nur zwei Seiten der unendlichen Substanz (Gott) darstellen. Dinge und Menschen sind demnach nur unselbständige Daseinsweisen der göttlichen Substanz. Abitur Philosophie 2004 Gk Seite 6 Block B Thema: Die Chancen der Konsumgesellschaft Textgrundlage: Marion Gräfin von Dönhoff, Von der Kulturgesellschaft zur Konsumgesellschaft, in: Dies., Zivilisiert den Kapitalismus – Grenzen der Freiheit, München 1997. (Text leicht geändert und gekürzt) Aufgaben: 1. Fassen Sie den Text in Thesen zusammen. 2. Überprüfen Sie diese Thesen kritisch auf ihre Stimmigkeit. 3. Erörtern Sie, ob und inwiefern ein „ethischer Minimalkonsens“ geeignet ist, politische Probleme zu lösen. 4. Entwerfen Sie in Abgrenzung zu oder in Übereinstimmung mit den Ideen Dönhoffs einen Lösungsansatz. Berücksichtigen Sie dabei Ihnen bekannte gesellschaftskritische Ansätze. Gewichtung: 2 : 2 : 3 : 3 5 10 15 20 Während der Hitler-Zeit haben wir uns nach dem Rechtsstaat gesehnt, nach Freiheit und Gerechtigkeit. Im östlichen Teil Deutschlands hat man noch vierzig Jahre länger auf diese Segnungen warten müssen. Schließlich war es eines Tages für uns alle soweit; doch nun entdecken wir, daß zwar Voraussetzungen gegeben sind: Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Pluralismus, daß die Gesellschaft aber keineswegs so ist, wie wir sie uns gewünscht haben und wie wir sie auch nach dem Ende des totalitären Regimes für selbstverständlich hielten. Warum ist das so? Was fehlt denn? Worauf haben wir all die Zeit gewartet? Antwort: Auf die civil society, eine zivile Gesellschaft also. Aber was wir bekamen, ist eine reine Konsumgesellschaft, manche sagen, eine Raff-Gesellschaft. Ich glaube, wir müssen uns über eins klar sein: Liberalismus und Toleranz, die Vorbedingungen der civil society, sind dem Menschen nicht von Natur aus angeboren, er muss erst dazu erzogen werden, durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Die Eigenschaften Liberalismus und Toleranz wie auch die Bürgergesellschaft sind ein Ergebnis der Zivilisation. Erst die Aufklärung, der Ausbruch aus der, wie Kant sagt, „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, hat die Voraussetzungen für die Bürgergesellschaft geschaffen. Rule of law, Gewaltenteilung, Pluralismus und Offenheit sind zwar Voraussetzungen, aber sie allein genügen nicht. Es kommt darauf an, was die Bürger daraus machen, auf ihre Gesinnung kommt es an, auf ihr Verhalten, jeder einzelne Bürger ist für das Ganze mitverantwortlich. Wir sehen einer Zeit neuer Ungewissheiten entgegen, und das macht Angst. Im Übrigen, was soll werden, wenn die Arbeitslosigkeit unaufhaltsam wächst, wenn Betriebe nur rentabel werden, indem sie Arbeiter entlassen, Städte nur saniert werden können, wenn sie Angestellte auf die Straße setzen? Abitur Philosophie 2004 Gk 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 Seite 7 Konkrete Probleme hat es immer gegeben. Heute aber gibt es noch etwas anderes, etwas Unwägbares, ganz und gar Unkonkretes, was die Menschen bedrückt, oft ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben. Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug ist ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich: Produzieren, Konsumieren, Geldverdienen. Eine zeitlang war das ganz schön, aber dann spüren plötzlich viele: Dies kann doch nicht der Sinn des Lebens sein. Allen großen Umbrüchen in der Geschichte sind neue philosophischen Erkenntnisse vorausgegangen: Ohne Montesquieus Ideen ist die Französische Revolution nicht denkbar und die Unabhängigkeitserklärung auch nicht. Unser Zeitalter dagegen hat keine geistigen Voraussetzungen. Es gab nur Ideologien, und die sind auch noch pervertiert worden: Die konservative durch Hitler, der alle Wertvorstellungen der Rechten ad absurdum geführt hat, und die der Linken durch Stalins Brutalisierung des Sozialismus. Was übrig blieb, ist die Marktwirtschaft. Als Wirtschaftssystem ist die Marktwirtschaft unübertroffen. Für eine Sinngebung hingegen reicht sie wirklich nicht aus. Sie ist sehr besitzergreifend. Die Marktwirtschaft beansprucht den Menschen ganz und gar und duldet keine Götter neben sich. Ihr Wesen ist der Wettstreit und ihr Motor der Egoismus: Ich muß besser sein, mehr produzieren, mehr verdienen als die anderen, sonst kann ich nicht überleben. Die Konzentration auf dieses Prinzip hat dazu geführt, daß alles Geistige, Kulturelle an den Rand gedrängt wird und immer mehr in Vergessenheit gerät. Was den Kapitalismus und die Marktwirtschaft angeht, so muß man sie unter allen Umständen erhalten und sie nicht abschaffen wollen – sie müssen nur sozusagen zivilisiert werden: Freiheit ohne Selbstbeschränkung, entfesselte Freiheit also, endet auf wirtschaftlichem Gebiet zwangsläufig in einem Catch-as-catch-can und schließlich in dem Ruf nach einem „starken Mann“, der alles wieder richten soll. Im Osten wie im Westen Europas sehen wir die Folgen einer Lebensweise, die nur auf den Eigennutz gestellt ist, ohne Verantwortung für das Ganze. Eine Entfesselung aller Begierden ist unvermeidlich. Nie zuvor hat es so viel Korruption bis in die höchsten Kreise gegeben, überall in Europa werden Minister wegen Korruption aus den Kabinetten entlassen, in Italien wurde ein Ministerpräsident zu acht plus fünf Jahren verurteilt, und in Deutschland wird zur Zeit gegen 1860 Ärzte wegen Bestechlichkeit ermittelt. Das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, daß man sich fragen muß: Kann eine Gesellschaft unter solchen Bedingungen überhaupt leben? Zu allen Zeiten hat es stets jenseits des Sachlich-Positivistischen etwas gegeben, was die Gesellschaft zusammenhielt. In den primitiven Gesellschaften waren es der Ahnenkult oder irgendwelche Traditionen, später dann Religion oder das Bewusstsein gemeinsamer Kultur. In jedem Fall gab es immer etwas, das Verhaltensnormen schaffte, denn ohne sie kann eine Gesellschaft nicht existieren. Ohne einen ethischen Minimalkonsens wird auch die Brutalisierung des Alltags immer weiter zunehmen, schon heute vergeht kein Tag, an dem die Zeitungen nicht berichten, daß jemand erschossen worden ist, weil er irgendeinem im Wege stand. Oder daß Kinder einen Obdachlosen töteten, um mal zu sehen, wie das ist, oder Halbwüchsige einen Farbigen erschlagen, weil der angeblich hier nichts zu suchen hat. Daß es nicht so weitergehen kann, ist klar, das Problem ist nur, auf welche Weise können ethische Werte wieder inthronisiert werden – Autorität hilft da wenig und Verordnungen auch nicht. Gibt es überhaupt noch ein potentielles Reservoir an Gemeinschaftsgefühl, das wieder aktiviert werden könnte? Ich meine, jene Lichterketten, die Millionen Bürger bildeten, um gegen Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren, beweisen, daß Solidarität sehr wohl aktiviert werden kann. Und das immer wieder laut werdende Verlangen nach Partizipation, nach mehr Teilnahme an Entscheidungen, macht dies deutlich. Denn es ist ja nicht so, daß die Bürger der Politik überdrüssig sind. Sie finden nur, daß die Politiker engagiert und entschiedener handeln Abitur Philosophie 2004 Gk 75 Seite 8 sollten. Eines allerdings muß man wissen. Es gibt kein System, das eingeführt, keine Aktion, die gestartet werden könnte, um die notwendige Bewusstseinsveränderung hervorzubringen. Sie kann nur durch die Bürger selbst zustande gebracht werden. Es kommt wirklich auf uns an, auf jeden Einzelnen von uns.