Peter Schäfer Zum Buch von Daniel Boyarin: The Jewish Gospels

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Peter Schäfer
Zum Buch von Daniel Boyarin:
The Jewish Gospels: The Story of the Jewish Christ [i]
♦ Peter Schäfer ist Perelman Professor of Jewish Studies und Professor of Religion an der
Universität Princeton. Sein jüngstes Buch ist The Jewish Jesus: HowJudaism and Christianity
Shaped Each Other (Princeton University Press, 2012).
Dass der historische Jesus Jude war, dass seine Jünger Juden waren und dass die Evangelien
und die Briefe des Apostels Paulus fest im Judentum des 1. Jahrhunderts n. Chr. verankerte
jüdische Schriften sind, all dies ist beinahe zu einem Allgemeinplatz geworden. Nach langen
und erbitterten Kämpfen hat diese Tatsache nicht nur unter den Historikern des antiken
Judentums Fuß gefasst, sondern sogar unter den engagiertesten christlichen Theologen und
auch in jener alten und einflussreichen neutestamentlichen Schule, die versucht hat, die neue
Botschaft des Neuen Testaments weniger einem jüdischen und mehr einem hellenistischen
Hintergrund zuzuweisen. In der Tat ist das Pendel weit in die andere Richtung ausgeschlagen:
Die Gelehrten übertreffen einander darin nachzuweisen, dass Jesus und das Neue Testament
fest auf jüdischem Boden stehen, und zu behaupten, dass nichts in Jesu Botschaft, wie sie im
Neuen Testament ihren Niederschlag gefunden hat, die Grenzen dessen überschreite, was
man im Rahmen des Judentums seiner Zeit erwarten kann.
Die jüngste Stimme in diesem Chor ist Daniel Boyarin. Sein neues Buch hat einen etwas
irreführenden Titel: The Jewish Gospels; denn niemand bezweifelt, dass die Evangelien jüdisch
sind. Aber im Untertitel,
The Story of the Jewish Christ,
macht er deutlich, worum es ihm eigentlich geht: um nichts weniger als die mit viel Getöse
vorgetragene Behauptung, dass die Entwicklung der Christologie im Neuen Testament und in
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der Alten Kirche – das heißt die Lehre, dass Jesus wesenhaft göttlich
und
menschlich ist, der gottmenschliche Messias und Sohn seines Vaters im Himmel – tief in der
vor
neutestamentlichen jüdischen Tradition verwurzelt sei. Theologen nennen ein solches Denken
„binitarisch“, das ist die Vorstellung von zwei wesensgleichen und gleich mächtigen göttlichen
Personen, meist einem „älteren“ und einem „jüngeren“ Gott (oder Vater und Sohn).
Aber Boyarin begnügt sich nicht mit dieser beachtlichen These. Er lässt sich sogar zu der
Aussage hinreißen, dass es selbst das, was die Theologen Trinität nennen (die Lehre von drei
göttlichen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist), schon geraume Zeit vor Jesu Erscheinen
im Judentum gegeben habe. Es lohnt, diese noch kühnere Behauptung wörtlich zu zitieren:
Die Vorstellungen von der Trinität und der Inkarnation sind – jedenfalls im Ansatz – bereits
unter gläubigen Juden zu finden, und zwar lange, bevor Jesus auftrat, um diese theologischen
Ideen sozusagen in sich selbst Fleisch werden zu lassen und seine Berufung zum Messias
anzunehmen.
Jack Miles zitiert diesen Satz in seinem überschwänglichen Vorwort zu Boyarins Buch voller
Ehrfurcht und schreibt dazu: „Die Trinität ein jüdischer Gedanke? Die Inkarnation ein jüdischer
Gedanke? Allerdings! Und wem solche Überlegungen undenkbar scheinen, kann ich nur
dringend raten weiterzulesen.“
Ich habe weitergelesen. Glücklicherweise kommt Boyarin nicht mehr auf den Heiligen Geist und
die Trinitätsthese zurück und konzentriert sich stattdessen auf die binitarische Vorstellung
zweier göttlicher Mächte als festen Bestandteil der vorchristlichen jüdischen Tradition. Ich muss
vorneweg sagen, dass für den mit der Forschung vertrauten Leser diese Überlegung keine
weltbewegende Neuerung ist. Man denkt an die Weisheits- und Logostraditionen, insbesondere
die präexistente Weisheit im biblischen Sprüchebuch und in der nachbiblischen Weisheit
Salomos, oder an bestimmte Texte aus der Qumrangemeinde, darunter vor allem den
sogenannten Selbstverherrlichungshymnus, dessen Held – in den Rang der Engel im Himmel
und sogar über sie erhoben – von Israel Knohl als direkter Vorläufer Jesu beschrieben worden
ist; [ii] und man denkt an Philos subtile Spekulationen über den Logos, der für ihn mit der
intelligiblen Welt identisch war, als dem älteren und über die mit der wahrnehmbaren
Welt unserer Sinne identischen Weisheit als dem jüngeren Sohn Gottes; ferner an das
sogenannte Gebet Josephs, das Origenes zitiert und das ins 1. Jahrhundert n. Chr. datiert wird,
dem zufolge der Erzengel Jakob-Israel vor dem Werk der Schöpfung erschaffen wurde, als
„Erstgeborener alles Lebendigen“ bezeichnet wird und auf die Erde hinabgestiegen ist.
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Jonathan Z. Smith, der eine englische Übersetzung dieser Schrift vorgelegt hat, fasst deren
theologische Bedeutung treffend zusammen: „Eher scheint es so zu sein, dass die Christen
bereits vorliegende jüdische Terminologie aufgegriffen haben, als dass die Juden
christologische Titel nachgeahmt hätten.“
[iii]
Man würde erwarten, dass sich Boyarin auf diese und ähnliche Traditionen stürzen und an der
wachsenden Forschungsliteratur über dieses wichtige Thema beteiligen würde. Aber er macht
nichts dergleichen. Er erwähnt noch nicht einmal die relevante Literatur. Stattdessen tut er so,
als habe er das Rad neu erfunden, und nimmt für sich in Anspruch, die binitarische Theologie
des vorchristlichen Judentums entdeckt zu haben. Entscheidend dafür ist das erste Kapitel, das
die Grundlage offenlegt, auf der das ganze Buch beruht, dass sich nämlich paradoxerweise die
Bezeichnung „Sohn Gottes“ auf den Messias als einen menschlichen König beziehe, während
mit „Menschensohn“ – entgegen allem, was die meisten Christen glauben – der
göttliche
Erlöser gemeint sei, das heißt die göttliche Herkunft des Messias.
Dies ist eine atemberaubende Hypothese. Was den Gottessohn betrifft, begnügt Boyarin sich
mit dem (zutreffenden) Hinweis auf einige Bibeltexte, denen zufolge der Messias der davidische
König Israels, also eindeutig eine menschliche Gestalt ist. Aber mit einem Federstrich wischt
Boyarin all jene vorchristlichen jüdischen Traditionen weg, in denen der Sohn Gottes viel mehr
meint als bloß einen menschlichen König, ganz zu schweigen von den neutestamentlichen
Texten – insbesondere in den Paulusbriefen –, die von Jesus als dem göttlichen Sohn Gottes
sprechen. Typisch für Letztere ist die Erklärung, mit der Paulus seinen Brief an die Römer
eröffnet und die vermutlich auf eine ältere, vorpaulinische Formel zurückgeht: „das Evangelium
… bezüglich seines [Gottes] Sohnes, der von David abstammte nach dem Fleisch und als
Gottessohn eingesetzt wurde in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit durch die Auferstehung von
den Toten, unsern Herrn Jesus Christus“ (Röm 1,3f.). Oder der schöne Hymnus im
Philipperbrief, wo es von Jesus heißt:
Obwohl er in der Gestalt Gottes war,
hielt er nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich
und nahm die Gestalt eines Dieners/Sklaven an,
geboren in der Gleichheit der Menschen. (Phil 2,6f.)
Oder der Hebräerbrief, der gezielt mit der jüdischen Weisheitstradition spielt, wie sie im Buch
der Sprüche und in der Weisheit Salomos erhalten ist:
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Er [Jesus] ist der Abglanz seiner [Gottes] Herrlichkeit
und der Abdruck seines Wesens;
er trägt das All durch sein machtvolles Wort.
Als er die Reinigung von den Sünden bewirkte,
hat er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt;
er ist um so viel erhabener geworden als die Engel,
wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt. (Hebr 1,3f.)
Alle relevanten vorchristlichen jüdischen wie auch die neutestamentlichen Quellen sind
exemplarisch dargestellt und analysiert von Martin Hengel in seinem bahnbrechenden Buch De
r Sohn Gottes: Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische
Religionsgeschichte
, das in vielen Ausgaben und Sprachen erschienen ist.
[iv]
Boyarin scheint es nicht zu kennen.
Was den Menschensohn als eine göttliche Gestalt betrifft, ist Boyarins wichtigster Beleg die
berühmte Vision vom Hochbetagten und dem „Menschengleichen“ (dem „Menschensohn“) im
biblischen Danielbuch, dem Herrschaft, Würde und Königtum für alle Zeit übergeben werden.
Diese Vision bildet das Zentrum von Boyarins Argumentation; wir müssen uns daher näher mit
ihr befassen. Der Text der Vision lautet:
Ich sah immer noch hin, bis Throne aufgestellt wurden und der Hochbetagte Platz nahm.
Sein Gewand war weiß wie Schnee, das Haar seines Hauptes wie reine Wolle.
Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder waren loderndes Feuer.
Ein Strom von Feuer ging von ihm aus.
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Tausendmal Tausende dienten ihm,
zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.
Das Gericht nahm Platz und die Bücher wurden aufgeschlagen. […]
Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen:
Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn.
Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden übergeben Herrschaft, Würde und Königtum, alle Völker, Nationen und Sprachen
müssen ihm dienen.
Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Königtum geht niemals unter.
(Dan 7,9f.13f.)
Da uns Daniel berichtet, dass, obwohl „Throne [Plural!] aufgestellt wurden“, nur der
Hochbetagte (also Gott) Platz nahm, müssen wir Boyarin zufolge schließen, dass der zweite
Thron für den Menschensohn als eine zweite göttliche Person (in menschlicher Gestalt)
reserviert war, einen jüngeren Gott, der neben dem Hochbetagten als dem älteren Gott im
Himmel inthronisiert wurde. Mit dieser Zusammenfassung des Danieltextes gelangt Boyarin
zum gewünschten Resultat, nämlich der These, dass Daniels Menschensohn der jüdische
Vorläufer Jesu Christi – lange vor dessen Geburt – sei, der gottmenschliche Messias, „ein
Abbild, ein Gott, der wie ein Mensch aussieht“. Diese zwei Gottheiten, so versichert uns
Boyarin, seien „schließlich zu den ersten beiden Personen der Trinität geworden“.
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Nicht so schnell! Eine solche Interpretation des Danieltextes – die natürlich von Rabbi Aqivas
Exegese dieses Abschnitts im Babylonischen Talmud inspiriert ist [v] – ist alles andere als
selbstverständlich. Erstens übergeht die Annahme, dass es bei Daniel zwei Throne gebe, einen
für den älteren und einen für den jüngeren Gott, die Tatsache, dass Daniel von einer
unbezifferten Mehrzahl von „Thronen“ spricht, nicht von genau zwei. Der wahrscheinlichste
Kandidat für diejenigen, die – neben dem Hochbetagten – auf diesen Thronen Platz nehmen, ist
der himmlische Gerichtshof, der zu Gericht sitzt und im Danieltext ausdrücklich erwähnt wird.
Zweitens, und das ist noch wichtiger, kann Boyarin nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die Deutung von Daniels Vision, die im Danielbuch selbst von einem Engel geliefert wird, sich
mit seiner eigenen Interpretation nicht gut verträgt. Hier folgt der Schluss der Auslegung des
Engels:
Danach wird der Gerichtshof zusammentreten;
dann wird ihm seine Macht genommen
und ganz und gar vernichtet werden.
Aber das Königtum und die Macht
und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel
wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden;
deren Königtum wird ein ewiges Königtum sein,
und alle Mächte werden ihnen dienen und gehorchen. (Dan 7,26f.)
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Diese Deutung durch den Engel liefert den historischen Hintergrund der Vision: Das Urteil des
Gerichtshofs mündet darin, dass dem gnadenlosen Seleukidenkönig Antiochus iv. Epiphanes
die Macht genommen und als ein immerwährendes Königtum dem Volk Israel (den „Heiligen
des Höchsten“) übergeben wird. Worum es hier in Daniel 7 also geht, ist die konkrete
historische Situation nach 175 v. Chr. mit der seleukidischen Unterdrückung der Juden und der
makkabäischen Erhebung gegen sie, und die Frage nach der Identität des Menschensohns
muss vor diesem historischen Hintergrund beantwortet werden.
Boyarin weist – ganz zu Recht, wie mir scheint – die Möglichkeit zurück, dass der
Menschensohn eine kollektive irdische Gestalt ist, nämlich das Volk Israel, aber er geht nicht
ernsthaft auf die viel wahrscheinlichere Alternative ein, dass es sich bei dem Menschensohn um
den Erzengel Michael handelt, der Israel im Himmel repräsentiert. (Um genau zu sein, erwähnt
Boyarin diese Möglichkeit in einer Endnote, erklärt aber kurz und bündig, dass er gleichwohl
seine eigene Deutung bevorzugt.) Dieser Sichtweise zufolge, die von vielen Forschern
favorisiert wird, antizipiert die Vision vom Hochbetagten und vom Menschensohn, was bald auf
Erden geschehen wird: Michael als
Israels Schutzengel werden Macht und Königtum im
Himmel gegeben als Vorspiel zu der Macht und dem Königtum, die dem Volk Israel auf Erden
übergeben werden – was in der Auslegung der Vision ausdrücklich erwähnt wird –, wenn die
Makkabäer den Seleukidenkönig endgültig besiegt und sein Reich des Bösen zerstört haben.
Dass der Verfasser des Danielbuches die Vision in diesem Sinne versteht, ist unzweifelhaft.
Aber Boyarin weist diese Interpretation als eine vom Autor des Danielbuches erfundene
Allegorie entschieden zurück, mit der dieser „das alte Zeugnis für einen mehr-als-einzigen Gott
unterdrücken wollte“. Daraus folgert er, dass „der theologische Streit, von dem wir glauben, er
sei einer zwischen Juden und Christen, lange vor Jesus bereits innerhalb des Judentums
geführt
wurde“.
Diese Schlussfolgerung lässt den kundigen Leser ratlos zurück, zumal Boyarin im weiteren
Verlauf einräumt, dass die ausdrückliche Erwähnung des Volkes Israel in Daniel 7,27 als das
Gegenstück zum Menschensohn in Daniel 7,14 seine Deutung, dass das Volk Israel in
Wirklichkeit den Menschensohn symbolisiere, unwahrscheinlich macht. Aber er besteht darauf,
dass diese Spannung im Kapitel des Danielbuches angelegt sei: Es habe sich ursprünglich auf
den Menschensohn als ein göttliches Wesen bezogen, aber der Autor/Redaktor des Buches
habe versucht, diese ursprüngliche Bedeutung zu unterdrücken. Boyarin geht sogar so weit zu
behaupten, dass dieser gottmenschliche Menschensohn Daniels „den Christus Jesus“
vorabbilde, ja, mit ihm identisch sei, „der dementsprechend dem Bösen für eine festgesetzte
Zeitspanne übergeben wird“. Mit letzterem spielt er auf Dan 7,25 an – „und sie werden in seine
Hände übergeben eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“ – und behauptet, dass „sie“
sich nicht auf das Volk Israel beziehe, wie eine wörtliche Lektüre des Textes nahelegt, sondern
auf den Menschensohn und dass sogar Jesu Auferstehung nach
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drei Tagen möglicherweise aus einem buchstäblichen Verständnis dieses Abschnitts bei Daniel
hervorgegangen sei.
Den Kirchenvätern hätte eine solche Exegese sicher gefallen, und es sollte mich nicht wundern,
wenn sie sich irgendwo in ihren umfangreichen Werken finden ließe. Aber die Belege, die
Boyarin für sein spezielles Verständnis von Daniel 7 beibringt – in klarem Widerspruch zum
Bibeltext –, sind ziemlich fragwürdig. Um die göttliche Natur des Menschensohnes zu beweisen,
macht er zunächst darauf aufmerksam, dass Wolken in der Hebräischen Bibel ein geläufiges
Attribut göttlicher Erscheinungen (Theophanien) sind und das Kommen des Menschensohnes
auf den Wolken des Himmels ihn folglich zu einem göttlichen Wesen erhebe. Es stimmt, dass
die Wolken ein Gottesattribut sind, wie besonders im Buch Exodus deutlich wird, aber der Satz
„kam mit den Wolken des Himmels“ in Dan 7,13 (auf Aramäisch, nicht auf Hebräisch!) ist
singulär, und nichts hindert uns anzunehmen, dass das späte Danielbuch auf den Erzengel
Michael ein Attribut überträgt, das in älteren Teilen der Bibel Gott vorbehalten ist. Das macht ihn
noch nicht zu einem göttlichen Wesen und schon gar nicht zu einem zweiten Gott.
Des Weiteren beschwört Boyarin die kanaanäischen Götter El und Baal herauf, den alten
Himmelsgott und seinen jüngeren Gefährten, die die Bibel – nicht immer erfolgreich – in einen
Gott zu verschmelzen versuchte, um ihr Ideal eines strikten Monotheismus durchzusetzen. In
der Hebräischen Bibel, behauptet Boyarin, findet sich also die Vorstellung einer Dualität
innerhalb Gottes. Geschenkt – niemand würde ihm hier widersprechen wollen: Diese Dualität
war etwas, was die biblischen Autoren vorfanden und nicht zu bekräftigen, sondern zu
überwinden trachteten. Aber wenn man mit einem solch weit gefassten Verständnis von
Ursprung und Entwicklungslinien operiert wie Boyarin, könnte man beinahe alles, was später im
Christentum erscheint, auf die Hebräische Bibel zurückführen.
Dies ist mehr oder weniger alles, was Boyarins Buch zur Unterstützung seiner fragwürdigen
These zu bieten hat. Das lange Kapitel über den Menschensohn in den Bilderreden des 1.
Henochbuches und im 4. Esrabuch fügt nicht viel Neues hinzu, sondern baut auf der
anfechtbaren Lesung von Daniel 7 auf. Jedenfalls ist schon längst festgestellt worden, dass der
Menschensohn der Bilderreden offensichtlich eine Hauptquelle für die neutestamentliche
Menschensohnvorstellung ist. Und dann ist da noch das Kapitel mit der Überschrift „Jesus lebte
koscher“, das eine neue Interpretation der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den
Pharisäern über das Essen mit unreinen Händen bietet. Boyarin behauptet, Markus beziehe
sich nicht auf die Speisegesetze (kashrut), sondern auf Reinheitsvorschriften, die die Pharisäer
ihren Glaubensgenossen auferlegen wollten, und dass Jesus nicht gegen eine koschere
Lebensführung als solche polemisierte, sondern gegen diese pharisäischen Neuerungen. Kein
seriöser Neutestamentler würde den ersten Teil des Arguments bezweifeln (Jesus wollte die
Speisegesetze nicht abschaffen), und der zweite Teil (Jesus setzte sich mit dem pharisäischen
Konzept ritueller Reinheit auseinander) verdankt sich ganz dem Werk des jungen israelischen
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Forschers Yair Furstenberg.
[vi]
Boyarin schließt sein Buch mit dem Kapitel „Der leidende Christus als ein Midrasch zum
Danielbuch“. Im Wesentlichen behauptet er dort, dass Jesu stellvertretendes Leiden und sein
stellvertretender Tod nicht nur vom leidenden Gottesknecht in Jesaja 53 geprägt sind – davon
kann man ausgehen –, sondern auch von (Boyarins eigenwilliger Deutung von) Daniels Vision.
Die Erwartung eines leidenden und sterbenden Messias soll unter den Rabbinen weit verbreitet
gewesen sein. Boyarin stützt sich für diese Behauptung hauptsächlich auf einen einzigen
Abschnitt im Jerusalemer Talmud, der sich auf die Trauer über den Tod des Messias bezieht
(Boyarins Lesart dieses Textes ist keineswegs so unstrittig, wie er vorgibt), auf die bekannte
Passage im Babylonischen Talmud über den Aussätzigen aus dem Hause Davids (wo Jesaja
53 zitiert wird) und auf eine weitere Stelle, die nur in Raimundo Martinis mittelalterlichem
Pugio Fidei
erhalten ist und die vielleicht (vielleicht aber auch nicht) auf einen Midrasch aus dem 4.
Jahrhundert zurückgeht. Viel ist das nicht.
Was noch schlimmer ist: Boyarin ignoriert völlig den wichtigsten Beleg für ein stellvertretendes
Leiden des Messias Ephraim, den das rabbinische Judentum zu bieten hat, nämlich den
Midrasch
Pesiqta Rabbati
, wo die Vorstellung eines stellvertretenden Sühneleidens des Messias in die jüdische Tradition
zurückkehrt. Diese Texte sind in der jüngeren Forschung eingehend erörtert worden. Dabei hat
man die Auffassung vertreten, dass sie höchstwahrscheinlich in die erste Hälfte des 7.
Jahrhunderts n. Chr. zu datieren und wohl eine späte Reaktion auf die christliche
Inanspruchnahme des stellvertretenden Leidens des Messias Jesus sind. Trifft diese
Interpretation zu, dann gibt es eindeutig nicht die eine einzige, ununterbrochene Traditionslinie
von Jesaja 53 über (ausgerechnet!) Daniel 7 zum Neuen Testament und zur anschließenden
rabbinischen Literatur
. Vielmehr begegnen wir hier der rabbinischen Wiederaneignung eines Themas, das, fest in der
Hebräischen Bibel verankert, vom neutestamentlichen Jesus usurpiert und deshalb von den
meisten Rabbinen weitgehend ignoriert oder besser unterdrückt wurde, um erst später wieder in
bestimmte Strömungen des rabbinischen Judentums zurückzukehren.
Boyarins Buch hinterlässt den Leser irritiert und betrübt. Es hat kaum etwas Neues zu bieten –
und was neu zu sein scheint, ist äußerst spekulativ und in höchstem Maße idiosynkratisch.
Selbst wenn man es an seinen löblichen Absichten bemisst – dogmatische Verteidiger der
schlechthinnigen Einzigartigkeit von Christentum oder Judentum eines Besseren zu belehren –,
ist es eine Enttäuschung. Wie der junge Talmudprofessor in dem preisgekrönten israelischen
Kinofilm Footnote (Hearat Shulayim) zu seiner glücklosen Studentin sagt: „Es gibt viele richtige
und neue Aspekte in Ihrer Arbeit – nur, was daran neu ist, ist nicht richtig, und was richtig ist, ist
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nicht neu.“
Indem er darauf besteht, dass einige christliche Schlüsselkonzepte im vorchristlichen Judentum
des Zweiten Tempels zu finden sind, hat Boyarin ein enorm wichtiges und umstrittenes Thema
aufgegriffen, auch wenn er mit seiner verengten und fehlgeleiteten Fokussierung auf das
Danielbuch und die sich daran anschließende Menschensohntradition die Gelegenheit
versäumt hat, diese Diskussion in verantwortungsvoller Weise für ein breiteres Publikum zu
öffnen. Aber warum – einmal abgesehen davon, dass es in der Forschung um Wahrheit und
Stringenz der Auslegung geht – ist das so wichtig? Weil diese gelehrten Debatten wichtige
Auswirkungen haben. In erster Linie gehört dazu die Einsicht, dass das Judentum des Zweiten
Tempels ein wesentlich komplexeres und facettenreicheres Geflecht von Vorstellungen und
Konzepten zu bieten hat, als viele Christen und Juden heutzutage anzuerkennen bereit sind.
Die verschiedenen jüdischen Quellen und Schulen (einige unter ihnen fälschlich als „Sekten“
bezeichnet), die durch die späten Bücher der Hebräischen Bibel, die Apokryphen und
Pseudepigraphen, die Schriftrollen vom Toten Meer, durch Philo und auch das Neue Testament
repräsentiert werden, überschneiden sich, stehen auch oft in Konkurrenz zueinander, sind aber
immer legitime Teile dieser fruchtbaren geistigen Kultur.
Ferner wurde nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. ein Prozess in
Gang gesetzt, in dem es darum ging, Bilanz zu ziehen und eine Art „normatives Judentum“
herauszukristallisieren, das definieren sollte, was dazugehört und was nicht. Dabei wurden
Strömungen und Richtungen ausgeschieden, die als unliebsam oder gefährlich galten. Anders
ausgedrückt nahm in dieser Zeit das Bemühen, Linien zu ziehen und Grenzen zwischen
„Orthodoxie“ und „Häresie“ festzulegen, an Dynamik zu. Ganz ohne Zweifel war das
Christentum, das zunächst als eine jüdische Gruppierung unter anderen in Erscheinung trat, ein
wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses in dem Bestreben, sich innerhalb dieses hoch
komplexen Machtspiels konkurrierender Denkschulen zu definieren. Dank der sogenannten
gnostischen Schriften, die bei Nag Hammadi entdeckt wurden, haben wir heute ein viel
genaueres Bild davon, was mit diesem Machtkampf verbunden war und welche Arten von
„Häresien“ ausgeschieden wurden.
Dasselbe gilt für das, was schließlich zum rabbinischen Judentum, der letztlich siegreichen
Form des Judentums nach dem Ende des Zweiten Tempels, werden sollte. Auch von seiner
Entstehung und Entwicklung haben wir – nicht dank neuer Textfunde, sondern aufgrund
sorgfältigerer, unvoreingenommenerer Forschungsarbeit – heute ein viel klareres Bild. So hat
sich etwa gezeigt, dass die alte binitarische Vorstellung zweier göttlicher Personen, die sich im
Judentum des Zweiten Tempels ankündigte und vom Neuen Testament aufgegriffen wurde, in
bestimmten Kreisen des rabbinischen Judentums weiterlebte, trotz ihrer immer mehr
verfeinerten Ausformulierung in der christlichen Theologie mit ihrem Höhepunkt in der
Trinitätslehre. Das bekannteste Beispiel dafür, dass sich das rabbinische Judentum im
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innerjüdischen Diskurs weiterhin mit binitarischen Ideen auseinandersetzte (und sie bekämpfte),
ist die Erhöhung Henochs, des Patriarchen aus der Zeit vor der Sintflut, zum obersten Engel
Metatron, der im Himmel neben Gott thront und den Titel „Kleiner Gott“ erhält. Dies ist eine
Vorstellung, die direkt aus dem neutestamentlichen Drehbuch zu stammen scheint.
Forscher haben lange Zeit versucht, solche Konzepte als Produkte einiger verrückter Häretiker
abzutun oder sie zumindest an den äußersten Rand des normativen Judentums zu drängen. In
der neueren Forschung ist allerdings zunehmend deutlich geworden, dass sie von bestimmten
Rabbinen durchaus ernst genommen und umso heftiger von denen attackiert wurden, die
schließlich die dominante Form des Judentums bilden würden. Aber es bleibt eine
unbestreitbare Tatsache, dass diese Diskussion innerhalb des rabbinischen Judentums geführt
wurde.
Damit drängt sich eine Schlussfolgerung auf: Wenn wir – aus der Sicht der
Geschichtswissenschaft – „Judentum“ und „Christentum“ in den ersten nachchristlichen
Jahrhunderten charakterisieren wollen, müssen wir uns von der dogmatischen Fixierung auf
zwei festgefügte Religionen fernhalten, von denen die eine durch ihren schlussendlichen
Triumph über das Judentum definiert ist, nachdem sie zur Religion des christlichen Staates
geworden war (mit all den schrecklichen Konsequenzen für die Juden), und die andere durch
den Sieg der Rabbinen über ihre inneren und äußeren Gegner. Wenn wir dazu bereit sind,
werden wir entdecken, dass es in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung nicht
die eine Linie oder den einen Punkt gibt, die oder der ein für alle Mal zwischen Judentum und
Christentum unterschieden hätte. Es gibt mehrere Linien und mehrere Punkte. Die binitarische
Vorstellung zweier göttlicher Mächte markiert keine endgültige Trennlinie zwischen den beiden
Glaubensweisen, aber die trinitarische Vorstellung dreier göttlicher Mächte tut es offenbar. Das
stellvertretende Leiden des Messias oder sogar sein Tod stellt keine unüberschreitbare Grenze
dar, aber der Skandal seines Todes am Kreuz, den Paulus so sehr betont, tut es. Was die
Auferstehung des toten Erlösers betrifft, so ist Boyarin zuversichtlich, dass auch diese zum
vorchristlichen jüdischen Traditionsinventar gehört, aber er bringt keine Belege bei, die seine
Sicht stützen würden. Stattdessen weicht er auf die dunkle Aussage aus: „Vielleicht haben
seine Jünger ihn [Jesus] als Auferstandenen gesehen, aber dann muss ihnen gewiss ein
Narrativ vorgelegen haben, das sie solche Erscheinungen erwarten ließ, und nicht so, dass [P
1]
die Erscheinungen zum Entstehen des Narrativs geführt hätten.“
[vii]
Für heutige Angehörige beider Religionen mögen solche wissenschaftliche Erkundungen
frustrierend sein. Die moderne Erforschung des Neuen Testaments und des rabbinischen
Judentums hat eine Reihe von klaren, eindeutigen Unterscheidungen zwischen Judentum und
Christentum beseitigt. Aber mit dem Verlust dieser naiven Sichtweise kann für uns – nicht nur
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für uns Forscher, sondern auch für gebildete Juden und Christen – auch ein großer Gewinn
verbunden sein: ein neues Verständnis des intellektuellen und spirituellen Potenzials in
Judentum und Christentum, bevor sie zu genau definierten, ja sogar gegnerischen Religionen
wurden, eine bessere Einschätzung der zentralen Ideen, denen beide anhingen, bevor sie
genau diese verwendeten, um sich voneinander abzugrenzen. Und wir dürfen eines nicht
vergessen, was die Dinge später noch komplizierter machte und nicht ohne Ironie ist: Einige
dieser „häretischen“ Ideen, die das talmudische Judentum unterdrückte, sollten mit großer
Wucht ins Judentum zurückdrängen, und zwar in der Bewegung, die gemeinhin als Kabbala
bezeichnet wird.
Übersetzung aus dem englischen Original in The New Republic vom 7. Juni 2012, S. 36-39: Dr.
Claus-Jürgen Thornton
[i] D. Boyarin, The Jewish Gospels. The Story oft he Jewish Christ, New York 2012.
[ii] In seinem Buch The Messiah before Jesus: The Suffering Servant of the Dead Sea Scrolls,
Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 2000, S. 42ff.
[iii] Jonathan Z. Smith, „The Prayer of Joseph“, in Religions in Antiquity. Essays in Memory of
E. R. Goodenough
, Leiden 1968, S.
253-294, hier S. 272.
[iv] Ursprünglich Hengels Tübinger Antrittsvorlesung von 1973, veröffentlich als Buch in
mehreren Auflagen bei Mohr Siebeck, Tübingen, 1975ff.; vorläufig letzte englische Ausgabe
2007.
[v] b Sanhedrin 38b.
[vi] Y. Furstenberg, Defilement Penetrating the Body. A New Understanding of Contamination
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in Mark 7.15, in: NTS 54 (2008) 176-200.
[P1] Dieser Satz ist leider so holperig bei Boyarin. Wir wissen keine bessere Lösung, ohne in
den Duktus einzugreifen!
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